7

 

Am Montag war das Leben zwar noch nicht wieder normal, aber von außen schien es zumindest so. Emanuel kehrte wieder – ohne seine Elf-Uhr-Patientin – zu seiner Tätigkeit als Psychiater zurück. Nicola ging zu ihrer psychoanalytischen Sitzung. Kate, die sich zur Disziplin gerufen und das Wochenende über ihre Vorlesungen vorbereitet hatte, ging wieder an ihr Pult. Den Samstagabend hatte sie mit einem Maler verbracht, der nur französische Zeitungen las, an Mord kein Interesse zeigte und über nichts als die Kunst Theorien verbreiten konnte. Das war ihr eine große Hilfe.

Aber der Hauptgrund, warum die Bauers aus dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und dem starren Blick der Publizität rückten, war ein schreckliches Verbrechen in Chelsea: Ein Verrückter hatte ein vierjähriges Mädchen zu sich gelockt, vergewaltigt und ermordet. Die Polizei und die Zeitungen konzentrierten all ihre Kräfte darauf, zumindest für den Augenblick. Der Verrückte wurde eine Woche später festgenommen, ohne größere Schwierigkeiten, was für Kate einigen Trost bedeutete. Verrückte, schloß sie, werden also normalerweise gefangen. Daher konnte Janet Harrison nicht von einem Verrückten ermordet worden sein. Diese Glanzleistung an Unlogik hatte für sie etwas sehr Beruhigendes.

Am Montagmorgen um zehn Uhr hielt Kate eine Vorlesung über ›Middlemarch‹. Hatte überhaupt etwas eine Bedeutung neben der Tatsache, daß die Phantasie Welten wie ›Middlemarch‹ erschaffen konnte, daß man lernen konnte, diese Welten zu verstehen und die Strukturen, auf die sie sich stützten? Als Kate den Roman am Abend zuvor noch einmal gelesen hatte, war sie auf einen Satz gestoßen, der ihr merkwürdig zutreffend erschien: »Eigentümlich, daß manche von uns, die schnell ihren Blickwinkel wechseln können, hinauszusehen vermögen über unsere Verblendetheiten und sogar dann, wenn wir uns auf Höhenflügen befinden, den Blick aufs Einfache gerichtet behalten, dort, wo unser eigentliches Selbst ruht und unserer harrt.« Gewiß, dieser Satz hatte nichts mit dem gegenwärtigen Fall zu tun: Ein Mord war keine Verblendetheit. Und doch merkte sie nach ihrer Vorlesung, daß sie während ihres Vortrags über ›Middlemarch‹ nichts anderes hatte denken können. Unser eigentliches Selbst, dachte sie, findet sich in der Arbeit wieder, die unsere ganze Aufmerksamkeit gefangen hält. Emanuel hatte, wenn er am Kopfende seiner Couch saß und zuhörte, vielleicht die gleiche Erfahrung gemacht. Kate wurde klar, daß es nur wenige Leute gab, die über ihr »eigentliches Selbst« verfügten, und daß Emanuel, als einer von ihnen, gerettet werden mußte.

So lenkte sie ihre Schritte nach der Vorlesung zum Wohnheim, in dem Janet Harrison gelebt hatte. Auf dem Campus lebten nicht viele Studenten, wie Kate dem Kriminalbeamten namens Stern erzählt hatte, aber die Universität hielt ein Heim für die Studentinnen bereit, die auf eigenen Wunsch oder auf Drängen ihrer Eltern in ordentlicher und kontrollierter Umgebung wohnen wollten. Eine Wohltat bedeutete das Heim auch für jene Studentinnen, die sich nicht um Haushalt und dergleichen kümmern wollten, und wahrscheinlich war das der Grund, weshalb Janet sich entschieden hatte, dort zu wohnen.

Kate hatte sich einen äußerst komplizierten Plan ausgedacht, nach dem sie das Wohnheim in Angriff nehmen wollte. Dazu gehörten Spaziergänge durch die Korridore, Gespräche mit dem Hausmeister und den Zimmermädchen und vielleicht ein paar vertrauliche Informationen von der Leiterin des Heims. Aber das sollte sich alles erübrigen, als Kate auf den Eingangsstufen mit Miss Lindsay zusammenstieß. Letztes Jahr hatte Miss Lindsay bei ihr als Studentin einen Kurs über »Schreiben für Fortgeschrittene« belegt, den sie von einem anderen Professor für die Zeit seiner Abwesenheit übernommen und bei seiner Rückkehr mit der größten Erleichterung wieder abgegeben hatte. Der Kurs hatte trotzdem seine lichten Momente gehabt, und Miss Lindsay, die als Hauptfächer Latein und Griechisch studierte, hatte am meisten dazu beigetragen. Kate hatte in der Tat jetzt noch ihren Spaß an der lateinischen Übersetzung von ›Twinkle, Twinkle, Little Star‹, die mit »Mica, mica, parva Stella, Micor quae nam sis, tarn bella« begann und die Miss Lindsay bei irgendeiner ihr inzwischen entfallenen Gelegenheit vorgetragen hatte. Kates eigene Lateinkenntnisse waren, trotz einer faszinierenden Lektüre von Vergils ›Aeneis‹ vor einigen Jahren, irgendwo in der Gegend von »hie, haec, hoc« stehengeblieben.

Miss Lindsay gehörte zu der seltenen Spezies von Studenten, die zwanglos mit einem Professor reden kann, ohne jemals die Grenze zur Vertraulichkeit zu überschreiten. Jetzt folgte sie Kate gern in die Halle und änderte ohne zu zögern ihre Pläne. Kate, die sie brauchte, protestierte nicht sehr überzeugend. Ihr wurde klar, und das nicht zum erstenmal, daß bei der Aufdeckung eines Mordes Kants kategorischer Imperativ ständig ignoriert werden mußte. Kate fragte Miss Lindsay, ob sie Janet Harrison gekannt habe.

»Oberflächlich«, sagte Miss Lindsay. Falls die Frage sie überrascht hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Wir reden natürlich seit Tagen über nichts anderes. Tatsächlich haben wir das einzige Mal, als wir uns unterhielten, über Sie gesprochen. Sie waren offenbar die einzige Lehrerin, die Janet aus ihrer gewohnten akademischen Mattigkeit aufwecken konnte. Irgendwas mit moralischen Verpflichtungen hat sie besonders betroffen gemacht, soweit ich mich erinnere.«

»Kommt es Ihnen nicht komisch vor, daß ausgerechnet sie das Opfer eines Mordes werden sollte? Natürlich erwartet man nicht, daß irgend jemand einem Mord zum Opfer fällt, aber sie schien mir so – ich glaube, ›unbeteiligt‹ ist das Wort, das ich suche –, so gar nicht dafür geschaffen, Leidenschaften zu wecken, trotz ihrer Schönheit.«

»Da bin ich nicht Ihrer Meinung. In der Stadt, aus der ich komme, gab es ein Mädchen, das war so wie sie, distanziert und etwas über den Dingen stehend. Doch am Ende stellte sich dann heraus, daß sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr mit einem Lebensmittelhändler zusammenlebte, von dem alle Welt geglaubt hatte, er sei glücklich verheiratet. Also kein stilles Wasser, sondern ruhige Oberfläche, unter der sich todbringende Strudel verbergen. Ich könnte mich, was Janet Harrison angeht, natürlich auch irren. Am besten reden Sie mit Jackie Miller. Sie hatte ihr Zimmer ganz in der Nähe von Janets Zimmer. Jackie gehört zu den Mädchen, die die ganze Zeit reden und nie zuzuhören scheinen, aber sie unterbricht ihren Redefluß immer wieder mit pointierten Fragen, deren Beantwortung man nicht vermeiden kann. Sie weiß mehr über jeden als sonst jemand. Vielleicht kennen Sie diesen Typ?« Kate ließ bloß ein Stöhnen hören. Sie kannte diesen Typ nur zu gut. »Wie wäre es, wenn Sie gleich mit ihr sprechen? Wahrscheinlich steht sie jetzt gerade auf, und wenn Sie sie erst einmal zum Reden gebracht haben, wird sie Ihnen alles erzählen, was Sie wissen möchten. Ich glaube«, fügte Miss Lindsay hinzu und ging die Treppe voraus, »sie war es, die dem Kriminalbeamten erzählt hat, daß Janet Harrison immer ein Notizbuch mit sich heraumgetragen hat. Niemand sonst hatte das bemerkt.«

Jackie antwortete auf ihr Klopfen, indem sie die Tür aufriß und beide fröhlich in das unordentlichste Zimmer hereinwinkte, das Kate seit ihren eigenen College-Tagen erlebt hatte. Jackie war noch im Nachtgewand: ganz kurze Höschen und ein spitzenbesetztes, ärmelloses Hemdchen – was für ein überflüssiger Aufwand in einem Wohnheim, das nur weibliche Studenten beherbergte! –, und bereitete sich mit dem Wasser aus der Warmwasserleitung eine Tasse Pulverkaffee. Sie bot ihnen auch davon an. Miss Lindsay lehnte mit lobenswerter Entschiedenheit ab, aber Kate akzeptierte ihre Tasse fromm in der Hoffnung, so schneller zu ihrem Ziel zu kommen. Immerhin hütete sie sich wohlweislich, das Gebräu zu trinken.

»Sie sind also Professor Fansler«, fing Jackie an. Sie war wirklich genau die Frau, die hundert Jahre früher ihren Sonnenschirm geschwenkt und gesagt hätte: »Also, Sie sind Präsident Lincoln.«

»Ich höre dauernd alle Studenten über Sie reden, aber ich schaffe es einfach nicht, einen Ihrer Kurse in meinen Stundenplan einzubauen. Alle Scheine, die ich an der Boston University gemacht habe, sind aus der Literaturwissenschaft – ich lese zu gerne Romane –, deshalb muß ich meine ganze Zeit hier anderen schrecklichen Fächern widmen. Aber einen von Ihren Kursen muß ich einschieben, weil alle sagen, daß Sie zu den wenigen Professoren gehören, die es schaffen, gleichzeitig unterhaltsame und profunde Vorlesungen zu halten. Und offengestanden: Die meisten Professorinnen sind fürchterlich langweilige alte Jungfern.« Jackie fiel wohl gar nicht auf, daß ihre Wortwahl etwas unpassend sein könnte. Kate kämpfte den Zorn nieder, den solche Verallgemeinerungen bei ihr auslösten.

»Janet Harrison gehörte zu meinen Studenten«, sagte sie, was keine allzu raffinierte Einleitung war. Aber Raffinesse wäre bei Jackie wohl auch fehl am Platze gewesen.

»Ja, ich weiß. Sie hat es einmal beim Lunch erwähnt, und viel, das wissen Sie ja, ließ sie nie heraus – der strenge, schweigsame Typ; alles andere als anziehend an einer Frau, finde ich. Egal, an dem Tag sagte sie beim Lunch (da mußt du aber gerade den Mund voll gehabt haben, dachte Kate hämisch), Sie hätten gesagt, daß Henry James gesagt hätte, Moral hänge ab – die Moral des eigenen Handelns, meinte er –, hänge ab oder solle abhängen von der moralischen Qualität der Person, die handelt, und nicht von der moralischen Qualität der Person, auf die die Handlung gerichtet sei. Natürlich«, fügte Jackie hinzu und zeigte das erste Anzeichen von Einsicht, das Kate an ihr entdeckte, »hat sie das besser ausgedrückt. Worum es aber ging, war, daß sie damit nicht einverstanden war. Sie meinte, wenn jemand moralisch schlecht sei, dann sollte man um seinetwillen etwas dagegen unternehmen und nicht wegen der eigenen Moral.« Kate nahm tapfer hin, daß sie und Henry James derart wiedergegeben wurden und fragte sich, ob Janet Harrison im Ernst so etwas gesagt haben könnte. Könnte sie Verbindung zu einem Drogenring gehabt haben?

»Natürlich«, fuhr Jackie fort, »war sie frigide, das arme Ding, und völlig unfähig, Beziehungen zu anderen einzugehen. Das habe ich auch zu ihr gesagt, und sie hat mir praktisch zugestimmt. Ich hatte natürlich die Vermutung, daß sie eine Analyse machte. Sie ging jeden Morgen zur gleichen Zeit weg, und ich habe herausgefunden, daß sie nicht zur Vorlesung ging, und ich fand das auch gut für sie. Wenn Sie mich fragen, ich glaube, der Analytiker hat sie aus blankem Frust erstochen. Wahrscheinlich lag sie Stunde um Stunde da und machte den Mund nicht auf. Haben Sie mal eine Analyse gemacht?«

Es war fast ein Vierteljahrhundert her, daß Kate den Drang in sich gespürt hatte, jemandem die Zunge herauszustrecken. »Sind außer ihrem Zimmer noch andere durchwühlt worden?« fragte sie.

»Nein, es war wirklich sehr seltsam. Ich habe zu ihr gesagt, sie hätte wahrscheinlich in irgendeinem armen frustierten Mann so eine Art Fetischismus geweckt. Wenn Sie mich fragen, er nahm die Kamera nur zur Täuschung mit, hat in Wirklichkeit aber nach etwas Persönlichem gesucht; aber tatsächlich gab es nichts in ihrem Zimmer, was die Suche gelohnt hätte« – Jackie glitt hastig über die unglücklichen Implikationen hinweg, die diese Bemerkung enthielt –, »und natürlich ist sie herumgelaufen wie die Oberlehrerin an einem Mädchenpensionat. Ich habe ihr immer wieder gesagt, daß sie wirklich sehr gut aussehen könnte, wenn sie sich nur die Haare abschneiden würde, statt sie lang und zurückgekämmt zu tragen, und wenn sie halt ein bißchen aus sich machte. Ich war fasziniert von dem Foto, das der Polizist hier herumgezeigt hat, offenbar jemand, der mit Janet in Verbindung stand. Vielleicht hat sie sich draußen ja mit einem Mann getroffen, obwohl mir das unwahrscheinlich vorkommt. Wenn aber, dann hat sie ihn gut vor uns verborgen.«

»Ging sie oft aus?«

»Nein, nicht oft, aber ziemlich regelmäßig. Sie ging zum Dinner aus, oder sie verschwand ganz einfach und ging offensichtlich nicht in die Bibliothek. Ich glaube, irgendwer hat sie mal mit einem Mann gesehen.«

»Wer?« fragte Kate. »Jemand, der auch das Foto gesehen hat?«

»Danach hat mich der Kriminalbeamte auch gefragt«, sagte Jackie in ihrer Art, die einen rasend machen konnte, »aber, wissen Sie, ich kann mich nicht erinnern. Es war jemand, mit dem ich mich am Brunnen unterhalten habe, weil ich mich erinnere, daß jemand Seifenpulver in den Brunnen geschüttet hatte, und wir, dieses Mädchen und ich, haben darüber geredet. Aber ich kann mich nicht erinnern, wie die Frage überhaupt aufgekommen ist – irgendwie sagte ich, man erwartet ja eigentlich nicht, Seifenpulver in einem Brunnen zu finden, und sie sagte, es passieren eben auch unerwartete Dinge und so weiter. Aber ich kann mich einfach nicht erinnern, wer das war. Vielleicht habe ich alles nur geträumt. Natürlich war sie – ich meine Janet – ein Einzelkind, und ich glaube, die wechselseitige Rivalität einer geschwisterlichen Beziehung trägt eine Menge zur Entwicklung der Persönlichkeit bei, nicht wahr?«

Es sah nicht so aus, als erwarte sie eine Antwort darauf, aber Kate stand auf und sah deutlich auf ihre Uhr. Auch wenn es um die Aufklärung eines Mordfalls ging – es gab einen Punkt, über den sie nicht hinausgehen wollte. Miss Lindsay folgte ihr zur Tür. »Sie lassen es mich wissen«, sagte Kate und bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall, »wenn Sie sich an die Person erinnern, die Janet und den Mann zusammen gesehen hat, ja?«

»Warum sind Sie daran so interessiert?« fragte Jackie.

»Danke für den Kaffee«, gab Kate zurück, schloß die Tür hinter sich und eilte mit Miss Lindsay den Korridor hinab.

»Ein Jammer, daß niemand sie ermordet hat«, sagte Miss Lindsay und traf damit genau Kates Gedanken. »Ich glaube, selbst die Polizei würde den Fall gerne zu den ungeklärten Akten legen.«

Mit einem intensiven Gefühl von Frustration machte Kate sich auf den Weg zur Universitätsverwaltung. Dort gelang es ihr, nachdem sie etwas nachdrücklich geworden war – Jerry würde sagen, sie hätte »das Gewicht ihrer Persönlichkeit zum Einsatz gebracht« –, die Unterlagen über Janet Harrison in die Hand zu bekommen. Das erste- und zweifellos das letztemal in ihrem Leben war Kate froh über die moderne Manie, was Formulare angeht. Sie begann bei Janets Seminarscheinen. Ihre Zensuren lagen bei B minus, hin und wieder bei B. Für Kates erfahrenes Auge bedeutete das, daß ihre Lehrer sie für fähig hielten, die Note A zu erreichen, daß ihre Leistungen aber wahrscheinlich nur auf C-Niveau war. Es gab unter den Professoren die deutliche Tendenz, und das galt auch für sie selbst, ein C wirklich nur den C-Studenten zu geben, von denen es weißgott, genug gab.

Janet Harrison hatte am College alle Scheine gemacht, die sie brauchte; ihr Hauptfach war Geschichte, als Nebenfach hatte sie Ökonomie belegt. Wieso hatte sie sich dann entschieden, an der Graduate School Englische Literatur zu studieren? Gut, die Gebiete hatten im weiteren Sinne schon miteinander zu tun. Am College hatte sie sich um verschiedene Darlehen beworben und sie auch bekommen, und sie hatte auch um ein Universitätsstipendium nachgesucht. Einzelheiten dieses Antrages waren in den entsprechenden Büros zu erfahren.

Fluchend ging Kate dorthin. Janet hatte das Stipendium wahrscheinlich erhalten, aber es war doch interessant, es genau zu wissen. Am College hatte sie fast nur A-Zensuren bekommen, obwohl dieses sicher in der Nähe ihrer Heimatstadt gelegene College (Kate kam ein wenig ins Schwimmen, wenn es um die Geographie des Mittelwestens ging) wahrscheinlich zu klein gewesen war, um etwas anderes als den normalen Bachelor-Abschluß zu bieten. Doch wieso war ein Mädchen, das auf seinem, wenn auch kleinen College lauter A’s bekommen hatte, an der Graduate School auf die B-Minus-Ebene abgerutscht? Normalerweise ging es umgekehrt. Vielleicht hatte sie andere Gedanken im Kopf gehabt. Tatsächlich schienen alle von der Idee auszugehen – das fiel Kate jetzt auf – , daß Janet Harrison mit etwas beschäftigt war. Aber was? Was?

Die Stipendienanträge waren sogar noch ausführlicher als die Aufnahmeformulare für die Universität. Wo, wollten sie zum Beispiel wissen, hatte sie ihr Leben verbracht, Jahr für Jahr? (Keine Lücken lassen! forderte das Formular streng.) Nach dem College hatte Janet Harrison die Schwesternschule an der Universität von Michigan besucht. Schwesternschule! Das war nun wirklich sonderbar. Geschichte, Schwesternschule, Englische Literatur. Gut, junge Amerikanerinnen sahen sich, falls sie nicht früh heirateten, schon hier und da nach einem möglichen Beruf um. Aber diese Art zeichnete sich doch durch eine etwas reichliche Bandbreite aus. Vielleicht waren ihre Eltern von der altmodischen Sorte gewesen, die ein Mädchen zwar auf ein College schickten, aber zugleich darauf bestanden, daß sie lernte, sich ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen. Für solche Leute gab es nach Kates Erfahrungen nur drei Berufe, die einem Mädchen den Lebensunterhalt sichern: Sekretärin, Krankenschwester oder Lehrerin.

Doch Janet Harrison war nicht bei ihrer Schwesternausbildung geblieben. Ihr Vater war ein Jahr, nachdem sie damit angefangen hatte, gestorben, und sie war nach Hause zurückgekehrt, um wieder bei ihrer Mutter zu leben. Offensichtlich war sie erst nach dem Tod der Mutter nach New York gegangen, um nun Englische Literatur zu studieren. Aber warum nach New York? Das verdammte Formular produzierte mehr Fragen als Antworten. Dem Einkommensnachweis zufolge, der angeheftet war, hatte Janet nach dem Tod der Mutter einige Einkünfte gehabt, aber nicht genug, um damit die hohen Gebühren für die Universität zahlen zu können; es sei denn, sie hätte nebenbei noch einen Job angenommen. Aber die Universität zog es vor, in diesem Fall den Studenten ein Darlehen zu geben, statt daß sie einer Arbeit nachgingen und damit ihr Studium belasteten. Nach den Unterlagen hatte Janet ihr Stipendium bekommen, allerdings kein sehr großes.

Kate ging wieder zurück zu ihrem Büro, den Kopf voller Fragen. Hatte Janet Harrison ein Testament hinterlassen, und wenn ja – oder wenn nicht –, wer bekam jetzt ihr Geld? War es genug, um sie deswegen zu ermorden? Das mußte Reed für sie herausbekommen. Vielleicht war die Polizei, an die Kate bedauerlicherweise viel zu wenig dachte, dem bereits nachgegangen, jedenfalls lag das nahe. Warum war Janet Harrison nach New York gegangen? Die University of Michigan hatte eine hervorragende Graduate School. Nun gut, vielleicht wollte sie weg von zu Hause, aber mußte es gleich so weit sein? Warum hatte sie sich zu so einem ganz anderen Studium entschlossen? Warum hatte sie eigentlich nie geheiratet? Jackie Miller, zum Teufel mit ihrer dämlichen Geschwätzigkeit, mochte annehmen, daß Janet frigide gewesen sei oder »unfähig, Beziehungen zu anderen einzugehen« (genau diese Formulierung hatte Janet Emanuel gegenüber benutzt); aber sie war ein schönes Mädchen und hatte, das nahm jedenfalls Emanuel an, eine Liebesaffäre gehabt.

Vor ihrem Büro traf Kate auf wartende Studenten, und so stürzte sie sich wieder ins akademische Leben und fühlte sich dabei wie eine Trapezkünstlerin.

Erschöpft kam sie am späten Nachmittag endlich nach Hause und fand dort Jerry, der es sich auf den Eingangsstufen bequem gemacht hatte. Er hatte das Glänzen eines Goldgräbers in den Augen, der fündig geworden ist. Sie entschädigte ihn für sein Warten mit einem Bier.

»Ich war heute morgen bei meiner Firma«, sagte er, »und ich konnte dich nicht erreichen, nachdem ich mich dort vorübergehend abgemeldet hatte. Weil ich annehme, daß ich ab heute von dir bezahlt werde, beschloß ich, wie es sich gehört, auch zur Arbeit zu erscheinen. Du hattest mir keine Anweisungen hinterlassen, also habe ich mich auf eigene Faust umgesehen. Weil mir nichts anderes einfiel, bin ich zu dem Wohnheim gegangen, in dem Janet Harrison gelebt hat.«

»Tatsächlich?« sagte Kate. »Ich war auch dort. Hast du auch Jackie Miller getroffen?«

»Mit weiblichen Wesen befasse ich mich nicht; das ist eindeutig deine Domäne. Ich bin in den Keller hinuntermarschiert und habe mit dem Hausmeister gesprochen. Natürlich habe ich ihm keine direkten Fragen über Janet Harrison gestellt. Das ist meiner Meinung nach nicht der Weg, an Informationen heranzukommen. Ich habe einfach den netten, eifrigen Jungen gespielt, der wissen wollte, wie er an so einen Hausmeister-Job an der Universität kommt, weil er dann nichts für die Lehrveranstaltungen bezahlen muß, die er gerne belegen will. Angestellte müssen das nämlich nicht, mußt du wissen. Dann kam noch die Rede auf die Tigers und ihre Chance, den Pokal zu gewinnen, und darauf, wie teuer heutzutage alles ist, und so kam ich Schritt für Schritt in den Besitz der Information, die Emanuel, wenn ich ihn so nennen darf, retten wird.«

»Um Gottes willen, mach es weniger dramatisch und komm zur Sache!«

»Die Sache ist die, meine liebe Kate, daß an dem Morgen, als Janets Zimmer durchsucht wurde, auch die Uniform des Hausmeisters gestohlen wurde. Der Hausmeister war deswegen ziemlich außer sich, weil die Universität sich stur stellt und ihm keine neue kaufen will; du kennst ja die Uniformen, die sie tragen – blaues Hemd und Hose, und auf der Hemdtasche ist ›Hausverwaltung‹ eingestickt. Schon recht, schon recht, nicht gleich hysterisch werden. Offensichtlich hat also ein Mann die Uniform gestohlen, um in Janet Harrisons Zimmer zu kommen. Ein Mann kann ja gewöhnlich nicht so ohne weiteres in einem Studentinnenheim herummarschieren, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, aber von einem Hausmeister nimmt niemand Notiz. Der ist eben nur auf dem Weg, um irgend etwas zu reparieren, und kein Mensch schenkt ihm mehr als einen Blick.«

Kate sah ihn ungeduldig an, und er fuhr fort: »Also, das Nette daran ist, daß der Hausmeister seinen Dienst mittags antrat und dabei merkte, daß die Uniform verschwunden war, und vor halb elf ist das Zimmer nicht durchsucht worden, denn zu dem Zeitpunkt hat das Zimmermädchen dort aufgeräumt. Also wurde die Uniform gestohlen und das Zimmer durchsucht, als Emanuel ein wunderschönes Alibi hatte: Er erwartete eine Patientin, und die Patientin, meine Damen und Herren, war Janet Harrison, die deswegen nicht mehr in ihrem Zimmer war. Folglich wurde das Zimmer nicht von Emanuel durchsucht, und darum sehe ich kein Hindernis, die Schlußfolgerung zu ziehen: Wer immer das Zimmer durchsucht hat, hat auch das Mädchen ermordet, und das war nicht Emanuel.«

»Die Polizei wird einwenden, daß er jemanden dafür angeheuert haben könnte.«

»Aber wir wissen, daß es nicht so war, und das werden wir beweisen. Ansonsten habe ich dort niemanden gesehen, aber ich bin zu Emanuels Haus hinübergegangen, um auch dort ein bißchen mit dem Personal zu plaudern – die Tigers haben wirklich gute Chancen, dieses Jahr den Pokal zu gewinnen –, und ich habe entdeckt, daß der Fahrstuhlführer freitags frei hat. Dr. Michael Barrister hat freitags keine Sprechstunde, und wenn du mir die Namen des Zehn- und des Zwölf-Uhr-Patienten gibst, werden wir bald wissen, was sie freitags zu tun haben. Ich verwette meinen gesamten Lohn, daß derjenige, der das Zimmer durchsucht hat, auch der Mörder des Mädchens ist. Und ich glaube nicht, daß er, wer immer es war, diese Aufgabe einem Dritten überlassen hat. Ich glaube das deshalb, weil so etwas eine verdammt schwierige Sache ist. Nehmen wir als erstes Mrs. Bauer – darf ich Nicola sagen? –, sie war zu ihrer Analyse-Sitzung unterwegs und hat ein Alibi. Aber es war natürlich ein Mann, der die Uniform gestohlen hat, also kommen wir damit nicht weiter.«

»Jerry, du bist wunderbar.«

»Ich glaube, nach der Law School gehe ich am besten zum F.B.I. Jagen die auch Mörder oder nur Kommunisten und Drogenhändler? Mir macht das hier nämlich richtig Spaß.«

»Wir müssen uns jetzt erst einmal einen Plan zurechtlegen«, sagte Kate ein wenig förmlich, um seinen Überschwang etwas zu dämpfen.

»Das geht ganz einfach. Du wendest dich morgen wieder deinem Thomas Carlyle zu – wenn das der Mann ist, mit dem du diese Affäre da im Büchermagazin hast –, und ich setze mich auf die Spur des Zehn-Uhr-Patienten aus der Werbebranche. Du siehst einen jungen Mann vor dir, der darauf brennt, in die Werbung einzusteigen. Die Rolle nimmt man mir doch ab, oder?«