12.

Mitt blickte von Hildy zu Ynen. Nun erst wurde er sich der Familienähnlichkeit bewusst, die er die ganze Zeit nur gespürt hatte. Nach der gewaltigen Mahlzeit fühlte er sich träge und fast unerträglich schläfrig. Sein erster Gedanke war, wie komisch dieser Zufall doch sei. Hadd hatte seine Familie zugrunde gerichtet. Navis hatte all seine Pläne vereitelt. Und nun sah er Navis’ Kinder vor sich, die ihn so oder so retten würden. Er lachte. »Na, das nenn ich ausgleichende Gerechtigkeit«, sagte er. »Also ist Navis euer Alter?«

Hildy hob das Kinn und gab sich so ehrfurchtgebietend, wie sie konnte. »Jawohl«, antwortete sie von oben herab. »Und ich möchte dich wissen lassen, dass ich Lithar versprochen bin, dem Baron der Heiligen Inseln.«

»Ach, sei still«, sagte Ynen voll Unbehagen. »Du klingst ja wie unsere Basen.«

Tatsächlich hatte Hildy ihre Base Irana imitiert, die mit ihrem Verlöbnis geprahlt hatte, und nun war sie ärgerlich auf Ynen, weil er sie durchschaute. Sie wandte sich von ihm ab und blickte Mitt erwartungsvoll an; sie hoffte, ihn wenigstens ein bisschen aus dem Gleichgewicht gebracht zu haben.

Mitt lachte auf. »Versprochen! Du!« Versprochen wurden sich Leute, wenn sie in Lyddas Alter waren, achtzehn Jahre und erwachsen. Hildy war nur ein kleines Mädchen mit Rattenschwänzchen. »Bist du dafür nicht noch etwas zu klein?« Dann aber traf ihn die Bedeutung des Gehörten. Er fühlte sich so beunruhigt, wie Hildy nur gehofft haben konnte, aber er lachte weiter. Er wagte nicht, ihnen zu zeigen, dass er sich Sorgen machte. Also gut, dieses Mädchen war wichtig. Mitt erinnerte sich, dass Milda ihm von Lithar erzählt hatte. Nun stand außer Zweifel, dass Schiffe sie von Holand aus verfolgen würden, und andere kämen ihnen von den Heiligen Inseln entgegen. Also blieb Mitt keine andere Wahl: Er musste Navis’ Kinder zwingen, das Boot geradewegs aufs Meer hinauszusteuern. Tagelang würden sie den Verfolgern ausweichen müssen, und selbst dann wurde er vielleicht gefasst. Allein der Gedanke machte ihn noch müder. »Naja, es ist schließlich deine Angelegenheit«, sagte er. »Was soll ich mir den Kopf darüber zerbrechen?« Er stand auf. »Ich muss mal den albernen Eimer in dem Verschlag benutzen. Den mit den Rosen drauf. Kommt bloß nicht auf dumme Ideen, solange ich fort bin.«

Ynens Gesicht wirkte im gelben Licht knallrosa. »Das sind keine Rosen, sondern Mohnblumen«, entgegnete er.

»Rosen sind es«, sagte Mitt. »Und einen goldenen Rand hat er. Einfach unglaublich, dass euresgleichen aber auch wirklich alles verziert und verschnörkelt haben muss!« Er ging in die Kajüte.

Ynen rief ihm nach: »Und deinesgleichen hat dieses Boot gebaut!« Doch als Mitt am Ende der Kajüte angelangt war, flüsterte er Hildy zu: »Was machen wir denn nur?«

Nachdem Mitt sie ausgelacht hatte, weil sie verlobt war, war Hildy entschlossen, es ihm heimzuzahlen. »Ich habe eine Idee«, wisperte sie, »wie wir dafür sorgen, dass er schläft.«

»Und dann wenden wir«, stimmte Ynen ihr zu. »Was für eine Idee?«

»Was tuschelt ihr da?«, brüllte Mitt.

Sie wagten nicht mehr zu flüstern. Ynen sah sich die lange, tiefe Furche auf den Planken an und erschauerte. Sie war mittlerweile schwer zu erkennen, denn die Sonne war hinter den Horizont getaucht und hinterließ einen gelben Himmel, überzogen von lang gestreckten schwarzen Wolken. Das Meer erschien in einem wie geschmolzen wirkenden, helleren Gelb, als sei es vom Sonnenlicht durchtränkt. Hildys Gesicht war dunkel. »Wir reden gerade darüber, dass wir eigentlich ein Topplicht anzünden müssten«, antwortete Ynen. »So lautet das Gesetz.«

»Ist es euch noch nicht aufgefallen, dass ich mit dem Gesetz nichts am Hut habe?«

»Im Gegensatz zu dir sind wir gesetzestreu erzogen worden«, rief Hildy. »Darf ich wenigstens die Laterne in der Kajüte anmachen?«

Mitt kam aus dem Verschlag und suchte sich mühsam seinen Weg durch die Kabine. Es wurde nun wirklich dunkel. Er war mürrisch und unleidlich, und er hatte Schmerzen am ganzen Leib. Nach seiner ausgiebigen Mahlzeit wollte ihm die rot-gelbe Hose nicht mehr richtig passen. Er kam aus der Kajüte und legte sich auf die Deckskästen. »Macht, was ihr wollt«, sagte er. Er war schrecklich müde.

Hildy lächelte schmal und ging in die Kajüte, wo sie eine Weile herumsuchte, bevor sie mit einer Laterne herauskam, deren Lichtschein genauso gelb war wie der Himmel über dem Horizont. Dann ging sie zu dem dicken kleinen Wasserfass, das von Klammern auf einem eigenen Regalbrett über dem Herd festgehalten wurde. Sie löste die Klammern und schüttelte es. Das Fass war bis obenhin voll, so voll, dass es nicht einmal schwappen konnte. Hildy musste all ihre Kraft aufwenden, um es überzeugend zu schütteln, aber damit hatte sie gerechnet, denn das Fass war immer voll. Niemand wagte es zu riskieren, dass Hadds Familie Durst litt.

»Ach du liebes bisschen!«, rief Hildy. Sie war erstaunt, wie überzeugend sie klang. »Da ist überhaupt kein Wasser drin. Und dabei habe ich solchen Durst.« Durstig war sie wirklich, aber sie glaubte, es aushalten zu können, wenn es einem guten Zweck diente.

Kaum hatte sie das gesagt, als Mitt bemerkte, dass ihn unter anderem auch ein schier unerträglicher Durst plagte. Das kam davon, dass er so viele gewürzte Pasteten gegessen hatte. Bei dem Gedanken, die ganze lange Reise in den Norden ohne Wasser bestehen zu müssen, brach er beinah in Tränen aus. Ynen war fast genauso bestürzt. Sein Mund war plötzlich ganz trocken, und einen Augenblick lang hätte er die Nachlässigkeit der Matrosen gern Onkel Harchad gemeldet. Er leckte sich über Lippen, die rau waren wie Sandpapier, und sagte: »Manchmal ist etwas Wein in den Schränken über der Steuerbordkoje. Um des Alten Ammets willen, sieh doch mal nach, Hildy!«

Hildy drehte sich um, damit sie nicht ihr triumphierendes Grinsen sahen, und holte die beiden Flaschen aus der Kajüte, die sie gefunden hatte, als sie dort vorgeblich nach der Laterne suchte. Eine war halb voll Wein, die andere eckig und enthielt Arris. Sie war voll gewesen, bevor Hildy einen großzügigen Schluck Schnaps in den Wein gegossen hatte. Auf die eine oder andere Weise, das wusste sie, hatte sie es diesem erbärmlichen Kerl gezeigt.

»Welche willst du?«, fragte sie und zeigte Mitt die beiden Flaschen.

Trotz des nachlassenden Lichts erkannte Mitt die Arrisflasche sofort. Wie er den scharfen, widerlichen Schnaps verabscheute! »Ich nehme den Wein«, sagte er und riss Hildy die Flasche aus der Hand, weil er meinte, damit seine ungeschliffene Verderbtheit betonen zu können. Er setzte sie sich an den Hals und saugte gurgelnd einen großen Schluck heraus, bevor Hildy ihm eine Tasse aus der Kajüte bringen konnte. Eigentlich hatte er beabsichtigt, den Wein ganz auszutrinken, aber dazu schmeckte er zu schlecht. Als er Hildy die Flasche zurückgab, war sie weit weniger als zu einem Viertel gefüllt.

Hildy wischte angewidert den Flaschenhals sauber und teilte den Rest auf zwei Tassen für sich und Ynen auf. Sie tranken langsam und setzten sich, um zu warten, während die Dämmerung der Nacht wich.

Kurz darauf wurde Ynen sehr fröhlich, und Hildy fühlte sich leicht schwindlig. Was Mitt betraf, so zeigte der Wein eine Wirkung, die nach dem schweren Essen bei seiner Müdigkeit unabwendbar war. Vor seinen Augen breiteten die niedrigen schwarzen Buckel Festland sich aus wie Tintenkleckse. Als die Sterne aufgingen, sah er sie nur verschwommen. Immer wieder sank ihm das Kinn auf die Brust. Am Ende erhob er sich schwankend.

»Muss mich mal hinlegen«, sagte er. »Bloß keine komischen Ideen, ihr zwei. Ich hör wie ‘n Luchs.« Er torkelte in die Kajüte, während Hildy und Ynen sich beide auf die Faust beißen mussten, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Schwerfällig ließ sich Mitt auf die Backbordkoje sinken.

Hildy stieß Ynen bedeutsam an und setzte sich vor die Deckskästen, sodass sie in die Kajüte blicken konnte. Sie warteten, dass Mitt einnickte. Doch obwohl Mitt eigentlich nichts lieber gewesen wäre, er konnte nicht schlafen. Die Bewegungen der Straße des Windes und die Bewegungen, die der Wein in seinem Kopf ausgelöst hatte, schienen in direktem Widerstreit zueinander zu stehen. Manchmal glaubte er fest, das Boot sei in einen Strudel geraten. Manchmal war er sicher, seine Beine seien hoch über seinem Kopf. Mehrmals setzte er sich auf, um zu sehen, was eigentlich vor sich ging. Und jedes Mal sah die Prachtkabine genauso aus, wie sie aussehen sollte, hob und senkte sich sanft, während die Laterne an der Decke hin und her schwang. Nach einer Weile begriff er, dass ihm nur dann so merkwürdig war, wenn er die Augen schloss. Also behielt er sie offen.

Infolgedessen hatte er eine Reihe schrecklicher Träume, bei denen er halb wach blieb. Aus einem vergoldeten Bullauge starrte Harchad ihn an, und Mitt war vor Entsetzen wie gelähmt. Endlos rannte er vor Soldaten davon. Er kämpfte sich durch unzählige Gräben. Mehrmals wurde er in den Bauch geschossen. Einmal warf er Hadd die Bombe vor die Füße, und der Arme Alte Ammet bückte sich danach, holte mit seinen Stroharmen aus und schleuderte sie Mitt ins Gesicht. »Du bist wirklich in großen Schwierigkeiten«, sagte er und klang dabei wie Hobin. Dann zerfiel er in Stücke wie Canden. Mit einem Angstschrei setzte Mitt sich auf. Nachdem er sich wieder hingelegt hatte, wurde es ein wenig ruhiger, bis Libby Bier an die Reihe kam. Sie rannte auf Mitt zu, ihre Obstaugen wackelten an Stängeln, und sie trat die Bombe nach ihm. »Ich habe dich aufgezogen, damit du es tust, Mitt«, sagte sie tadelnd. Dann explodierte die Bombe, und Mitt fuhr schreiend hoch.

Hildy und Ynen hofften, dass er endlich mit dem Schreien aufhören würde und zu schlafen begänne. Sie wollten kehrtmachen und nach Hause fahren. Die Schreie ängstigten sie. Der Junge musste ein abscheulicher Sünder sein. Die Laute ließen sie an all das denken, was sie über Onkel Harchad gehört hatten, und an den furchtbaren Tag, als die Nordmänner gehenkt wurden. Mittlerweile war es schwarze Nacht, und Ynen fürchtete sich sehr. Er hatte länger an der Ruderpinne gestanden als jemals zuvor in seinem Leben, und bei Nacht war er noch nie gefahren. Ihm war kalt, jeder Muskel schmerzte ihn, und er war hundemüde und fürchtete sich vor Sandbänken, die er nicht sehen konnte. Was er jedoch sah, ängstigte ihn noch mehr. Es war nicht in der Weise finster, wie es in einem geschlossenen Raum dunkel wird. Das Meer war schwach in allen Richtungen zu erkennen, wie es sich endlos hob und senkte. Der Himmel erinnerte an eine riesige leere Schüssel, dunkelblau und mit Sternen besprenkelt. Das Land ließ sich nur weit entfernt zur Rechten erahnen. Die Geräusche der Segel und das Zischen und Gluckern der vorüberziehenden Wellen schienen ihm nur umso deutlicher zu zeigen, wie klein und verloren die Straße des Windes war. Ynen wurde sich plötzlich des viele Faden tiefen Wassers unter sich bewusst, das ihm nicht den geringsten Halt bot. Er war ganz allein mitten im Nirgendwo. Ynen biss die Zähne zusammen und hielt immer das Kreuz des Nordens vor dem Bugspriet der Straße des Windes, und er konnte sich kaum beherrschen, nicht genauso wie der Junge in der Kajüte lauthals loszubrüllen.

Als Hildy endlich wagte, Ynen ein Zeichen zu geben, Mitt sei eingeschlafen, war es Mitternacht. Tatsächlich schlief er schon länger, aber so ruhelos, dass Hildy es nicht als Schlaf erkannt hatte. Sie schloss leise die Kajütentür und legte den zierlichen Riegel vor.

»Na endlich, meine Güte! Du gehst an die Vorsegel«, flüsterte Ynen.

Um jedes Geräusch in Mitts Nähe zu vermeiden, kroch Hildy auf der Steuerbordseite nach vorn. Ynen sah sie deutlich vor den blassen Segeln. Als sie bereit war, legte er die Ruderpinne über. Die Straße des Windes begann eilends zu wenden. Ihre Segel liefen bis ans Ende der Leinen und schwangen zurück. Der Wind erschien plötzlich doppelt so stark. Ynen stemmte den Fuß gegen die Pinne und holte eilig das Großsegel ein. Hildy fing die flatternden Vorsegel ab und zerrte sie auf die andere Seite. Den Bug in den Wind gestellt, verharrte die Straße des Windes am Fleck und schien in allen Teilen zu zittern. Dann endlich hatte sie gewendet und drehte noch etwas weiter. Sie schien durchs Wasser zu schnellen, aber tatsächlich machte sie nur wenig Fahrt gegen die Strömung. Ynen holte das Großsegel so dicht an den Wind, wie er nur konnte, denn er wollte keine Zeit damit verschwenden, gegen den Wind zu lavieren, und endlich waren sie wieder auf dem Weg zurück nach Holand. Hildy kam zur Plicht, und beide sackten erleichtert zusammen.

Holand bedeutete Sicherheit, Betten und geheizte Zimmer. Sie hatten den entsetzlichen Jungen überwunden. Das war ihr erster Gedanke. Dann dachten sie an das Gezänk, das sie zu Hause erwartete. Doch daran ließ sich nichts ändern. Wie schön wäre es aber gewesen, wenn diese üble Vorahnung nicht mit dem leeren Gefühl der Verlassenheit verbunden gewesen wäre. Sie brauchten sich gar nicht einzubilden, dass ihr Vater sie vor den Onkeln in Schutz nehmen würde. Andererseits würde Onkel Harchad ihnen vermutlich einiges nachsehen, wenn sie ihm den Jungen brachten, der die Bombe geworfen hatte.

Hildy und Ynen blickten sich an und suchten im Gesicht des anderen nach dessen Gedanken. Der Junge war ein Verbrecher. Er hatte versucht, ihren Großvater zu meucheln. Vielleicht war er ein Freund des Mordschützen. Dennoch war er ein Mensch in ungefähr ihrem Alter, und er träumte sehr schlecht, dort in der Kajüte. Beide mussten sie daran denken, wie Onkel Harchad den Sohn des Grafen von Hannart getreten und wie der Junge sich zusammengekrümmt hatte. Schwer fiel es nicht, den Grafensohn in ihrer Vorstellung durch den mageren, anmaßenden Jungen zu ersetzen, und das Bild, das sich ergab, war genauso unangenehm.

»Wir könnten ihn doch bei Kap Hoe absetzen, oder nicht?«, wisperte Ynen, und Hildy empfand große Erleichterung.

Im Schlaf begegnete Mitt dem Armen Alten Ammet und Libby Bier erneut. Von beiden Seiten stürmten sie auf ihn zu. Die Welt begann sich zu drehen und lief irgendwie falsch. Sie bewegte sich grob, stockend und bockend, und sie krängte auf die falsche Seite. Weil Mitt schon in zartem Alter tagtäglich mit Siriol ausgefahren war, hatte sich einiges tief in seinem Verstand verankert. Komisch, dachte er. Wir fahren hart am Wind gegen eine Strömung. Lodernder Ammet! Er packte Hobins Handbüchse und brach aus der Kabine aus. Er bemerkte nicht einmal, dass die Tür verriegelt gewesen war.

Draußen brauchte er nur den Wind im Gesicht zu spüren, um zu wissen, dass er richtig vermutet hatte. Die betroffenen Gesicht der beiden Kinder, die er im Laternenschein deutlich sah, bestätigten seinen Verdacht einmal mehr, und auch das Kreuz des Nordens, das achteraus tief am Himmel stand.

»Sofort umkehren!«, brüllte er. »Ihr hinterlistigen reichen Faulpelze, ihr! Ihr glaubt wohl, ihr könnt immer tun, was euch passt, wie? Na los, wenden!«

Und obwohl er mit der Waffe wedelte, verlor Hildy die Beherrschung. Erst verdarb er ihren Plan, und dann beleidigte er sie auch noch. »Komm du mir nicht damit, wir würden tun, was uns passt! Wag es bloß nicht!« Sie war so wütend, dass sie aufsprang und Mitt ins Gesicht brüllte. »Du schleichst dich auf unser Schiff, du schubst uns herum wie den letzten Dreck, du isst unser Essen, und dann zwingst du uns, dahin zu fahren, wohin du willst, und dann hast du die Frechheit zu behaupten, wir würden tun, was uns passt! Du bist ja schlimmer als … als Großvater! Er war wenigstens ein ehrlicher Mensch!«

»Ehrlich nennst du den?«, brüllte Mitt zurück. »Ehrlich! Das wär ja lachhaft, wenn’s nicht so zum Heulen wär! Jahrelang hat er Holand ausgeplündert!«

»Also versuchst du ihn zu ermorden und schubst uns auch noch rum wie den letzten Dreck!«, kreischte Hildy.

»Weil ihr der letzte Dreck seid, darum!«, donnerte Mitt und schwenkte die Büchse. »Wendet sofort das Boot!«

Ynen klammerte sich an der Pinne fest. Er fürchtete um Hildys Leben. Tatsächlich hatten weder er noch Mitt bemerkt, dass Mitt sogar vergessen hatte, den Hahn zu spannen. Er hatte nicht einmal den leeren Lauf weitergedreht.

Hildy wusste nichts davon, und es scherte sie nicht. »Wenn wir der letzte Dreck sind, dann möchte ich nicht wissen, was deine Familie ist!«, schrie sie.

»Ach, halt den Mund!« Mitt richtete die Waffe auf Ynen. »Wende das Boot, habe ich gesagt!«

Zum zweiten Mal kurz nacheinander glaubte Ynen, er könnte jeden Augenblick erschossen werden. Fast gegen seinen Willen ergab er sich kühl in sein Schicksal. »Du hast versucht, unseren Großvater zu ermorden«, sagte er. »Nenn mir einen einzigen Grund, weshalb wir dir helfen sollten.«

Mitt bemerkte, dass er die Waffe zwar auf Ynen richtete, dieser die Waffe jedoch nicht als große Bedrohung ansah. Das ernüchterte ihn beträchtlich. Er empfand plötzlich einen gehörigen Respekt vor dem glattgesichtigen, spitznasigen kleinen Jungen, aber was seine Schwester anging … »Also gut«, sagte er, »euer teurer Großvater hat meine Familie zugrunde gerichtet. Ist das Grund genug?«

»Wie soll er das getan haben?«, fragte Ynen. Vor Kälte und Müdigkeit zitterte er.

Hildy fügte hitzig hinzu: »Was immer er dir angetan hat, wir haben dir kein Leid zugefügt!«

»Ich will’s euch erzählen«, sagte Mitt. Er legte den Arm auf das Kajütendach und begann zu reden, zuerst abgehackt und wütend, dann einsichtiger, nachdem er gesehen hatte, dass keiner von beiden ihn unterbrechen wollte. Er berichtete, wie er auf Grabensend aufwuchs, wie die Pacht verdoppelt wurde, wie sein Vater gezwungen war, in der Stadt zu arbeiten, und wie sie den Hof aufgeben mussten. Mitt erzählte, wie sein Vater keine anständige Arbeit finden konnte und sich darum den Freien Holandern anschloss, wie er beim Anschlag auf das Lagerhaus verraten wurde und verschwand – allerdings nannte er hier keine Namen – und wie Milda und er auf sich allein gestellt zurückblieben. Er beschrieb, wie sie danach gelebt hatten, und während er berichtete, musste er denken, wie eigenartig es doch war, ausgerechnet hier die Geschichte seines Lebens zu erzählen, während die Straße des Windes in der Dunkelheit durchs Wasser pflügte und Hadds Enkelkinder ihn mit matt beleuchteten Gesichtern anblickten. Er sprach auch von Hobin. »Wenn er nicht gewesen wäre«, sagte er, »dann wären wir auf der Straße gelandet, als sie die Häuser niederrissen, um den Festumzug zu sichern.«

»Die Leute sind doch nicht einfach hinausgeworfen worden, oder?«, warf Hildy ein. »Ich dachte…«

»Vater hat für sie Häuser bauen lassen«, sagte Ynen. »Außer ihm hat sich wohl niemand Gedanken um die Leute gemacht. Wie auch immer«, wandte er sich an Mitt, »du und deine Mutter wohnten dort nicht mehr, als es so weit war. Ihr hattet es gut. Du hast mir noch immer keinen Grund genannt.«

»Ist das kein Grund?«, begehrte Mitt auf. »Da war Hobin, der es aus Furcht vor den Waffenhütern nie wagte, auch nur einen Fuß falsch zu setzen, und uns ging es fast so schlecht wie vorher, weil Hadd ständig die Miete erhöhte. Aber nicht den Preis für Büchsen – er doch nicht! Wir mussten für die Soldaten bluten, mit denen er uns Angst machte, uns zu rühren. Ihr versteht das nicht – aber könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, wenn jeder, den ihr kennt, ständig krank vor Angst ist? Niemand kann niemandem trauen. Kaum dass ihr den Leuten den Rücken zudreht, zeigen sie euch an, auch wenn ihr gar nichts getan habt, und warum? Weil sie nicht selber nachts abgeholt werden und verschwinden wollen. So sollte niemand leben müssen.«

»Nein, wirklich nicht«, pflichtete Hildy ihm bei.

»Gut, da hast du Recht«, sagte Ynen. »Du sprichst von allem Möglichen, aber du hast mir noch nichts gesagt, was mein Großvater dir angetan hat. Ich sehe noch immer nicht ein, weshalb ich dir helfen sollte. Aber ich habe einiges über Onkel Harchad gehört. Ich hätte nichts dagegen, dich bei Kap Hoe abzusetzen, da kannst du ihnen immer noch entkommen.«

Na klar, dachte Mitt, direkt in Sichtweite der Schiffe, die nach euch suchen. Da bin ich wirklich sicher. Mit diesem Jungen zu sprechen war, als haute man eine schwache kleine Pflanze beiseite, die einem trotzdem immer wieder ins Gesicht schlug. »Da könntet ihr mich genauso gut nach Holand zurückschaffen, das ist ehrlicher«, sagte er. »Wenn ich nicht schon beim Anlandgehen gefangen werde, schnappen sie mich im Koog.«

»Na, du hast die Bombe schließlich geworfen«, sagte Ynen. »Und ich begreife immer noch nicht, warum. In Holand muss es doch sehr viele Menschen geben, die schlechter dran sind als du. Warum hast du es getan?«

Das war eine berechtigte Frage. Vierundzwanzig Stunden zuvor hätte Mitt darauf alle möglichen Antworten geben können. Er hätte zumindest sagen können, dass er sich fangen lassen und damit an Siriol, Dideo und Ham rächen wollte. Dann aber hatte er alles getan, um diese Art Rache unmöglich zu machen. Er war geflohen und geflohen und geflohen. Er wusste nicht, was er im Sinn gehabt hatte. Er konnte nur mit einer Gegenfrage antworten. »Hättet ihr denn mit ansehen können, wie alles so falsch läuft, ohne zu denken, dass ihr etwas dagegen unternehmen solltet?«

Und diese Frage traf nun Hildy und Ynen bis ins Mark. Sie hatten tatsächlich Falsches mit angesehen, und Ynens großer Wunsch hatte in nichts Größerem bestanden als der Hoffnung, er könnte seine Rassel unter Hadds Nase kreisen lassen. Hildy hatte eine Zierdecke zerrissen und leere Drohungen ausgestoßen. Dann waren sie segeln gegangen – eine Trotzhandlung, durch die sich ihre Wege mit dem dieses Jungen kreuzten. Und der berichtete ihnen nicht nur von noch mehr Dingen, die einfach nicht recht waren, sondern verlangte, dass sie ihm halfen. Und alles lief darauf hinaus, dass sie nun nach Holand segelten und ihn Onkel Harchad auslieferten.

»Ynen…«, sagte Hildy.

»Ich weiß«, sagte Ynen. »Es ist schon recht. Wir bringen dich lieber nach Norden. Würdest du wieder an die Vorsegel gehen, Hildy?«

Mitt sah ihn verblüfft an. Er wusste, dass er Ynen keinen echten Grund genannt hatte, und darum erschien ihm dessen Einlenken unredlich. Mitt schämte sich. Was würde mit den beiden im Norden geschehen? Er dachte daran, dass Nordmänner, die in Holand ergriffen wurden, am Galgen endeten. »Hört zu«, sagte er. »Ihr braucht mich bloß in der Nähe von Königshafen abzusetzen oder von – wie hieß das noch? – von Aberath. Dann komme ich schon zurecht. Oder vielleicht auf Tulfa. Dann fahrt ihr zu den Heiligen Inseln. Wenn sie wirklich Lithar versprochen ist, dann seid ihr dort willkommen … wie heißt du eigentlich?«

»Hildrida«, antwortete Hildy. »Du kannst mich kurz Hildy nennen. Und das ist Ynen. Wie heißt du?«

»Mitt«, sagte Mitt.

»Ach nein, nicht noch ein Alhammitt!«, rief Hildy. »Jetzt kenne ich mindestens schon zwanzig!«

»Ich steche nicht hervor«, stimmte Mitt ihr zu.

Ynen hatte derweil über Mitts Vorschläge nachgedacht. Obwohl er müde war, lächelte er. »Lass uns zu den Heiligen Inseln fahren, Hildy. Ich würde sie wirklich gerne sehen.«

Hildy konnte sich einfach noch nicht vorstellen, dass sie zu den Heiligen Inseln segelte und verkündete, sie sei Lithars zukünftige Braut. Bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Dann blickte sie Ynen an und stellte fest, dass sie zu müde war, um mit ihm zu streiten.

Mitt bemerkte, wie erschöpft Ynen aussah. Er dachte daran, wie er sich nach einer langen Wache an Bord der Blume von Holand gefühlt hatte. »Wie wär’s, wenn ihr euch ein wenig ausruht, nachdem wir nun wissen, wohin wir wollen?«, fragte er. »Ich kann sie für euch steuern. Kann sie es auch?«

»Natürlich kann ich das«, entgegnete Hildy herablassend.

Sie beschlossen, den Rest der Nacht in drei Wachen aufzuteilen. Widerstrebend nahm Ynen die taube Hand von der Ruderpinne und sah zu, wie Mitt seinen Platz einnahm. Unschlüssig taumelte er in die Kabine, doch dann sagte er sich, dass Mitt, wenn er im Schlaf bemerkte, wann die Straße des Windes den Kurs änderte, auch in der Lage sein sollte, das Boot zu lenken. Als Ynen sich hinlegte, hörte er Hildy unsicher auf dem Dach nach vorn gehen. Sie musste vom Licht aus der Kajüte halb geblendet sein. Erneut wendete die Straße des Windes. Ihre Segel killten, knallten und füllten sich wieder. Leinen knarrten, als Mitt und Hildy die Segel neu setzten. Schon bald spürte Ynen am Zug und der Strömung unter der Straße des Windes, die wie gewünscht nach Norden fuhr, dass Mitt tatsächlich mit ihr zurechtkam. Zum Knarren der Leinen und dem Zischen des dunklen Wassers schlief er ein.