16.

Den Rest des Tages verbrachte Mitt mit Angeln. Weder Kalb noch Auster, noch Fasan verlockte irgendeinen Fisch anzubeißen. Verdrossen beobachtete er, wie die Schnur durch die See trieb, und er verabscheute Al mit jeder Stunde mehr. Zu sehen, dass Ynen und Hildy ihn ebenso widerwärtig fanden, tröstete ihn nicht im Geringsten, denn Al legte es mit allen Mitteln darauf an, einen Keil zwischen Mitt und die Geschwister zu treiben.

Al liebte es zu reden. Er fläzte sich auf dem Kajütendach zwischen Mitt und der Plicht, wo Ynen und Hildy waren, ordnete dieses an und verriet ihnen die Wahrheit über jenes. Ynen und Hildy behandelte er stets mit größter und Mitt ohne jede Achtung. Er sagte ihnen, im Norden sei man längst nicht so frei, wie es immer hieß, merkte an, dass sie Skorbut bekämen, wenn sie sich nur von Backwerk ernährten, und betonte, man könne in Weymoor weit besser leben als in Holand. Dann kam er auf den Armen Alten Ammet und Libby Bier zu sprechen.

»Komischer Aberglaube mit den Puppen in eurem Boot«, sagte er und wies erst auf die Strohpuppe, dann auf die aus Wachs. »Nicht dass ihr Holander wirklich dran glauben würdet. In Weymoor habe ich ein Sprichwort gehört, die Holander hielten sich Götter, zu denen sie sich nicht bekennen. Ich wette, ihr wisst nicht mal, dass sie früher Götter gewesen sind.«

»Wie sie sind, sind sie genau richtig«, entgegnete Mitt.

»Und wir wissen, dass sie etwas Besonderes sind«, fügte Ynen hinzu.

»Klar weißt du das, junger Herr. Ich will dich auch nicht beleidigen, aber ich verbrachte das ganze vergangene Jahr auf den Heiligen Inseln, und darum weiß ich einiges mehr als du. Dort nennt man die beiden hier nämlich Götter. Verstehst du, ihretwegen heißen die Heiligen Inseln überhaupt so. Aber – und das ist das Lustige – man gibt ihnen dort keinen Namen. Wenn du sie fragst, wie die beiden Puppen heißen, dann gucken dich die Leute nur an. O ja, das ist ein merkwürdiges Völkchen – halb verrückt vor Gottesfurcht, wenn du mich fragst –, und die Götter sind bloß zwei Puppen.«

»Ich finde, du solltest Mitt nun erlauben, mit dem Fischen aufzuhören«, sagte Hildy.

»Kleine Dame«, entgegnete Al, »du hast ein gutes Herz, und er kann mit dem Fischen aufhören, wenn er einen Fisch gefangen hat. Hast du verstanden?«, rief er Mitt zu. »Sie ist ein nettes Kind – so rücksichtsvoll. Diese Art Menschen ist so, und sie können es sich leisten, nett zu sein, und freimütig, offen und sogar großzügig. Sie verfügen über die nötigen Mittel dazu, verstehst du, und deshalb können Menschen deines Schlages und Leute wie ich uns das nicht leisten. Nett zu sein ist ein teurer Luxus.«

Mitt ließ verbittert die Schultern hängen. Al hatte gewiss Recht. Er hätte nicht besser beschreiben können, wie Hildy und Ynen ihn die ganze Fahrt über behandelt hatten. Al traf den Nagel auf den Kopf.

Während Al weiterredete, sagte Ynen zu Hildy: »Wer ist das nur? Ich habe ihn schon vorher irgendwo gesehen.«

Hildy wusste, dass Ynen sich Gesichter weitaus besser merken konnte als sie. »Mir ist egal, wer er ist«, entgegnete sie. »Den stoß ich ins Meer.« Und das meinte sie ernst.

Doch Al war viel zu gerissen, um irgendeinem der drei Gelegenheit zu bieten, ihm zu schaden. Nachdem er einen Keil zwischen sie getrieben hatte, redete er weiter, bis sie sich tödlich langweilten. Dann verlangte er Essen, und danach redete er weiter, bis die Nacht anbrach. Noch immer war kein Land in Sicht. Mittlerweile betrachteten die drei das Land als den Erlöser von Als Gegenwart.

»Nun«, sagte Al, kaum dass er zu Abend gegessen hatte, »ich denke, ich lege mich hin.«

Sie schlugen vor, er könne während der Nacht eine Wache übernehmen.

»Was, ich?«, entgegnete Al. »Ich verstehe überhaupt nichts von der Sache. Ich bin kein Seemann.«

»Du hattest in deinem Boot ein Segel gesetzt«, sagte Ynen. »Und du bist ein Holander. Ich habe dich gesehen. Holander sind keine Landleute.«

»Das habe ich nie abgestritten, junger Herr. Aber für mich ist das alles viele Jahre her, länger, als du am Leben bist. Also, gute Nacht.« Und da keiner von ihnen ihn aufhalten konnte, ging er in die Kajüte und schlief mit der Büchse unter seinem Leib ein, wo niemand an sie herankommen konnte.

Während Mitt mürrisch das Angelzeug verstaute, starrte Hildy rachsüchtig in die Kajüte. »Er ist genau wie unsere Vettern und Basen, Ynen, nur hasse ich ihn viel mehr.«

»Jedes Mal, wenn er mich ›junger Herr‹ nennt, hasse ich ihn noch stärker«, sagte Ynen.

»Das muss er aber«, sagte Mitt und trat den Kasten zu, um seinen Zorn wenigstens zum Teil zu entladen. »Er behandelt euch mit Respekt.« Es lag ihm auf der Zunge zu fragen, ob er genauso schlimm gewesen sei wie Al, aber er wagte es nicht, die Frage auszusprechen. Er kannte die Antwort: Sie hätte ja gelautet. Stattdessen teilte er, ehe er sich’s versah, steif und sachlich die Nachtwachen ein. Erneut übernahm er die Morgenwache. Mitt spürte es in den Knochen, dass sie in der Morgendämmerung Land sichten würden.

Tatsächlich unterschied sich der dumpfe Hass, den die Geschwister Al entgegenbrachten, sehr von den Gefühlen, mit denen sie anfangs Mitt begegnet waren. Ynen sann darüber nach, während er die Straße des Windes durch die Dunkelheit steuerte. Mitt hatte ihnen zuerst furchtbare Angst eingejagt, aber Ynen hatte sich ihm nie unterlegen gefühlt, und Al gegenüber war das sehr wohl der Fall. Kaum hatte sich Mitt auf ein Streitgespräch eingelassen, als Ynens Furcht vor ihm verflogen war. Seine Schwester und er hatten einiges mit Mitt gemeinsam, mit Al aber verband sie nichts. Man konnte ihm nicht vertrauen, man konnte nicht mit ihm reden. Ynen hoffte, der Wind würde am nächsten Tag auffrischen. Wenn Al dennoch auf dem Kajütendach saß, dann, da war sich Ynen recht sicher, könnte er einmal rasch an der Ruderpinne reißen und Al mit der Spiere der Straße des Windes vom Boot fegen.

Hildy verbrachte ihre Wache, indem sie unglücklich über Onkel Harl nachdachte. Ihr Götter!, dachte sie. Das war, als hätten Ynen oder sie Al dafür bezahlt, Navis zu erschießen. Hildy ekelte der Gedanke daran so sehr, dass sie Mitt geradezu dankbar war, weil er sie gezwungen hatte, nach Norden zu segeln. Nur hatten sie jetzt Al an Bord. Hildy wusste, dass sie alle Schlauheit aufbieten mussten, zu der sie – einschließlich Mitt – fähig waren, um Al zu entkommen, sobald sie Land sichteten. Und sie hatte sich mit Mitt gestritten. Von allen dummen Dingen, wegen denen man die Beherrschung verlieren konnte, ausgerechnet wegen der Heiligen Inseln! Und nachdem Al seine Zweifel gesät hatte, würde Mitt keinem freundlichen Wort von Hildy mehr trauen. Sie verabscheute Al dafür, wie er Mitt behandelte. Zwischen ihnen war es wie zwischen Onkel Harchad und dem Sohn des Grafen von Hannart, nur verletzte Al nicht mit Tritten, sondern durch Worte.

Sie versuchte Mitt zu zeigen, dass sie ihm freundlich gesinnt war, indem sie ihn sehr sanft für seine Wache weckte. Mitt sprach kaum mit ihr. Er tat sehr schläfrig und taumelte murmelnd an ihr vorbei in die Plicht. Während er die Pinne übernahm und die krängende Straße des Windes durch die schwach silbrig schimmernde See lenkte, war er so verwirrt und elend, dass er kaum bemerkte, was er tat. Die schreckliche Ähnlichkeit zwischen Al und ihm beherrschte seine Gedanken. »Er tat’s für Geld, und ich tat’s für eine gute Sache – einen anderen Unterschied kann ich nicht erkennen«, sagte er sich. »Aber was war das für eine gute Sache?«

Er spürte einen heftigen Stoß im Rücken. Als er aufblickte, gierte die Straße des Windes auf weißem Meer unter einem weißen Himmel ab. Der Wind hatte sich gelegt und war umgeschlagen. Plötzlich war es um einiges kälter. Mitt brachte die Straße des Windes wieder auf den alten Kurs, knöpfte seine Jacke zu und drehte sich um. Lange betrachtete er Libby Bier. Sie war eine kleine, dunkle Gestalt und viel zu weit weg, um ihn angestoßen zu haben. Trotzdem hatte sie es getan.

»Hör zu, meine Dame«, sagte Mitt in seinem Elend zu ihr, »darf ich mit dir sprechen? Wirst du mir antworten?« Die kleine knorrige Figur regte sich nicht, noch gab sie sonst ein Zeichen. »Was ich von dir wissen möchte, ist Folgendes: Werde ich am Ende noch schlimmer sein als Al, weil ich so jung angefangen habe?« Libby Bier ließ sich nicht anmerken, ob sie ihn gehört hatte. »Ich verspreche, in Zukunft die Finger vom Morden zu lassen. Hilfst du mir jetzt?« Stille folgte, und nur das unstete Plätschern des Wassers war zu hören. »Anscheinend kann ich nichts denken, ohne es auszusprechen«, erklärte Mitt. »Während ich durchs Leben ging, habe ich immer geglaubt, auf der richtigen Seite zu stehen – einer von den Guten zu sein, du weißt schon –, und jetzt sehe ich, dass ich genauso schlecht bin wie Al. Deshalb muss ich mein ganzes Leben neu überdenken. Ich muss herausfinden, was ich mir bei meinem Tun in Holand eigentlich gedacht habe.« Und noch immer gab Libby Bier ihm kein Zeichen. Sie saß am Ende der Ruderpinne in dem Garn, mit dem sie festgemacht war, und ihre verblichenen Farben begannen wieder zu leuchten, weil die Sonne in diesem Moment aufging. Mitt wagte es nicht mehr, auch nur ein Wort zu sagen, denn jemand in der Kajüte hätte ihn hören können. Er starrte auf die schaukelnden gelben Wellen. Noch immer war kein Land zu sehen.

Den ganzen Tag lang kam kein Land in Sicht. Der Wind flaute zu einem kühlen, unbeständigen Lüftchen ab, und sie alle knöpften fröstelnd die Jacken zu. So viel kälter war es geworden, dass sie nicht daran zweifelten, mittlerweile in nordländischen Gewässern zu sein. Das war ihr einziger Trost. Die Kuchen und Pasteten rochen mittlerweile eigenartig, das Wasser wurde knapp, und weil Al sich weigerte, sich mit Meerwasser zu rasieren, schwand es noch schneller – und dann war da eben Al.

Al verkündete, er langweile sich. »Du musst doch ein Kartenspiel oder ein paar Würfel dabeihaben«, sagte er zu Mitt, dem er so etwas offensichtlich am ehesten zutraute.

Seitdem Libby Bier ihn im Morgengrauen angestoßen hatte, fühlte Mitt sich Al ein wenig mehr gleichgestellt. »Ich?«, fragte er. »Leute meines Standes können sich Glücksspiel nicht leisten.«

Al trieb sich eine Weile murrend auf dem Boot herum. Dann ging er plötzlich nach unten und kam mit der Arrisflasche wieder herauf. »Dann begnüge ich mich eben damit«, sagte er. »Könnte gerade reichen. Wirklich, kleine Dame, ich will mich nicht beschweren, aber du solltest dich wirklich vergewissern, dass deine Flaschen voll sind, bevor du die Anker lichtest.«

Er ließ sich auf das Kajütendach nieder und begann zu trinken. Alle drei warfen immer wieder einen sehnsüchtigen Blick auf Hobins Büchse in seinem Gürtel, doch Als Hand war immer in ihrer Nähe, und von Zeit zu Zeit klopfte er liebevoll auf den Griff. Dann begann er zu singen. Flehend blickte Ynen zum Segel hoch. Doch wenn er die Spiere bei diesem leichten Wind herumschwingen ließ, hätte er Al nur einen sanften Stoß versetzt. Er seufzte und überließ Hildy die Pinne, in der Hoffnung, dass sie mehr Glück hätte.

Nachdem Al den Arris halb ausgetrunken hatte, begann er wieder zu reden. Keiner hörte ihm zu. Das war nicht schwer, denn durch ihre ständigen Nachtwachen waren sie so müde, dass sie schon halb schliefen. Eine Stunde lang achtete keiner von ihnen auf nur ein Wort, das Al sagte. Dann begann er schallend zu lachen und brüllte sie an.

»Ich sage euch, ich hab’s genau richtig gemacht! Und ich kann euch nur raten, immer zwei Spiele auf einmal zu spielen! Reich gegen reich – denn die zahlen besser –, aber reich gegen arm, wenn ihr’s nicht anders haben könnt. Ich sag euch… ich sag euch… Kommt her und hört zu, ihr alle!«

Hildy stand an der Ruderpinne, aber Ynen und Mitt wagten es nicht, sich Al zu widersetzen. Unwillig stiegen sie auf das Kajütendach, wo Al mit unsicherer Hand in seiner Jacke suchte und sie mit wütenden, glasigen Augen anstarrte. Als sie näher kamen, gelang es ihm, seine Jacke umzuschlagen, sodass sich ein graubraunes Band im Futter zeigte. An dem Band hing ein kleines rundes Goldstück mit einem Weizengarbenwappen darauf.

»Da. Wisst ihr, was das ist?«

»Ja«, sagte Ynen. »Du gehörst zu Harchads Spitzeln.«

Al klatschte triumphierend in die Hände. »Richtig!«, rief er. »Richtig, richtig, richtig! Seit sieben Jahren arbeite ich schon für Harchad. Versteht ihr, was ich getan hab?«, fragte er listig und wurde ernst und zutraulich, bevor einer von ihnen antworten konnte. »Reich gegen reich ist am besten. Harl bezahlt mich, damit ich den alten Haddock abschieße. Harchad zahlt mir ein Kopfgeld für den alten Haddock. Beide bieten mir an, mich in Sicherheit zu bringen. Was auch immer geschieht, Al ist fein raus.«

»Was anderes hätte ich auch nicht von dir erwartet, Al«, sagte Mitt.

Ynen hielt es nicht mehr in Als Nähe aus. Er zog sich zu Hildy zurück und war froh, als sie eine kalte Hand von der Pinne nahm und seinen Arm so fest drückte, dass es wehtat.

Al schien es zufrieden, sich auf Mitt zu konzentrieren. Er lachte und fuchtelte ihm mit einem Finger unter der Nase herum. »Hör auf mich und treibe immer doppeltes Spiel. Tu, was ich tue. Du kannst die Grafen nicht schlagen, also schließ dich ihnen an. Suche Geheimbünde von Freiheitskämpfern und tritt ihnen mit dem Segen des Grafen bei. Dann lass sie auffliegen. Das hab ich in ganz Dalemark schon getan. Harchad bezahlt – er will alles wissen. Grafen zahlen – gutes Leben.«

Mitt spürte, wie sein Gesicht alterte, während er zuhörte. Immer wieder tauchten neue Ähnlichkeiten zwischen Al und ihm auf. Er wandte sich von Als wackelndem Finger ab und sah, dass Hildy und Ynen genauso betroffen waren wie er. Elend hielten sie die Köpfe in einem eigenartigen Winkel geneigt wie kraftlose Puppen, und ihre Gesichter waren wie verschleiert. Mitt hätte gern etwas gesagt – eine Grobheit, die sich gegen Al richtete, um sie wenigstens ein bisschen aufzuheitern. Doch er fühlte sich selbst so elend, dass er nur denken konnte: Nett zu sein ist ein kostspieliger Luxus. Warum soll ich mir Gedanken darum machen? Er sprang aufs Deck und eilte zum Bug der Straße des Windes.

»Den übelsten Haufen Freiheitskämpfer hab ich in Weymoor angetroffen«, sagte Al. »Wo willst du hin?«

»Ich spreche mit dem Alten Ammet«, antwortete Mitt. »Er ist ein besserer Zuhörer. Er hält den Mund.«

»Aber am gemütlichsten«, fuhr Al fort, als habe Mitt nichts gesagt, »war es auf den Heiligen Inseln. Sie wissen dort gar nicht, was Freiheitskampf bedeutet – aber das sage ich Harchad natürlich nicht.« Er lachte. »Für die Leute dort bin ich der Größte. Und das nur wegen meines Namens. Wusstet ihr, dass ich Alhammitt heiße? Aber das verrate ich in Holand natürlich nicht. Dann würde ja halb Holand kommen und versuchen, sich dort ins gemachte Nest zu setzen.«

»Halt doch endlich den Mund!«, flüsterte Hildy.

Doch Al redete weiter, bis nur noch ganz wenig Arris in der Flasche übrig war. Dann sang er die ›Ballade von Filli Ray‹. Es ging darin um einen Mann, der gehenkt werden sollte.

»Wenigstens weiß er, was er verdient!«, sagte Ynen. »Hildy, ich weiß jetzt, woher ich ihn kenne. Er war letzte Woche im Palast. Als ich ihn das erste Mal sah, ging er zu Onkel Harchad. Das andere Mal war er hinter dem Palast, wo Vater die neuen Häuser bauen lässt. Al kam heraus und hat dort mit Vater gesprochen, fürchte ich.«

An ihrer mörderischen Übelkeit merkte Hildy, dass sie so etwas die ganze Zeit über befürchtet hatte. »Du … du meinst, auch Vater hat ihn bezahlt, damit er Großvater erschießt?« Wenn Navis damit gerechnet hatte, dass jemand Hadd erschoss, so erklärte es auch seine ungewohnte Geistesgegenwart.

»Ich weiß nicht«, flüsterte Ynen jammervoll. »Er hat doch Mitts Bombe weggetreten.«

»Aber vielleicht nur, weil sie ihm nicht in den Plan passte«, sagte Hildy, und alle beide blickten Mitt an, der sich hinter dem Mast zusammengekauert hatte. Beide waren sich sicher, dass Mitt nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte.

Das Lied war zu Ende, und Al trank den restlichen Arris. Dann erhob er sich und torkelte zur Plicht. Hildy und Ynen, die sich beide sehr fürchteten, wichen vor ihm zurück und starrten in sein wankendes, grinsendes Gesicht hoch. Man konnte einfach nicht wissen, was Al als Nächstes tun würde.

»Ist schon komisch, junger Herr und kleine Dame«, lallte Al. »Ihr guckt, als hättet ihr ‘n Gespenst gesehen. Und noch was Lustiges – ich fühl mich irgendwie nicht richtig. Ich glaube, ich geh und leg mich was hin.« Er rutschte von der Dachkante und brach in der Plicht in die Knie. Weder Hildy noch Ynen konnten den Gedanken ertragen, ihn anzurühren. Seitwärts wichen sie ihm aus, als er sich herumwarf und in die Kajüte kroch. Nach zwei erfolglosen Versuchen konnte er sich an einer Koje hochziehen, und kurz darauf schnarchte er.

»Er liegt wieder auf der Büchse«, sagte Hildy verzweifelt.

Sie warteten, dass Mitt in die Plicht zurückkehrte. Nichts auf der Welt erschien ihnen wichtiger, als dass Mitt zu ihnen kam und ein freundliches Wort an sie richtete. Ihr brennender Wunsch hatte nichts damit zu tun, dass sie Mitt unbestritten für den Einzigen unter ihnen hielten, der es mit Al vielleicht aufnehmen konnte. Wenn Mitt nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte, dann waren sie nicht mehr Herren auf ihrem eigenen Schiff. Doch Al schnarchte schon zwei Stunden, bevor Mitt sich regte. Der Alte Ammet hatte ihm genauso wenig Trost gespendet wie Libby Bier in der Nacht zuvor, obwohl Mitt mehrmals die Hand vorgestreckt und flehend den salzverkrusteten, steifen Mann aus Stroh berührt hatte. Mitt wusste, dass er mit jemandem reden musste; er konnte nur nachdenken, wenn er seine Gedanken laut aussprach.

Mit einem Mal änderten sich die Bewegungen der Straße des Windes. Ihr Eintauchen und Schwanken wurde schneller und stärker, obwohl der eisige Wind nur ganz leicht ging. Mitt erkannte daran, dass sie wieder in Küstengewässer gelangten. Er sprang auf, doch er sah keine Spur von Land. Er eilte über das Kajütendach, um Hildy und Ynen seine Entdeckung zu berichten, doch als er sie ansah, wie sie unter ihm in der Plicht hockten, wusste er plötzlich gar nicht, ob er sie ansprechen konnte. Ihre forschenden Mienen, ja ihre Gesichter an sich, schreckten ihn ab. Auf Ynens Nase hatten sich Blasen gebildet, und trotzdem sah sie aus wie Hadds Nase. Hildys Rattenschwänzchen waren lose und bauschig, und Strähnen ihres schwarzen Haares fielen ihr auf die schmalen Wangen, doch das scharfe, gebräunte Gesicht ähnelte trotzdem den Zügen Harchads.

Hildy versuchte, ein Gespräch über Navis zu beginnen. »Ich weiß, was du nun denkst…«, sagte sie zu Mitt.

»Ich bin nicht gut im Denken«, entgegnete Mitt traurig. »Anders als du.« Es klang viel gehässiger, als er beabsichtigt hatte. Hildy hielt es für eine Abweisung und verstummte.

Danach sprach keiner von ihnen über etwas Wichtiges, obwohl sie alle drei sich nichts dringender wünschten. Was Al gesagt hatte, plagte sie alle wie eine verletzte Stelle, die man nicht berühren möchte. Das führte zu der merkwürdigen Lage, dass sie miteinander über Unwichtiges schwätzten und sogar lachten, und jemand, der es nicht besser wusste, hätte sie für die besten Freunde gehalten. Sie holten wieder das Backwerk hervor und suchten alles heraus, was noch essbar war. Den Rest – mehr als die Hälfte – mussten sie ins Meer werfen.

Sie hatten gerade zu Ende gegessen, als Hildy ausrief:

»Möwen!«

Jawohl, weiße Vögel stürzten sich hinter der Straße des Windes ins Wasser und glitten hoch und flink über das Boot hinweg. Andere kreisten, die großen Flügel abgespreizt, über der Plicht und suchten mit Knopfaugen nach weiteren Kuchenstücken. Ynen sah Mitt an.

»Land«, sagte Mitt. »Weit weg kann’s nicht sein.«

Sie tauschten aufgeregte Blicke. Falls sie es schafften, an Land zu gehen, während Al noch schlief, war nicht nur die lange Reise so gut wie vorüber, dann war es vielleicht sogar möglich, dass sie ihm wirklich entkamen. Auf Zehenspitzen ging Ynen in die Kajüte und packte alle Karten, die über Als Koje im Regal lagen. Al rührte sich nicht, und Ynen schlich mit den Karten zurück in die Plicht. Die meisten davon waren, wie nicht anders zu erwarten, genaue Karten der Gewässer um Holand, doch auf einer zeigte sich die ganze gewundene Küste von Aberath im hohen Norden bis zu den Sandbänken von Termath im Süden. Ungefähr in der Mitte lag der große, rautenförmige Block der Insel Tulfa, etwa dreißig Meilen vor Königshafen. Unter dieser Stadt ragte die tückische Schnabelspitze hervor, die die Gewässer Nord-und Süd-Dalemarks trennte. Darunter wiederum, verstreut aber näher an der Küste, lagen die großen und kleinen Flecken – die Heiligen Inseln.

»Die müssten wir doch wiedererkennen können«, wisperte Ynen und wies auf Tulfa, »und die Schnabelspitze auch. Sie sieht aus, als wäre sie eine steile Klippe. Ich wünschte nur, wir wüssten, wie weit wir nach Norden gekommen sind.«

»Auf Tulfa müssten wir Licht sehen, wenn…«, begann Mitt.

Wie ein Bär mit blutunterlaufenen Augen schoss Al aus der Kajüte hervor. »Was soll denn das Getuschel, junger Herr? Könnt ihr ‘nen müden Mann nicht schlafen lassen?«

Die drei tauschten verdutzte Blicke. »Haben dich etwa die Möwen geweckt?«, fragte Mitt.

»Für die Möwen habt ihr keine Karten rausgeholt«, sagte Al. Er schenkte dem Horizont einen blutunterlaufenen Blick und schien entrüstet zu sein, dass er dort kein Land sah. »Das ganze Getue um nichts. Wo ist das Essen?«

Genüsslich eröffneten sie ihm, dass sämtliche Vorräte aufgegessen wären. Tatsächlich war noch ein großer Käsekuchen übrig, doch keiner von ihnen sah auch nur den geringsten Grund, ihn ausgerechnet an Al zu verschwenden. Al indessen enttäuschte sie, indem er die Neuigkeit recht gelassen aufnahm. Er sagte, seinem Magen gehe es ohnehin nicht gut, und drehte sich um, um in die Koje zurückzukehren.

Ynen kam der Gedanke, dass man sich Al doch zunutze machen könnte, wenn er schon wach war. »Wie gut kennst du die Küste?«, fragte er ihn listig.

»Wie meine Westentasche«, antwortete Al über die Schulter hinweg. »Hab dir doch gesagt, dass ich weit rumgekommen bin, junger Herr.«

»Könntest du dann an Deck bleiben?«, bat Ynen.

Al antwortete nicht. Er ging wortlos in die Kabine und kletterte in die Koje.

Doch wie sich zeigte, benötigten sie an diesem Tag weder Als Hilfe noch die Karten. Der Wind blieb flau, und Land kam nicht in Sicht. Sie würden noch eine weitere Nacht hindurch Wache stehen müssen.

»Am besten drehen wir nach Norden«, sagte Mitt. »Auf unserem jetzigen Kurs könnten wir nachts auf Grund laufen.« Und erneut meldete er sich für die Morgenwache.

Ynen weckte Mitt früher als gewohnt. Der Himmel war noch nicht einmal blass geworden, doch Ynen war schrecklich müde. Immer wieder nickte er ein und wachte auf, weil Libby Bier ihn sanft in den Rücken stieß; der letzte Stoß war nicht mehr so sanft. Ynen fuhr auf und bemerkte, dass die Luft kühl und schwül zugleich war; etwas war anders als sonst. Die Straße des Windes schaukelte stark und ruckartig. Ynen hatte so etwas nicht mehr seit dem Tag gespürt, an dem sie den Armen Alten Ammet aufgefischt hatten, und für einen Moment war er so verängstigt wie in der ersten Nacht mitten im Nirgendwo, während der Mitt in der Kajüte immer wieder im Halbschlaf aufschrie. Er legte die Hand auf Libby Bier, um sich zu beruhigen, und beschloss, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als Mitt zu wecken.

»Ich glaube, wir sind jetzt in Küstengewässern«, sagte er zu Mitt und ließ sich in die warme Koje fallen, kaum dass Mitt sie verlassen hatte.

Mitt wusste, dass sie schon seit dem Vortag durch Küstengewässer fuhren. Schon bevor er richtig wach war, stand er an der Ruderpinne. Während er wild an der Leine des Großsegels zerrte, die Ynen mit einem Knoten festgebunden hatte, für den Siriol ihm das Tauende zu schmecken gegeben hätte, bemerkte er, dass die Straße des Windes durch beunruhigend seichtes Wasser fuhr. Er suchte die hellere Hälfte des Himmels ab, erblickte jedoch nur dunstige Finsternis. Aber während er sich noch umschaute, hörte er mit einem Mal das Brüllen und Donnern einer Brandung.

»Lodernder Ammet! Irgendwo dort ist ein Riff«, sagte er. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen, der ihm plötzlich ausgebrochen war, und starrte nach vorn in die weichende Dunkelheit. Er glaubte schon, ihm würden vor Anstrengung die Augen aus den Höhlen platzen. Deutlich hörte er nun die Brandung, aber er konnte überhaupt nichts sehen.

Die Gestalt mit dem wehenden hellen Haar, die sich halb hinter dem Vorsegel verbarg, deutete nach rechts vorn. Ja, aber was soll das bedeuten? Dort sind die Felsen oder dorthin sollst du fahren?, fragte sich Mitt erregt. Unter seiner Hand schlug die Pinne fest nach links. Die Straße des Windes legte sich nach rechts und trat in den lebhaften Strudel und das Gluckern einer Strömung ein. Links von Mitt krachten die Brecher, und er sah undeutlich den weißen Schaum auf den Felsen, die er nur knapp verfehlt hatte.

»Puh!«, machte Mitt. »Hab Dank, Alter Ammet. Danke, Libby. Obwohl ich nicht weiß, warum ihr uns immer wieder helft, wo doch Al und ich an Bord sind, aber wahrscheinlich denkt ihr an Hildy und Ynen. Danke trotzdem.«

Noch während er sprach, hörte er vorn die Wellen gegen neue Felsen brechen. Als er die weiße Gestalt diesmal deuten sah, zögerte er nicht, sondern drehte die Straße des Windes sofort wie geboten. Der Ammet wies fast augenblicklich in die andere Richtung, und auf beiden Seiten der Straße des Windes krachte die Brandung; weißlich-gelb zeigte sich im zunehmenden Licht die Gischt. Mitt folgte dem wegweisenden Arm des Alten Ammet durch ein Labyrinth aus Klippen, das so kompliziert war, dass ihm beim bloßen Gedanken, er müsste sich den Weg selbst suchen, der Schweiß auf die Stirn trat. Ein-oder zweimal knirschte der Kiel der Straße des Windes trotz der Sorgfalt des Alten Ammet über Grund, und Unterströmungen wollten sie seitwärts abtreiben. Dann spürte Mitt, wie Libby Bier ihm kraftvoll an der Ruderpinne half und das Boot wieder auf den richtigen Kurs brachte. Sosehr er sich auch fürchtete, Mitt lächelte dann jedes Mal. Währenddessen wurde es immer heller. Wenn es so weiterging, konnte er schon bald beide in ihrer wahren Gestalt erkennen. Mit jeder Sekunde sah der Alte Ammet mehr wie ein Mensch aus, und aus den Augenwinkeln sah Mitt eine lange weiße Hand neben seiner an der Pinne. Dieser Anblick war das Risiko wert.

Das letzte Riff entdeckte er schon selbstständig. Gelbes Wasser sprudelte dort und schoss hoch auf. Nun war es fast Tag. Dann ging die Sonne auf und ließ die See aussehen, als sei sie mit Glasscherben bedeckt. Das Großsegel erschien golden; die Insel voraus schien zur Hälfte aus Gold zu bestehen, Vögel umkreisten sie als blendend weiße Striche, und der Nebel über der rechten Hälfte sah aus wie eine geschmolzene Sandbank. Der Alte Ammet zeigte sich nur als Büschel sonnenbeschienenen Strohs vor dem Mast. Libby Bier war wieder eine knubbelige, mit Garn festgebundene Puppe aus buntem Wachs. Und Mitt empfand so tiefe Enttäuschung, dass er an nichts anderes mehr denken konnte.

Dann kam er zur Besinnung. Er beugte sich vor und flüsterte in die Kajüte: »Insel voraus! Kommt und schaut selbst!«