6.
Im Frühjahr war es sehr stürmisch. Das Meer durchbrach an zwei Stellen die Deiche. Der Wind wehte selbst im Hafen die Boote hierhin und dorthin und knickte die Masten um. Eine ganze Woche lang konnte Siriol nicht in See stechen. In der Stadt wagten sich nur wenige Leute auf die Straße, denn der Sturm blies einem Salz und Sand ins Gesicht, bis man kaum noch sehen konnte. Mitt hingegen konnte über mangelnde Beschäftigung nicht klagen. Der alte Graf der Südtäler starb, und alle Grafen des Südens versammelten sich, wie es in Holand Brauch war, um den neuen Grafen in sein Amt einzusetzen. Hinter vorgehaltener Hand wetteten die Leute, ob es Hadd wohl gelänge, sich mit allen anderen Grafen zu entzweien oder nur mit der Hälfte. Mitt glaubte, dass Hadd entschlossen war, es zu einem Bruch mit allen kommen zu lassen, denn Hobin war Tag und Nacht damit beschäftigt, Büchsen herzustellen und zu reparieren. Der Palast musste von Schießpulverwaffen strotzen. Mitt erhielt kaum Gelegenheit, einen Grafen aus der Nähe zu sehen. Einmal bemerkte er einen vornehm gekleideten Mann, der sich gegen den Wind stemmte und aussah, als wäre er viel lieber drinnen als draußen, doch konnte niemand Mitt sagen, ob das nun ein Graf gewesen war oder nicht.
»Wie auch immer, nieder mit ihm!«, brummte Mitt und eilte wieder nach drinnen.
Ganz unerwartet wurde jenseits der Sandbänke ein fremdartiges Boot gesichtet, das auf dem Weg in den Hafen war. Es herrschte große Aufregung, denn es hieß, das Boot stamme aus dem Norden. Mitt konnte an nichts anderes mehr denken.
»Am besten erledigen wir das, bevor du uns noch mehr gute Kugeln ruinierst«, sagte Hobin. Gegen den Sturm zogen Mitt und er sich dicke Seemannsjacken über, dann gingen sie wie fast das ganze übrige Holand gucken.
Schwarz im gelblichen Licht des Unwettertages, wälzte sich das Boot auf den hohen Wellen vor der Mole. Obwohl man alle Segel eingeholt hatte und nur die Fetzen eines Sturmsegels gesetzt waren, erkannte Mitt auf den ersten Blick, dass es tatsächlich aus dem Norden stammen musste. Das Boot hatte Rahtakelung, die im Süden nur wenig benutzt wurde. Ringsum schüttelten die Leute den Kopf und sagten, man könne doch nicht bei Verstand sein, wenn man mit einem kleinen Rahsegler wie diesem bei solchem Wetter auslaufe, aber seien die Nordländer nicht alle dumm? Eins stand jedoch fest: Das Boot war in großer Gefahr. Einige Minuten lang bezweifelte Mitt, ob der Nordländer es überhaupt bis in den Hafen schaffen könnte, doch dann bog das Boot um die Mole, und damit stand fest, dass es sicher landen würde.
Auf dem Kai wimmelte es von Soldaten, die das Boot in Empfang nehmen sollten. Hinter ihnen scharten sich zahlreiche gewöhnliche Leute zusammen. In den Fäusten hielten sie Messer und Steine. Mitt beobachtete alles mit außerordentlich gemischten Gefühlen. Er freute sich, dass das Schiff in Sicherheit war. Aber wie konnten sie es wagen! Wie konnten sie einfach in den Hafen von Holand einlaufen! Krängend näherte sich das voll gelaufene Boot dem Kai. Als die Matrosen die wartenden Soldaten erblickten, sprangen einige von ihnen lieber über Bord und ertranken, als sich gefangen nehmen zu lassen.
»Was für Feiglinge!«, sagte er zu Hobin.
»Sie sind so oder so erledigt«, entgegnete der Büchsenmacher. »Arme Teufel.«
Die Nordländer, die an Bord blieben, wurden gefangen genommen, kaum dass die Soldaten auf das Boot springen konnten. Die Menschenmenge verstellte Mitt meist die Sicht, aber er erhaschte einen kurzen Blick auf die Besatzung, während man sie bergauf zum Palast schaffte, einen Haufen triefend nasser, hinkender Gestalten mit hellem Haar und braunen Gesichtern, die besser genährt und gesünder aussahen als irgendjemand in Holand, obwohl sie augenscheinlich fast zu erschöpft waren, um zu merken, wie ihnen geschah. Mitt dachte erschüttert, dass sie im Grunde wie ganz gewöhnliche Leute wirkten. Er hatte erwartet, man könnte ihnen ihre Freiheit irgendwie ansehen. Doch sie hielten die Köpfe gesenkt und schlurften weiter, genauso wie jeder andere, den Harchads Männern ergriffen.
Im Palast verursachte die Ankunft der Nordländer eine ebenso große Aufregung wie in der Stadt. Dort befand sich wegen der Amtseinsetzung des neuen Grafen ohnehin alles in Aufruhr. Seit einer ganzen Woche gab es nichts als Festessen und Getue; ununterbrochen wurde verhandelt. Die Kinder hatte man in einen abgelegenen Teil des Palastes abgeschoben und ihnen befohlen, sich nur sehen und nicht hören zu lassen – und sich nur dann sehen zu lassen, wenn man sie rief. Die ganze Zeit über wurde aufgeregt gelinst und gekichert. Hildy hatte nur Verachtung für ihre Basen übrig, die einstimmig zu dem Schluss gekommen waren, der neue Graf der Südtäler sei ›furchtbar stattlich‹, und ihn bespähten, wann immer sie konnten. Alle wünschten sie, ihm versprochen worden zu sein und nicht, wem auch immer sie verlobt waren. Bei Hildy indessen hatte Tholian einen reichlich unangenehmen Eindruck gemacht, und sie beging den Fehler, Harilla anzuvertrauen, dass er ihrer Meinung nach unfreundlich aussehe.
»Von wegen, Gnädige Frau Eigenbrötlerin!«, rief Harilla. »Ich sag dir trotzdem nicht, wo mein Guckloch ist. Hau ab und such dir dein eigenes.«
Hildy scherte sich nicht um Harillas Unterstellung. Ynen und sie waren ohnehin viel findiger darin, Stellen zu suchen, von denen aus sie beobachten konnten, was im Palast vor sich ging. Sie beobachteten sehr viele Gelage und Musikdarbietungen, bis sie sich damit abfanden, dass der Baron der Heiligen Inseln nicht eintreffen würde.
»Aber warum kommt er denn nicht?«, wunderte sich Hildy.
»Ich glaube, er ist niemandes Gefolgsmann«, sagte Ynen. »Er muss unsere Gewässer vor der Flotte des Nordens schützen.«
Dann aber erfuhren sie, dass wenigstens ein Schiff der Nordlande hindurchgeschlüpft war. Die Hälfte der Grafen war sofort felsenfest überzeugt, es handele sich um den Kundschafter einer Eroberungswelle. Das Durcheinander der Meldungen, der Befehle und der hin und her eilenden Soldaten ließ Hildy an einen aufgestörten Ameisenhaufen denken, und alles wurde noch schlimmer, als die durchnässten Gefangenen hereingeführt wurden. Man verhörte sie und erfuhr, dass zwei von ihnen adlig geboren waren – und nicht nur das, sie waren die Söhne des Grafen von Hannart. Es war, als befiele ein Fieber die Adligen, denn der Graf von Hannart wurde im gesamten Süden gesucht. Ynen erklärte Hildy, dass Keril von Hannart als junger Mann in den Süden gekommen sei und am großen Aufstand teilgenommen habe, als wäre er ein gewöhnlicher Umstürzler.
Über das Schicksal der Seeleute konnte kein Zweifel mehr bestehen. Sie alle wurden vor Gericht gestellt, und es ging um ihr Leben.
Nun ist es so, dass man etwas, womit man aufgewachsen ist, als selbstverständlich voraussetzt. Hildy und Ynen waren es gewöhnt, dass fast täglich Menschen angeklagt und am Strang hingerichtet wurden. Darum machten sie sich keine weiteren Gedanken darüber, dass die Nordländer gehenkt werden sollten. Die meisten Leute im Palast sagten sogar, sie hätten es herausgefordert, indem sie in den Holander Hafen einliefen. Doch waren Hildy und Ynen sehr neugierig auf die Söhne des Grafen von Hannart und wollten sie sehen, solange sie noch lebten. Das war nicht ganz einfach. Hadd fürchtete, dass Freiheitskämpfer versuchen könnten, die Nordländer zu befreien, und darum durfte niemand in ihre Nähe, der nichts mit ihnen zu schaffen hatte. Erst am letzten Tag des Prozesses konnten Hildy und Ynen sich unweit der Zelle des jüngeren Sohnes in einem Bogengang verstecken.
Sie sahen Soldaten aus der Zelle kommen, und ihr Onkel Harchad war bei ihnen. Sie führten den Sohn des Grafen ab. Als sie an dem Bogengang vorbeimarschierten, staunte Hildy, weil der Grafensohn noch so klein war – er konnte nicht älter sein als Harchads eigener Sohn. Er war nur ein großer Junge. Und gerade, als sie vor dem Bogengang waren, drehte sich Harchad plötzlich um und trat den Grafensohn. Anstatt Harchad wütend anzusehen und zu schimpfen, krümmte sich der Junge zusammen und legte schützend einen Arm über den Kopf. »Nicht!«, rief er. »Ich kann nicht mehr.«
Ungläubig blickte Hildy den Soldaten nach, die den Gefangenen zum Gerichtssaal brachten. Sie hatte schon gesehen, wie Umstürzler sich auf diese Weise zusammenkrümmten, und immer geglaubt, dass gewöhnliche Menschen sich eben so benähmen. Doch dass ein Grafensohn zu dem gleichen furchtsamen Gebaren gebracht werden konnte, erschütterte sie bis ins Mark.
»Was meinst du?«, fragte sie Ynen. »Ob Onkel Harchad sehr grausam ist?«
»Klar ist er das«, entgegnete ihr Bruder, »sag bloß, du hast das nicht gewusst?« Ynen erzählte ihr knapp einige Geschichten, die er von seinen Vettern erfahren hatte.
Hildy starrte ihn an. Obwohl sie sah, dass Ynen genauso erschüttert war wie sie, war ihr geradezu übel von einigem, was er sagte, und eine Eiseskälte ergriff von ihr Besitz. Mit wedelnden Armen stürzte sie auf ihn zu und stieß ihn fest gegen die Wand, damit er den Mund hielt. »Ach sei still! Macht dir das denn gar nichts aus?«
»Natürlich macht es mir was aus«, sagte Ynen. »Aber was soll ich tun?«
Am nächsten Tag wurden die Gefangenen gehenkt. Hadd gestattete den Palastkindern, der Hinrichtung beizuwohnen, wenn sie mochten. Ynen lehnte es sofort ab. Hildy rang noch mit ihrer Entscheidung, denn sie konnte die Brutalität Harchads nicht vergessen, deren Zeugin sie geworden war, da überbrachte ein Diener eine Nachricht von Navis. Er verbot Hildrida und Ynen das Zusehen. Darüber war Hildy sehr erleichtert.
Doch in mancher Hinsicht ist etwas Furchtbares, von dem man nur weiß, dass es geschieht, noch entsetzlicher, als wenn man es beobachtet. Hildy versuchte, nicht auf die Uhr zu schauen, und doch wusste sie genau, wann die Hinrichtungen begannen. Als Jubelgeschrei aus dem Hof ins Zimmer drang, hielt Ynen sich die Ohren zu. Noch schrecklicher wurde es, als ihre Base Irana einen Schreikrampf bekam und davongeführt werden musste. Base Harilla fiel tatsächlich in Ohnmacht, und dem ganzen Rest, ob Jungen oder Mädchen, war sterbenselend.
»Das muss ja grässlich gewesen sein!«, sagte Hildy scheu.
Danach mieden die Geschwister ihren Onkel Harchad, wo es irgend ging.
Nachdem die Stürme nachgelassen hatten, reisten die Grafen wieder ab. Hildys Base Irana Harchadtochter eilte wie im Fieber von Fenster zu Fenster, um einen letzten Blick auf den Grafen der Südtäler zu erhaschen.
Das sentimentale Getue weckte in Hildy solchen Abscheu, dass sie schließlich sagte: »Ich weiß gar nicht, weshalb du dich so aufführst. Er hat dich nicht einmal angesehen. Und ich möchte wetten, er ist doppelt so grausam wie dein Vater. Er guckt noch viel gemeiner.«
Irana brach in Tränen aus. Hildy lachte und ging, um zum ersten Mal in diesem Jahr mit ihrer Jacht Straße des Windes zu segeln. Irana aber ging weinend zu ihrer Base Harilla und berichtete, wie garstig Hildy zu ihr gewesen war.
»Das hat sie gesagt, ja?«, fragte Harilla. »Na schön. Es wird Zeit, dass jemand der Gnädigen Frau Vornehm mal eine Lektion erteilt. Komm, wir gehen zu Großvater. Ich wette, er weiß nicht, dass sie segeln gegangen ist.«
Das wusste Hadd allerdings nicht. Er war ohnehin sehr schlechter Laune, denn er hatte entsetzlich mit Graf Henda gestritten. Die Ankunft des Bootes aus dem Norden hatte ihm in Erinnerung gerufen, wie wichtig sein Bündnis mit dem Baron der Heiligen Inseln war, und der Gedanke, dieses Bündnis könnte gerade in diesem Augenblick Gefahr laufen, in einem Gewitter zu ertrinken, brachte das Fass zum Überlaufen. Er wurde so wütend, dass Harilla es schon fast Leid tat, gepetzt zu haben. Er ohrfeigte sie, als wäre sie schuld an Hildridas Unvernunft. Dann rief Hadd seinen Sohn Navis herbei. Eine halbe Stunde lang stauchte Hadd ihn zusammen. Und als Hildy zurückkehrte, musste sie feststellen, dass sie im übelsten Schlamassel ihres Lebens steckte. Ihr wurde strikt verboten, jemals wieder segeln zu gehen, ganz gleich, in welchem Boot.
In den nächsten Tagen wagte sich Ynen kaum in Hildys Nähe. Sie stahl ihrer Tante einen Bettvorleger aus Fell und saß darin eingewickelt hoch oben auf den Dachplatten aus Blei. Zu wütend, um auch nur zu weinen, blickte sie auf das wunderschöne weite Meer hinaus, das grau und blaugrün gestreift und an den Sandbänken gelblich gefärbt war. Es geht ihm nur um das Bündnis, dachte sie. Ich bin ihm völlig egal. Erst zwei Tage später fiel ihr ein, dass sie wieder segeln könnte, sobald sie auf den Heiligen Inseln wäre. Wenn ich doch nur jetzt schon gehen könnte, dachte sie. Könnte ich diesen entsetzlichen, grausamen Palast doch nur verlassen! Den Rest des Tages verbrachte sie damit, liebevoll ein Gemälde der Straße des Windes anzufertigen. Als es fertig war, schnitt sie es sorgsam in zwei Hälften und beschriftete die eine mit ›Ynen‹ und die andere mit ›Hildrida‹. Dann strich sie ›Hildrida‹ durch und schrieb auch auf diese Hälfte ›Ynen‹. Danach kam sie vom Dach herunter und reichte Ynen beide Hälften des Bildes.
»Da. Jetzt gehört sie dir allein.«
Ynen hielt beide Hälften des Bildes in der Hand. Obwohl er sich freute, fand er es sehr schade. Hildy musste einen hohen Preis dafür zahlen, dass sie nun wichtig war. Ynen überlegte, dass er in diesem Herbst wenigstens alt genug wäre, um am Seefest teilzunehmen. Er schwor sich, seinem Großvater eins mit der Rassel auf die Nase zu geben, und sollte er bei dem Versuch sterben. Wenn jemand so etwas verdient hatte, dann Hadd. Dann fielen ihm die Söhne des Grafen von Hannart wieder ein, und er hoffte, dass auch sein Onkel Harchad in der Prozession mitgehen würde. Dem würde er ein Mordsding verpassen.
Unten in der Stadt sprach man noch immer von den Nordländern. Milda sagte, ihr erscheine es recht drastisch, sie zu henken, obwohl sie nur Zuflucht vor dem Sturm gesucht hatten. Hobin entgegnete, etwas anderes sei nicht zu erwarten gewesen. Mitt vergaß seine gemischten Gefühle allmählich. Mit der Zeit erinnerte er sich immer öfter an den kurzen Blick, den er auf die Nordländer geworfen hatte, die wie alle Gefangenen schlurfend dem Palast entgegengingen. Allerhand, dass die Holander Tyrannei die freien Männer des Nordens derart gedemütigt aussehen lassen konnte. Da er selber eine freie Seele war, verachtete er die Nordländer deshalb ein wenig. Aber im Herbst, da zahle ich es allen heim!, dachte er.
Die meisten Leute bemitleideten die Nordländer. Während des Sommers schwelte der Zorn des Volkes auf Hadd. Dann wurden Gerüchte laut, der Norden habe den Süden in einer großen Schlacht besiegt und den letzten der Bergpässe zwischen den beiden Teilen des Landes blockiert. Danach meinten sogar die wenigen Anhänger, die Hadd noch verblieben waren, dass er daran die Schuld trage. Er hatte eine schändliche Niederlage provoziert, indem er zwanzig unschuldige Männer henken ließ.
»Gut«, sagte Siriol. »Alles verläuft in unserem Sinne.«
Den ganzen Sommer hindurch planten die Freien Holander sorgfältig. Unter anderem dämmerte es Mitt und Milda plötzlich, dass niemand Hobin mit dem Bombenwerfer in Verbindung bringen durfte. Erhielten Harchads Spitzel auch nur den geringsten Hinweis auf ihn, sagte Mitt, würde Hobin am Strick enden. Mitt war zuversichtlich, so gut lügen zu können, dass Hobin nicht in die Sache verwickelt wurde. »Ich habe jahrelange Übung«, sagte er. »Es ist schon verwunderlich, dass ich überhaupt noch weiß, wie man die Wahrheit sagt. Aber was, wenn Hobin sich einmischt?« Das war die große Streitfrage. Hobin sah der Prozession zwar nur selten zu, aber wenn er es sich ausgerechnet dieses Jahr in den Kopf setzte und beobachtete, wie Mitt festgenommen wurde, dann eilte er ihm am Ende noch zu Hilfe und verdarb alles. »Das ist das Schlimme an ihm, er ist so rechtschaffen«, sagte Mitt.
Er trug den Freien Holandern seine Sorge vor, und sie steckten die Köpfe zusammen. Man beschloss, dass Ham, der Hobin schon immer gemocht hatte, mit dem Büchsenmacher Freundschaft schließen sollte. Während des Sommers unternahmen die beiden lange Wanderungen durch den Koog. Ham erwies sich als erstaunlich verschlagen. Allmählich gewöhnte er Hobin an immer längere Strecken. Gegen Ende des Sommers verbrachten sie ganze Tage im Koog, aßen in einer Gastwirtschaft zu Abend und kehrten nicht vor Einbruch der Nacht nach Holand zurück.
»Seht ihr?«, sagte Ham grinsend. »Am Festtag wandern wir nach Hochmühl, das sind über zwanzig Meilen, und man wird uns sehen. Ich sorge schon dafür, dass der Wirt beschwört, uns gesehen zu haben.«
Zu Mitts Ärger rührte sich ausgerechnet jetzt ein anderer Geheimbund von Freiheitskämpfern, der sich ›Hand des Nordens‹ nannte. Er heftete Warnungen an die Tore des Palasts und der Kasernen, in denen in ungelenker Schrift und noch ungelenkerer Sprache angekündigt wurde, Hadd während des Seefeste zu ermorden. »UN SO FIELE VOM RESST VON EUCH ALS WIR ERWIESCHN.«
»Das war’s dann wohl!«, sagte Mitt, als er davon hörte. Milda ließ wieder die Eierschüssel fallen und verschüttete zur Sicherheit auch noch einen Krug Milch. Sie und Mitt nahmen jeder ein Töchterchen und eilten zu Siriol. »Was sollen wir nur tun?«, fragte Mitt. »Jetzt wird es von Spitzeln und Soldaten nur so wimmeln. Wer steckt denn nur hinter dieser Hand des Nordens?«
»Ich habe noch nie etwas von dem Haufen gehört«, sagte Siriol. »Das klingt sehr übel. Hoffentlich sagt der Graf nicht deswegen das Fest ab.«
»Das lässt er wohl besser!«, rief Milda. »Seit Jahren bereite ich Mitt auf diesen Anschlag vor. Wenn wir noch ein Jahr warten, passt ihm das Kostüm nicht mehr.«
Mit seiner gewohnten Gelassenheit dachte Siriol nach. »Wenn der Graf wirklich in Erwägung zieht, dieses Jahr zu Hause zu bleiben, dann hören wir davon schon früh genug Gerüchte. Inzwischen kann es nicht schaden, wenn wir ein klein wenig die Furcht schüren. Wir verbreiten, dass es schreckliches Unglück für Holand bedeuten würde, wenn das Seefest abgesagt wird, und Ähnliches.«
Also ließen die Freien Holander hier und da ein Wort fallen. Die meisten begnügten sich, entsetzliches Pech anzudeuten. Mitt hatte jedoch das Gefühl, sich nicht auf den Zufall verlassen zu können. Sofern Hobin außer Hörweite war, führte Mitt eindringlich wispernd jedem, der in die Werkstatt kam, Überschwemmungen, Hungersnöte, Feuersbrünste und Seuchen vor Augen. »Und das ist noch längst nicht das Schlimmste, was geschehen wird, wenn der alte Hadd aus Angst das Seefest abbläst«, raunte er am Ende und zog eine abscheuliche Fratze, um alles erdenkliche Unheil anzudeuten. Wenn Milda einkaufen ging, malte sie ähnliche Schrecken aus, aber in weit grelleren Farben.
Vier Tage später, als die Waffenhüter ihren wöchentlichen Kontrollgang machten, kehrten die Gerüchte zu Mitt zurück. »Habt ihr gehört, was man sagt?«, fragte einer. »Es heißt, das Meer steigt, wenn Hadd das Seefest absagt, und ganz Holand wird von Ungeheuern überschwemmt. Man hört noch mehr von diesem abergläubischen Unsinn.«
»Ja«, sagte der andere. »Ungeheuer mit Pferdeköpfen und Stierhörnern. Ich meine, ich weiß natürlich, dass du darüber lachst, Hobin, aber du musst zugeben, dass jeder viel glücklicher wäre, wenn er genau wüsste, dass es dieses Jahr auch bestimmt ein Fest gibt.«
Als sie gegangen waren, lachte Hobin noch immer. »Ungeheuer!«, rief er. »Dass ich dich nicht erwische, wie du dir solchen Blödsinn anhörst, Mitt.«
»Keine Bange«, antwortete Mitt. Insgeheim staunte er, zu welchem Ungetüm sein Gerücht angewachsen war.
Am nächsten Tag gab Hadd bekannt, das Seefest würde wie üblich stattfinden. Der Graf war kein Feigling, aber er war auch nicht dumm. Harchads Spitzel berichteten ihm auf eindringliche Weise, wie verhasst er in ganz Holand war. Er wusste, dass eine Absage des Festes der Funke sein könnte, der einen echten Aufstand entbrennen ließ. Deshalb sagte er es nicht ab, aber er verbot all seinen Enkeln, an der Prozession teilzunehmen. Dieses Jahr sollte der Umzug aus Dienern und Kaufleuten und deren Söhnen bestehen – ausnahmslos unbedeutenden Menschen, die nichts zählten.
Diese Neuigkeit traf Ynen ins Mark. Seit Monaten freute er sich schon auf das Seefest. Er hatte darauf gezählt, Hadd mit seiner Rassel schlagen zu können, hatte davon geträumt, wie er das Ding unter seines Großvaters großem, spitzem Zinken kreisen ließ, dichter, noch dichter und – Zack! Nun aber… Es war Ynen kein Trost, dass er hinterher zum Festessen kommen durfte. Als er aber erfuhr, dass sein Vater bei der Prozession mitgehen würde, war es ihm endgültig zu viel. Harl blieb im sicheren Palast zurück, und Harchad begnügte sich damit, die Soldaten und Spitzel zu überwachen, die er zu Hadds Schutz aufgestellt hatte. Jemand aus Hadds Familie aber musste Libby Bier tragen, und Hadd suchte Navis dazu aus, denn Navis war sein entbehrlichster Sohn. Außerdem mochte der Graf Navis nicht besonders.
»Das ist so ungerecht!«, sagte Ynen enttäuscht zu Hildy. »Warum darf Vater in der Prozession mitgehen und ich nicht?«
»Jetzt weißt du, wie ich mich fühle«, erwiderte ihm Hildy ohne jedes Mitgefühl, denn Mädchen waren in der Prozession noch nie geduldet worden.
Nachdem die Freien Holander über mehrere Kanäle von alldem erfahren hatten, zeigte sich Siriol erstaunlich zufrieden. »Umso geringer ist die Gefahr, dass unser Mitt erkannt wird«, sagte er.
Andere Sicherheitsmaßnahmen erschienen den Freiheitskämpfern erheblich beunruhigender. In der Woche vor dem Fest wurden alle Boote auf die andere Seite des Hafens verlegt. Siriol musste die Blume von Holand an einen weit entfernten Liegeplatz bringen, wo sie von sechs anderen Booten gestoßen und gescheuert wurde, die dicht um sie herum gepackt waren. Siriol murrte wütend. Er murrte noch mehr, als zwei Tage vor dem Fest kein Boot den Hafen mehr verlassen oder in ihn einlaufen durfte. Alle Boote wurden alle paar Stunden von Soldaten durchsucht. Gleichzeitig ließ Harchad alle Mietshäuser dicht am Kai niederreißen, sodass vor dem Hafen eine weite Geröllfläche entstand. Das war schon ernster, denn die Straße, von der aus sich Mitt unter die Prozession hätte mischen sollen, gab es nun nicht mehr. Eilends suchten sie sich eine andere, weiter landeinwärts. Mitt und Milda waren entrüstet. Sie hatten in einem der Mietshäuser gewohnt.
»Die ganzen Gebäude niedergerissen, nur um das Leben dieses widerlichen alten Opas zu schützen!«, rief Mitt. »Das nenne ich herzlose Tyrannei!«
»Die Häuser hätten schon vor Jahren abgerissen werden sollen«, entgegnete ihm Hobin. »Dort wimmelte es von Ratten und Bettwanzen. Und das Gerede von wegen ›herzlose Tyrannei‹ möchte ich in diesem Haus nicht hören.«
»Aber die armen Leute wurden einfach auf die Straße gesetzt!«, empörte sich Milda.
»Na, auf der Straße ist es sauberer«, entgegnete Hobin. Er machte sich für eine Gildenversammlung fertig und kämmte gerade sein Haar. »Auf jeden Fall haben meines Wissens drei Gildenhallen einschließlich der Büchsenmacher angeboten, den Leuten Unterkunft zu gewähren. Außerdem werden neue Häuser für die Menschen gebaut, draußen im Koog.«
»Der Graf baut ihnen Häuser?«, fragte Mitt ungläubig.
»Nein«, sagte Hobin. »Als ob der Graf so etwas tun würde! Nein, es ist einer seiner Söhne – Navis, glaube ich.« Er zog sich seine beste Jacke über und ging die Treppe hinunter. Soweit Mitt verstand, ärgerte Hobin sich ein wenig über Navis, weil dieser es wagte, das Angebot der Büchsenmacher zu übertrumpfen.
»Wenn er zurückkommt, dann spricht er wieder über Weymoor«, sagte Mitt, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. »Du wirst schon sehen. Trotzdem, übermorgen ist nicht mehr die Rede davon, dass du ihn dorthin begleiten musst.«
»Mitt, ich bin so aufgeregt«, sagte Milda. »All unsere Pläne.«
Mitt empfand ein angenehmes Prickeln, mehr nicht. »Setzt du denn gar kein Vertrauen in mich?«, fragte er. »Komm. Werfen wir einen Blick auf dieses Kostüm.«
Milda lachte angespannt und holte die rot-gelben Kleidungsstücke aus ihrem Versteck unter dem neuesten Teppich hervor. »Ich glaube wirklich nicht, dass du weißt, was Furcht eigentlich ist, Mitt. Ehrlich, ich glaube es nicht. So, da hätten wir’s. Mal sehen, ob es passt.«
Das Kostüm sah eigenartig aus, und Mitt wirkte darin ziemlich lächerlich. Die hautenge Kniehose, die seine dürren Waden bis zur Hälfte bedeckte, hatte ein gelbes und ein rotes Bein. Die Jacke war ebenfalls rot und gelb, nur dass die Seiten vertauscht waren. Mitt war ein wenig zu schmal für die Jacke. Er knöpfte sie eng zu und setzte die kecke Mütze auf, über die zwei Hahnenkämme liefen. »Wie sehe ich aus?«, fragte er.
Milda war entzückt. »Oh, wirklich stattlich! Du siehst aus, als wärst du der Sohn eines Kaufmanns.«
Nur allzu bereit, ihr zuzustimmen, blickte Mitt in den kleinen Spiegel. Er fühlte sich großartig und erlitt einen gelinden Schock. Ja, er sah gut aus, so weit hatte Milda Recht. Doch in seinem Gesicht standen Falten, wie man sie auf den glatten Gesichtern der reichen Jungen niemals entdeckte – Falten, die ihn alt und verschlagen wirken ließen. Er hatte das wissende Gesicht der armen Stadtjungen, die auf den Straßen lebten und selbst sehen mussten, wie sie zurechtkamen. Und gleichzeitig – das setzte Mitt am meisten zu – war es das Gesicht eines Kindes. Unter den Falten lagen leere Züge, leerer als bei jedem anderen Jungen, den er je gesehen hatte, und wie bei seinen kleinen Schwestern starrten seine Augen rund und weit aufgerissen in die Welt. Mitt beeilte sich, diesen Ausdruck von seinem Gesicht zu verjagen, indem er sein schalkhaftestes Grinsen aufsetzte. Die hohlen Wangen kräuselten sich, und seine Augen schielten schmal und durchtrieben. Mitt schnipste gegen einen Hahnenkamm.
»Kikeriki!«, rief er. »Das Fest kann beginnen!« Dann wandte er sich vom Spiegel ab und blickte nie wieder hinein.