7

In einer dunklen alten Bruchbude in Fitzroy trat Luke Bradshaw aus der Dusche und schlang ein Handtuch um seine Hüften. Aus seinem schulterlangen, schwarzen, locker gekringelten Haar tropfte Wasser auf seine breiten braunen Schultern. Mit der flachen Hand wischte er über den beschlagenen Spiegel. Dunkle, fast schwarze Augen blickten ihm entgegen. Er entschied sich gegen eine Rasur. Heute würde er sowieso nur in die Sporthalle der Uni gehen. Ohne Vorlesungen, Seminare und Prüfungen war das Stadtleben nervtötend langweilig, dachte er betrübt. Bis er einen Job gefunden hatte, musste er die Zeit totschlagen, indem er Gewichte stemmte oder im Schwimmbecken Bahnen zog.

Er trainierte nicht aus Eitelkeit, sondern weil er nicht wusste, was er sonst mit seiner aufgestauten Energie anfangen sollte. Er hatte den Körper eines Farmerjungen; er war es gewohnt, immer beschäftigt zu sein, sich immer zu bewegen, sich bei der Arbeit zu verausgaben. Während der letzten drei Jahre, in denen er für seinen Abschluss in Umweltmanagement gebüffelt hatte, hatte Luke allein seinen Kopf gebraucht. Weder seine Hände noch seine Beine. Manchmal, wenn die Vorlesungen in esoterischere Gefilde abgedriftet waren, hatte er sogar bezweifelt, dass sein Hirn arbeitete.

Jetzt konnte es Luke kaum erwarten, aus der Stadt herauszukommen. Aber wohin sollte er? Er wischte noch einmal über den Spiegel und drehte sich zur Seite, um seinen Bauch herauszudrücken. Da war nichts. Sein Leib war wie gemeißelt, und seine Haut wie dunkles Karamell, ein Körper ohne ein Gramm Fett, eine positive Folge des Spritzers Eingeborenenblut, den er in sich trug. Seine Hautfarbe war eher ungewöhnlich für den Sohn eines weißen Bauern aus dem Weizengürtel. An der winzigen Grundschule, die er früher besucht hatte, hatten ihn seine Mitschüler, die ebenfalls Farmersöhne waren, oft »Coon« oder »Boong« gerufen. Wenigstens schien sich hier in der Stadt kein Mensch an seiner Hautfarbe zu stören. In der Bevölkerung von Melbourne waren alle Farbtöne zu finden.

Er öffnete die Badezimmertür, trat in einer Dampfwolke hinaus und schlenderte durch den mit Rädern, Kajaks, Rucksäcken und Campingutensilien vollgestellten Gang. In der Küche aß seine Freundin Cassy gerade einen Bio-Neunkorntoast mit Tahinpaste. Sie las in der Age und sah nicht auf, als er eintrat.

»Guten Morgen«, sagte er.

Sie grunzte und las weiter. Wieder einmal fragte sich Luke, warum er sich eigentlich mit ihr abgab. Er schloss die Augen und spürte, wie sich die langen Wimpern auf die hohen Wangenknochen legten. Er wusste genau, warum er so viel Zeit mit ihr verbrachte. Was gab es für ihn denn anderes zu tun? Was gab es für ihn noch zu tun, nachdem sein Dad die Farm verkauft hatte? Mit Cassy Jacobson flog die Zeit nur so dahin. Sie war völlig abgedreht, und sie hatte ihn aus seinem sicheren Nest gezerrt.

»Friss Scheiße«, sagte sie, als sie den Artikel fertig gelesen hatte.

»Ich nehme lieber Haferflocken, danke«, sagte er mit einem Funkeln in den Augen.

»Hä?« Sie sah auf.

»Du hast gerade gesagt, ich soll Scheiße fressen«, wiederholte er, und ein Grübchen bohrte sich in seine Wange. Cassy schoss einen finsteren Blick auf ihn ab. »Du doch nicht. Das da.«

Sie pickte mit dem dünnen Finger auf die Zeitungsseite. Luke stieß sich von der Küchentheke ab und beugte sich über ihre Schulter, um den Artikel zu lesen.

»›Die Tochter eines Cattleman aus dem Hochland wurde gestern beim Victorian Mountain Cattlemen’s Cup auf den Jumble Plains bei einem katastrophalen Unfall verletzt‹«, las er in seiner besten Nachrichtensprecherstimme vor. »›Emily Flanaghan, 26, aus Brigalow, wurde während des Rennens gegen einen Baum geschleudert. Die anwesenden Sanitäter belebten sie noch am Unfallort wieder, dann wurde sie nach Melbourne geflogen, da bei ihr innere Verletzungen vermutet wurden. Ihr Zustand ist kritisch. Über den Zustand ihres Pferdes konnte die Rennleitung keine Auskunft geben.‹«

Luke sah in Cassandras stechend blaue Augen. »Und dazu sagst du ›friss Scheiße‹?«

»Genau. Diese blöde Kuh. Verfluchte Rinderzüchter! Geschieht ihr ganz recht. Dieser Baum wollte ihr was sagen … Verschwindet aus den Bergen!«

Luke nickte. »Vielleicht, aber das Mädchen muss einem trotzdem leidtun. Gegen einen Baum zu fliegen ist ziemlich übel.«

»Ich habe kein Mitleid mit ihr. Ich mache mir mehr Sorgen um das Pferd. Das arme Ding hatte schließlich keine Wahl, oder?«

»Cassy, du bist so streng! Und gemein, vor allem zu mir.«

»Ach wirklich?« Sie drehte sich um und kratzte mit den Fingernägeln über seinen nackten Rumpf.

»Autsch!« Er wich zurück, aber sie hielt ihn am Handtuch fest.

»Komm her, mein Hübscher. Ich will dich beißen.«

Er spürte ihre spitzen Zähne auf seiner Haut und beugte sich vor, um ihren Biss zu erwidern. Lustvoll knabberte er an dem langen, dünnen Hals, und spürte, dass die ersten Stoppeln aus ihrem Demi-Moore-Irokesen-Schnitt heraussprossen. Sie schmeckte nach Lavendel und Sandelholzöl. Der Duft haftete ihr noch nach ihrem glitschigen Liebesspiel vom Vorabend an, als sie im Bad bei Kerzenlicht eine ganze Flasche Massageöl über ihm ausgekippt hatte. Sie hatte das Öl nur flüchtig aufgewischt und dabei kichernd nackt vor ihm gekauert und mit einem Handtuch über das ölverschmierte Email gewischt.

»Was wohl Karla dazu sagt, wenn sie von ihrer Buschwanderung zurückkommt? Die wird durchdrehen.«

Luke hatte mit den Achseln gezuckt. Eigentlich war es ihm völlig egal, was Karla dachte. In diesem Moment hatte er nur Augen für Cassy, deren kleine, spitze Brüste vor und zurück schwangen wie bei einer säugenden Hündin und deren winziger weißer Hintern so anregend hin und her wackelte. Sie kannte überhaupt keine Scham. Luke hatte in den vergangenen zwei Jahren den weiblichen Körper intensiver kennengelernt, als er je erwartet hätte. Trotzdem stießen ihn Cassys Aggressivität und ihre Selbstsucht immer wieder ab, manchmal fragte er sich, ob sie wirklich mutig und intelligent war – oder schlicht und einfach durchgeknallt. Trotzdem machte sie das Leben spannend und hatte ihn, den unschuldigen Farmerjungen, völlig umgekrempelt, seit er sie vor zwei Jahren getroffen hatte.

Als Luke das erste Mal in Cassys Haus gewesen war, nachdem sie gemeinsam ein Seminar geschwänzt hatten, hatte er staunend vor einem Bücherregal voller Werke über feministische Theorie gestanden. Während sie ihm, dem Jungen von der Farm im Westen, der mit Lammfleisch und Mischgemüse groß geworden war, ein vegetarisches Risotto zusammengerührt hatte, waren seine Finger über die Buchrücken gewandert: Träume in den erwachenden Morgen, Mösenpolitik, Lesbische Ethik und Angst vorm Fliegen waren nur einige Titel.

»Ganz ruhig«, hatte er sich zugeflüstert, als wollte er ein noch nicht eingerittenes Pferd beschwichtigen.

Nach ihrem First-Date-Risotto, das sie mit Billigwein hinuntergespült hatten, hatte sich Cassy in eine Löwin verwandelt. Den Blick fest auf Luke gerichtet, hatte sie zum Sprung angesetzt. Gierig hatte sie die Nägel in seine Haut geschlagen. Gleich beim ersten Mal ließ sie sich von ihm lecken. Sie wirkte wie eine Exotin auf ihn. Ihr wuchsen dichte Büschel, wo die meisten Australierinnen jedes Härchen wegwachsten, abrasierten oder wenigstens versteckten. Keines der Mädchen aus Lukes Heimat im Weizengürtel hatte sich so wenig um die Meinung ihrer Mitmenschen geschert. Alle hatten lange Haare und rasierte Beine gehabt und Sex nach Vorschrift gemacht. Auch wenn man mit Landmädchen jede Menge Spaß haben konnte, wollten sie es gern romantisch.

Ganz anders als Cassy, die fünf Minuten nach ihrem ersten Wortwechsel in der Unibibliothek erklärt hatte: »Wie sieht’s aus? Ziehst du bei mir ein, und wir werden Fickfreunde? Wir könnten uns eine Miete sparen.« Der Vorschlag machte ihn an und stieß ihn ab, er provozierte und erregte ihn. Kurz gesagt, die zwei Jahre an der Uni waren dank Cassandra extrem interessant gewesen. Sie war die Antithese zu all den Mädchen, die sich seine Mutter für ihn gewünscht hätte. Genau das hatte Cassandra damals so attraktiv gemacht.

Er musste daran denken, wie er Cassy zum ersten Mal in die Familienküche der Bradshaws geführt hatte – genauso gut hätte er ein Schaf mit Moderhinke ins Haus bringen können. Luke hatte sich diebisch über die Reaktion seines alten Herrn gefreut. Sein Vater war dabei, ihre Farm Stück für Stück an eine Firma zu verkaufen, die das Land aufforsten wollte, und Luke hatte das Gefühl, dass er ihm damit im wahrsten Sinn des Wortes den Boden unter den Füßen wegzog. Bei jedem einzelnen Verkauf fühlte er sich um sein Erbe betrogen, jedes Mal hilfloser und heimatloser. So wie er es sah, hatten seine Eltern eine satte Dosis Cassandra verdient.

Es war urkomisch gewesen, wie Cassy neben seiner Mutter das Geschirr abgetrocknet und ihr dabei Vorträge über feministische Theorien gehalten hatte, um ihr schließlich zu erklären, dass die meisten Männer »fürchteten, von der Vagina verschlungen zu werden«. Seine Mutter hätte um ein Haar ihre geliebte Teekanne fallen gelassen! Cassys Weigerung, ihre Schreie beim Sex zu unterdrücken, weil sie schließlich, und zwar jederzeit und überall, ein Recht auf »persönliche Entfaltung« hatte, hatte seiner Mum und seinem Dad den Rest gegeben. Seine Eltern hatten durchblicken lassen, dass es wohl besser wäre, wenn sie gleich nach Melbourne zurückfuhren und keine zweite Nacht blieben. Seine Mutter hatte noch hinzugefügt, dass auch ein Besuch beim Friseur nicht schaden könnte. Womit sie Luke gemeint hatte, nicht Cassy.

Jetzt löste sich Cassy von ihm und warf einen Blick auf die Küchenuhr.

»Scheiße!«, sagte sie plötzlich. »Mein Batikkurs. Der fängt in einer Viertelstunde an. Kann ich den Datto haben? Du kannst doch später die Tram nehmen, oder? Bitte!« Sie schob eine kleine kühle Hand unter Lukes Handtuch und zwirbelte seine Schamhaare um ihre Fingerspitzen. »Bitte, mein Hübscher.«

»Okay.«

»Aber vergiss nicht, dass du um eins in der Stadt sein musst. Da fängt die Demo an.«

»Demo?«

»Ja, ich hab’s dir doch erzählt. Hast du das vergessen?«

Luke sah sie ahnungslos und mit ein wenig schlechtem Gewissen an.

»Gegen die Windkraftanlage. Sie wollen eine im Wilsons Promontory aufstellen. Mitten im Nationalpark, wo überall Papageien rumfliegen. Das geht echt gar nicht.«

»Papageien? Ach ja, stimmt. Papageien.«

»Kommst du?«

»Klar.«

Sie griff nach ihrer Umhängetasche aus recycelten Autoreifen und wollte schon gehen.

»Nur eine Frage noch«, sagte er. »Könnten die Vögel nicht lernen, um die Rotoren herumzufliegen?«

Cassy sah ihn an, als hätte er gerade grünen Schleim erbrochen.

»Scheiße, Luke. Scheiße!« Dann stampfte sie zornig mit ihren Doc Martens auf und stapfte aus der Küche. »Du willst mich doch verarschen. Mann, wie ich das hasse.« Sie knallte die Tür zu, und er sah lächelnd auf die Zeitung. Dann hörte er die Tür wieder aufgehen, und im selben Moment pfefferte ihm Cassandra eine Orange an den Kopf.

»Autsch!«, beschwerte er sich. »Das hat wehgetan!«

»Dann kannst du dir vielleicht vorstellen, wie sich die Papageien fühlen, wenn sie gegen diese riesengroßen Rotorblätter fliegen!« Damit war sie verschwunden.

Im Haus wurde es still bis auf das stete Dröhnen des Verkehrs auf dem Freeway hinter dem Gartenzaun. Luke rieb sich den Kopf und lauschte dem Rumoren der Lastwagen, Personenwagen, Pick-ups und Lieferwagen, die auf dem Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen oder sonstwohin waren. Stadtleben, das durch die ihm eigene Energie unentwegt am Pulsieren gehalten wurde. Luke seufzte. Er vermisste das Landleben. Ja, inzwischen hatte er einen Abschluss in Umweltmanagement. Aber welche Umwelt sollte er denn managen? Und wo? Er wusste es nicht. Daheim auf der Farm, wo inzwischen in industriellem Ausmaß Bäume produziert wurden, so weit das Auge reichte? Wohl kaum. Ihm brach das Herz bei der Vorstellung, dass auf dem weiten Land, das einst Nahrungsmittel produziert hatte, inzwischen nur noch Kiefern und blaue Eukalyptusbäume wuchsen, die in ihren riesigen Monokulturen stumm nach Wasser und Nährstoffen lechzten. Dieses Land wurde von niemandem mehr geliebt.

Wieder sah er auf den Artikel und wünschte der Reiterin und ihrem Pferd noch einmal still alles Gute, bevor er bedrückt weiterblätterte, nicht ohne sich zu fragen, was für Gruselstorys ihm die Presse noch zum Frühstück servieren würde. Dann fiel sein Blick auf eine Anzeige.

Das Department of Land Sustainment, Conservation and Environmental Longevity (DLSC&EL) sucht einen Ranger für die Victorian People Parklands (PP), Region Heyfield-Dargo Plains. Universitätsstudium wird vorausgesetzt.

Er hatte viel über diese Region gehört, vor allem von seiner Großmutter, deren Gene für Lukes dunkle Hautfarbe verantwortlich zeichneten. Sie und ihr Volk waren von dort gekommen. Er spürte ein leichtes Kribbeln auf der Haut.

Die Berge, dachte er. Ja, er liebte die Berge. Vielleicht war das aufgeregte Pulsieren in seinen Adern ein Zeichen dafür, dass ihn die Heimat rief. Nachdem die geliebten weiten Ebenen der Weizenfarm seiner Eltern unwiederruflich verloren waren und er sich in seiner Verzweiflung von der vibrierenden Energie der Großstadt verschlucken lassen hatte, wirkte die Vorstellung, abgeschieden in den Bergen zu leben, wie Balsam. Luke war noch nie im Hochland gewesen, obwohl Cassandra immer wieder von einer Buschwanderung geredet hatte. Aber die australischen Alpen stellte er sich wild und wunderschön vor … Er sah auf die Uhr. Die Behörden hatten bestimmt schon geöffnet. Er würde sofort anrufen.