Epilog

Beim Mountain Cattlemen’s Get-together am Rose River lagen Luke und Emily träge in der Nachmittagshitze unter ihrem Zwei-Kabinen-Kuppelzelt und sahen den Insekten zu, die auf dem Zeltdach herumkrabbelten. Luke schob seine Finger in Emilys und sah ihr glücklich in die Augen. Sie zeigte mit einem Seufzen, wie sehr sie die Siesta genoss, und lauschte dabei dem beständigen Brummen eines Generators in ihrer Nähe und dem Gekicher von Meg und Tilly in der Kammer nebenan.

Im Fluss neben dem Zelt planschten kreischende Kinder. Sie hörten das tiefe Plopp eines schweren Steines, der ins Wasser geworfen wurde und im Schwimmteich versank. Dann ging dem Generator hustend der Diesel aus, und paradiesische Stille senkte sich über sie.

Jetzt waren auch Snowgum und Bonus zu hören, die vor dem Zelt ihr Heu kauten und ab und zu kurz wieherten, wenn sie die vorwitzigen Ponys der Mädchen von ihrem Futter verscheuchen mussten.

Über dem Zelt flatterten Vögel geschäftig durch die Kronen der Eukalyptusbäume am Ufer, und neben ihnen plätscherte das Wasser über die Felsen.

Schließlich wälzten sich Emily und Luke auf den Bauch, um durch den Gazevorhang ihres winzigen Privatgemaches die Reiter zu beobachten, die auf durchtrainierten Arbeitspferden vorbeigeritten kamen und ihren Tieren an ausgewählten Trinkstellen im Fluss einen Schluck Wasser gönnten. Manche Pferde hatten Kinder auf Ponys im Schlepptau wie kleine runde Dinghis, die von großen Schiffen gezogen wurden. Ein großes schwarzes Pferd war so beeindruckend durchtrainiert und schlank, dass Emily den Blick kaum von ihm und seinem Reiter wenden konnte.

»Wärst du bei dem Rennen morgen gern mitgeritten?«, fragte Luke.

Emily schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich verbringe den Tag viel lieber mit dir!« Sie schmiegte sich an ihn.

Sie ließ den heutigen Tag Revue passieren. Zum ersten Mal überhaupt hatte Luke einen VPP-Stand bei dem zweitägigen Treffen organisiert. Es sollte dabei weniger darum gehen, Informationen zu verbreiten, als sie vielmehr gleichberechtigt auszutauschen.

Alte Cattlemen mit gebeugten Knien kamen angewackelt, um den Leuten vom VPP von Stellen zu berichten, an denen gefährlich viel Unkraut wucherte. Ob man etwas dagegen unternehmen könne? Junge Männer kamen und berichteten von wilden Hunden in Gegenden, wo noch nie welche gesichtet worden waren. Andere zeigten sich besorgt, dass am Fluss zu wenig Gestrüpp verbrannt wurde, weil durch das wuchernde Gebüsch die empfindsamen, Schatten liebenden Galaxia-Schwertlilien gefährdet wurden. Ob dort eine kontrollierte Brandrodung vorgenommen werden könne? Nach anfänglichen Empfindlichkeiten hörten inzwischen beide Seiten mit offenen Ohren darauf, was der jeweils andere zu sagen hatte.

Luke und Emily leisteten den ganzen Tag Standdienst. Hin und wieder kamen Meg und Tilly mit ihren Ponys vorbei, gefolgt von einem kleinen Hofstaat an Freundinnen, und bettelten um Geld für Eis oder Pommes frites. Je länger sie am Stand arbeitete, desto mehr begeisterten sich die Menschen für das Potenzial, das diese neue Partnerschaft bot, das konnte Emily erkennen.

Vor einem Jahr wäre dieser Gedankenaustausch nicht möglich gewesen, aber nach den verheerenden Buschbränden hatte ein Umdenken eingesetzt. Überkommene Einstellungen mussten aufgegeben werden. Im VPP arbeitete man mittlerweile an einem Vertrag, mit dem Emily und eine andere Familie aus den Bergen beauftragt werden sollten, Rinder im Wonnangatta-National-Park weiden zu lassen, um die Brandlast zu reduzieren. Außerdem hatte man die Cattlemen gebeten, Teile des verbrannten Landes schon während der Erholungsphase zu beweiden.

Die Einstellungen hatten sich in kürzester Zeit grundlegend geändert. Emily wusste, dass es jemanden gab, der sie persönlich bei ihrer Arbeit leitete.

Plötzlich begann sie von Evie tagzuträumen. Ihre Freundin hatte mit ihr über den Tod gesprochen und ihr erklärt, dass die Seele so unvergänglich war wie die Liebe. Der Tod war gar nicht so endgültig, wie einem die Menschen immer weismachen wollten, hatte sie gesagt. Hatte Emily nicht genau das vor einem Jahr am eigenen Leib erlebt, als sie für kurze Zeit diese Erde verlassen hatte? Eine Sekunde später wurde sie von Tilly aus ihren Gedanken gerissen. »Mummy! Schau mal!«

Draußen verschwand die Sonne soeben hinter einer hohen Wolkenwand, die tief hängend auf sie zu rückte und aussah wie eine Front von fetten, grauen Ballons kurz vor dem Platzen.

»Ein Gewitter!«, riefen die Mädchen aufgeregt, klatschten in die Hände und hüpften.

»Die Autofenster!« Schon lief Emily dicht gefolgt von Luke geduckt aus dem Zelt.

Noch während sie die Fenster hochkurbelten, begann der Wind in den Bäumen zu rauschen. Die Pferde traten unruhig auf der Stelle und versuchten, dem nahenden Unwetter möglichst wenig Fläche zu bieten. Emily spürte warme Windböen an ihren Armen und Beinen zerren. Große, fette Tropfen begannen, auf den Boden zu platschen, knickten Gräser um und sammelten den Staub auf den Autos zu schlammigen Rinnsalen. Der Sturm schleuderte die Abdeckplanen hoch und ließ sie wie Peitschen knallen. Picknicktische wurden umgeworfen, Soßen und Salzstreuer flogen durch die Luft. Jeder suchte Schutz. Emily bückte sich und sah Rousie unter dem Pferdeanhänger liegen. Er hatte die Ohren angelegt und sah elend aus.

»Komm schon, Junge«, sagte sie. Den Schwanz zwischen die Hinterbeine geklemmt kam er angeschlichen. Sie machte ihn von der Leine los und nahm ihn mit ins Zelt.

»Kuschelt mit ihm, Mädchen«, sagte sie zu Meg und Tilly.

»Kann ich ihn in meinen Schlafsack stecken, Mum?«, wollte Tilly wissen.

»Lieber nicht. Aber du kannst ihn in ein Handtuch wickeln. Das gefällt ihm bestimmt.« Sie musste gegen den Wind anschreien, der in den Wipfeln beiderseits des Tales tobte. »Luke und ich sichern nur schnell das Zelt, dann kommen wir wieder rein.«

Aber die Mädchen antworteten nicht. Sie boten Rousie bereits einen Müsliriegel an und steckten ihn in Megs Winnie-Poo-Mantel mit der Pelzkapuze. Er wirkte sehr zufrieden mit sich.

Auf einmal schoss der Regen wie aus einem Feuerwehrschlauch herunter und hatte alles innerhalb weniger Sekunden durchnässt. Um sie herum rannten die Menschen hierhin und dahin, doch Emily und Luke standen in dem tropischen Guss und hielten sich fest in den Armen. Sie sahen zum Himmel auf. Die Regentropfen fielen in ihre lachenden Münder, und der angenehm warme Wind gab ihnen das Gefühl, lebendig zu sein.

Sie küssten sich. Emily spürte, wie dankbar sie für diesen Mann in ihren Armen war. Für seine unerschütterliche Energie, seinen Kampfgeist, sein Wissen um die Weisheit der Natur. Er gehörte in die Berge, genau wie sie. Sie ließ den Kopf an seine Brust sinken, lauschte dem ruhigen Schlag seines Herzens und begriff, dass ihre Liebe für die Ewigkeit geschaffen war.

Als sich die Wolken ein paar Stunden später verzogen hatten und sich die Sterne in hellen Schwaden über den Gebirgshimmel verteilten, sah Emily wieder zum Himmel auf, während sie mit Luke zu Sams Musik tanzte, der mit seiner Band auf dem Auflieger eines Sattelschleppers spielte. Über ihnen tanzten die Motten im Licht der generatorgetriebenen Scheinwerfer, mit denen die Freiluftbar auf dem Hügel beleuchtet wurde. Die Menschen standen eng gedrängt vor der provisorischen Bühne. Clancy saß unter den Lichtern und schob den Doppelkinderwagen vor und zurück, während Penny im kürzesten Minirock aller Zeiten lachend mit einer Gruppe von Krankenschwestern plauderte. Emily musste an das letzte Mountain Cattlemen’s Get-together denken und schüttelte sich. Seither war sie im wahrsten Sinn des Wortes durchs Feuer gegangen. Jetzt war sie hier mit Luke, ihren Töchtern, Bridie, Rod, Bob, Flo und Baz. Alle wiegten sich zu Sams Musik, der in seinen neuen Songs die Cattlemen und ihr Leben in den Bergen aufleben ließ.

Die Flanaghans stampften in der wild feiernden Menge am energischsten mit den Stiefeln auf und sangen am lautesten mit. Aus dem wogenden Durcheinander von Tänzern sah Emily zu ihrem Bruder auf. Im Scheinwerferlicht wirkte er wie das Sinnbild eines coolen Countrystars. Ganz vorn drängten sich ein paar junge Mädchen und schrien immer wieder seinen Namen, aber am Bühnenrand stand Bridie, eine Hand lag auf ihrem dicken Bauch. Seit sie schwanger war, strahlte ihre Schönheit noch intensiver. Ab und zu sah Sam zu ihr hin und schenkte ihr ein kurzes Zwinkern oder Lächeln. Neben Bridie stand Bob mit seinem Headset, stets bereit, von der Bühne zu springen und sich um die Elektronik zu kümmern. Er zeigte Emily den erhobenen Daumen, und sie erwiderte die Geste.

Gleich darauf wirbelte Luke Emily herum, und sie sah in seine leuchtenden Augen. Er nickte zur Seite, und beide verfolgten grinsend, wie sich Baz leicht schwankend und trunken vor Flo auf ein Knie niederließ und ihr einen Plastikring aus einem Sixpack Bierflaschen auf den Finger schob.

Dann sah Emily Rod mit seinen Enkelinnen tanzen. Zufriedenes Lachen stand in ihren Gesichtern. Zusammen verkörperten die drei Vergangenheit und Zukunft der Berge.

Emily sah zu den Sternen auf und dachte an die beiden Menschen, die ihr heute Nacht bestimmt zusahen: Evie und Suzie. Sie sah den hellsten Stern funkeln und begriff auf einmal, dass sie in Wahrheit ein und dieselbe Person waren. Die Verschmelzung zweier Seelen. Ihr Schutzengel, ihre Mutter, war in Gestalt von Evie auf die Erde zurückgekehrt.

Als Sams Lied endete und die Menge jubelnd applaudierte, fühlte Emily, wie sie von einer Woge reinster Freude über das Wunder und Mysterium des Lebens fortgetragen wurde. Sie dankte den Sternen, dass sie bei dem Pferderennen vor so vielen Monaten dem Tod ins Antlitz gesehen hatte, denn erst dadurch hatten sich ihr Geist und ihr Herz geöffnet.

Ihr Bruder zog das Mikrofon aus dem Ständer. Er trat in seinen schicken Krokodillederstiefeln an den Bühnenrand. Alle warteten still ab, während er breitbeinig dastand, mit hängenden Armen und einem ergreifenden Lächeln auf dem Gesicht. Er sah Emily an und sagte dann in sein Mikrofon: »Der nächste Song ist für Evie.«