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»Lass es ganz ruhig angehen«, mahnte Flo, nachdem sie sich auf das Trittbrett des Trucks geschwungen hatte. »Du musst den Ganghebel behutsam an die richtige Stelle schieben, fast so, als würdest du den Ganghebel deines Freundes in der Hand halten. Pass bloß auf, dass du dich nicht verschaltest, okay?«

»Okay!« Emily sah Flos besorgte Miene im fahlen Morgenlicht und verdrehte die Augen. Konzentriert drückte sie den Hebel in den Leerlauf.

»Und pass auch mit der Kupplung auf. Du musst sie vor jeder Kurve zweimal durchtreten.«

Emily sah Flo an und begann bereits zu bereuen, dass sie Baz um seinen Tieranhänger gebeten hatte, um damit die Rinder in die Berge zu bringen. Flo wachte wie eine Glucke über ihren kostbaren neuen knallroten DAF.

»Ich habe einen Truckerschein! Ich weiß, wie man so ein Ding fährt! Keine Panik.«

»Das ist kein Ding!«, ereiferte sich Flo. »Dieses Turbobaby ist mein persönlicher Monsterkolben!« Sie tätschelte das Armaturenbrett. »Das bist du doch, oder, mein Süßer?«

»Wenn du dir wirklich solche Sorgen machst, dann könntest du das Ding … ich meine ihn … für mich in die Berge fahren.«

Flo schüttelte den Kopf. »Nein, fahr du nur allein. Ich vertraue dir.« Behutsam schloss sie von außen die Tür, dann ließ Emily das Fahrerfenster hinunter und sah zum Haus ihres Vaters hinüber.

»Tilly! Meg! Kommt ihr endlich? Beeilt euch. Auf uns wartet eine Menge Arbeit!«, rief sie aus der Kabine. Die Mädchen knallten die Fliegentür vor dem Haus auf, kamen mit ihren Rucksäcken in der Hand und einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht angelaufen und ließen sich von Flo in die Kabine heben.

»Krümelt bloß nicht in Tante Flos Truck, habt ihr verstanden? Und tatscht nicht auf den Fenstern herum.«

»Flo!«, bellte Emily.

»Schon gut!« Sie hob kapitulierend die Hände. »Ich weiß ja, dass du aufpasst.«

Als Emily die Zufahrt zur Straße hinunterfuhr, ließ sie den Truck absichtlich ein paarmal ruckeln und beobachtete im Rückspiegel, wie Flo entsetzt erstarrte. Dann hupte sie zweimal kräftig und zeigte ihrer Tante den Finger, bevor sie den Sattelschlepper von Tranquility wegfuhr.

Seit sie Bobs Land gepachtet hatte, hatte Emily rund um die Uhr gearbeitet. Sie hatte alles unternommen, um nicht nur das Land instandzusetzen, sondern auch das müde alte Haus ihres Vaters in Dargo.

Jede freie Minute, die ihr blieb, brachte sie damit zu, die abblätternde Farbe von den Wänden zu kratzen, zu spachteln, zu schleifen und zu streichen. In den Bergen begann sie die Zäune zu erneuern, im Tiefland zog sie Gräben für die Rohre eines neuen Bewässerungssystems, damit die Rinder nicht mehr in den Fluss gingen, der durch Bobs Grund floss. Abends brütete sie über ihrer Kalkulation, um zu errechnen, wie viel sie für das Land ausgeben durfte, und versuchte während schlafloser Stunden, eine Strategie für eventuelle Trockenperioden auszutüfteln. Den Rest der Zeit war sie mit ihren Mädchen beschäftigt.

Statt sich Sorgen über Clancy zu machen, machte sich Emily jetzt Sorgen, dass sie Luke über den Weg laufen könnte, sie unternahm alles, um ein Zusammentreffen zu vermeiden. Bis jetzt mit Erfolg. Während sie in ihrem Truck dahinrollte und die Mädchen zu einer CD sangen, schweiften Emilys Gedanken weit ab. In einem guten Jahr konnte sie im Tiefland immer noch dreihundert Rinder halten. Allerdings nur in einem guten Jahr. Seit dem Herbst war abgesehen von ein paar dürftigen Schauern im Frühjahr kein Regen mehr gefallen, und das Land rund um Dargo war so ausgetrocknet, dass sogar einige der aufgestauten Teiche auf den Weiden kein Wasser mehr führten. Es war noch nicht einmal Dezember, und schon jetzt hatten sie eine Reihe von höllisch heißen, windigen Tagen erlebt.

In einem Jahr wie diesem konnte sie höchstens zweihundert Rinder im Tiefland halten, und Bobs Weideland in den Bergen musste sich erst noch erholen. Sie hatte vor, es während der ersten beiden Sommer mit höchstens hundertfünfzig Kühen zu besetzen. Weil sie auch die Weiden im Tiefland nicht über Gebühr beanspruchen wollte, hatte sie sich dazu durchgerungen, fünfzig Rinder zu verkaufen. Die Kühe standen gut im Futter, und die zusätzlichen Einnahmen würde sie dazu verwenden, Bobs Weiden einzuzäunen. Endlich hatte sie die Chance, die Weidegebiete dort oben wieder in Schuss zu bringen und zu ihrer früheren Pracht zurückzuführen.

Statt die hundertfünfzig Rinder per Pferd zu treiben, würde Emily sie in mehreren Fuhren mit dem Laster in die Berge transportieren, denn nach dem Weideverbot war die Herde stark geschrumpft. Einerseits tat es Emily leid, dass der Viehtrieb ausfallen musste, andererseits konnte sie ihre Tage in diesem Jahr besser nutzen, indem sie jene Bereiche abzäunte, die sich noch ein Jahr erholen mussten. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie wieder zum Treiben übergehen konnte, wenn die Weiden fetter waren und Bobs Land in besserer Verfassung war.

Sie warf einen letzten Blick auf den Garten, der in der Hitze schmoren würde, sobald die Sonne aufgegangen war. Gestern hatten die Mädchen in einer Handbreit Wasser in ihrem aufblasbaren Schwimmbecken unter einer Trauerweide geplanscht. Weder in den Tanks noch im Fluss war so viel Wasser, dass sie den Sprinkler lange laufen lassen konnten, aber von der Straße aus wirkte der Garten nichtsdestotrotz wie eine grüne Oase in der ausgebleichten Landschaft. Wenigstens hatten sie angesichts der drohenden, gefährlichen Waldbrandsaison einen Grund, den Garten rund ums Haus notdürftig zu bewässern, sodass die Mädchen im Wasser spielen konnten. Dieser schmale Grünpuffer konnte sie retten, falls im Sommer ein großer Waldbrand ausbrechen sollte. Sie schaltete einen Gang höher und rumpelte weiter.

Luke Bradshaw zog die Stirn in Falten, als er mitten im Nichts einen großen, staubigen Truck mit Viehanhänger parken sah. Er hielt mit seinem VPP-Fahrzeug hinter dem Schlepper, sah sich um und schnupperte den stechenden Geruch von Kuhdung, der aus dem leeren Auflieger wehte. Westlich der Straße hörte er einen Hund bellen und sah jemanden an einem Bach stehen. Er machte sich auf den Weg über die mit niedrigen Sträuchern bewachsene Lichtung. Bald sprang ihm Emilys braun-schwarzer Kelpie mit einem breiten Kelpiegrinsen im Gesicht und mit begeistert wedelnder Rute entgegen.

Luke sah Emily am Bach stehen. Sie sah einfach phantastisch aus in ihren abgewetzten Jeans, dem breiten Gürtel und dem engen blauen Trägerhemd, das jede ihrer Kurven nachzeichnete. Ihre vom Flusswasser nassen, sonnengebräunten Schultern glitzerten in der warmen Nachmittagssonne. Das niedliche Gesicht wurde von einem breiten Akubrahut überschattet. Luke wusste, dass sie erschrecken würde, weil sie mit einem Hund im Nationalpark »erwischt« worden war. Die beiden mit Goldsieben beschäftigten Kinder hoben die zerzausten Schöpfe, und Luke sah ihnen die Angst an, dass ihre Mutter schon wieder in Schwierigkeiten kommen könnte.

Aber heute würde Luke auf die Vorschriften pfeifen.

»Hi!«, begrüßte er sie so freundlich und locker wie möglich. »Habt ihr schon Gold gefunden?« Er bückte sich und kraulte Rousie hinter den Ohren.

Emily legte den Kopf schief und antwortete argwöhnisch: »Nein. Noch nicht.«

»Wie geht es dir?«, fragte er leise und mit unsicherem Lächeln.

»Gut.«

»Ähm … es tut mir leid. Okay? Die Sache vom letzten Winter. Wirklich leid. Ich habe einen Bericht eingereicht und empfohlen, das Verfahren einzustellen. Grimsley wurde wieder auf seinen alten Posten zurückversetzt, darum hat man meine Empfehlung nur zu gern befolgt. Ich hoffe, du hast nichts mehr von der ganzen Angelegenheit gehört.«

Luke stand vor ihr, mit sichtlich betretenem Gesicht. In seinen Shorts sah er umwerfend aus, die fitten, muskulösen Beine waren tief braun und steckten in abgewetzten, wild aussehenden Schnürstiefeln. Sie sah in seine dunklen Augen und entdeckte die Güte darin.

»Ich habe zu lang damit gewartet, ich weiß, aber ich …« Ihm versagte die Stimme.

Emily trat einen Schritt zurück. »Ich glaube, ich habe dir meine Mädchen noch gar nicht richtig vorgestellt«, sagte sie, um möglichst schnell das Thema zu wechseln. Sie beobachtete, wie er in die Hocke ging, um Meg und Tilly zu begrüßen.

»Ich heiße Luke. Und wie heißt ihr?«

Die Mädchen sahen ihn an, aber sie blieben stumm.

»Luke ist ein Freund von mir«, erklärte ihnen Emily. »Sagt guten Tag!« Die beiden Mädchen blinzelten den Mann an. Heute kam er ihnen richtig nett vor, aber nach der Sache mit dem bösen alten Ranger waren sie misstrauisch.

»Das ist meine jüngere Tochter, Meg, und das ist Matilda, aber wir nennen sie Tilly«, antwortete Emily leicht gezwungen für die beiden.

»Hi, Meg und Tilly!« Luke trat ans Wasser. »Zeigt ihr mir, wie man Gold sucht?«

Emily führte beide an den Fluss zurück, und skeptisch begannen sie, das Sieb ins Wasser zu tauchen. Aber schon bald lachten, planschten und schwatzten sie mit Luke. Nach einer Weile machte Emily halbherzig mit, denn insgeheim tat es ihr immer noch weh, dass er in seiner Uniform auf jenem Land patrouillierte, das einst den Flanaghans gehört hatte. Sie wusste, dass Evie sagen würde: »Vergib und vergiss!« Vielleicht sollte sie die Erinnerung an jenen Tag im Schnee aus ihrem Gedächtnis streichen und sich einfach darüber freuen, dass er hier war und dass er so nett war. Gleichzeitig war sie ihm dankbar, weil er kein Wort darüber verloren hatte, dass er sie mit einem Hund und einem Tiertransporter im Park erwischt hatte. Offenbar verstand er sie inzwischen besser. Als Emily neben ihm im Wasser stand, merkte sie, wie ihr Herz wieder zu flattern begann. Sie hatte ihre Gefühle für ihn lang genug unterdrückt.

Die Sonne verschwand hinter den Baumwipfeln, und gleich darauf wurde es kühl.

»Also, es sieht nicht so aus, als würden wir heute noch Gold finden«, erklärte Luke schließlich den Mädchen und zwinkerte Emily dabei verstohlen zu. »Ich muss jetzt los. Wir sollten alle Schluss machen.«

»Können wir morgen wieder mit Luke Gold suchen gehen?« Meg schob die nassen, kalten Finger in die Hand ihrer Mutter und sah sie mit strahlenden Augen an.

»Morgen muss er arbeiten. Außerdem geht ihr morgen Evie besuchen, und ich muss neue Zäune ziehen. Vielleicht ein andermal.«

»Ach, Mann!« Meg stampfte mit dem Fuß auf. »Mummy! Du musst Luke aber wiedersehen. So einen darf man sich nicht durch die Lappen gehen lassen, das hast du selbst gesagt, als wir damals das Meerschweinchen mit den langen Haaren bekommen haben!« Sie sah ihre Mutter finster an, und Emily erwiderte ihren Blick vor Schreck genauso finster.

»Zurück zum Truck und zwar sofort!«

Meg stampfte mit Tilly im Schlepptau ab, während Luke grinsend die Goldsiebe einsammelte und sie Emily reichte. Ihre Hände berührten sich kurz, und Emily bekam eine Gänsehaut. Er sah ihr in die Augen. »Morgen ist Samstag«, sagte er. »Da arbeite ich nicht.«

»Ich aber schon«, erwiderte sie.

»Was musst du denn tun?«, fragte er fröhlich. »Vielleicht kann ich helfen?«

Emily war sprachlos. Ausgerechnet er, ein Mitarbeiter jener Organisation, die ihnen dieses Land weggenommen hatte, wollte ihr helfen! Aber Megs Worte ließen sie nicht los. Öffne dich ihm, Emily, dachte sie.

»Ich will Bobs Weidegebiete abreiten, um die Zäune zu kontrollieren und notfalls zu flicken.«

»Hast du ein Pferd übrig? Ich könnte mitkommen. Etwas mehr über die Gegend erfahren.«

Emily sah ihn an, erstaunt, dass er das wollte. Zögernd nickte sie. »Möchtest du das wirklich? Du könntest deinen Wallach reiten, wenn du willst. Er hat sich wirklich gut gemacht.«

»Das würde mir gefallen«, sagt Luke. »Das würde mir wirklich gefallen! Wir sehen uns also gleich morgen früh.«

Bevor Emily ihre Meinung ändern oder ihn irgendwie verärgern konnte, war er verschwunden und eilte im Laufschritt durch die hohen Gräser auf den Truck zu. Dort hob er gut gelaunt die Mädchen in die Kabine und winkte Emily noch einmal zu, bevor er in seinen Wagen stieg und davonbrauste.

»Er ist wirklich nett, ehrlich«, sagte Meg, als Emily nachgekommen und auf den Fahrersitz geklettert war.

»Es reicht, Meg«, schnappte sie.

»Aber er ist echt nett«, bekräftigte Tilly.

»Du hältst auch den Mund.« Emilys Nerven sirrten wie Hochspannungsdrähte.

»Warum ist Mummy so sauer auf Luke?« Tilly verdrehte die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Weil sie ihn mag, aber sie glaubt, sie darf nicht mit ihm zusammen sein, weil er ein Ranger ist«, erklärte Meg ihr weise. »Und sie traut sich nicht, uns einen neuen Daddy zu geben – wo wir noch den alten Daddy haben.«

»Aber unser alter Daddy hat neue Babys, also darf Mummy uns auch einen neuen Daddy geben.«

»Es reicht, ihr beiden! Ja, ich kann Luke gut leiden. Okay, ich kann ihn wirklich gut leiden, und euer alter Daddy wird immer euer Daddy bleiben. Man tauscht seinen Daddy nicht einfach aus. Aber könnt ihr jetzt bitte aufhören, darüber zu reden?«

»Kannst du ihn wirklich, wirklich gut leiden?«, fragte Meg nach.

»Für einen Jungen ist er echt nett«, bekräftigte Tilly noch einmal.

»Ja«, sagte Meg. »Für einen Jungen schon. Er wäre bestimmt ein netter zweiter Daddy.«

»Wollt ihr beiden endlich still sein?« Emily bereute schon jetzt, dass sie Luke keinen Korb gegeben hatte. Sie war so nervös wie vor einem ersten Date. Schon ging sie im Kopf durch, was sie an Arbeitsklamotten eingepackt hatte. Dann ging ihr auf, dass sie nur noch ein Paar saubere Unterhosen dabeihatte, ausgerechnet die knallgrünen mit der weißen Aufschrift Pflüg meine Furche über einem Pfeil, der zwischen ihre Schenkel zeigte. Zu spät, um das unauffälligste Paar auszuwaschen, das mit dem Welpen und dem Aufdruck Schenk mir deinen Knochen. Das würde bestimmt nicht rechtzeitig trocknen. Also musste es der grüne Slip tun.

»O Gott«, stöhnte sie und fragte sich, warum ihr ihre Unterhosen einfielen, wenn sie an Luke dachte.

»Schon okay«, versicherte ihr Meg. »Gott weiß Bescheid, Mummy. Er weiß alles.«