29

Allmählich wurden die Tage auf den Dargo High Plains kürzer, und ein Hauch von Frost lag in der Abendluft. Der Winter nahte und damit der Zeitpunkt, an dem die Rinder von den Hochgebirgsweiden auf niedrigere Hänge getrieben werden mussten. Diesmal war es eine besonders beschwerliche und traurige Aufgabe für Emily und ihre Familie, denn im nächsten Jahr würde es keinen Abtrieb mehr geben.

Emily stand in ihren Steigbügeln und ließ Snowgums Zügel hängen.

»Saaaalz!«, rief sie über die leere Ebene. »Saaaaalz!«

Sam wiederholte ihren Ruf von seinem rotbraunen Wildpferd aus. Ihre Stimmen schallten über die mit Schneegras bewachsene Lichtung und durch die knorrigen weißen Äste der Bäume. Flo und Rod stimmten in den Cattleman-Ruf ein.

Tief im Busch spitzten die Rinder die Ohren und drehten ihre Köpfe in Richtung der Rufe. Als die Stimmen immer wieder zu hören waren, muhten einige Kühe sanft ihre Kälber an und wackelten mit den Köpfen, um sie in Marsch zu setzen, während andere ihre ausgewachsenen Babys ungeduldig vorwärtsschubsten. Je lauter die Salz-Rufe wurden, desto schneller marschierten die Kühe durch den Wald, bis sie schließlich im Trab durch die Teebäume brachen und sich unter den tief hängenden Ästen der Eukalyptusbäume wegduckten.

An der Salzlecke hörte Emily die Herde kommen. Es war immer wieder ein beglückender Moment, wenn sie die gesunden, wohlgenährten Kühe durch die Bäume traben sah.

Auf dem Gras der eingezäunten Rinderweide gab es mehrere kahle Stellen, wo die Flanaghans den Sommer über immer wieder Salz ausgelegt hatten, damit die Kühe es im Lauf der Wochen weglecken konnten. Hier oben fehlten dem Boden Mineralien, darum gaben die Cattlemen den Tieren regelmäßig Salz zum Lecken, damit sie gesund blieben und weiterhin auf ihre Rufe reagierten.

Normalerweise legte Emily für ihr Leben gern Salz aus, und zwar bei Wind und Wetter. Aber heute war ihr schwer ums Herz. Heute trieben sie zum letzten Mal die Herde auf dieser Weide zusammen, heute würde zum letzten Mal der Salz-Ruf über die Berge hallen. Dieses Land war ab sofort ein Naturpark.

Sie spürte die Schatten ihrer Vorfahren. Sie hatten das gleiche Bild vor Augen gehabt wie sie, die gleichen Kommandos gegeben wie sie, mit fast den gleichen Werkzeugen gearbeitet wie sie und genau wie sie das Salz in Jutesäcke eingewickelt und vor dem Sattel festgezurrt.

Emily stieg ab und begann den Sack zu lösen. Die diesige Morgenluft hatte ihn schwer und klumpig werden lassen, und ihre Rippen muckten auf, als sie ihn auf dem Boden ablud. Als sie sich bückte, um die Sisalschnur aufzuknoten, kippte Wasser aus ihrer Hutkrempe. Den ganzen Morgen über hatte es immer wieder geregnet. Zusammen mit ihrem Vater ging sie auf der Ebene herum und schüttete das grobe Salz zu kleinen Kegeln auf.

Die Rinder kamen aus dem Gehölz getrabt, umtänzelt von ihren springenden und aufgeregt schnaufenden Kälbern. Sie reckten die Schwänze hoch und hüpften herum wie kleine Kinder.

Als die Rinder den Reitern so nahe kamen, dass die unsichtbare Bannmeile, die ihre Fluchtzone darstellte, durchbrochen zu werden drohte, blieben sie schlagartig stehen, stemmten die Beine in den Boden, rumpelten ineinander und hoben schnuppernd den Kopf. Dann senkte die Wagemutigste unter ihnen, eine dunkelbraune Kuh, den Kopf und schritt langsam voran, womit sie den Bann durchbrach und die Reiter in ihre Fluchtzone ließ. Sie streckte die Zunge dem Salz entgegen und versenkte dann die Nase in den Kegel, dass die weißen Körner an den feuchten rosa Nüstern kleben blieben. Auch andere Kühe wagten sich jetzt vor, während sie nervös die Köpfe in Rousies Richtung schwenkten, der hechelnd abseits lag. Doch die Verlockung des Salzes war zu groß, als dass sich die Kühe von einem Hund abschrecken ließen.

Emily schnürte den Sack wieder zu und band ihn wieder vor den Sattel, während Flo die Kühe zählte.

»Sechsundfünfzig. Das ist nicht mal ein Drittel«, stellte sie fest.

»Schließen wir erst einmal das Gatter und versuchen dann die Übrigen unten bei Shepherd’s Hut zu finden«, schlug Rod vor.

Emily wendete Snowgum und ritt neben ihrer Familie weiter, den Kragen hochgeschlagen und den Hut gegen den von Osten heranwehenden Regen ins Gesicht gezogen.

Seit Wonnangatta hatte Luke mehrmals bei ihrem Vater angerufen und jedes Mal eine Nachricht hinterlassen. Anfangs hatte Emily mit dem Gedanken gespielt, sich mit ihm zu treffen, aber als die Briefe vom Amt eintrudelten, in denen den Flanaghans erklärt wurde, dass ihre Weidelizenzen widerrufen worden waren, spürte sie den alten Groll köcheln, und dieser Groll schloss Luke ein. Schließlich arbeitete er für den VPP. Er trug seinen Teil dazu bei, dass sie vertrieben wurden. Er konnte nicht zu ihrem Clan gehören. Vielleicht hatte er sie am Flussufer so geliebt, als würde er wirklich etwas für sie empfinden, aber hatte er nicht stumm abseits gestanden, als Emily ihn am dringendsten gebraucht hatte?

Flo lenkte ihr Pferd neben das von Emily.

»Dir ist doch klar, dass wir zwei Tage keinen Handyempfang haben werden, sobald wir über den Kamm geritten sind. Du solltest lieber noch einmal deine Mädchen anrufen.«

Emily lächelte bei der Vorstellung, wie Tilly und Meg gemütlich neben Evies Holzofen und damit in ihrer ruhigen, gütigen Aura spielten. Doch gerade als Emily das Handy aus der Tasche ihrer Öljacke zog, ergänzte Flo: »Und du solltest auch diesen Luke anrufen. Erlös den armen Kerl endlich aus seinem Elend.«

Emily schoss einen kurzen Seitenblick auf ihre Tante ab. Sie hatte im Laden einen Scheck über den Verkaufspreis des Wallachs hinterlegt und dazu eine kurze Nachricht an Luke, die all seine Hoffnungen zerstören müsste. Ohne jeden Hinweis auf eine gemeinsame Zukunft.

»Komm später nach«, sagte Flo und drängte ihr Pferd nach vorn. »Tu das Richtige, Emily«, rief sie ihr zu. Emily saß seufzend auf Snowgums Rücken und starrte auf das Handydisplay. Überrascht stellte sie fest, dass eine Nachricht eingegangen war. Sie wählte die Mailbox an und hörte Bridies fröhliche Stimme. Allein ihr Klang brachte Emily zum Lächeln.

»Hi, ich bin’s. Ich wollte dir das eigentlich nicht auf die Mailbox sprechen, aber ich dachte, du solltest es lieber sofort erfahren und lieber von mir als von irgendwem sonst.«

Emilys Lächeln erlosch, und sie machte sich auf das Schlimmste gefasst.

»Hoffentlich siehst du die Ironie darin«, setzte Bridie ihre Nachricht fort. »Tracy aus dem Krankenhaus in Dargo hat mir gerade erzählt, dass Penny und Clancy das Geschlecht ihrer beiden Kinder erfahren haben. Und … tataa … Mädchen! Alle beide! Ha! Tilly und Meg werden also zwei Halbschwestern bekommen. So wie es aussieht, zeugt sich Clancy eine eigene Damenvolleyball-Mannschaft! Hoffentlich nimmst du es locker, Süße. Ach übrigens, dein Bruder ist echt heiß, aber sag ihm nicht, dass ich das gesagt hab. Grüß ihn nur von mir. Alles Liebe!« Bridie schmatzte noch ein paar Küsse auf die Mailbox, dann endete die Nachricht.

Zwei Mädchen. Emily seufzte. Sie erinnerte sich an Clancys dumpfen Groll, als Meg zur Welt gekommen war. Das zweite Kind sollte ein Junge werden. Emily fragte sich, warum Bridies Nachricht sie nicht wütend machte. Stattdessen kam ihr in den Sinn, dass der liebe Gott wirklich Humor hatte. Jetzt müsste Clancy definitiv lernen, mit Frauen auszukommen. Schließlich musste er seine vielen Töchter durch die Pubertät und die Zeit danach begleiten.

Plötzlich fiel ihr wieder ein, was Evie ihr erklärt hatte, als Emily voller Wut im Bauch aus dem Wonnangatta zurückgekommen war. Evie hatte nachsichtig gemeint: »Die in einem Streit ausgelöste Energie mit sich herumzutragen ist so, als würde man einen tonnenschweren Felsbrocken mit sich herumschleppen. Es bringt dir überhaupt nichts. Stattdessen sollte man das Chaos beseitigen, das man angerichtet hat, und die Last abwerfen.«

Aber selbst jetzt, wo der Winter näher rückte, hatte Emily noch das Gefühl, einen ganzen Sack an Steinen hinter sich her zu schleifen. Clancy war der dickste Brocken, aber gleichzeitig schleppte sie bei jedem Schritt ihre Sehnsucht an Luke mit sich herum, obwohl er der letzte Mensch auf diesem Planeten war, in den sie sich verlieben wollte. Er war ein Ranger und hatte den Auftrag, sie von ihren Weidegründen zu vertreiben. Am besten brachte sie die Sache so schnell wie möglich hinter sich. Flo hatte recht. Sie musste ihn anrufen und die Beziehung beenden, bevor sie richtig begonnen hatte. Ein Stein weniger, den sie zu tragen hatte.

Weil sie seine Nummer nicht eingespeichert hatte, wählte sie mit kältesteifen Fingern die der Auskunft und ließ sich mit dem VPP-Büro in Dargo verbinden. Im Nieselregen auf Snowgum sitzend brauchte Emily eine Weile, bevor sie begriff, dass sie zur Zentrale in Melbourne durchgestellt worden war. Ungeduldig lauschte sie der weichgespülten Werbung, die immer und immer wieder abgenudelt wurde.

Als Emily fünfzehn Minuten gewartet hatte, sah sie rot. Ihr war klar, dass sie mit Snowgum den steilen, rutschigen Weg hinabgaloppieren musste, wenn sie ihre Familie einholen wollte, dabei wollte sie ihre Stute keinesfalls überanstrengen. Snowgums Wunden waren zwar verheilt, aber falls die tiefe Narbe unter dem Sattelgurt wieder aufgehen sollte, müsste Emily ohne Sattel und in langsamem Schritt durch das kalte, launische Wetter nach Hause reiten. Trotzdem blieb sie in der Leitung, denn sie wusste, dass sie die Sache mit Luke klären musste. Wieder lauschte sie der überfröhlichen Ansage, die ihr Tickets für die »einmalige Landschaft« anpries, als wäre der Busch nur ein weiteres Freizeitaccessoire wie ein sechsflammiger Gasgrill oder eine neue Play Station.

»Ich will aber nichts über Kajakfahrten oder Klettertouren oder Angelscheine erfahren«, brummelte sie vor sich hin. »Ich will nur mit einem menschlichen Wesen sprechen.«

Emily malte sich aus, wie sie einen weiteren schweren Stein mit sich herumtrug. Die Vision hielt sie davon ab, die Verbindung zu trennen. Schließlich wurde sie von einer forschen Frauenstimme begrüßt.

»Ähm«, setzte Emily unsicher an. »Ich wollte eigentlich Luke Bradshaw von der Zweigstelle in Dargo sprechen.«

»Diese Nummer habe ich leider nicht. Nur die der Niederlassung in Heyfield. Sie müssen da draußen anrufen«, erklärte ihr die Frau aus Melbourne.

Die Art, wie sie »da draußen« sagte, brachte Emilys Blut in Wallung. Schließlich arbeitete die Frau in einer Organisation, die sich um die Erhaltung des Landes kümmern sollte, da sollte sie Dargo und Heyfield nicht als »da draußen« betrachten, sondern als Zentrum ihres Jobs.

»Vielleicht haben Sie ja seine Handynummer?«, schlug Emily vor.

»Es tut mir leid«, sagte die Frau, nicht um sich zu entschuldigen, sondern um eine weitere Mauer zu errichten. »Aus datenrechtlichen Gründen dürfen wir die Handynummern unserer Angestellten nicht weitergeben.«

So abgewimmelt zu werden war Emily fremd. Sie biss die Zähne zusammen. Wie hatte sich Luke nur dafür entscheiden können, einer solchen Organisation beizutreten?

»Wie schade. Trotzdem vielen Dank für Ihre Hilfe«, antwortete sie und sagte sich dabei im Stillen, dass die Frau nur ihren Job tat.

Emily spielte kurz mit dem Gedanken, in Heyfield anzurufen, aber sie wollte Luke nur ungern eine Nachricht hinterlassen. Die Sache musste bis nach dem Viehtrieb warten, beschloss sie. Stattdessen rief sie bei Evie an, um den Mädchen zu sagen, dass sie die beiden vermisste und dass sie in ein paar Tagen zurückkommen würde.

»Außerdem«, flötete sie so fröhlich sie konnte auf das Band des Anrufbeantworters, »hat mir Bridie gerade erzählt, dass Daddys neue Kinder wieder zwei Mädchen werden. Ihr werdet also zwei kleine Schwestern bekommen! Lasst euch von Evie erklären, wie die Maschine funktioniert, mit der man feststellen kann, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird! Ich liebe euch beide und freue mich schon auf euch.«

Sie legte auf und musste daran denken, wie sie Meg und Tilly damals beigebracht hatte, dass Clancy jetzt mit einer anderen Frau zusammenlebte, die ein Kind von ihm bekommen würde. Die Nachricht von dem Baby hatte die Mädchen so durcheinandergebracht, dass sie immer wieder dieselben Fragen stellten, bis Emily schließlich völlig entnervt war.

Dann hatte die arme Tilly ausgerufen: »Also hat er jetzt eine neue Familie und kommt nicht mehr zu uns zurück!« Meg hatte stirnrunzelnd darüber nachgesonnen und schließlich beruhigend die Hände auf Tilly gelegt und erklärt: »Das ist okay. Daddy wird uns das Baby sehen lassen, oder, Mummy?« Mit Tränen in den Augen hatte Emily ihren Töchtern versichert, dass die Familie dadurch noch größer und netter würde und dass sie einen neuen Bruder oder eine neue Schwester bekämen, aber als ein Tag nach dem anderen verstrich, ohne dass Clancy sie besucht oder ihre Anrufe erwidert hätte, brach es Emily fast das Herz für ihre Töchter. Außerdem war sie wütend, weil ihr Mann es ihr überlassen hatte, den beiden die Situation zu erklären.

Als sie ihnen dann erzählte, dass Penny Zwillinge bekam, schienen sich die beiden Mädchen bereits mit der neuen Situation abgefunden zu haben. Meg schien sich sogar zu freuen, dass es nicht nur ein Baby, sondern zwei geben würde. Emily vermutete, dass die Mädchen ihren Vater schon nicht mehr so stark vermissten. Sie hoffte, dass die beiden auch weiterhin so gut mit der Situation zurechtkommen würden.

Sie schlug den Kragen hoch und ritt weiter. Auf der windabgewandten Seite des Berges hatte es aufgehört zu regnen, aber wenn die Windböen durch die Bäume fegten, plumpsten fette, nasse Tropfen von den Blättern auf Emily und Snowgum. Die Hufe der Pferde vor ihnen hatten tiefe Halbmonde in den schlammigen Weg gedrückt. Emily musste zügig reiten, um die anderen einzuholen, trotzdem wollte sie die Landschaft auch genießen. Wenn sie die Rinder erst ins Tal getrieben hatten, gab es für sie keinen Grund mehr, diesen Weg noch einmal zu reiten.

Nach einem kurzen Stoßgebet, dass die Narbe nicht durch den Sattel aufgerieben würde, trieb sie Snowgum in einen leichten Galopp und rief Rousie mit einem scharfen Pfiff zu sich. Der Hund setzte mit gespitzten Ohren über liegende Baumstämme und lief hinter Snowgum her den Pfad zur Shepherd’s Hut hinab.

Emily lenkte ihr Pferd von dem Fahrweg auf eine Abkürzung, einen schmalen Pfad, den nur die Cattlemen, ihre Rinder und die Wombats kannten. Sie ritt an Bäumen vorbei, die vor hundert Jahren markiert worden waren. Obwohl diese Gegend sehr abgeschieden war, war sie einst von Stimmen und Werkzeugen belebt gewesen. Um an ihre Minen zu kommen, hatten die Menschen hier ganze Hänge kahlgeschlagen und kilometerlange Kanäle gegraben, die Wasser zu den Gesteinsmühlen brachten. Sie hatten auf den Hügelkuppen Bäume gefällt und daraus Hütten, Pferche und klobige Buschmöbel gezimmert. Viele waren verhungert oder auf andere Weise ums Leben gekommen, wenn Nebel oder Schnee sie in die Irre geführt hatten, aber ein paar drahtige Pioniere hatten genug Gold im Schwemmgut der Flüsse oder tief in den Hügeln gefunden, um richtig reich zu werden.

Einst waren hier Axtschläge durch den Busch gehallt. Ochsenkarren, schwer mit Goldgräberausrüstung beladen, waren Schritt für Schritt die steilen Abhänge hinuntergeschaukelt, mit klobigen Stämmen im Schlepptau, um das Tempo zu drosseln. In den Flussbetten und an den Hängen hatten Menschen gearbeitet. Einige waren von der Einsamkeit in den Wahnsinn getrieben worden, andere von Flöhen und Fliegen. Wieder andere, wie die Flanaghans, waren hiergeblieben und sesshaft geworden.

Was wussten diese Stadtbürokraten mit ihren plattgesessenen Hintern schon von diesem Land? Kein Parkranger war je auf diesem Weg gegangen, dachte Emily zornig. Sie wusste, dass Pfade wie dieser schon in wenigen Jahren unpassierbar wären. Wenn sie nicht regelmäßig benutzt und hin und wieder mit der Kettensäge freigeschlagen wurden, waren geheimnisvolle Orte wie beispielsweise die Feenverstecke nahe den verborgenen Quellen schon bald nicht mehr zu finden. Sie würden nicht lange überleben. Die sanft gefilterten Sonnenstrahlen würden auf einen Teppich aus festen Gräsern und Unkraut scheinen. Die halbhohen Hartriegelsträucher und Akazien würden ungehindert wuchern und die offenen Wiesen erdrücken. Dann würden immer mehr Eukalyptusbäume unter der Last des Winterschnees umknicken und das Land unter totem Holz ersticken, auch weil es fortan verboten war, Feuerholz zu sammeln und zu verbrennen. Dass Äste im Winter abbrachen, war nur natürlich; nicht natürlich war hingegen, dass die Regierung alle durch Gewitter ausgelösten Brände löschte und damit verhinderte, dass die Vegetation ausgedünnt wurde.

Jedes Jahr waren Rod, Emily und Flo mit ihren schweren Tornistern hierhergeritten, um Unkraut zu vernichten, und hatten sich dabei immer wieder über die Brandbekämpfungsmaßnahmen aufgeregt, die irgendwann zum Inferno führen mussten, wenn nicht in diesem Jahr, dann im nächsten. Für alle war unübersehbar, dass eine Katastrophe anstand. Ein Brand, der viel heißer lodern würde als von der Natur vorgesehen. Ein Brand, der alles vernichten würde, statt den Eukalyptussamen neues Leben einzuhauchen und dem Land neue Wildblumenwiesen und Schösslinge zu schenken.

Emily schloss ein paar Sekunden die Augen und konzentrierte sich ganz auf Snowgums regelmäßigen Schritt. Sie hatte in den Zeitungen gelesen, dass den Cattlemen unterstellt wurde, sie hätten mit ihren Rindern das Unkraut eingeschleppt und verbreitet. Von der Stadt aus war es einfach, auf andere zu zeigen und ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben, ohne dass man wirklich etwas von der Materie verstand. Sie streckte die Hand aus und drückte sich von einem massiven Baumstamm ab, damit sie nicht mit dem Knie daran entlangschrammte. Die Borke fühlte sich kühl und kräftig an. Sie spürte tief im Herzen seine Energie und verabschiedete sich im Geist von ihm. Von alledem wollten die Männer in der Stadt sie ausschließen.

Dann erreichten sie Evies Worte wie ein Sonnenstrahl durchs Blätterdach: »Wenn du dich auf die schlechten Dinge im Leben konzentrierst, wird dein Leben nur noch schlechter werden. Du erntest, was du mit deinen Gedanken und Taten säst.«

Emily begriff, dass sie wieder negativ dachte. Wie ihre ganze Familie. Vielleicht hatten sie diese Situation zum Teil selbst herbeigeführt, indem sie sich so lange auf das Schlechte, auf die Bürokraten, fixiert hatten? Vielleicht war es höchste Zeit, die Dinge anders zu betrachten?

Emily und ihre Stute rutschten einen steilen Abhang hinab, an dem der Eukalyptuswald von den Snow Gums mit ihrem hohen Schirm allmählich zu den dichter wachsenden Woolly Butts mit ihrer wollartig rauen Borke wechselte. Bald trotteten sie über eine grüne Wiese auf eine kleine Hütte zu. Sie hieß Shepherd’s Hut, war von ihrem Ururgroßvater gebaut worden und wurde inzwischen von Rangern, Schützen, Bikern und Geländewagenfahrern gleichermaßen benutzt. Zu dieser Jahreszeit war niemand außer ihnen hier, die Hütte würde bis zum Sommer leer stehen.

Emily sah ein Lagerfeuer, von dem Rauch aufstieg, und ihre Familie, die auf abgesägten Baumstümpfen rund um die Feuerstelle saß und in die Flammen starrte. Es war höchste Zeit, etwas zu ändern, beschloss sie, während sie auf die anderen zuritt. Sie löste den Gurt, hob den Sattel von Snows Rücken und stellte erleichtert fest, dass die zusätzliche Polsterung das noch weiche, frisch verheilte Fleisch geschützt hatte.

»Wieso hast du so lange gebraucht? Sam hat währenddessen alle deine Marmeladesandwiches aufgefuttert«, sagte Rod.

»Du bist gemein!«

Ihr Bruder grinste breit.

»Hast du alle angerufen?«, fragte Flo.

»Bridie hat mir eine Nachricht aufgesprochen. Clancys Zwillinge werden Mädchen.«

»Alle beide?«

»Sehr schön«, meinte Flo. »Er wird eine von beiden umerziehen müssen, damit sie eines Tages sein Transportgeschäft übernehmen kann. Der Blödmann wird mit Östrogen überschüttet, bis er alt und grau ist.«

Still saßen sie da und dachten an Clancy und seinen zerstobenen Traum, einen Sohn zu bekommen. Was wollte ein Mann wie er mit zwei weiteren Töchtern?

Flo brach das Schweigen.

»Und?«

Emily schüttelte den Kopf. »Und nichts. In der VPP-Stelle in Dargo war niemand.«

»Aha«, war alles, was ihre Tante dazu sagte.

Emily ließ den Sattel fallen und sagte: »Wisst ihr, ich habe nachgedacht …«

»Ich dachte mir schon, dass es hier nach verbranntem Gummi stinkt«, fiel ihr Sam ins Wort.

Sie gab ihm einen Schubs, der ihn fast von seinem Stamm stieß, und setzte sich dann neben ihn. Rod reichte ihr einen Becher Tee, sie legte die Hände darum und pustete den Dampf weg.

»Wir lassen alle die Köpfe hängen, als wäre das der letzte Viehtrieb auf Erden«, sagte sie. »Ich finde, wir sollten diesen Viehtrieb nicht als Endpunkt ansehen, sondern ihn stattdessen genießen. Wir könnten ihn als neuen Anfang betrachten.«

»Wie meinst du das?«, fragte Flo.

»Sag niemals nie.«

»Du willst James Bond zu Hilfe rufen?«, fiel ihr Sam ins Wort.

»Idiot!«, lachte Emily. »Aber vielleicht, vielleicht könnten wir wirklich etwas erreichen, wenn wir alle anfangen, positiv zu denken und zu handeln und so zu leben, als wüssten wir genau, dass man uns eines Tages bitten wird, die Berge wieder zu beweiden.«

»Glaubst du das wirklich?« Ihr Vater schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich weiß, im Moment sieht es so aus, als wäre alles vorbei«, setzte Emily an und beugte sich vor. »Aber wenn die Wiesen nicht mehr beweidet werden und das Schneegras und das Unterholz verschwunden sind, dann wird hier irgendwann ein Brand ausbrechen, der so heiß ist, dass das Land nicht mehr damit fertigwird. Dann folgen erst Erosion und anschließend Verschlammung der Flüsse, bis irgendwann alles von Unkraut überwuchert ist. Gut, ich weiß, keiner von uns möchte, dass unser Land dermaßen verlottert, aber wir wissen alle, dass ein Großbrand unausweichlich ist. Wie soll ein Parky mit seinem eingeschränkten Bugdet all das kontrollieren? Eines Tages werden sie uns um Hilfe bitten.«

»Pah!«, widersprach Flo. »Du träumst ja.«

»Sie werden uns sogar dafür bezahlen.«

»Im Ernst?«, meinte ihre Tante skeptisch.

»Ja! Wenn von uns positive Energie, Gedanken, Worte und Taten ausgehen, werden wir auch Positives zurückerhalten. Wir ernten, was wir säen.«

»Sie hat dir den Kopf verdreht«, sagte Sam.

»Wer?«

»Was du da redest. Das bist nicht du, das ist Evie. Sie hat dir eingeredet, du könntest alles erreichen. Alles sein. Aber sieh dich an. Sieh uns an. Wir haben verloren.«

»Nein, haben wir nicht«, wandte sich Emily an ihn. »Sehen wir aus wie Menschen, die verloren haben? Wir haben unsere Gesundheit, wir haben einander, wir haben unsere Tiere. Denkt nur daran, was ich durchgemacht habe, und ich habe überlebt. Die Mädchen haben nicht nur überlebt, sie haben sich prächtig entwickelt. Wir haben vielleicht nicht mehr unser ganzes Land, aber wir haben immer noch genug, und ist das nicht das beste Leben auf der Welt? Wir können es immer noch genießen. Ich bin es leid, ständig als Trauerkloß herumzulaufen.«

»Du vergisst dabei nur eines, Emily«, wandte Rod ein. »Das Einkommen. Du weißt so gut wie ich, dass wir zwei Drittel unserer Herde verkaufen müssen, sobald das Weideverbot erlassen wird. Wie sollen wir da finanziell überleben?«

Sie warf ein paar Zweige ins Feuer. »Da wäre immer noch Bobs Land. Vielleicht hilft er uns ja?«

»Und Schweine können fliegen«, murmelte Flo.

»Außerdem gibt es noch Sam. Wenn du wieder Musik machst, werden alle an deinen Lippen hängen. Wir könnten damit positive Botschaften verbreiten. Nicht gegen die Regierung, sondern für die Umwelt.«

Er zog die Stirn in Falten. »Ich weiß, was du meinst, aber ist es dafür nicht ein bisschen spät? Sie haben die Rinder bereits verbannt.«

Emily wusste, dass ihr Bruder seine Musik, seine größte Freude, nicht mit der negativen Energie belasten wollte, die mit seinen Erfahrungen als Cattleman verbunden war, aber wenn sie die Sache aus einem neuen Blickwinkel angingen und das Publikum über seine Musik mit ihrer Geschichte vertraut machten, konnten sie damit vielleicht etwas in Bewegung setzen.

»Ich meine nicht, dass wir denselben Kampf noch einmal aufnehmen sollten. Ich meine, dass wir weitermachen sollten, aber diesmal, indem wir den Menschen den Weg weisen.«

»Gelobt sei der Herr, Halleluja!«, rief Sam mit Nashville-Akzent aus. »Du solltest eine von diesen beknackten amerikanischen Religionsshows moderieren. So wie du redest, würdest du im Handumdrehen in Geld schwimmen!«

»Sam«, versuchte Rod ihn zu dämpfen. »Emily hat recht. Es geht wirklich darum, dass wir den positiven Dreh finden, und ich schätze, wenn man mitten in einem Kampf steckt, verliert man das Gute leicht aus den Augen. Mir ging das lange so, nachdem eure Mutter gestorben war.«

Sam und Emily sahen erschrocken in das faltige Gesicht ihres Vaters. Er redete nie über ihre Mutter. Sie warteten schweigend ab. Dann sprach er weiter.

»Schließlich begann ich zu erkennen, was sie mir Wunderbares hinterlassen hatte. Euch.« Seine blauen Augen ruhten auf Emily und Sam.

»Die Augen gingen mir genau hier auf, in dieser Hütte, als ihr beide zum ersten Mal über Nacht auf den Viehtrieb mitgekommen wart. Erinnert ihr euch noch? An eure erste Nacht hier draußen?«

Emily und Sam nickten. Wie hätten sie das vergessen können? Endlose Stunden waren sie auf ihren Ponys geritten, viel zu aufgeregt, um sich über ihre verkrampften Muskeln, die vom Leder der Steigbügel aufgeschürften Waden oder die kältesteifen Finger zu beklagen. Sie waren außer sich vor Aufregung, weil sie in einer Hütte schlafen würden, die versteckt an einem mächtigen Berg lag. Emily versuchte, sich zu erinnern, wie alt sie gewesen war. Sam war damals mindestens fünf, also musste sie fast sieben gewesen sein. Ihr Vater hatte bis dahin unter einer schwarzen Wolke der Trauer gelebt, doch dann hatte sich seine Stimmung unerwartet gebessert und aufgehellt, so als wäre der Mond durch den Abendnebel gebrochen.

»In dieser Nacht«, erzählte er, »genau hier am Lagerfeuer, während ihr in euren Kinderschlafsäcken geschlafen habt und eure Ponys an dem Baum dort drüben angebunden standen, wurde mir klar, dass Suzie immer noch bei uns ist. Mir wurde klar, dass es an mir war, mich auf das Gute und nicht auf das Schlechte zu konzentrieren. Damals begriff ich, dass ich weitermachen würde, allen Widrigkeiten zum Trotz. Ich vermisse sie immer noch jeden Tag, aber seither kann ich wieder das Positive sehen.«

Er schleuderte den Rest aus seiner Tasse ins Feuer. Bis auf das Zischen des Tees auf den heißen Steinen war es vollkommen still.

Emily setzte ihren Hut ab, ging zu ihrem Vater und schloss ihn in die Arme. Flo zerdrückte eine Träne auf ihrer Wange und tätschelte Rods Knie.

»Mann«, sagte sie. »Hoffentlich sieht uns hier keiner. Das ist ja wie Zeit der Sehnsucht im australischen Busch.«

Emily lachte und spürte, wie der Augenblick in diesem Moment ein Teil ihrer Familiengeschichte wurde. Keiner würde ihn je vergessen. Es war ein Abschied, aber es war auch ein Neuanfang.