19.

Al stiess Mitt in eine Kammer, die vermutlich als Abstellraum diente, und ließ ihn dort zurück, während er sich um Navis kümmerte. Die Kammer hatte Steinwände und ein winziges Oberlicht, durch das selbst Mitt sich nicht quetschen konnte. Er setzte sich, verschränkte die Hände hinter dem Kopf, starrte zu dem Dachfenster hoch und hasste Navis aus tiefstem Herzen. All seine Nöte ließen sich zu Navis zurückverfolgen. Ihm war, als habe Navis diesmal nicht die Bombe fortgetreten, sondern ihm einen Tritt zwischen die Zähne versetzt. Und dabei hatte Mitt nur versucht, ihm zu helfen!

»Das war endgültig das letzte Mal, dass ich irgendetwas für diese Bande getan habe!«, sagte er sich und fiel in einen langen, grimmigen Wachtraum, in dem er sich an Navis rächte. Darin war er ein mächtiger, gesetzloser Freiheitskämpfer mit mehreren hundert entschlossenen Gefolgsleuten, und er malte sich aus, wie er eine Stadt voller verängstigter Adliger eroberte und ihnen allen befahl, sich zu ergeben. Geschlagen kamen sie heraus, Navis unter ihnen, sich windende Harchads, bebende Hadds, Dutzende Hildys, etliche kleinlaute Ynens, die alle die Köpfe hängen ließen und schlurften, wie die Nordmänner mit hängenden Köpfen durch Holand geschlurft waren. Mitt ließ sie alle hinrichten. Navis sparte sich Mitt für ganz zum Schluss auf, damit er einen besonders furchtbaren Tod erlitt.

Eine denkwürdige Sache war das. Jahrelang war Mitt viel zu beschäftigt gewesen, um sich Tagträumen hinzugeben. Nun stellte er fest, dass er etwas versäumt hatte. Also ging er die Geschichte noch einmal durch, nur ersann er diesmal eine noch größere Stadt und machte sich noch mächtiger und noch gnadenloser. Allmählich erkannte er, dass solch ein Freiheitskämpfer tatsächlich in ihm steckte. Er empfand beträchtlichen Respekt vor sich selbst. Er fabulierte die Geschichte ein drittes Mal und eroberte dabei ganz Süd-Dalemark; Navis hetzte er rücksichtslos durch alle Grafschaften, bis er ihn endlich fing.

Er hatte Navis gerade halb getötet, wobei er den Einzelheiten größte Aufmerksamkeit widmete, als Al zurückkehrte. Mitt sprang auf und wich in die entfernteste Ecke der kleinen Kammer zurück. Als Miene war so ausdruckslos und unheilverkündend, wie es nur ging. Gerade weil er sich die vielen Grausamkeiten gegen Navis ausgemalt hatte, wusste er genau, dass Al ihn verletzen konnte, wie immer er wollte.

Doch Al lehnte sich nur an die Tür und musterte Mitt. »Du bist wirklich eine Plage«, sagte er, »und ich muss dich ganz schnell wieder loswerden. Wie viele Leute wissen, wo du bist?«

Mitt starrte Al unsicher an. Was sollte er Als Meinung nach getan haben? Mitt konnte es nicht sagen.

»Raus mit der Sprache«, sagte Al. »Oder muss ich dir erst den Schädel einschlagen? Navis weiß, dass du die Bombe geworfen hat. Weiß auch Hobin davon? Hobin muss dir die Büchse geschenkt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer wie du sich eine von Hobins besonderen Büchsen klauen kann. Hobin gibt viel zu gut auf sie Acht. Weiß auch Milda, wo du bist?«

Mitt schüttelte den Kopf und starrte Al unverwandt an. Aus der fernen Vergangenheit wurde eine Erinnerung wach: Al rief, die Kuh habe gekalbt. Dann sah Mitt Als breiten Rücken vor sich, wie er nach Holand davonging, um dort Arbeit zu suchen, doch konnte er es einfach nicht glauben.

»Wenn du irgendjemand anders wärst«, fuhr Al schlecht gelaunt fort, »könnte ich dich mit den anderen beiden nach Holand zurückschicken und wäre alle Sorgen los! Aber ich kann nicht zulassen, dass du Hobin von mir erzählst. Im ganzen Land würde er jeden einzelnen Büchsenmacher gegen mich aufbringen, und ohne Harchad im Rücken käme ich nicht einmal mehr auf Sichtweite an eine Büchse heran. Hobin wirft mir auch so schon genug Knüppel zwischen die Beine. Und das bloß, weil ich mal ein bisschen was über den Durst getrunken hatte und ihm unbedingt erzählen musste, wie ich die Freien Holander auffliegen ließ. Er sagte, er ginge nach Holand, um sich um dich und Milda zu kümmern, aber ich weiß, dass er das nur getan hat, um mich zu ärgern.« Endlich bemerkte Al, dass Mitt ihn anstarrte. »Na, willst du deinen Vater denn nicht begrüßen?«

»Bist du denn kein bisschen stolz auf mich?«, entgegnete Mitt. Nun starrte Al ihn an. »Weil ich doch ganz der Vater bin und so?«

Da spie Al auf den Boden, wie er früher, was Mitt noch genau im Gedächtnis stand, in den Graben gespuckt hatte. »Stolz sein auf dich! In Niedertal hab ich drei Kinder, und alle drei zusammen haben mir niemals so viel Ärger gemacht wie du allein. Zuerst verirrst du dich, und deinetwegen stehe ich in Navis’ Schuld. Dann lässt du den Stier an den Pachteintreiber heran. Musst mir nach Holand nachkommen und mir wie ein Klotz am Bein hängen. Dann sehe ich dich jahrelang nicht mehr und denke, ich wäre dich endlich los, da springst du vor, gekleidet wie ‘ne Speckseite, und wirfst Hadd ausgerechnet in dem Augenblick eine Bombe vor die Füße, in dem ich ihn sauber im Visier habe! Ich weiß nicht, was du damit erreichen wolltest. Natürlich hab ich damals nicht geahnt, wer du bist, aber wenn ich’s gewusst hätte, dann wäre mir gleich klar gewesen, dass nur Milda daran schuld sein kann. Es sah nämlich ganz nach einer ihrer hirnlosen Ideen aus.«

Mitt neigte nicht zum Erröten, doch nun spürte er, wie sein Gesicht ganz heiß wurde. »Es war meine Idee. Basta!«, rief er. Er hatte das Gefühl, Milda vor Al in Schutz nehmen zu müssen. »Milda ist eine gute Mutter, das ist sie. Sie sieht zwar die Wirklichkeit nicht besonders klar – du weißt schon, wie sie immer mit dem Geld um sich wirft…« Mitt verstummte. Ja, so und nicht anders war Milda, und das hatte er immer gewusst. Milda machte sich keine Gedanken über die Zukunft, ob sie nun zu viele Austern einkaufte oder Mitt aussandte, damit er Harchad in die Hände fiel. Genauer gesagt hatten sie beide nie überlegt, was auf den Bombenanschlag folgen sollte. Und wie Al nun darüber lachte, verletzte Mitt zutiefst.

»Du brauchst mir nicht erst zu sagen, dass sie keinen Funken Verstand hat!«, rief er. »Sie hätte mich ruiniert, wenn ich es zugelassen hätte. Und du schlägst ihr nach. Man stelle sich vor – mein Sohn schließt Freundschaft mit Hadds Enkelkindern!«

»Sie sind nicht meine Freunde!«, entgegnete Mitt hitzig.

»Na, fast hätte ich dir’s geglaubt«, sagte Al. »Sitzt du immer bei deinen Feinden auf Kajütendächern und reißt mit ihnen Witze? Dein halbes Leben hast du ihnen erzählt, oder etwa nicht? Und diese Hildrida ist alles andere als dumm. Wenn du ihr noch ein Wort sagst, dann zählt sie zwei und zwei zusammen – denn von mir hat sie auch einiges erfahren –, und dann sind meine Pläne mit ihr dahin. Du hast dich selbst in die Ecke gedrängt, weil du dein großes Maul nicht halten kannst. Mit solchen Leuten freundet man sich nicht an. Man mästet sich auf ihre Kosten.«

Vor der Tür waren eilige Schritte zu hören. Jemand rief: »Al! Al, bist du da drin? Lithar sucht dich.«

»Ich komme sofort!«, brüllte Al zurück. »Dann wird sich eben Benk um dich kümmern«, sagte er zu Mitt. »Kann dieser sabbernde Trottel denn nicht einmal fünf Minuten ohne mich auskommen?« Brummelnd verließ er den Abstellraum, knallte die Tür zu, und scharrend schob er den Riegel vor.

Mitt sank schlaff in der Ecke zu Boden. Er umschlang den Kopf mit den Armen, als könnte er dadurch sein Elend lindern. Es half nichts. Nichts half. Seine schreckliche Ähnlichkeit mit Al war eindeutig kein Zufall. Ganz der Sohn seines Vaters, das war er. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und während Mitt Al bis aufs Blut hasste, hasste er sich, wenn das möglich war, noch mehr. Er hatte alles getan, um genauso ein Rohling zu werden wie Al, und dass es anders gekommen war, konnte er sich nicht als sein Verdienst zuschreiben. Vor allem aber hatte sich nun das Ziel, das so lange sein Leitstern gewesen war, als nichtig erwiesen. Al hatte die Freien Holander verraten, nicht umgekehrt. Mitt war wieder, als zerfalle seine Welt, wie Canden in dem alten Traum. An gar nichts konnte er sich noch festhalten.

»Eines hättest du für mich tun können, Al«, sagte er in seiner Ecke. »Du hättest mich rasch von meinem Elend erlösen können, anstatt umgehend zu deinem verdammten Lithar abzuhauen!«

Es dauerte jedoch noch einige Stunden, bevor jemand kam, um Mitts Elend zu beenden. Bis dahin rollte er sich stöhnend mitten im Raum herum. Ihm blieb kaum Zeit aufzuspringen und zu sehen, dass der kleine braunhäutige Matrose, der Jenro hieß, und ein anderer, den er nicht kannte, in den Raum kamen, während Benk in der Tür stehen blieb, dann zog man ihm einen großen Sack über den Kopf, und Jenro lud ihn sich wie eine Teppichrolle auf die Schulter.

»He!«, rief Mitt und zappelte schwächlich.

»Sei still, mein Kleiner, und dir geschieht nichts«, sagte Jenro leise.

»Beeilt euch«, sagte Benk aus der Ferme.

Mitt vertraute Jenro und hörte auf, sich zu wehren. Während Jenro mit ihm irgendwohin hastete, begann die Welt auf und ab zu hüpfen. Mitt war es nicht angenehm, mit dem Kopf nach unten über der Schulter des Matrosen zu hängen, doch er konnte es aushalten. Gar nicht lange dauerte es, und er wurde hochgewuchtet, heruntergelassen und schließlich bemerkenswert sanft auf Bretter gelegt, die ein wenig schwankten. Unter den Brettern hörte Mitt Wasser plätschern, und darum vermutete er, er sei in einem Boot. Er spürte, wie das Boot schaukelte, und hörte, wie die beiden Matrosen die Riemen einlegten. Er versuchte, durch den Sack zu lugen, denn er wollte wissen, wo er war. Der Sack war haarig, staubig und löchrig, und es kitzelte ihm in der Nase. Er sah nur wenig Licht durch die Löchlein kommen und vermutete, dass das Boot irgendwo versteckt war und man, was immer man mit ihm vorhatte, insgeheim anstellen musste. Ohne Jenros Warnung hätte Mitt vor Angst geschrien.

Die beiden Matrosen hörten auf, sich zu bewegen. Jenro fragte sanft: »Dann willst du wirklich, Käpten, dass wir den Kleinen aufs Meer hinausrudern und über Bord werfen?«

»Ja«, hörte Mitt Benk von irgendwoher antworten, »und ich komme mit und überzeuge mich, dass ihr gehorcht.«

»Käpten, das ist doch wirklich nicht nötig«, sagte der andere Matrose.

»Ach nein?« Das Boot schlingerte heftig, als Benk hineinsprang. »Ich kenne euch doch. Wenn ihr sagt, es wäre nicht nötig, dann werde ich misstrauisch. Los, ablegen.«

Die Matrosen schwiegen, und Mitt spürte, wie das Boot sich in Bewegung setzte. In langsamem, schläfrigem Rhythmus tauchten die Riemen ein, knirschten und plätscherten. Kurz fiel helles Sonnenlicht durch die Löchlein im Sack. Mitt glaubte, dass sie nun im Hafen sein mussten. Sie fuhren nun eine Weile unter der Sonne. Ganz gleichmäßig tauchten die Riemen ein, knirschten und plätscherten. Der Rhythmus war so einschläfernd, dass Mitt trotz seines Elends beinah eingenickt wäre.

Dann hörte er wieder die milden Stimmen. »Käpten den Kleinen hier ins Meer werfen – das können wir nicht.«

»Aber ihr wartet, bis wir an Schroffrett vorbei sind, bevor ihr mir das sagt«, entgegnete Benk von weiter weg. »Ihr werdet es tun.«

»Käpten, wir sind zu zweit, und du bist allein.«

»Na gut. Dann könnt ihr mir zusehen, wie ich es selber mache«, sagte Benk.

»Aber das können wir nicht.«

»Damit müsst ihr euch schon abfinden«, erwiderte Benk. »Al will es so, und ihr tut doch immer, was Al will, oder nicht?«

»Das hier können wir auch für Al nicht tun.«

Benk schien wirklich erstaunt zu sein. »Nicht einmal für Al?«

»Nein«, sagte Jenro. »Denn dieser Kleine kam auf der Straße des Windes, und ihn leiteten zwei Große vorn und hinten.«

»Was hat das denn miteinander zu tun?«, wollte Bank wissen. »Al ist doch mit dem gleichen vermaledeiten Boot angekommen.«

»Das ist nicht wichtig. Die Großen sind allumfassend.«

»Lasst mich bloß mit eurer Religion in Ruhe!«, rief Benk.

Die Stimmen verstummten. Langsam und friedlich tauchten die Riemen ein. Mitt grinste unter seinem haarigen Sack und rieb sich die juckende Nase. Er vermutete, dass Benk vor ihm im Wasser landen würde, und er glaubte, dass Benk sich dessen genau bewusst war. Vom Geräusch der Riemen besänftigt, schlummerte Mitt ein. Er war froh, sich vergessen zu können. Immer wieder wachte er auf, und jedes Mal war das Streitgespräch wieder im Gange.

»Was soll ich denn tun, wenn zwei meiner besten Männer nicht tun, was ich ihnen sage?«, hörte er Benk fragen.

»Wir werden tun, was du uns sagst«, entgegnete eine milde Stimme.

»Und ich will, dass ihr diesen Bengel ins Meer werft.«

»Aber das können wir nicht tun.«

Ein anderes Mal hörte Mitt, wie Benk fragte: »Und wofür rudert ihr denn eigentlich den ganzen weiten Weg hinaus? Machen wir am Ende einen Bogen und fahren zurück, oder was?«

»Sobald du möchtest, dass wir umkehren, Käpten.«

»Das will ich gar nicht! Ich will, dass ihr den Bengel ins Meer werft!«

»Aber das können wir nicht tun, Käpten.«

Als Mitt das nächste Mal erwachte, hatte Benk aufgegeben. »Ich verstehe«, sagte er gerade. »Und wenn ich ihn anrühre, lande ich statt seiner im Meer.«

»Du solltest uns nicht dazu zwingen, Käpten.«

»Wozu kann ich euch denn dann zwingen?«

»Wenn es dir recht ist, Käpten, dann könnten wir zu einer Insel rudern und den Kleinen dort absetzen. Es gibt Inseln, auf denen kein Sterblicher lebt.«

»Es geht nicht darum, was mir recht ist«, entgegnete Benk. »Al muss es recht sein.«

»Wenn du Al nichts sagst, dann sagen wir auch nichts.«

»Hm«, machte Benk und sagte, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte: »Nun, es ist wohl nicht viel anders, als wenn wir ihn ins Meer geworfen hätten, solange die Insel nur unbewohnt ist. Welche Insel soll es sein?«

»Die Liebliche Heilige Insel ist nicht weit. Darauf gibt es niemanden außer Ihr, die sie die Inseln erhob, und dem Erderschütterer.«

»Was soll das heißen?«

»Keine sterbliche Seele lebt dort.«

»Ich dachte, dort wohnt ein verrückter alter Priester, sagt man das nicht?«

»Er lebt dort nicht. Keine sterbliche Seele lebt dort.«

»Na, dann gut!«, sagte Benk.

Das Knirschen und Rütteln der Ruder beschleunigte sich merklich, und Mitt spürte, wie das Boot durchs Wasser schoss. Nach kaum einer Minute hörte das Rudern wieder auf, und Kies knirschte unter dem Boot. Mitt hörte, wie die Wellen die Kiesel eines Strandes umspülten.

»Beeilt euch!«, rief Benk.

Mitt wurde von den Männern angehoben und aus dem Boot getragen. Unter ihren Füßen raschelte der Sand, und dann stellte man ihn mit den Füßen sanft auf etwas, das sich wie Rasen anfühlte. Jenro befreite Mitt von dem Sack und lächelte ihn an.

Mitt hatte das Gefühl, Jenro würde etwas sagen, etwas Wichtiges vielleicht, doch während Mitt noch blinzelte und sich die Haare des Sacks aus den Augen wischte, stieg Benk schon wieder ärgerlich in das Ruderboot am Rande des Sandes.

»Kommt schon«, sagte er. »Sonst fahr ich allein.«

Die beiden Matrosen lächelten Mitt zu, und Jenro zwinkerte ihm eindeutig zu, obwohl Mitt keinen Grund dafür erkannte, dann trotteten beide zurück zum Boot. Mitt blieb zurück, blinzelte noch immer, während sie das Boot ins Wasser schoben und es mit einem gewandten Ruderstoß wendeten. Die Matrosen ruderten in scharfem Tempo davon. Vor dem Grün der Nachbarinsel wurde das Boot kleiner und kleiner. Mitt schätzte, dass es sich wenigstens doppelt so schnell entfernte, wie sie gekommen waren.

Mitt fühlte sich verlassen. Die Nachbarinsel war zu weit entfernt, um sie schwimmend zu erreichen. Als Haufen von Felsen in grünem Gras türmte sich die Heilige Insel vor ihm auf. Sie war wild, unberührt und völlig verlassen. Dem frischen, torfigen Geruch nach zu urteilen, gab es Wasser in der Nähe, doch außer Beeren sah Mitt keine Nahrung. Aus welchem Grund hatte Jenro ihm zugezwinkert? Verhungern würde er hier!

Er versuchte, sich zu erinnern, wie die Heilige Insel von der anderen Seite ausgesehen hatte, als sie an Bord der Straße des Windes daran vorübersegelten. Niedriger und grüner hatte sie gewirkt, und auf der anderen Seite waren – obwohl er sich da irren konnte – die Nachbarinseln nicht so weit entfernt gewesen. Hinzugehen und nachzusehen war auf jeden Fall einen Versuch wert.

Mitt brach auf. Er musste die ganze Insel umrunden. Einen freien Weg fand er allerdings nicht. Er sah sich gezwungen, auf und ab zu steigen, sich hier zwischen Felsen hindurchzuzwängen und dort über schlüpfrigen Rasen zu gehen, manchmal fast schon im Wasser zu waten, dann wieder weit oben auf dem Hügel umherzuklettern. Während er marschierte, holte ihn all sein Elend wieder ein. Er hasste sich, er hasste Al, er hasste Navis – er hasste alles und jeden so sehr, dass er sich wünschte, man hätte ihn wirklich ertränkt. Er wunderte sich nicht mehr, wie Hildy dazu kam auszurufen, sie hasse das Leben. Das Leben war nicht lebenswert.

Die Sonne stand schon tief. Mitt wurde es warm. Kleine Mücken umschwirrten ihn. Zu guter Letzt stellte er fest, dass ein großer Granitblock ihm den Weg auf die andere Seite der Insel verstellte. Grässlich vor sich hin fluchend, erklomm er ihn. Als er oben stand, erstreckte sich unter ihm eine grüne Wiese bis zum Meer hin. Das Gras leuchtete im goldenen Abendlicht. Jenseits der Wiese wälzte sich die See plätschernd in kleinen Wellen. Mitt blickte über ihr goldenes Gekräusel hinweg und sah, dass die nächsten zwei Inseln nur etwa zweihundert Schritt weit entfernt lagen. Diese Strecke konnte er mühelos schwimmen. Kein Wunder, dass Jenro ihm zugeblinzelt hatte. Dann blickte Mitt auf die Wiese hinunter.

Ein Stier stand auf der Wiese, ein gewaltiges Tier, den die untergehende Sonne fast rot färbte. Sein langer Schatten erstreckte sich über die halbe Wiese. Als Mitt ihn anblickte, hob der Stier den dreieckigen, mit gefährlich aussehenden und aus einem Gewirr kastanienbrauner Locken hervorwachsenden Hörnern bewehrten Kopf und schaute Mitt an. Der Stier schwang den buscheligen Schwanz. Ohne die roten Augen von Mitt zu nehmen, näherte sich der Stier dem Felsblock. Wenn er auftrat, spürte Mitt, wie der Granit unter dem Gewicht des Tieres erbebte.

Und was soll ich jetzt tun?, überlegte er und kauerte sich auf dem Felsen nieder.

Eine Frau kam um den Felsblock und blickte zu Mitt hoch. »Diesen Weg nimmst du lieber nicht«, sagte sie zu ihm und nickte dem Stier zu. Sie trug ein grünes, rot besticktes Kleid in dem Schnitt, der auf den Heiligen Inseln üblich war, und doch meinte Mitt, dass sie keine Inselfrau sein konnte. Sie war hochgewachsen und hatte langes rotes Haar, das im Seewind hinter ihr herflatterte. Ihr Gesicht war schön und recht ernst. »Geh dort hinauf«, sagte sie und deutete auf den höher gelegenen Teil der Insel über dem Fels.

Mitt folgte ihrem Arm und entdeckte einen Pfad aus festgetretener Erde, der sich steil zwischen Felsblöcken hindurch zum Gipfel wand. Erneut warf er einen Blick auf den Stier, der ihn unfreundlich erwiderte. »Das sollte ich wohl lieber«, stimmte er der Frau zu und erhob sich. Dann erst begriff er, dass die Frau auf der Wiese stand, nur wenige Schritte von dem Stier entfernt. »Kann dir hier nichts geschehen?«, fragte er.

Die Frau lächelte. Ihr Lächeln erinnerte Mitt an Milda, wenn das Grübchen die Sorgenrunzel aus ihrem Gesicht vertrieb. »Danke. Ich weiß ihn zu nehmen«, sagte sie.

Als Mitt den steilen Pfad in Angriff nahm, sah er, wie die Frau mit vorgestreckter Hand auf den Stier zuging. Der Bulle streckte den massigen Hals und beschnüffelte ihre Finger. Ná, besser bei ihr als bei mir!, dachte sich Mitt.

Der Pfad schlängelte sich vorwärts und rückwärts den Berg hinauf, drang zwischen verkrümmten Bäumen hindurch und beschrieb über Felsen haarnadelscharfe Kurven. Während Mitt kletterte, stieg ihm immerzu der warme Duft von Erde und der scharfe Geruch nach Torf in die Nase. Das getragene Platschen und Rollen der Wellen wurde lauter und klang doch ferner. Mitt fragte sich, wohin er ging und was es ihm nutzte, wenn er dort ankam. Dann bog der Pfad um einen Felsblock, aus dem ein Baum herauswuchs, und führte in ein sehr kleines Tal, das auf einer Seite zum Meer hin offen war und grüner erschien als irgendeine der Inseln. Mitt blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Im goldenen Licht hatte er einen prächtigen Ausblick über die Inseln: auf der einen Seite grün-goldene Eilande in blaugrauem Meer, auf der anderen Seite blauschwarze Inseln vor der Sonne, silber-golden schwebend wie Wolken bei Sonnenuntergang.

Erhitzt, atemlos und unglücklich, wie er war, empfand Mitt bei diesem Anblick tiefe Bitterkeit. In Zeiten, die er lange vergessen hatte, als kleiner Junge, da hatte er von einem Ort wie diesem geträumt. Nun hatte er ihn gefunden, und was nutzte es ihm?

Er wandte sich ab und ging tiefer ins Tal. Dort war es feucht und kühl. Zu Mitts Freude rann an einem Felsen ein Bächlein hinab. Der staubige Sack hatte ihn sehr durstig gemacht. Er tauchte erst die Hände und dann das Gesicht ins Wasser. Triefend kam er wieder hervor. Er bemerkte neben dem Bach einen der Steinpfeiler, wie er sie schon auf der Insel Gart gesehen hatte. Er war etwa so hoch wie eine Sonnenuhr, aber breiter. Darauf standen zwei kleine Figuren, eine aus grünen Trauben und Vogelbeeren, die andere aus geflochtenen Weizenstängeln.

»He!«, rief Mitt. »Da sind ja Libby Bier und der Alte Ammet!«

Als er die Hand vorstreckte, um den Alten Ammet zur Begrüßung zu berühren, erbebte das kleine Tal unter den Füßen eines großen Wesens. Er wirbelte herum und fürchtete, sich wieder dem Stier gegenüberzusehen.

Ein grauweißes Pferd hatte weiter unten im Tal angehalten, und ein Mann mit wehendem hellem Haar stieg ab. Mitt wischte sich hastig das nasse Gesicht mit dem Ärmel ab und wich bis an den Steinpfeiler zurück. Der Mann war der Alte Ammet. Er trat auf Mitt zu und lächelte dabei matt. Sein langes helles Haar flatterte und wirbelte um seinen Kopf und seine Schultern, als stürmte es im Tal; dabei ging überhaupt kein Wind. Der Alte Mann hatte einen direkten, ernsten Blick, der Mitt ein bisschen an Hobin erinnerte, obwohl sein Gesicht in keiner Weise Hobin glich. Solch ein Gesicht hatte Mitt noch nie gesehen. Hielt Mitt den Alten Ammet im einen Moment noch für einen würdigen Greis, so erschien er im nächsten als stattlicher junger Mann. Und als Mitt diese eigenartigen Veränderungen beobachtete, fürchtete er sich mehr als in jedem erdenklichen Albtraum. Mit jedem Schritt, den der Alte Ammet vortrat, überkam Mitt eine neue Welle der Angst, bis er solche Furcht hatte wie in Holand, als er vorgab, Murmeln zu spielen – bis hin zu dem Augenblick, in dem der Alte Ammet das Wort an ihn richtete. Dann erschien alles plötzlich völlig natürlich.

»Ich musste unbedingt mit dir sprechen, Alhammitt«, sagte der Alte Ammet. Seine Stimme ließ Mitt an Siriol denken, obwohl sie ganz und gar anders klang. »Ich habe dir eine Frage zu stellen.«

»Du hättest mich doch jederzeit ansprechen können«, entgegnete Mitt, der einen leichten Groll empfand. »Warum muss es ausgerechnet jetzt sein, wo ich zerschmettert am Boden liege?«

Das junge Gesicht des Alten Ammet lachte, und sein altes Gesicht antwortete. »Weil bislang kein Zweifel darüber bestand, was du als Nächstes tun würdest.«

»Ich möchte nur von hier fort und nach Norden«, sagte Mitt. »Was ist daran zweifelhaft?«

»Nichts«, pflichtete der Alte Ammet ihm mit seinem ernsten alten Gesicht bei. »Die Menschen von den Inseln werden dir helfen, nach Norden zu fliehen.« Dann blitzte es jung und froh und eifrig auf in seinem Gesicht, und er sagte: »Und es steht auch recht sicher fest, dass zu zurückkommen wirst.«

»Woher weißt du das?«, fragte Mitt. Er wusste, dass der Alte Ammet Recht hatte. Er musste einfach auf die Heiligen Inseln zurückkehren. »Wann komme ich denn zurück?«

»Das musst du selbst entscheiden«, sagte der Alte Ammet, jung und alt zugleich. »Und es steht geschrieben, dass wir diese Inseln in deine Hände geben, sobald du zurückkehrst. Meine Frage an dich lautet: Nimmst du sie dann als Freund oder als Feind?«

»Als dein Feind, meinst du?«, vergewisserte sich Mitt. Die Frage verwirrte ihn zutiefst.

Erneut lachte das junge Gesicht des Alten Ammet. »Wir sind nicht der Stoff, aus dem man Feinde oder Freunde macht, Alhammitt. Also frage ich so: Kommst du dann als Eroberer oder in Frieden?«

»Woher soll ich das wissen?«, entgegnete Mitt. »Was soll das eigentlich, dass du herkommst und mir solche Fragen stellst? Dass du mich einfach so herumschubst? Ich glaube, ihr schubst mich schon die ganze Zeit herum, du und Libby Bier, und ich mag es gar nicht, wenn die Leute mich herumschubsen!«

»Niemand hat dich herumgeschubst«, sagte der Alte Ammet. Nun sah er so alt aus wie die Inseln. »Du wählst deinen Weg selbst, und wir halfen dir, wie es uns bestimmt ist. Wir werden dir wieder helfen. Ich muss nur von dir wissen, welche Art Hilfe wir dir leisten sollen in den Tagen, die da kommen werden.« Und als hätte Mitt ihm die Antwort bereits gegeben, drehte sich der Alte Ammet um und ging zu seinem Pferd. Das Sonnenlicht fiel auf das Weizengelb seiner Kleider und seiner Haare und schien darin zu verschmelzen.

»He, warte!«, rief Mitt. Er war sehr wütend auf den Alten Ammet und sehr enttäuscht. Irgendwie hatte er mehr von ihm erwartet. »Also, was soll ich denn sagen? Vielleicht kannst du mir dabei ein wenig helfen!«, rief er und eilte der schwindenden, nebelhaften Gestalt hinterher. Der Alte Ammet drehte sich um und verwandelte sich wieder zu einem jungen Mann. Mitt konnte keinen Schritt weitergehen. »Willst du die Heiligen Inseln nicht lieber jemand anderem geben?«, fragte er. »Ich habe sie nicht verdient.«

Der Alte Ammet schüttelte sein wehendes Haar und lächelte bedauernd. »Ich bin niemandes Richter.«

»Aber du könntest es sein«, entgegnete Mitt.

»Was nützte das?«, fragte der Alte Ammet. »Wie lautet deine Antwort?«

Mitt stellte erleichtert fest, dass er des Alten Ammets Frage noch immer nicht beantwortet hatte. Er dachte darüber nach. Im ersten Moment hätte er den Alten Ammet am liebsten gebeten, in einer Stunde oder so noch mal wiederzukommen, damit er Zeit hatte, allein und in Ruhe nachzudenken. Doch der Alte Ammet blieb vor ihm stehen, grau und geduldig neben dem hohen grauen Ross, und das Pferd graste auf dem kühlen grünen Rasen, während helle Wassertropfen gelinde aus seiner Mähne fielen, als hätten sie beide alle Zeit der Welt.

»Ich kann nur schlecht denken, ohne zu reden«, sagte Mitt. »Da bin ich wie Al. Wir reden beide gern.«

»Warum redest du dann nicht?«, meinte der Alte Ammet.

Doch Mitt fiel plötzlich ein, dass es in ihm steckte, noch schlimmer zu werden als Al, und das verschlug ihm die Sprache. Wenn Mitt wollte, konnte er wirklich der Eroberer aus seinem Tagtraum sein und das Land heimsuchen und Leuten wie Navis den Tod bringen. Was Al tat, das tat er nur für sich allein. Mitt aber beginge seine Taten gegen die Menschen. Er blickte zu dem Alten Ammet hoch und sah noch, wie dessen Gesicht von alt nach jung umschlug. Nun wirkte er so wunderbar wie Mitts Tagtraum. Hinter dem Alten Ammet lag der Eingang zum Tal, und dort breiteten sich zwischen dem abendlichen Meer und dem Himmel die Heiligen Inseln aus. Mitt wusste nun genau, dass er nicht zurückkehren wollte, um Menschen von einer Insel zur anderen zu jagen und ihnen den Tod zu bringen. Das passte einfach nicht zu ihm, doch wenn er es dennoch täte, dann kehrte er als ein Feind zurück. Er hatte des Alten Ammets Wort, dass er wiederkommen würde. Als Eroberer zurückzukehren wäre genauso, als zerstörte er selbst seine eigenen früheren Tagträume.

Er blickte dem Alten Ammet ins Gesicht und beobachtete den Übergang von jung nach alt. »Ich werde als Freund kommen«, sagte er.

Der Alte Ammet, nun ganz alt geworden, nickte nur ernst. Mehr hatte Mitt nicht erwartet, und doch war er enttäuscht. Er hatte gehofft, der Alte Ammet würde seine Entscheidung loben oder Mitt wenigstens dafür belohnen. Er war ein sehr verwirrendes Wesen und, wie Mitt vermutete, auch ein sehr mächtiges.

»Wie heißt du?«, fragte er. »Du heißt doch eigentlich gar nicht Alter Ammet, richtig?«

»Einst«, antwortete der Alte Ammet, »trug ich denselben Namen wie du. Aber das haben die Menschen vergessen.«

Mitt glaubte, das hätte er schon immer gewusst. Alter Ammet und Alhammitt klangen nicht so furchtbar unterschiedlich. »Und Libby Bier?«, fragte er. »Das ist doch wirklich ein alberner Name.«

Der Junge Ammet lächelte Mitt an und blendete ihn mit dem Wogen und Heben und Senken seines strahlendes Haares und der Helligkeit seiner Kleidung. »Nun, nachdem du dich entschieden hast, kannst du lernen, wie du uns beide anrufen sollst. Geh hoch zu unserem Haus und nimm dir dort die Hilfe, die du dir nehmen kannst. Denke daran, nach unseren Namen zu fragen.« Er wies auf das Ende des kleinen Tales. Mitt sah, dass der Pfad dort anstieg und zwischen die Felsen führte. Noch während Mitt dorthin blickte, hatte er das Gefühl, der Alte Ammet wandle strahlend schön aus dem Tal und, das Pferd am Zügel führend, gen Himmel. Aber er war sich nicht sicher. Mit Sicherheit wusste er nur, dass der Alte Ammet verschwunden war.

»Na, wenigstens bin ich ihm begegnet«, sagte sich Mitt, und während er nun den Pfad beschritt, fühlte er sich wunderbar zufrieden.

Weit war es nicht, nur ein kurzer, steiler Aufstieg zwischen den Felsen, dann erreichte Mitt den höchsten Punkt der Heiligen Insel. Hier wehte ein starker Wind, und er fand ein kleines graues Häuschen, das aussah, als stünde es hier, seit es die Insel gab. Davor wartete ein alter, ein uralter Mann von den Inseln mit langem weißen Haar und einem runzligen braunen Gesicht.

»He!«, rief Mitt, denn er wusste noch genau, dass Jenro gesagt hatte, auf dieser Insel gebe es keine lebende Seele.

»Du hast einen anstrengenden Aufstieg hinter dir«, begrüßte der alte Mann Mitt in der milden Sprechweise, die auf den Inseln üblich war. »Komm, setz dich auf die Bank hier und hole erst einmal Luft.«

»Danke«, sagte Mitt. »Aber vorher muss ich dich nach ihren Namen fragen. Deswegen bin ich hier.«

»Setz dich erst mal. Dazu brauchst du einen ausgeruhten Verstand«, entgegnete der Greis und wies auf eine Steinbank vor dem Haus. Mitt ging hin und ließ sich ein wenig ungeduldig darauf nieder. Der alte Mann setzte sich mit langsamen Bewegungen neben ihn. »Möchtest du essen?«, fragte er.

»Nun, ich … Ja – danke!«, antwortete Mitt. Der alte Mann reichte ihm plötzlich eine riesige Traube Weinbeeren und einen flachen, zopfartigen Brotlaib, der so geflochten war, dass er wie eine Weizenähre aussah, und Mitt konnte überhaupt nicht sagen, woher er sie genommen hatte. »Was ist mit dir?«, fragte er höflich.

»Mir geht es gut, vielen Dank«, sagte der Greis.

Mitt nahm an, dass er damit sagen wollte, er sei nicht hungrig. Der Brotzopf schmeckte noch besser als das Brot, das Mitt zum Frühstück bekommen hatte, und die Trauben waren süßsauer, kühl und saftig. Mitt aß alles bis auf den letzten Bissen auf. »Was ist denn nun mit den Namen?«, fragte er kauend.

»Die Namen des Erderschütterers und von Ihr, die sie die Inseln erhob, sind stark und wirkungsvoll«, sagte der alte Mann, »auch die geringsten von ihnen. Mit lauter Stimme ausgesprochen, sind sie zu stark, es sei denn, der Sprecher ist reinen Herzens. Und ich muss dich warnen, dass die Namen des Erderschütterers selbst dann noch nicht nur am stärksten, sondern auch grausam sind. Wer immer diese Namen erfährt, darf sie niemals laut aussprechen, nicht einmal im Schlaf, es sei denn, er wünscht, dass etwas Gefährliches folgt. Möchtest du noch immer wissen, wie diese Namen lauten?«

Mitt war sich gar nicht sicher. Ihm behagte der Gedanke wenig, dass er im Schlaf etwas Gefährliches sagen könnte. Gerade wollte er den alten Mann fragen, ob er seine Bitte zurücknehmen könnte, als ihm klar wurde, dass der Alte Ammet ihn für seine Entscheidung doch belohnt hatte: Dies sollte die Belohnung sein. So furchteinflößend es auch war, Mitt erkannte, dass er sie entweder annehmen oder seine Entscheidung zurückziehen müsste. Und wenn er sich vorstellte, er würde die Heiligen Inseln erobern und deren Bewohner töten, so wusste er sogleich, dass seine Entscheidung richtig war. »Ja, bitte«, sagte er.

»Und wer hat dich gesandt?«, fragte der alte Mann.

Mitt antwortete ohne Zögern. »Der Erderschütterer.«

»Dann will ich sie dir zeigen«, sagte der Priester, »sobald du dir genug von ihren Gaben genommen hast.« Er stand genauso langsam auf, wie er sich gesetzt hatte. Mitt klopfte sich die Krümel ab und erhob sich ebenfalls. »Kannst du lesen?«, fragte der alte Priester.

»Ein wenig«, gab Mitt zu.

Der alte Mann ging an die Tür des Häuschens, aber er trat nicht ein, sondern bedeutete Mitt hineinzugehen. »Blick in der Sonne unter sie«, sagte er. »Und sprich nicht aus, was du liest, solange du nicht in echter Not bist.«

Mitt musste den Kopf beugen, um in das Haus zu gelangen. Als er drin war, bemerkte er erstaunt, dass es nicht dunkel war, wie er erwartet hatte, sondern licht und warm und still. Die Abendsonne strömte durch Fenster herein, die merkwürdig niedrig, fast auf dem Fußboden angebracht waren. Das rotgoldene Licht fiel auf die Giebelseite und auf zwei Nischen im Mauerwerk. In der einen Nische stand Libby Bier, in der anderen der Alte Ammet. Sie bestanden nicht aus Trauben und Korn, sondern es waren eigenartige Statuen der Gestalten, in denen Mitt sie erblickt hatte. Mitt wusste sofort, dass der unbekannte Erschaffer dieser Figuren sie ebenfalls gesehen haben musste. Libby Bier war lächelnd dargestellt; sie zeigte genau das Lächeln, das sie Mitt geschenkt hatte, und der Alte Ammet sah wie durch ein Wunder zugleich jung und alt aus. Mitt wünschte, er wüsste, wie man solche Ähnlichkeit zustande brachte.

Blick in der Sonne unter sie, hatte der alte Mann gesagt. Mitt nahm die Augen widerstrebend von den Statuen und betrachtete die Wand unter den Nischen. Dort waren sehr viele Risse, als hätte etwas die Mauer getroffen und fast zerschmettert. Doch als Mitt hinsah, stellte er fest, dass die Sonne einige dieser Risse erhellte und andere nicht. Die erhellten Risse aber bildeten Buchstaben. Die Buchstaben fielen zusammen und schufen Wörter, zwei Wörter unter jeder Statue, und die Wörter waren Namen.

Mitt hatte immer geglaubt, er könnte nichts lesen, ohne gleichzeitig auszusprechen, was er sah. Hier aber wagte er das nicht. Noch nie hatte er so etwas Schweres versucht wie diese Wörter nur in seinem Kopf zu buchstabieren. Drei von ihnen waren so fremdartig, dass er gar nicht sicher war, wie er sie aussprechen sollte. Nur einer, derjenige, der unmittelbar unter der Nische mit dem Alten Ammet stand, war nicht so merkwürdig. Er lautete beinahe Ynen – genauer gesagt wie Ynen mit einem zusätzlichen yn. Daraus schloss Mitt, dass der obere Name in jedem Paar der geringere sei und für die üblichen Abbilder des Alten Ammet und Libby Bier aus Korn und Beeren verwendet wurde, der untere Name aber der stärkere, der den Alten Ammet und Libby Bier darstellte, wie sie wirklich waren. Nachdem er dies begriffen hatte, konnte er sie sich ein wenig leichter merken. Dennoch ging er mit erhobenem Blick und sich bewegendem Mund zur Tür und versuchte dabei noch immer mühsam, sie sich einzuprägen.

»Du solltest sie ohne Zwang ruhen lassen. Dann bleiben sie gern bei dir«, sagte der alte Priester freundlich, als er sah, welche Mühe Mitt hatte.

Mitt sah ihn verdutzt an. »Wirklich? Sie scheinen mir entfliehen zu wollen, sobald ich aufhöre, an sie zu denken.«

»Du wirst sie aussprechen, wenn du sie nicht aussprechen solltest, falls du sie nicht ruhen lässt«, sagte der alte Mann. »Was du nun tun musst, ist, diesem Weg zu folgen.« Er wies auf die Felsen auf der landeinwärtigen Seite des niedrigen grauen Hauses.

»Aber wie kann ich in dieser Richtung die Insel verlassen?«, fragte Mitt.

»Der Erderschütterer zeigt dir den Weg«, versicherte ihm der Priester.

Mitt zuckte mit den Schultern und blickte zum grünen Buckel der Nachbarinsel hinüber, die eine gute halbe Meile entfernt lag. Dennoch, wohin der alte Mann deutete, schien ein bequemer Weg nach unten zu führen. Als Mitt sich wieder zu ihm umdrehte, um sich bei ihm zu bedanken, war er verschwunden. Mitt wusste, dass er keine Zeit gehabt hätte, irgendwohin davonzuhinken. Der alte Priester war einfach nicht mehr da. Mitt spürte, dass es rings um das Haus nun völlig leer geworden war.

»Und er kam mir vor wie ein echter Mensch«, sagte Mitt. »Ich möchte wissen, wer das war.«