2.

An seinen ersten Winter in Holand erinnerte sich Mitt zeitlebens nur voll Widerwillen. Sein Vater bewohnte ein Zimmer in einem großen Mietshaus unten am Hafen. Mitt und Milda zogen dort bei ihm ein. Das Mietshaus war früher wohl der Sitz eines reichen Mannes gewesen, denn außen, an den grünlichen, abblätternden Mauern, waren noch die Reste von Fassadenmalereien zu sehen – Bilder von Blumengirlanden und Sagengestalten, Weizengarben und Weintrauben, die einmal sehr hübsch gewesen sein mussten. Nun jedoch waren sie so verkommen, dass Mitt nicht genau sagen konnte, was sie darstellen sollten, und im Übrigen sah er das Gebäude ohnedies meist von innen. Man hatte die großzügigen Zimmer in so viele kleine Räume unterteilt wie irgend möglich und das Haus bis an die Grenzen seines Fassungsvermögens mit Menschen voll gestopft. Es war schmutzig. Auf den finsteren Treppen standen stinkende Eimer für den Unrat. In allen Wänden lebten Bettwanzen. Bei Nacht kamen sie hervor und bissen bösartig zu. Ihretwegen, wegen der Unvertrautheit der neuen Umgebung und wegen des Lärms, den die vielen Menschen verursachten, konnte Mitt nicht besonders gut schlafen. Wach lag er da und hörte seine Eltern streiten, wie sie sich noch nie gestritten hatten.

Mitt begriff nicht, worüber sie sich stritten, aber anscheinend freute es seinen Vater überhaupt nicht, dass sie zu ihm nach Holand gekommen waren. »Klötze am Bein seid ihr mir!«, so drückte er sich aus. Er wollte sie nach Grabensend zurückschicken. Als Milda ihn anbrüllte, sie habe nicht das Geld für die Pacht, verfluchte er ihre Faulheit.

»Warum soll ich mir die Finger wund schuften, damit du auf der faulen Haut liegen kannst?«, schrie Milda ihn an. Doch nachdem sie eine Woche lang gestritten hatten, fand sie Arbeit in einer Manufaktur, in der erlesene bestickte Vorhänge hergestellt wurden. Dort saß sie vom frühen Morgen an und nähte, bis am Abend das Licht zu schwach wurde.

Mitt verstand immer weniger, worüber seine Eltern stritten. Milda sagte immer wieder zum Vater: »Du und deine Freien Holander! Freie Holander! In dieser Stadt gibt es so etwas wie Freiheit überhaupt nicht!« Mitt konnte einfach nicht sagen, was das bedeuten sollte.

Die Stadt Holand erschreckte und verstörte ihn. Er verabscheute den Schmutz, den Lärm, die vielen Menschen. Jeden Morgen musste er ihren Eimer zum Kai bringen und in den Hafen ausleeren. Wie Milda sagte, bestand einer der Vorteile ihres Mietshauses darin, dass man nicht weit zu gehen brauchte, um den Unrat loszuwerden. Mitt hasste den Gestank des schmierigen Hafens, wo Fischschuppen auf den Pflastersteinen glänzten wie Pailletten auf einem schmutzigen Kleidungsstück. Das Gedränge stieß ihn ab. Er sah stolze Schiffe mit vielen Masten und flatternden Wimpeln, Kauffahrteischiffe, die ständig beladen und entladen wurden, dazu auch Schiffe der gräflichen Flotte. Dazwischen lagen, dicht aneinander gedrängt und geschäftig, kleine Boote: Ruderboote, Kutter, Jollen und gut hundert Fischerboote. Mitt war immer froh, wenn die Fischfangflotte auslief, denn hinterher erschien das überfüllte Wasser ein wenig leerer.

Sobald Mitt den Eimer an die Tür ihres Zimmers zurückgebracht hatte, war er, seitdem Milda Arbeit gefunden hatte, für den Rest des Tages auf sich gestellt. Zu tun hatte er nichts, nur vorsehen musste er sich. Am besten war es, wenn er den anderen Kindern nicht über den Weg lief. Er hasste sie fast alle. Stadtkinder waren sie, listig, flink und verschlagen. Sie umzingelten Mitt und verspotteten ihn, weil er nicht wusste, wie es in der Stadt zuging. Wie einen Narren ließen sie ihn aussehen, und dann rannten sie johlend davon.

Gewöhnlich versteckte sich Mitt in den dunklen Löchern und Winkeln im Haus oder am Kai vor ihnen. Eines Tages aber hatte er genug von alledem und lief vom Hafen weg, den Hügel hinauf in den besseren Teil der Stadt. Dort waren zu seiner Überraschung die Straßen sauberer, und je höher er kam, desto breiter und noch sauberer wurden sie. Die Luft roch beinah frisch. Ein scharfer Geruch nach Meer lag darin und auch der Herbstduft des Koogs. Die meisten Häuser waren gestrichen, und anders als an ihrem Mietshaus war die Farbe frisch und hell; Mitt konnte erkennen, was auf den Bildern dargestellt wurde. Langsam ging er voran, betrachtete Bäume und Früchte, rote Kringel und blaue Blumen, bis er zu einem besonders hübschen hohen Haus kam, das nicht nur mit den üblichen Farben, sondern auch mit Gold bemalt war. Auf einem Giebel reichte eine sehr steif anmutende Dame in grünem Kleid einem steifen Mann auf dem benachbarten Giebel, dessen Haar aus purem Gold zu bestehen schien, eine Traube tiefroter Weinbeeren. Mitt bewunderte sie sehr. Sie erinnerten ihn ein wenig an die Galionsfiguren der großen Schiffe. Und vielleicht wegen des frischen Geruchs in der Luft ließen sie ihn an sein Gelobtes Land denken.

In Bewunderung und Tagträumen versunken stand er vor dem Haus, bis ein Diener des Kaufmanns, dem es gehörte, mit einem Stock herauskam und ihm befahl, sofort zu verschwinden. Er nannte Mitt einen Hafenbengel und sagte, er habe hier nichts zu suchen. Erschrocken rannte Mitt fort. Während er lief, sah er sich um und erblickte auf der Kuppe des Hügels den Palast des Grafen. Er war größer, weißer, heller und mit mehr Goldfarbe verziert als jedes andere Haus in Holand. Mitt fühlte sich von dem Gebäude erdrückt. Er kam sich vor wie ein Apfelkern in einer Mostpresse.

Für viele Jahre sollte Mitt zum letzten Mal an sein Gelobtes Land gedacht haben. Holand quetschte es ihm aus dem Kopf und ließ ihn in nicht enden wollender Verzweiflung zurück.

Einige Tage später hatte Mitt Geburtstag, und damit war Seefest, das er genauso bestürzend fand wie die ganze Stadt. An diesem Feiertag hatte jeder frei, sodass noch mehr Leute auf den Straßen waren als sonst. Auf den Schultern eines freundlichen Mannes namens Canden sitzend, der ein Freund seines Vaters zu sein schien, sah Mitt der Festprozession zu. Ein wüster, lautstarker Haufen kunterbunt gekleideter Menschen kam auf der Straße näher. Die Prozessionsteilnehmer brüllten und johlten schrecklich, und alles trug bunte Bänder, Früchte und Blumen. Einige hatten alberne Hüte auf. An langen Stäben hielten sie Bilder hoch – Pferde-und Rinderköpfe, die ebenfalls Hüte trugen und mit Bändern geschmückt waren. Große Jungen brachen aus dem Zug aus und drängten sich an anderer Stelle wieder hinein. Dabei schrien sie laut und schwenkten hölzerne Rasseln. Es war nur Lärm, Lärm, Lärm. Die Leute bliesen Flöten, die man Quäken nannte und die sich auch so anhörten. Dazu spielten sie mit einem Rosshaarbogen auf dreieckigen, als Kraddeln bezeichneten Krachmachern, und auch die hörten sich genauso an, wie sie hießen. Die Musikergruppen gingen so weit voneinander entfernt, dass es reiner Zufall war, wenn die einen gerade das Gleiche spielten wie die anderen. Dann kamen Leute, die Bumm, Bumm, Bumm auf Trommeln schlugen, die mit langhaarigen Pferdefellen bespannt waren, und damit übertönten sie selbst die Quäken. Mitten im Umzug erblickte Mitt eine Strohpuppe, die fantastisch mit kirschroten Bändern umwunden war und von jemandem auf den Armen getragen wurde.

»Da, sieh«, sagte der freundliche Canden. »Das ist der Arme Alte Ammet. Und Graf Hadd trägt ihn.«

»Und was macht er mit ihm?«, fragte Mitt besorgt. Er hatte noch nie gehört, dass Graf Hadd irgendetwas Gutes getan hätte.

»Er wirft ihn natürlich ins Wasser. Das bringt Glück«, erklärte Canden.

Mitt war zutiefst entsetzt. Was musste Graf Hadd für ein herzloser Mensch sein! Er stellte sich vor, wie der Arme Alte Ammet in das gleiche Hafenbecken geworfen wurde, in das Mitt täglich den Eimer Unrat ausleerte; wie er sich damit voll sog und versank, während die schönen Bänder schmutzig wurden. »Schwimmt er denn nicht?«, fragte er scheu.

»Nicht besonders oft«, antwortete Canden, der nicht wusste, was in Mitt vorging. »Meistens fällt er auseinander und geht im Hafenbecken unter. Viel weiter kommt er selten.«

»Das geht doch nicht!«, rief Mitt verzweifelt.

Neben Canden stand ein anderer Freund von Mitts Vater. Er hieß Dideo, und sein Gesicht war von unzähligen schmalen Furchen überzogen wie von einem Netz. Mitt dachte, dass seine Augen wie zwei glänzende Fische aussahen, die er mit dem Netz gefangen hatte. Dideo nun sagte: »Er fällt nicht immer auseinander, der Alte Ammet. Manchmal zieht ihn die Ebbe in einem Stück aus dem Hafen heraus. Das sagt man jedenfalls. Dann treibt er meilenweit. Und wer auf einem Boot unterwegs ist und ihn findet, kann ihn herausziehen, und dann hat sein Boot für alle Zeit Glück, heißt es.«

Als Mitt sich vorstellte, wie der Arme Alte Ammet ganz allein aufs Meer hinaustrieb, fand er es noch schrecklicher als das Untergehen. Er versuchte, das Thema zu wechseln. »Wer sind die Jungen mit den Rasseln?«

Canden warf einen Blick auf die Prozession, wo Jungen in gelb-roten Hosen sich prächtig vergnügten, indem sie mit ihren Rasseln unter den Nasen der Kraddler umherwirbelten. »Die kommen aus dem Palast. Alle, die an der Prozession teilnehmen, kommen aus dem Palast«, erklärte er Mitt und wandte sich wieder an Dideo. »Ich habe den Alten Ammet noch nicht schwimmen sehen. Er geht fast genauso schnell unter wie Libby Bier.«

»Würden sie mich mit so einer Rassel rumlaufen lassen?«, unterbrach Mitt begierig.

»Nein. Du bist als Niemand geboren«, entgegnete Dideo. »Doch, er treibt schon«, sagte er zu Canden. »Du bist noch nicht lange genug in Holand, um es zu wissen, aber er ist mal gut zehn Meilen weit draußen von der alten Siebenfach herausgezogen worden, und man sagt, dass jeder Mann an Bord später ein Vermögen gemacht hat. Das ist allerdings auch das einzige Mal, dass ich davon gehört hätte«, gab er bedauernd zu. »Damals war ich ungefähr in Mitts Alter.« Er sah zu Mitt hoch und sah, dass der Junge unerklärlich blass geworden und den Tränen nahe war. Er stieß Canden an.

Canden hob Mitt von seinen Schultern und blickte ihm ins Gesicht. »Was hast du denn? Möchtest du gern einen Ammet ganz für dich haben?«

»Nein!«, rief Mitt.

Trotzdem brachte Canden ihn zu einem Stand, wo kleine Ammets aus Stroh zu Dutzenden feilgeboten wurden. Ein weiterer Freund von Mitts Vater begleitete sie, ein Mann mit einem mürrischen, nichts sagenden Gesicht namens Siriol. Er stand wortlos dabei, während Canden und Dideo sich zu Mitt hinabbeugten und ihr Bestes gaben, um ihn zu trösten. Ob Mitt gern diesen Ammet möchte? Oder wie wäre es mit dem dort, dem mit den blauen Bändern? Als Mitt es standhaft ablehnte, irgendeinen Armen Alten Ammet mit Bändern gleich welcher Farbe zu bekommen, versuchten Canden und Dideo, ihm stattdessen eine kleine Libby Bier aus Wachs zu kaufen. Doch so echt und verlockend das Wachsobst auch aussah, Mitt wollte auch keine Libby. Schließlich warf man sie genauso wie den Armen Alten Ammet ins Meer. Er brach in Tränen aus und schob sie fort.

»Aber sie bringen doch Glück!«, sagte Canden verwirrt.

Siriol holte einen der Karamelläpfel, die am anderen Ende des Standes verkauft wurden, und drückte ihn Mitt in die tränenfeuchte Hand. »Hier«, sagte er. »Versuch den, der wird dir schmecken.« Da hatte er Recht. Mitt vergaß seinen Kummer ein wenig bei dem Versuch, durch die Karamellschicht an den Apfel zu gelangen.

Ein Geheimnis umgab diese Freunde seines Vaters. Mitt wusste, dass seine Mutter sie nicht leiden konnte. Wenn die Eltern sich nachts stritten, hörte Mitt, dass Milda vieles gegen sie einzuwenden hatte. Als der Winter kam, häuften sich die Einwände, doch etwa zu Neujahr sagte sie schließlich: »Also schön, tu, was du willst! Aber dass du nicht mir die Schuld gibst, wenn die Soldaten dich holen kommen!«

Es muss ungefähr eine Woche später gewesen sein; draußen war es bitterkalt, als Mitt plötzlich mitten in der Nacht aus dem Schlaf auffuhr. An der Zimmerdecke flackerte ein roter Lichtschein. Er hörte Knistern und Rufe aus der Ferne und roch Rauch. Eins der großen Lagerhäuser am Kai stand in Flammen, Mitt konnte es sehen, nachdem er sich auf einen Ellbogen erhoben hatte. Die Flammen schlugen in den Himmel und spiegelten sich im Hafen auf dem dunklen Wasser. Doch davon war Mitt nicht aufgewacht, sondern von dem leisen Schlurfen vor der Zimmertür. Das Geräusch verursachte eine Gänsehaut bei ihm. Er hörte, wie Milda an der Laterne hantierte und leise jammerte, weil sie den Docht einfach in der Eile nicht ans Brennen bekam. Als das Licht endlich anging, sah Mitt, dass sein Vater gar nicht da war. Milda eilte mit der Laterne durchs Zimmer zur Tür. Im Laufen warf sie Schatten an die Wände, dann riss sie die Tür auf.

Canden stand davor. Er musste sich am Türrahmen festhalten, um auf den Beinen zu bleiben. Mitt konnte ihn nicht genau erkennen, weil Milda die Laterne falsch hielt, aber er wusste, dass Canden entweder verletzt oder sehr krank war, vielleicht auch beides. Das las er Canden am Gesicht ab. Mitt glaubte zu sehen, dass der Teil von Canden, der sich hinter Milda und dem Türrahmen befand, nicht die richtige Form besaß. Es überraschte ihn nicht, dass Milda einen furchtbaren, unterdrückten Schrei ausstieß.

»Iiiiieh! Was…? Ich wusste doch, es würde schief gehen!«

»Harchads Männer«, sagte Canden. Er klang empört. »Sie haben auf uns gewartet. Spitzel, nichts anderes sind sie. Dideo, Siriol, Ham. Sie haben uns verraten.«

Canden erbebte unwillig und rutschte am Türrahmen zu Boden. Milda kniete sich neben ihn, zog die Laterne dicht an sich und wimmerte. »Ach ihr Götter! Was soll ich denn nur tun? Was kann ich denn tun? Warum hilft denn niemand?«

Vorsichtig wurden treppauf, treppab Türen geöffnet und wieder geschlossen. Frauen kamen herbei, alte Mäntel über die Nachthemden gezogen, und brachten mehr Laternen oder Kerzen. Es wurde viel geflüstert, sorgenvoll und besänftigend, während Milda sich stöhnend auf den Knien wiegte. Mitt war zu erschrocken, um sich zu rühren. Er wollte weder Canden noch seine Mutter ansehen, deshalb blieb er auf dem Rücken liegen und starrte zur Decke. Die geschäftigen Frauen glaubten wohl, er sei wieder eingeschlafen, und nach einer Weile nickte er wirklich ein. Am Morgen war Canden fort. Aber er war da gewesen, denn er hatte einen Fleck auf dem Fußboden hinterlassen. Und Mitts Vater war noch immer nicht zurück.

Mitt wusste, dass sie beide tot waren. Niemand sagte es ihm, aber er wusste Bescheid. Er wusste nur nicht, was geschehen war, und wollte es auch nicht erzählt bekommen. Aber er war neugierig, warum die Frauen aus dem Mietshaus kamen und zu Milda sagten: »An deiner Stelle würde ich mich eine Weile nicht blicken lassen. Oder willst du auch verhaftet werden?« Milda ging tagelang nicht zur Arbeit und saß nur reglos am Fenster. Ihr Gesicht war so stark eingefallen, dass die Falte, die an die Stelle ihres Grübchens getreten war, nun eher wie eine runzlige Narbe aussah. Mitt hasste es, sie mit solch einem Gesicht zu sehen. Er kauerte sich zu ihren Füßen nieder und bat sie, ihm zu sagen, was geschehen war.

»Du bist zu klein, um das zu verstehen«, sagte Milda.

»Aber ich möchte es wissen«, entgegnete Mitt. »Was ist mit Vater geschehen?« Gut vierzig Mal fragte er, bevor er eine Antwort erhielt.

»Er ist tot«, sagte Milda. »Ich hoffe wenigstens, dass er tot ist, denn alle sagen, sie wären lieber tot, als sich von Harchad verhören zu lassen. Und ich werde es ihnen niemals vergeben – niemals, niemals, niemals!«

»Was haben Siriol und Dideo und Ham denn getan?«, bohrte Mitt.

»Lass mich in Ruh, wenn du schon so viel weißt!«, fuhr Milda ihn an. Aber Mitt gab nicht auf, und am Ende hatte seine Mutter ihm alles gesagt, was sie wusste.

Anscheinend hatte es seinen Vater so sehr verbittert, wie schwer man in Holand eine Arbeit fand, dass er einen Groll gegen den Grafen gefasst und sich einem Geheimbund von Umstürzlern angeschlossen hatte. In Holand gab es viele davon. Harchad, der Zweitälteste Grafensohn, ließ diese Bünde zwar Tag und Nacht von Spitzeln und Soldaten verfolgen, doch kaum hatte er einen davon ausgehoben und seine Mitglieder aufs Schafott führen lassen, trat bereits ein anderer Bund an seine Stelle.

Der Bund, dem Mitts Vater sich angeschlossen hatte, nannte sich die Freien Holander. Er bestand hauptsächlich aus Fischern, die mehr Gerechtigkeit und ein besseres Leben für die einfachen Leute forderten. Ihr Ziel war es, die ganze Stadt gegen den Grafen aufzuwiegeln, doch soweit Milda wusste, hatten sie nie irgendetwas anderes unternommen, als darüber zu reden. Doch nachdem Milda und Mitt von Grabensend verjagt worden waren, war Mitts Vater so zornig, dass er versuchte, die Freien Holander zu Taten anzustacheln. Warum nicht ein Lagerhaus des Grafen in Brand setzen, fragte er, damit Hadd erfuhr, dass sie es ernst meinten?

Canden und die anderen jüngeren Freien Holander waren begeistert. Damit trafen sie Hadd, wo es ihm wehtat: am Geldbeutel. Die älteren Mitglieder, vor allem Siriol, Dideo und Ham, lehnten das Vorhaben jedoch strikt ab. Wenn sie ein Lagerhaus anzündeten, entgegneten sie, würden Harchads Männer die Freien Holander zur Strecke bringen, und wie sollte sich dann die ganze Stadt erheben und den Grafen stürzen? Der Bund spaltete sich darüber in zwei Hälften. Die jüngeren Mitglieder schlossen sich Mitts Vater an, um das Lagerhaus in Brand zu setzen, die älteren blieben zu Hause. Und als Erstere das Lagerhaus erreichten, liefen sie Harchads Männern in die Arme. Darüber hinaus wusste Milda nur, dass irgendjemand es geschafft hatte, trotzdem noch Feuer zu legen, und dass außer Canden niemand entkommen war. Und Canden hatte gesagt, dass Siriol, Dideo und Ham den Plan verraten hätten. Dann war auch Canden gestorben.

Mitt dachte über alles nach. »Aber warum haben Siriol und die anderen sie überhaupt verraten?«

Die Sorgenfalte in Mildas Gesicht zog sich zu einer angespannten Furche zusammen. »Weil sie Angst hatten, Mitt, genau wie ich nun.«

»Angst wovor?«, wollte Mitt wissen.

»Vor Harchads Soldaten«, sagte Milda und erschauerte. »Jeden Moment könnten sie die Tür einschlagen.«

Mitt überlegte, was er über Soldaten wusste. Ihm flößten sie eigentlich keine Angst ein. Sie brachten einen nach Hause, wenn sie ihn aufgriffen, wie ihn, als er durch den Koog irrte. »Wie viele Soldaten gibt es denn? Mehr als die anderen Leute in Holand?«

Trotz ihres Elends lächelte Milda. Zu Mitts Erleichterung verwandelte sich ihre Runzel für einen kurzen Moment in ein Grübchen zurück. »O nein. So viele Soldaten könnte sich der Graf nicht leisten. Und ich glaube nicht, dass er mehr als sechs oder so schicken würde, um uns abzuholen.«

»Aber wenn alle Leute hier im Haus sich zusammentun, dann könnten sie die Soldaten doch aufhalten, und wenn alle Leute in Holand sich zusammentun, dann könnten sie alle Soldaten aufhalten, oder nicht?«

Milda musste lachen. Sie konnte ihm nicht erklären, warum in Holand alles in Angst vor den Soldaten lebte und sich noch mehr vor Harchads Spitzeln fürchtete. Darum sagte sie: »Ach Mitt, du bist wirklich eine freie Seele! Du weißt gar nicht, was Angst ist. Was für eine Verschwendung, denn Hadd und die Freien Holander haben unser Schicksal schon besiegelt, ach, was für eine Verschwendung!«

Mitt begriff, dass es seine Mutter tröstete, wenn er in solch entschlossenem Ton zu ihr sprach. Zweimal hatte er schon die verhasste Runzel aus ihrem Gesicht vertreiben können. Und Milda ihrerseits tröstete ihn, indem sie ihn eine freie Seele nannte. Mitt war sich nicht sicher, was genau eine freie Seele nun sein sollte – und nie kam ihm der Gedanke, dass seine Mutter es genauso wenig hätte sagen können –, aber er fand die Idee großartig. Um seinen Trost wirklich verdient zu haben, sagte er: »Nun, mach dir keine Sorgen mehr. Ich bringe schon alles ins Lot.«

Milda lachte und umarmte ihn. »Das ist mein Mitt, wie ich ihn kenne!«