12

»Heilige Schafskacke!«, sagte Emily, als sie hinten in dem Notarztwagen, der eben im Krankenhaus eingetroffen war, ein Mädchen in einem riesigen Rattenkostüm sitzen sah. Durch die offene Tür konnte Emily erkennen, dass die junge Frau praktisch kahl rasiert und mehrfach gepierct war und dass ihr eines Bein in eine aufblasbare Schiene gepackt war wie in eine winzige Luftmatratze. Sie plärrte in ein Handy: »War ja klar, dass du dein Handy ausgeschaltet hast! Wenn du das hier hörst, dann schaff deinen Hintern ins Krankenhaus. Und zwar sofort

Das hier war kein Krankenhaus, sondern ein Irrenhaus, dachte Emily. Sie musste hier raus! Während der letzten Wochen hatte sie sich dem starren Rhythmus des Krankenhauslebens angepasst, der von urplötzlichen Schmerzensschreien ihres Körpers akzentuiert wurde, sobald sie sich einmal unbedacht bewegte oder auch nur hustete. Ihre Tagesform war davon abhängig, welche Schwester gerade Dienst hatte, ob die Mädchen sie besuchten oder wie stark die Schmerzen drückten, die immer noch in ihren Schultern und ihrem Nacken lauerten.

Ein paar Tage in Folge, ohne dass ihre Töchter die Sonne in ihrem Krankenzimmer aufgehen ließen, dazu eine mürrische, unfreundliche Krankenschwester, die lustlos an ihren Laken herumzerrte, und schon erlosch in Emily jeder Lebensmut, so als könnte sie nie wieder ein normales Leben führen. Was war überhaupt noch normal? Nachdem Clancy aus dem Krankenhaus verschwunden war, hatte er eine Woche lang täglich angerufen und mit ihr sprechen wollen. Emily hatte die Schwestern dezent dazu angehalten, ihn mit einer Reihe von Ausreden abzuwimmeln. Sie wurde gerade gebadet … sie schlief … der Arzt war bei ihr. Als sie schließlich doch mit ihm sprach, wusste er nicht, was er ihr sagen sollte, sodass sie am anderen Ende nur seinen schweren Atem hörte, der klang wie der eines störrischen Stieres.

Einmal hatte er unangemeldet in ihrem Zimmer gestanden und sie belämmert hinter einem riesigen Strauß Nelken hervor angeglotzt. Emily hasste Nelken. Fast so sehr wie Clancys Unaufrichtigkeit. Sie sah ihm an, dass er den Entschluss, sie zurückzuerobern, höchstens halbherzig gefasst hatte. Ein einziger ruppiger Kommentar ihrerseits genügte, um seinen Zorn und seinen Groll wieder aufkochen zu lassen, was ihr nur zu deutlich zeigte, dass ihre Ehe endgültig zerbrochen war.

Statt zu reden und gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, sahen sie tatenlos zu, wie sich zwischen ihnen eine Kluft des Schweigens auftat, die schließlich lauter als alle Worte herausschrie, dass es unwiderruflich zu Ende war. Emily saß still weinend in ihrem Bett, in ein grässliches Blumennachthemd gehüllt, das Flo ihr im Supermarkt besorgt hatte, während er auf einem lächerlich niedrigen Stuhl hockte, sodass seine Knie auf einer Höhe mit seinen Ohren waren, und störrisch gegen die Wand starrte.

»Das war’s dann also?«, meinte er schließlich und hievte sich aus dem Sitz.

»Ja, anscheinend war’s das«, antwortete Emily. Dann war er weg.

Aber seit diesem Tag hatte sie sich geschworen, dass sie und die Mädchen diesen Neuanfang nutzen würden. Sie würde so schnell wie möglich gesund werden, damit sie wieder mit ihnen zusammen sein konnte.

Sie zwang sich, vor dem Krankenhaus spazieren zu gehen, auch wenn ihr geschundener Körper wütend dagegen protestierte. Sie bekam kaum Luft, ihr Schlüsselbein pochte, und der gebrochene Arm in der Schlinge zog sie nach unten, als wäre sie eine vom Alter gebeugte Greisin.

Tag für Tag brachte sie zahllose Minuten damit zu, sich mit einer neuen Version ihrer selbst anzufreunden. Alleinerziehende Mutter. Getrennt lebend. In Scheidung. All diese Begriffe gaben nicht annähernd wieder, wie sehr sie sich vor der Zukunft fürchtete und wie viel sie verloren hatte; genauso wenig erfassten sie die flüchtigen Momente der Vorfreude, die sie trotz alledem empfand.

Emily sehnte sich nach frischer Luft und Sonnenschein, allerdings war es zweifelhaft, dass die Luft in dieser Großstadt überhaupt je wirklich frisch werden konnte, und manchmal kehrte sie nach dem Spaziergang noch deprimierter in ihr Zimmer zurück. Jedes Mal, wenn sie an der Rauchergruppe vor dem Eingang vorbeikam, musste sie den Atem anhalten. Patienten in Pyjamas sogen wie Staubsauger an ihren Stummeln, während die Infusionsflaschen am Ständer hinter ihnen hingen. Selbst Pfleger und andere Krankenhausangestellte scharten sich um die Aschenbecher und zogen an glimmenden Zigaretten.

Heute war sie am Raucherbereich vorbeigegangen und bis zur Notaufnahme weiterspaziert. Ihre Knochen schmerzten, ihre Muskeln brannten, und an ihrem ganzen Körper blühten die Blutergüsse in einer sich ständig wandelnden Farbpalette von Schwarz über Lila und Braun bis zu einem tiefen Gelb, das langsam verblasste. Unendlich langsam. Jedes Mal, wenn sie außer Atem kam, begann die Erde unter ihren Füßen zu schwanken, und winzige grelle Blitze zuckten durch ihr Blickfeld.

Heute kämpfte sich die Sonne beinahe romantisch durch den Smog, darum wollte sie nicht so schnell in ihr Zimmer zurück. Emily lehnte sich neben dem Krankenwagen an eine Wand und sah zu, wie der Sanitäter sich abmühte, das kostümierte Mädchen zu besänftigen, das entweder auf Drogen oder komplett verrückt war.

»Nein, Sie bleiben auf dem Ding sitzen, meine Süße«, sagte der Sanitäter, »bis wir Sie bequem und gemütlich ins Krankenhaus geschafft haben. Die müssen Sie erst röntgen.«

Durch zusammengebissene Zähne fauchte das Mädchen: »Die Wildlife Society wird Schadensersatz von Ihnen verlangen.«

»Ich musste das Kostüm aufschneiden. Wenn man einen Bruch vermutet, kann man gar nicht vorsichtig genug sein«, erklärte ihr der Sanitäter müde. »Außerdem hat dieses Rattenkostüm eindeutig schon bessere Zeiten gesehen. Sie könnten sich mal ein neues zulegen.«

»Rattenkostüm?«, wiederholte das Mädchen schockiert. »Das ist ein Kaninchennasenbeutler! Ein heiliges Tier!«

Der Sanitäter ließ die Trage ungebremst vom Krankenwagen herunterrollen.

»Autsch! Vorsichtig!«, protestierte sie.

»Entschuldigen Sie, Schätzchen.« Er drehte die Trage im Halbkreis und fixierte sie mit seinen dunklen Augen. »Für mich sieht das wie eine Ratte aus.«

»Der Kaninchennasenbeutler ist eine bedrohte Tierart, die den Anangu heilig ist und dringend geschützt werden muss.« Sie verschränkte die pelzigen Arme vor dem Kaninchennasenbeutlerbauch und reckte das Kinn vor.

»Ach?«, meinte der Sanitäter ungerührt.

»Genau daran geht unsere Welt zugrunde!«, fauchte das Mädchen ihn an. »An Menschen wie Ihnen, denen alles egal ist! Wie gehen Sie überhaupt mit Ihren Patienten um?«

Emily konnte erkennen, dass der Sanitäter allmählich wirklich böse wurde. Er verschränkte genau wie das Mädchen die Arme vor dem Bauch und reckte aggressiv den Kopf vor. »Sie wollen also, dass ich in die Tanamiwüste rausziehe, Schätzchen, und den kleinen Dingsbeutler rette? Ihm ein Naturschutzgebiet einrichte? Oder glauben Sie, dass man mehr bewirkt, wenn man sich als Ratte verkleidet und mit dem Fahrrad durch den Stoßverkehr kurvt? Klingt wirklich vernünftig!« Er klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, fasste dann in den Krankenwagen und zog den Kopf des Kostüms heraus. »Das hier zählt wohl kaum als Helm, Missy«, sagte er. »Und es sieht ganz eindeutig nach einer Ratte aus.«

»Ich bin nicht Ihre Missy, klar? Und zum allerletzten Mal – das ist ein Kaninchennasenbeutler!«, erklärte das Mädchen mit Nachdruck, bevor sie den wütenden Blick auf Emily richtete. »Und was gibt’s da zu feixen? Ich leide.«

»Das kann ich sehen«, sagte Emily. »Seien Sie froh, dass Sie kein Pferd sind. Sonst hätten die Sie gleich erschossen. Wenigstens können Sie dankbar sein, dass die Leute hier so gute Arbeit leisten. Die biegen Sie schon wieder hin.« Der Sanitäter zwinkerte ihr zu, und sie machte sich lächelnd auf den Rückweg durch den Krankenhausgarten. Sie konnte es nicht mehr erwarten, von hier wegzukommen.

Etwas später saß Emily auf einer Bank unter einem wunderschönen Eukalyptus mit weißem Stamm und ließ sich von der Sonne wärmen. In ihrer Tasche spielten ihre Fingerspitzen mit der zusammengefalteten Zeichnung, die Meg und Tilly ihr aus Dargo mitgebracht hatten. Außerdem hatte sie ein Foto von Snowgum eingesteckt, die zum ersten Mal seit dem Unfall aus dem Stall gelassen worden war und jetzt das grüne Gras auf dem Rasen vor Tranquility fraß. Die Trennung setzte Emily so zu, dass ihr die Tränen einschossen, sobald sie die Bilder mit ihren Fingern berührte.

Sie lehnte den Kopf zurück, schaute in den Eukalyptuswipfel auf und dankte Gott, oder wer auch immer da über den Baumwipfeln schwebte, dass er ihr das Leben gerettet hatte. Dann ergänzte sie: Aber bitte lass mich endlich zu meiner Familie zurückkehren und ein neues Leben anfangen!

Just während dieses Stoßgebetes bemerkte sie ihn zum ersten Mal: einen dunkelhaarigen Mann ungefähr in ihrem Alter, der in einem alten Datsun saß. Mehrmals fuhr er in seiner knatternden, klapprigen Karre vorbei und suchte vergeblich nach einem freien Parkplatz. Er hatte etwas an sich, das ihren Blick auf ihn lenkte und sie festhielt. Doch was es war, konnte sie nicht sagen.

Schließlich parkte er geschickt rückwärts auf der anderen Straßenseite ein, stieg aus, fädelte sich behände durch den Verkehr und kam zum Krankenhaus gejoggt. Er trug ausgeblichene, tief sitzende Blue Jeans und ein olivgrünes T-Shirt mit dem Aufdruck Save the Tarkine Wilderness, das an den Ärmeln aufgerollt war und unter dem sich ein perfekter Bizeps abzeichnete. Seine Blundstone-Stiefel waren stadtfein geputzt, und das dünne Lederbändchen am Handgelenk verlieh ihm etwas Cooles. Seine langen Haare bildeten einen dichten, schwarzen Lockenschopf und umrahmten ein männliches, glatt rasiertes Gesicht. Die großen Augen waren dunkelbraun wie Bitterschokolade. Er merkte, dass Emily ihn beobachtete, und lächelte ihr kurz zu. Es war kein eitles oder flirtendes Lächeln. Sondern aufrichtig freundlich. Sie sah verlegen weg, aber er kam weiter auf sie zugerannt.

»Verzeihung«, fragte er, »wo geht’s hier zur Notaufnahme?« Emily deutete in die Richtung. »Danke«, sagte er, dann sah sie seine breiten Schultern und die schmale Taille wegjoggen.

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah wieder in das Blätterdach auf. Sie konnte kaum glauben, dass dieser riesige Eukalyptus zwischen all dem Beton überlebt hatte. Unter der Asphaltkruste musste der Baum fetten Boden gefunden haben, der ihn ernährte.

Emily müsste genauso stark sein wie dieser Baum, obwohl sie zurzeit an einem Ort leben musste, dem all das fehlte, was das Buschland ihrer Seele geben konnte. Sie schloss die Augen und fragte sich, was eigentlich in ihrem Kopf vor sich ging. Normalerweise war es nicht ihre Art, herumzuhocken und Gedanken zu spinnen. Der Unfall hatte sie irgendwie verändert: Sie wusste nicht recht, ob sie noch in ihre alte Haut passte. Mit geschlossenen Augen fasste sie in die Tasche ihres Morgenmantels und zog Megs Zeichnung von der Frau vor der Hütte heraus.

»Entschuldigung.« Die Stimme war sanft, um sie nicht zu erschrecken.

Sie drehte sich um und entdeckte, dass der gut aussehende Mann zurückgekommen war.

»Dürfte ich mich kurz zu Ihnen setzen? Ich hasse Krankenhäuser.« Er schauderte.

»Natürlich.« Emily lächelte unsicher und zog mit dem gesunden Arm ihren Morgenmantel über die Schlafanzugshorts mit dem Kuhdruckmuster. Sie versteckte die Füße unter der Bank, weil ihr plötzlich peinlich bewusst wurde, dass sie Lederstiefel ohne Socken trug, das einzige Paar Schuhe, das ihre Familie ihr eingepackt hatte – zusammen mit den schlimmsten Exemplaren aus ihrer Kollektion alberner Unterhosen. Um ihn nicht ansehen zu müssen, sah sie nach oben in den blauen Himmel über dem Baum und bemerkte eine weiße, wie ein Pferd aussehende Schönwetterwolke. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

Der Mann nickte zur Notaufnahme hin. »Meine Freundin …«, setzte er an. Puh, dachte Emily. Das linderte die Anspannung. Wenigstens war er nicht irgendein Perverser. »… wurde auf dem Fahrrad von einem Bus angefahren.«

»Ach, wie furchtbar. Das tut mir leid.«

Er schüttelte den Kopf. »Zum Glück ist es nichts Ernstes. Es hätte sie viel schlimmer erwischt, wenn sie nicht so gut gepolstert gewesen wäre. Sie ist schon geröntgt worden. Nur ein gebrochener Fuß. Sie wird gerade eingegipst. Bald müsste sie entlassen werden. Sie hat gesagt, ich soll hier draußen auf sie warten.«

Emily quittierte seinen Kommentar mit einem Stirnrunzeln. Was für ein Arschloch, dachte sie. Wie konnte er nur so gemein über seine Freundin reden – gut gepolstert! »Was ist mit Ihnen? Sieht so aus, als hätte es Sie ganz schön erwischt.« Er deutete auf den Arm, der vor ihrer Brust in einer Schlinge hing.

»Mich? Allerdings. Ein Reitunfall.«

»Autsch.«

Emily nickte und ergänzte hörbar sarkastisch: »Zum Glück bin ich auch ganz gut gepolstert, wie mir mein Mann gern und oft versichert. Nur darum habe ich überlebt.«

Der Mann sah sie verdutzt an und fragte dann: »Wie lange sind Sie schon im Krankenhaus?«

»Die ersten fünf Tage lag ich im künstlichen Koma. Ich bin jetzt drei Wochen wieder wach, auch wenn es sich wie fünfzig Wochen anfühlt; gerade hat man mir eröffnet, dass ich noch länger bleiben muss. So ein Mist.«

»Dann war es ziemlich ernst?«

»Die Ärzte meinen, ich könnte von Glück reden, dass ich überlebt habe. Und mein Pferd auch.«

Ein eigenartiger Schimmer leuchtete im Gesicht des Mannes auf. »Hey«, meinte er vorsichtig, »Sind Sie vielleicht das Mädchen aus der Zeitung? Die Reiterin bei dem Pferderennen vor ein paar Wochen?«

Emily lächelte überrascht und drehte sich halb zu ihm um. »Ja. Genau die.«

»Wow!«, sagte Luke. »Ist das nicht irre? Ich habe immer wieder an Sie gedacht.«

»Im Ernst?«, fragte sie. Er sah wirklich unglaublich gut aus, aber er verwirrte sie auch.

»Keine Ahnung, warum. Manchmal liest man so eine kleine Meldung und behält sie eine Ewigkeit im Gedächtnis. Wahrscheinlich habe ich mich immer nur gefragt, wie es Ihnen wohl geht.«

»Tja, hier bin ich.«

»Da sind Sie! Das ist super. Wirklich super. Ich freue mich irrsinnig, dass Sie am Leben und wieder wohlauf sind.«

Jetzt sah er sie richtig an und bemerkte ihr hübsches Lächeln und die unglaublichen dunkelbraunen Augen mit den langen geschwungenen Wimpern. Emily erwiderte seinen Blick. Er freute sich tatsächlich, dass sie überlebt hatte. Einen Moment war sie sehr glücklich. Dann überkam sie genauso plötzlich eine tiefe Unsicherheit. Beide lachten nervös.

Er sah auf die Zeichnung in ihrer Hand.

»Sind Sie Künstlerin?«

Emily lachte. »Nein. Aber meine Tochter ist eine.«

»Gott sei Dank! Wenn Sie das gemalt hätten, wären Sie eine echt beschissene Künstlerin, aber nachdem es Ihre Tochter gemacht hat, ist es wirklich gut. Die Kleine hat Talent. Ist das Ihr Haus?«

»Irgendwie schon«, erwiderte Emily.

»Nur ein Kind?«

»Ich habe noch ein Mädchen.«

»Zwei Mädchen. Wie nett.«

Beide verstummten. Mehr gab es im Moment nicht zu sagen. Sie sah wieder in den Baum hinauf. Der Mann wollte gerade wieder etwas sagen, als sie jemanden rufen hörten.

»Luuuke!«

Er sprang auf und sah sich um. Emily drehte sich ebenfalls um und entdeckte ein dünnes Mädchen in Shorts und Trägertop, das an der Seite eines Pflegers auf Krücken durch die Schiebetür humpelte, in der Hand hielt sie eine riesige Tüte, aus der ein Rattenkopf ragte.

»Das ist sie. Ich muss los«, sagte Luke. Er entfernte sich rückwärts über den Rasen. »War nett, mit Ihnen zu reden.« Er schenkte Emily noch ein Lächeln, mit dem er ihr Herz zum Schmelzen brachte, und war im nächsten Moment verschwunden.

»Heilige Schafskacke«, sagte Emily wieder. Seine Freundin war das Rattenmädel. Und ihr Kostüm war die »Polsterung«, von der er gesprochen hatte. Lächelnd machte sie sich auf den Rückweg zu ihrem Zimmer.

In dieser Nacht wachte Emily auf, ohne dass sie sagen konnte, warum. Sie stützte sich auf und sah sich auf der abgedunkelten Station um. Das Licht vom Gang erzeugte ein schiefes Rechteck auf dem Boden. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach elf.

»Verflucht noch eins.« Sie sank auf ihr Kissen zurück. Die Tage waren im Krankenhaus schon lang, aber die Nächte waren viel schlimmer. In der gespenstisch stillen Leere der Nacht sah Emily wie schon so oft die Hütte auf der Hochebene und spürte erneut, wie das Land sie zu rufen schien. Die Visionen kamen inzwischen auch, wenn sie wach war. Was hatte das alles zu bedeuten, grübelte sie. Warum sah sie in ihren Träumen immer wieder das Gesicht der alten Frau? Warum hatte sie nicht ihre eigene Mutter Suzie gesehen, als sie zwischen Leben und Tod geschwebt hatte? Eigentlich wollte sie nur wieder ein ganz normales Leben führen.

»Jetzt werd endlich gesund«, murmelte sie leise, den Blick auf ihren Körper gerichtet. Dann hörte sie ein Geräusch, ein Scharren, das eindeutig unter ihrem Bett hervorkam.

»Hallo?«, fragte sie nervös.

»Psst.« Eine Stimme zischte durch die Dunkelheit, genau unter ihr.

»Heiliger Strohsack!«, sagte Emily und tastete hektisch nach dem Lichtschalter und dem Knopf für die Krankenschwester.

»Nein, nein, nein, tu das nicht!« Eine Männerhand schoss unter dem Bett hervor und packte ihre. »Lass bloß niemanden wissen, dass ich hier bin!« Sie hörte ein vertrautes leises Lachen.

»Sam?«, flüsterte sie. »Sam? Bist du das? Verflucht noch mal …«

Unter leisem Klappern und Scharren rutschte ihr Bruder unter dem Bett hervor, in der Hand hielt er ein Kissen und eine Krankenhausdecke.

»Sam! Was tust du hier?«

Sie brauchte ihn nur zu sehen, und schon wurde sie von Gefühlen überwältigt. So gut sie konnte, streckte Emily die Arme aus, und er warf sich so vorsichtig wie möglich hinein. Sie atmete tief seinen Duft ein. Eine Mischung aus Whisky und Gras, unterlegt von dem vertrauten Aroma, das ihm allein eigen war. Ihrem Bruder.

Erschrocken erkannte Sam, wie zerbrechlich sie aussah. Wie geisterhaft ihr Blick wirkte. Und die schönen Haare, die immer so lang gewesen waren, waren weg. Sie sah geschwächt und gebrochen aus, und Sam wurde es schwer ums Herz. Trotzdem stieß sie einen Freudenschrei aus.

»Psst! Psssst! Ich bin auf der Flucht vor dem Gesetz, Schwester. Nicht so laut«, erklärte er ihr in einem schrecklich aufgesetzten Nashville-Akzent.

»Ach, Sam, du großer dummer Depp.« Sie lagen sich lachend und weinend zugleich in den Armen. »Ich dachte, du wärst in den Staaten. Daddy versucht schon ewig, dich anzurufen!«

»Ich hab mir ein bisschen Ärger eingehandelt. Sie haben mich verhaftet. Aber jetzt ist alles geklärt.«

»Verhaftet! Sam! Wegen Drogen?«

Sam zuckte mit den Achseln und wischte sich mit der Hand übers Gesicht.

»Keine Sorge, es war nur Gras. Und Ike hat alles wieder glatt gebügelt. Jetzt ist alles cool. Keine große Sache. Sie hatten eine Weile meinen Pass eingezogen, aber inzwischen habe ich ihn zurück.«

»Sam!«

»Immerhin habe ich es geschafft, nach Hause zu kommen, um mich zu überzeugen, dass meine große Schwester okay ist. Mir gefällt der Lesbenlook.« Er wuschelte ihr durchs Haar.

»Halt deine Klappe«, sagte sie. Dann wurde es kurz still.

»Ich dachte, ich würde dich nicht wiedersehen«, sagte Sam schließlich und drückte ihre Hand. Schweigend stellten sich beide vor, wie alles hätte kommen können. Dass Sam zu einer Beerdigung und nicht zu einem Wiedersehen heimgekehrt wäre.

Emily hielt ihn von sich weg und besah sich seine kurz geschorenen Haare. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er sein sandblondes Haar lang und wallend getragen. Trotzdem war er mit seinem Dreitagebart und dem niedlichen herzförmigen Gesicht, das ihrem so ähnelte, auf jungenhafte Weise hübsch. Das freche Lächeln, bei dem er nur einen Mundwinkel nach oben zog, hatte er behalten, und seine blaugrünen Augen schimmerten wie das Meer an einem milden Tag.

Er trug unglaublich coole braune Cowboystiefel, ungeputzt und mit Schrammen über den kunstvollen Stickereien auf den Spitzen. Seine Jacke sah aus wie ein von innen nach außen gewendetes Schaf – so wie es einst die Marlboro-Männer trugen, wenn sie reitend ihre Zigaretten qualmten. Doch gleichzeitig strahlte er etwas Entwurzeltes, fast Verzweifeltes aus.

»Was zur Hölle hast du unter meinem Bett getrieben, Sam? Bist du wirklich auf der Flucht?«

»Quatsch! Ich wollte dich überraschen.«

»Mich überraschen? Du hast mir eine Scheißangst eingejagt!«

»Du hast so fest geschlafen, als ich mich ins Zimmer geschlichen habe, dass ich dich nicht wecken wollte. Außerdem dachte ich, ich könnte auch ein bisschen pennen – der Flug von L.A. ist verflucht lang, weißt du?«

»Weiß Dad Bescheid?«

Sam schüttelte den Kopf. »Ike meinte, wir sollten keine große Sache daraus machen. Damit die Presse nicht erfährt, was passiert ist.«

»Aber sollte Dad nicht wissen, dass du zu Hause bist?«

Er zuckte wieder mit den Achseln. »Wohl schon. Aber ich muss mich erst eine Weile verkriechen. Den ganzen Scheiß regeln.«

»Ist sonst alles o.k. bei dir?«, fragte Emily behutsam. Sam zuckte mit den Achseln und senkte den Blick.

»Du bist ein bisschen vom Weg abgekommen, habe ich recht? Und dabei im Knast gelandet?« Ihr waren sein blasser Teint und die dunklen Ringe unter seinen Augen aufgefallen.

»Vom Weg abgekommen eindeutig, ja. So wie du, wie es aussieht«, sagte er.

Emily ließ den Kopf sinken. »Ich habe mich von Clancy getrennt.«

»Ich dachte mir schon, dass das irgendwann passiert.«

»Ehrlich?«

»M-hm, irgendwann war das fällig.«

Eine Weile saßen sie schweigend zusammen, und das Stöhnen einer alten Dame im Zimmer nebenan untermalte die melancholische Stimmung. Als mutterlose Kinder spürten beide eine Kluft in ihrem Leben, die manchmal so breit schien wie ein ganzer Ozean.

»Hey«, sagte Emily.

»Was?«

»Tust du mir einen Gefallen?«

»Welchen?«

»Eine Entführung.«

»Eine Entführung?«

»Komm schon«, bettelte Emily. »Du musst mich hier rausholen. Bitte.«

Ihre Blicke trafen sich, und Bruder und Schwester grinsten.

»Bist du sicher, dass du das schaffst? Du siehst richtig Scheiße aus.«

»Du auch«, schoss Emily zurück.

»Mann, danke. Und wohin?«

»Was glaubst du denn?« Emily nickte in die Richtung, in der sie die Berge und das alte Sommerhaus der Flanaghans vermutete.

»Die High Plains. Das perfekte Versteck«, sagte sie.

»Ach ja?«

»Hast du deinen Pick-up da?«

»Ja«, sagt Sam.

»Und?«

Er grinste. »Okey-dokey, dann lass uns die Fliege machen!«

Als Sam ihr aus dem Bett half, bemerkte Emily, wie langsam er sich bewegte und wie angestrengt er sein Gleichgewicht zu halten versuchte. Er half ihr beim Packen und hielt dabei eine rosa Unterhose in die Höhe, die auf der Vorderseite mit einem gezeichneten Elefanten mit aufgenähtem Rüssel und hinten mit einem kleinen Schwänzchen verziert war.

»Das ist wirklich erbärmlich!«

»Klappe!«, zischte Emily und verdrehte die Augen. Er kicherte. »Du bist ja total breit.«

»Und wenn?«

»Nur Loser dröhnen sich zu.«

»Dann bin ich eben ein Loser.«

»Damit wären wir schon zu zweit«, meinte Emily und dachte daran, in welches Chaos sie ihr Leben gestürzt hatte.