10.
Mitt holte ein letztes Mal tief Luft, spurtete über die Gasse und rannte die Mauer hinauf. Wenn man kräftig, entschlossen und nicht allzu schwer ist, kommt man auf diese Weise an einer Mauer ziemlich weit nach oben. Füßescharrend und ohne zu atmen, suchte er mit den Fingern über seinem Kopf nach einem Halt an den glatten Ziegeln. Mit der rechten Hand konnte er sich in einem bröckeligen Spalt festklammern, und mit dem anderen Arm griff er über die Mauerkrone. Dann zog er sich hinüber, rutschte schabend an der Mauer hinab und glitt in seinem eigenen Garten zu Boden. Er befürchtete, zu viel Lärm gemacht zu haben.
Es war eigenartig. Der Garten kam ihm schon ganz fremd vor. Mitt war früher nie aufgefallen, wie klein und schäbig er war, wie pockennarbig die Zielscheibe, wie verrostet die Wäschemangel. Während er sich über die schlüpfrige Erde stahl, konnte er kaum glauben, dass er, so wie jedes Mal, das Werkstattfenster heben und die Hintertür entriegeln würde. Doch wie immer schob er den Arm hinein, ertastete den kalten Metallriegel und schob ihn mit den Fingerspitzen hoch. Er zog die Türe auf, sie quietschte, und Mitt glitt an ihr vorbei in die rußverschmutzte, halbdunkle Werkstatt.
Ich darf nicht vergessen, das Fenster einzuschlagen, dachte er. Aber das ist laut. Also tu ich’s zuletzt. Auf Zehenspitzen durchquerte er den Raum und nahm ein Brecheisen zur Hand. Dann untersuchte er das Gestell mit den fertigen Büchsen, das verschlossen war. Am Schloss hing das Holander Siegel herab. Er wandte sich den Kisten mit den Pulverbestandteilen zu. Auch sie waren verschlossen und versiegelt. Wäre Hobin doch nicht so sorgfältig gewesen. Mitt musste alles aufbrechen, sich das Pulver selbst mischen und in einige Patronen füllen.
Hinter sich hörte er eine leise, aber zielstrebige Bewegung. Das Herz klopfte Mitt bis zum Hals, und seine Zunge erschien ihm mit einem Mal viel zu groß für seinen Mund. Er wirbelte herum, das Brecheisen in der plötzlich schweißfeuchten Hand. Hobin entriegelte gerade die Tür vor der Treppe, die nach oben führte.
»Bist du das, Hobin?«, fragte Mitt matt. Kalte Verzweiflung überfiel ihn. Alles ging schief. Hobin hätte noch in Hochmühl sein sollen, doch stattdessen war er hier und trug seine guten Kleider, als wäre er an diesem Tag gar nicht wandern gewesen.
Hobin nickte. »Ich hatte gehofft, dass du hierher zurückkommst. Daran sehe ich, dass du zumindest noch ein bisschen Verstand übrig hast.« Er durchquerte zielstrebig die Werkstatt und wirkte dabei massiger und entschlossener denn je. Unwillkürlich wich Mitt zurück, obwohl er schon absehen konnte, dass Hobin ihm den Weg zur Hintertür abschnitt. Und so geschah es. Hobin stellte sich ans Gartenfenster, mit voller Absicht, wie Mitt ahnte.
»Aber du bist doch weggegangen«, sagte er. »Und Ham war bei dir.«
»Und jetzt bin ich wieder da«, entgegnete Hobin. »Ohne Ham.«
»Und…« Mit dem Brecheisen wies Mitt in einer eckigen Bewegung nach oben. »Meine Mutter? Ist sie da?«
Hobin schüttelte den Kopf. »Sie ist doch bei Siriol, oder nicht? Wir halten sie am besten aus der Sache heraus. Mitt, hältst du mich für solch einen großen Narren, dass ich mich von jemandem wie Ham hereinlegen lasse? Und was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Was hast du damit bezweckt?«
Mitt schluckte. »Ich … ich bin wegen einer Büchse hier. Ich wollte es so aussehen lassen, als wären Diebe hier eingebrochen. Ehrlich, Hobin, ich wollte dich auf keinen Fall in Schwierigkeiten bringen.«
»Nein, vorn am Hafen meine ich«, entgegnete Hobin.
»Oh«, machte Mitt.
»Du musst mich wirklich für einen Trottel halten«, sagte Hobin. »Ich weiß um jedes Körnchen meines Schießpulvers. Ich wusste, dass du dir welches wegnahmst, aber ich hätte nie gedacht, dass du es auch selber benutzen würdest. Wer hat den Grafen erschossen? Auch einer von deinen lieben Fischern?«
»Ich weiß es nicht. Die Hand des Nordens, nehme ich an. Hobin«, bat Mitt, »gib mir eine Büchse. Dann gehe ich fort und belästige dich nie wieder. Bitte, alles ist schiefgegangen.«
»Ich habe zugesehen, wie es schief ging«, sagte Hobin. »Ich war ganz in deiner Nähe, als du deine Bombe geworfen hast. Was für ein Glück, dass dich keiner gefangen hat, nachdem Navis sie fortgetreten hatte. Danach konnte ich nichts anderes tun als hoffen, dass du auf diese Fischer nicht vertraust, sondern auf eigene Faust fliehst. Denn du steckst wirklich bis zum Hals in der Tinte, Mitt. Das ist nicht lustig. Diesmal nicht.«
»Das weiß ich!«, rief Mitt. »Das weiß ich sehr gut. Morgen stehen bestimmt schon Spitzel vor der Tür und fragen nach mir!«
»Morgen!«, erwiderte Hobin. »Du machst wohl Witze! Bei Sonnenuntergang sind sie hier. So lange werden sie wohl brauchen, bis sie begriffen haben, dass der Graf mit einer meiner gezogenen Büchsen erschossen worden ist.«
»Eine von deinen? Woher willst du das wissen?« Mitt wünschte, Hobin würde von der Hintertür weggehen. Er fühlte sich wie in einer Falle.
»Es musste eine davon sein, um über diese Entfernung hinweg noch genau zu treffen«, sagte Hobin. »Und sie wurde zum ersten Mal abgefeuert. Verstehst du nun, warum ich es mir mit den Waffenhütern nicht verderben will? Oder hast du gerade darauf gezählt?«
»Nein, das habe ich nicht«, antwortete Mitt und fühlte sich erbärmlich. »Was meinst du wohl, weshalb ich Ham auf dich angesetzt habe? Was hast du eigentlich mit Ham gemacht?«
»Nichts, ich bin ihm nur entwischt«, sagte Hobin. »So dämlich wie der ist, stapft er wahrscheinlich jetzt noch im Koog umher und sucht mich. Nein, ich halte dich auch nicht für so berechnend, aber wegen Ham habe ich mich doch geärgert. Er ist leichter zu durchschauen als das Fenster dort.« Hobin wies auf die schmutzige Scheibe und entfernte sich endlich ein wenig von der Hintertür. Mitt schätzte die Entfernung ab und überlegte gerade, ob er einen Fluchtversuch wagen könnte, als Hobin fragte: »Was hattest du denn mit der Büchse vor, die du mir klauen wolltest?«
Mitt hörte Schlüssel klirren. Er blickte zu Hobin und sah, dass der Büchsenmacher das Waffengestell aufschloss. Mitt konnte es kaum glauben. Er wusste, welches Risiko Hobin damit einging. »Ich wollte in den Koog fliehen«, sagte er. »Verstehst du, ich will nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst. Es soll so aussehen, als hätte ich sie gestohlen.«
Hobin blickte ihn geradezu erheitert über die Schulter hinweg an. »Du behandelst mich noch immer wie einen Narren. Ich werde dir keine von diesen Büchsen geben. Wer eine Büchse machen kann, der kann auch zwei herstellen, oder nicht?«
Das Waffengestell schwang komplett von der Wand zurück. Hobin nahm zwei lose Ziegel aus der Mauer, die davon verdeckt gewesen war, und griff in die Lücke, die sie hinterließen. Während er darin herumnestelte, sagte er: »Ich wünschte, du würdest mir verraten, was dich zu diesem Freiheitskämpfer-Unsinn verleitet hat, Mitt. Liegt es an deinem Vater?«
»Ich glaube schon«, gab Mitt zu. Ihm kam es vor, als würde er sich zu einem einzigen Hautflecken bekennen, obwohl er doch Masern hatte, aber trotzdem war es die beste Antwort, die er geben konnte. Wie um sein Versagen einzugestehen, legte er das Brecheisen behutsam fort.
»Dachte ich es mir doch.« Hobin schob die Ziegel wieder an Ort und Stelle und klappte das Gestell zurück. Vorsichtig wandte er sich um und hielt eine eigenartige, dicke und kurze Büchse in den Händen. »Und ich hatte gehofft, du würdest erwachsen werden, Mitt«, sagte er. »Du musst dein eigenes Leben führen.« Sanft drehte er an dem ungewohnt dicken Lauf. Solch eine Waffe hatte Mitt noch nie gesehen. »Hast du je darüber nachgedacht«, fragte Hobin, »was für ein Mann das war, der überhaupt keine Rücksicht auf dich und Milda genommen hat?«
Die Frage war so ungehörig, dass Mitt sie einfach nicht beantworten konnte. »Was ist das für eine Büchse?«, fragte er.
»Die hier trug ich in der Tasche, als du deinen Knallkörper platziert hast«, sagte Hobin. »Falls es Ärger geben sollte. Sie ist noch geladen, weil ich sie dir geben wollte. Ich kann dir aber nur die sechs Schüsse lassen, die in ihr stecken, also geh sparsam damit um. Die Waffenhüter zu betrügen ist für mich nicht viel leichter und ungefährlicher als für dich.«
»Sechs Schüsse?«, fragte Mitt. »Und wie füllt man die Zündladung nach?«
»Gar nicht. Hast du dich nie gefragt, was ich mit diesen Zündhütchen angefangen habe, die ich dich herstellen ließ? Sie sind hier drin, siehst du, auf dem Ende der Patronen, und der Hammer zündet sie. Jeder Schuss hat einen eigenen Lauf. Du drehst auf den nächsten, nachdem du gefeuert hast. Sie hat eine geringe Reichweite, sonst würde ich sie dir nicht geben. Sie soll dich nicht in Schwierigkeiten bringen, sondern dir aus Schwierigkeiten heraushelfen. Wenn Milda und die Mädchen nicht wären, hätte ich dich mitgenommen und Stein und Bein geschworen, dass du die ganze Zeit bei mir gewesen wärst. Das habe ich früher immer für Canden getan. Aber ich muss auch an sie denken. Da, nimm.«
Er legte Mitt die Waffe in die Hände. Wie alle Büchsen Hobins war sie großartig ausbalanciert. Mitt spürte das Gewicht des rundlichen, sechslöcherigen Laufes kaum. »Wozu hast du sie gebaut?«
»Ein Experiment«, sagte Hobin. »Und weil es eines Tages hier im Süden einen echten Aufstand geben wird. Ewig lassen sich die Menschen nicht von den Grafen unterdrücken. Darauf bereite ich mich vor. Ich hoffe, du bist geduldig und ebenfalls bereit, wenn es so weit ist. Aber nun beeil dich. Auf der Treppe findest du deine alte Seemannsjacke und meinen Gürtel, in dem du die Büchse tragen kannst.«
Mitt ging zur Tür des Treppenhauses. Tatsächlich lagen dort seine alte dicke Jacke und der Gürtel. »Du … du hattest alles vorbereitet«, sagte er beklommen.
»Was hast du erwartet?«, fragte Hobin. »Manchmal glaube ich, ich wäre ein viel besserer Freiheitskämpfer als ihr alle zusammen. Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt. Einen guten Rat will ich dir noch geben. Geh nicht in den Koog.«
Mitt schnallte sich gerade den Gürtel um und hielt mitten in der Bewegung inne. »Hä?«
»Hä?«, wiederholte Hobin. »Ihr seid doch alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ja, tu das Gleiche wie die anderen Flüchtlinge. Benutze doch einmal deinen Kopf, Mitt. Man erwartet doch, dass du in den Koog fliehst. Wenn du das machst, dann haben sie dich morgen Mittag gefangen. Nein, folge lieber der Küste und sieh zu, dass du in Hoe oder in Kleinkoog ein Boot bekommst. Es könnte sich auch lohnen, einen Blick ins Westbecken zu werfen.«
»Dann muss ich aber durch die dreckigen Gräben!«, rief Mitt.
»Vom Schlamm ist noch keiner gestorben, und das Westbecken ist am nächsten. Ich weiß aber nicht, wie streng sie ihre Boote dort bewachen lassen. Sieh es dir am besten selbst an. Und wenn du in Canderack oder Weymoor in eine Ortschaft kommst, wo es einen Büchsenmacher gibt, dann geh zu ihm und sag, dass ich dich geschickt habe. Sie kennen mich alle. Komm«, sagte er, »ich helfe dir über die Mauer.«
Mitt schob sich die Büchse in den Gürtel und zog die Jacke an. »Aber was sagst du ihnen, wenn sie kommen – den Spitzeln, meine ich?«
»Erst mal nagle ich dieses Fenster zu«, antwortete Hobin. »Dann hast du vielleicht versucht einzubrechen, aber erfolglos. Ich werde sehr traurig und tief von dir enttäuscht sein, Mitt. An meine Tür kannst du nicht mehr kommen.«
Obwohl Hobin lächelte, als er das sagte, begriff Mitt, dass er den Büchsenmacher vermutlich niemals wieder sehen würde. Und während er mit ihm den Garten durchquerte, fühlte er sich deswegen unerwartet elend. Er hatte Hobin nie so behandelt und ihn nie so gesehen, wie er es verdiente. Mitt wollte sich bei ihm entschuldigen, aber irgendwie schien ihm keine Zeit zu bleiben, um etwas zu sagen. Hobin hielt ihm schon die gefalteten Hände hin, um ihn über die Mauer zu heben. Mitt seufzte und stellte den Fuß hinein.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, wisperte Hobin. »Glück für Schiff und Küste.«
Bei all der Aufregung war Mitt völlig entfallen, dass er am Seefest Geburtstag hatte. Er wollte Hobin danken, doch der Büchsenmacher hob ihn schon an, und Mitt stieg hoch. Ihm blieb gerade noch genug Zeit, um hastig zu Hobin hinunterzulächeln, dann war er schon auf der Mauerkrone und rutschte auf der anderen Seite hinunter.
Niemand schien ihn gesehen zu haben. Mitt machte sich auf den Weg in die tief gelegene Ecke Holands zwischen dem Damm, der zum Westbecken führte, und den Dünen. Es war nicht weit dorthin. Die Koogstraße lag etwas abseits im Westen, und Mitt sah bald, dass Hobin ihm einen guten Rat erteilt hatte, indem er ihm sagte, er sollte hier entlanggehen. Er begegnete nur einem Trupp Soldaten, vor dem er sich in einem Hauseingang versteckte. Während sie an ihm vorübergingen, befühlte er die kleine Handbüchse und dachte: Kommt mir lieber nicht zu nahe. Hobins Geburtstagsgeschenk mögt ihr bestimmt nicht.
Die Soldaten marschierten vorbei, ohne ihn zu entdecken, und Mitt ging weiter. Die Stadt verlor sich im Marschland. Hier standen vor allem aus Bootsteilen gebaute Hütten, doch kein Mensch ließ sich sehen. Mitt war ganz allein mit den Möwen und dem zwischen die rosa Sumpfpflanzen geworfenen Abfall. Er dankte Hobin im Stillen, dass er ihn an seine Jacke erinnert hatte, denn es wehte ein kühler Wind. Er kam vom Meer her, das über den Dünen den Horizont bildete und höher zu stehen schien als das Land. Vor ihm durchzog ein Netz aus brackigen Gräben die Dünen. Es bildete einen leuchtend grünen Streifen, den Mitt durchqueren musste, um zur Hafenmauer des Westbeckens zu gelangen. Die Idee schmeckte ihm noch immer nicht besonders. Hinter der schwarzen Linie jener Mauer ragten jedoch Masten hervor – mehrere hundert Ausflugsboote, große und kleine, warteten darauf, dass Mitt sich eins aussuchte.
Guter alter Hobin!, dachte Mitt und durchquerte schmatzenden Schrittes das rosa Marschland.
Schließlich erreichte er die Gräben. Sie waren graugrün, schlammig und etwas zu breit, um hinüberzuspringen. Sie durchzogen das matschige grüne Gras vor der Mauer mit einem Muster, das so kompliziert war wie die Dessins, die Milda früher in die für den Palast bestimmten Vorhänge gestickt hatte. Vor langer Zeit war hier einmal eine Salzmarsch gewesen, heute endeten hier die Abwasserkanäle des Palastes. Da die Ebbe einsetzte, liefen sie nur träge ab; Blasen stiegen empor und schlugen Schaum auf der Oberfläche, auf der eine fußdicke Schicht aus grauem Schlamm trieb.
»Igitt!«, sagte Mitt und blickte mit einer gewissen Verzweiflung zum Damm hinüber. Ob er sich besser auf diesen Weg wagen sollte? Dort gingen Menschen. Durch die Bäume konnte er sehen, wie sie sich bewegten. Erneut überfiel ihn jene schreckliche, ungewohnte Angst. Er fürchtete sich zu sehr, um überhaupt zu einer Bewegung fähig zu sein. Ich warte lieber, bis es dunkel ist, dachte Mitt.
Wer immer die Leute waren, sie bewegten sich ohne Unterlass zwischen den Bäumen hin und her. Mit zitternden Händen hob er einen alten Zaunpfahl auf und stocherte damit im nächsten Graben herum. Das eklige Wasser war nur knietief.
Ich versuch es, dachte Mitt. Er ließ sich in den sauren, salzigen Schlamm gleiten. »Pfui! Igittigitt! Was für ein ekliger Schlabber!«, sagte er, aber er watete hindurch und kletterte auf der anderen Seite hinaus. »Vorsicht mit der Büchse«, warnte er sich. Einige Schritte weiter kam der nächste Graben. »Gosse Numero zwei«, sagte Mitt und ließ sich schaudernd hinein. »Und da«, sagte er, als er hinauskletterte, »kommt auch schon die nächste.«
Aus diesem Graben kämpfte er sich gerade heraus, als er Rufe auf dem Damm hörte. Zwischen den Bäumen kamen Gestalten hervor und sprangen behutsam hinunter auf den grünen Morast – grüne Gestalten, dunkler als das Marschland. Also hatte Harchad auch an das Westbecken gedacht. Schneller als eine Ratte über die Müllhalden am Hafen sprang Mitt in den nächsten Graben, durchquerte ihn und kraxelte am anderen Ufer wieder hoch. Und auch die nächsten beiden Gräben hatte er hinter sich gelassen, bevor die Soldaten den ersten erreichten. Als er ein weiteres schleimiges Ufer hinabrutschte, sah er sie dort stehen bleiben, gut hundert Schritte von ihm entfernt.
Bis die da reinsteigen, dauert es noch ein bisschen, dachte er. Mitt war nun noch etwa hundert Schritte von der Mauer entfernt, die das Westbecken auf der Landseite umgab. Er wusste, er würde sie niemals erreichen; es war hoffnungslos. Mit doppelter Hast rannte er den Graben entlang, obwohl es platschte und schmatzte. Mit einer Hand hielt er durch die Jacke seine Büchse fest. »Halte sie trocken«, ermahnte er sich. »Einen oder zwei von denen erwischst du damit vielleicht.« Der Graben krümmte sich und mündete in einen anderen. Als Mitt hochschaute, war die Mauer um das Becken schon um einiges näher gekommen. Er sah einen Pfeiler, an dem er vielleicht hochklettern konnte, aber um ihn zu erreichen, musste er den Graben verlassen. Also kletterte Mitt heraus und warf sich in das feuchte grüne Gras.
Etwas schwirrte an seinem Kopf vorbei, Piooou, und schlug mit einem dumpfen Plockin das Ufer des nächsten Grabens ein.
Wie von selbst sprang Mitt auf und rannte los. Er hatte solche Angst, dass er sich fühlte, als litte er an einer schrecklichen Krankheit. Seine Beine schmerzten, das Atmen tat weh, und ihm war schwindlig. Ringsum schwirrten nun die Kugeln und schlugen ein. Piooou-plock.Piooou-plock. Piooou-plock. Er kam sich vor wie ein Huhn, das noch umherrennt, obwohl man ihm den Hals umgedreht hat. Ganz sicher war er schon tot.
He!, dachte Mitt. Er hatte den Rand eines anderen Grabens erreicht. Piooou-plock. Er warf beide Arme hoch, wirbelte herum und ließ sich fallen. Im Sturz hatte er noch Zeit, Hobins Gürtel herumzureißen, sodass er die Büchse auf dem Rücken trug, wo ihr nichts geschehen konnte. Er fiel mit dem Gesicht ins kalte, salzige Gras und ließ sich seitwärts in den blubbernden Schleim im Graben gleiten. Den Gestank bemerkte er kaum.
Aus der Ferne kam noch ein Ruf, dann herrschte geschäftiges Schweigen.
Gut, dachte Mitt und begann, auf Händen und Knien am Ufer entlangzukriechen.
»Da sind aber viele Leute«, sagte Ynen beunruhigt, nachdem Hildy und er den Damm halb überquert hatten. »Ich glaube, es sind Soldaten. Dort, am Tor zum Becken.«
Sie blieben bestürzt stehen, dann eilten sie mitsamt ihren Futtersäcken an den Straßenrand und verbargen sich zwischen den Bäumen.
»Es muss am Aufstand liegen«, sagte Hildy. »Glaubst du, sie lassen uns vorbei, wenn ich ihnen eine Goldmünze anbiete? Ich habe eine.«
»Ich weiß nicht. Es sind reichlich viele.«
Im Schutz der Bäume gingen sie ganz gemächlich weiter. Was sollten sie tun? Schwer zu sagen. Vielleicht hielten die Soldaten sie gar nicht auf, doch andererseits hatte Onkel Harchad den Wächtern in der Küche befohlen, sie zu ihm zu bringen. Wahrscheinlich hatte er den Wächtern am Westbecken den gleichen Befehl übermitteln lassen.
»Es wäre doch wirklich zu schade, wenn sie uns jetzt noch zurückbringen würden«, sagte Hildy.
Bevor sie nahe genug waren, um etwas Genaues zu erkennen oder selbst entdeckt zu werden, beobachteten sie, wie die Gestalten am Ende der Straße eine nach der anderen zum Straßenrand eilten und zwischen die Bäume verschwanden. Es sah fast so aus, als wären sie vom Damm gesprungen.
»Ob sie nicht wollen, dass wir sie sehen?«, überlegte Hildy und blieb stehen. Sie musste an Bomben und Aufständische denken.
»Ach, komm schon weiter!«, sagte Ynen und rannte los. »Schnell! Solange sie weg sind!«
Hildy holte ihn ein, und sie rannten, so schnell sie konnten. Das Backwerk schlug ihnen auf die Schultern, und auf beiden Seiten flitzten die Bäume vorbei. Von unterhalb der Straße ertönte eine Reihe leiser, dumpfer Knallgeräusche, und zwischen den vorbeisausenden Bäumen sahen Hildy und Ynen Rauchwölkchen und einmal auch einen Blitz. Sofort wechselten sie auf die andere Straßenseite und rannten langsamer weiter. Keiner von ihnen wollte blindlings in ein Feuergefecht laufen.
Doch schon bald verstummten die Schüsse. Keuchend trieb Ynen Hildy zu größerer Eile an, damit sie das Tor erreichten, bevor die Wächter zurückkehrten. Es kam jedoch kein einziger Soldat. Sie erreichten die hohen, pechschwarz gestrichenen Torflügeln, bevor sie die Soldaten überhaupt sahen. Es waren etwa zwanzig Männer, die links vom Damm das Marschland durchkämmten. Sie sprangen zwischen den stinkenden Gräben umher, und manch einer rutschte dabei aus. Jeden einzelnen Graben sahen sie sich an und riefen einander zu, wer den nächsten untersuchen sollte. Einige hielten lange Stangen und stocherten damit im Schlamm herum.
»Die suchen jemanden«, sagte Ynen sehr erleichtert. »Ich wette, sie suchen den Mörder.«
»Und ich würde sagen, sie haben ihn erschossen«, stimmte Hildy ihm zu. »Was haben wir für ein Glück, Ynen! Sie haben das Tor offen gelassen. Wahrscheinlich haben sie auch das Becken durchsucht.« Ihnen schien nicht in den Sinn zu kommen, dass sie ihr Glück nur dem traurigen Schicksal eines anderen zu verdanken hatten.
Mitt kroch an dem Pfeiler empor. Ich komme mir vor wie eine Riesenschnecke, dachte er. Widerlich! Schließlich rollte er sich auf die Mauerkrone. Ich hinterlasse sogar eine Schleimspur, dachte er, als er den breiten Schmierstreifen aus graugrünem Schlamm hinter sich sah. Unter ihm stocherten die Soldaten in den Gräben herum. Sie waren überzeugt, ihn erschossen zu haben, und suchten nach seiner Leiche. Mitt rollte sich von der Mauer, bevor einer von ihnen zufällig aufblickte und einen Grund entdeckte, seine Überzeugung noch einmal zu überdenken, und kam mit einem dumpfen Schlag auf dem Bootssteg dahinter auf. Keuchend blieb er einen Moment lang auf die Ellbogen gestützt liegen. Er war durchnässt und fast zu Tode erschöpft. Welches dieser vielen kleinen Boote sollte er nehmen? Er musste es ohne Mühe allein steuern können. Aus diesem Grund mied er das schöne Boot, das nur zehn Schritte von ihm entfernt vertäut war. »Du bist zu groß, meine Schöne«, sagte er. »Und vor deinesgleichen pflegt Siriol auszuspucken.«
Er schaute sich die übrigen Boote an. Einige waren zu groß, andere zu fassartig, einige nur Nussschalen. Alle protzten sie mit Prachtanstrichen. Mitt redete sich zwar ein, dass er ihre Vorzüge abwäge, aber in Wirklichkeit verglich er sie nur mit dem wunderschönen blauen Boot zehn Schritte entfernt und fand, dass sie dagegen einfach nicht bestehen konnten. Er hatte keine Zeit, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Im Marschland brüllte ein Soldat auf. Mitt schoss auf Händen und Füßen vor wie ein Äffchen. Bevor er nachdenken konnte, hatte er sich über das Kabinendach der blauen Schönheit gerollt. Sie hatte sogar eine versenkte Plicht für den Rudergänger; typisch Ausflugsboot, dachte Mitt. Er ließ sich hineinfallen. Zumindest verbarg es ihn vor den Soldaten.
Aber nicht lange. Viel früher, als Mitt es für möglich gehalten hätte, trappelten Schritte über den Bootssteg. Er riss die Doppeltür zur Kajüte auf und warf sich hinein. Wenn er es nicht so eilig gehabt hätte, wäre er auf der Stelle erstarrt und hätte mit großen Augen um sich geblickt. Wer hätte geahnt, dass es an Bord eines Bootes so behaglich sein konnte: blaue Decken, blauer Plüsch, ein Holzkohleofen zum Kochen, weiße und goldene Farbe, alles mit Schnitzereien verziert und geputzt, bis es mehr nach einem schwimmenden Palast als nach einem Boot aussah.
Hab ich nicht immer gesagt, dass das Beste für mich immer noch nicht gut genug ist?, dachte Mitt, während er auf Zehenspitzen ans andere Ende der Kajüte ging. Er hinterließ dabei eine grüne Schleimspur. Der Name des Bootes war auf alle Decken gestickt. Mitt konnte nicht widerstehen, er musste den Namen entziffern, unter dem all dieser Luxus in See ging. Straße des Windes, las er. Ná, das ist doch ein guter Name. Passt gut zu mir.
Im nächsten Moment neigte und wiegte sich die Straße des Windes unter den Füßen von Menschen. »Ist sie nicht schön!«, sagte Ynen und warf seinen Sack in einen Deckskasten. Eilig und vor Panik schwitzend, öffnete Mitt einen mit Goldfarbe bemalten Verschlag und stand vor einem Eimer mit einem vergoldeten Sitz. Anscheinend war der Eimer mit Rosen bemalt.
Lodernder Ammet!, dachte Mitt. Auf diesem Schiff ist wirklich alles vom Feinsten! Mit schleimigen, bebenden Fingern schloss er den Verschlag von innen und schob den Riegel aus poliertem Messing vor, dann lehnte er sich gegen die golden bemalte Wand und lauschte auf die Schritte, die über ihm hin und her eilten, und die schrillen, hochnäsig klingenden Stimmen.