23

Am selben Samstagmorgen stand Emily an der Bar im Dargo Hotel, während Donna zunehmend unruhig darauf wartete, dass sie sich entschied.

»Eine Flasche Rum? Nein. Ein Sixpack Bier? Nein! Eine Flasche Wodka? Nein! Ach, Mist, ich weiß einfach nicht, was ihm schmeckt«, seufzte Emily.

Seit dem Protestritt durch Melbourne war eine ganze Woche vergangen, aber die Schuldgefühle, weil Clancy Luke niedergeschlagen hatte, waren ihr von Dargo nach Melbourne und zurück auf die Hochebene gefolgt. Dazu kam, dass Evie sich geweigert hatte, ihr den Gips abzunehmen, weil das ein Job für den Arzt im Buschkrankenhaus von Dargo sei. Emilys Protesten zum Trotz hatte Evie angerufen und in ihrem Namen einen Termin während der monatlichen Sprechstunde am Samstagvormittag vereinbart.

Als Emily durch die hiesigen Buschtrommeln erfahren hatte, dass Luke ein Haus mit etwas Land gekauft hatte, war sie aus allen Wolken gefallen. Bis jetzt hatte noch kein junger Ranger, der dem alten Darcy zugeteilt worden war, Interesse gezeigt, länger als nötig zu bleiben. Alle hatten hier nur ihre Zeit abgesessen, um ein paar Arschkriecherpunkte zu sammeln, damit sie möglichst schnell einen Job näher bei Melbourne bekamen. Alle seine Vorgänger hatten Dargo als Ort betrachtet, aus dem es zu fliehen galt, sobald das Wochenende nahte, darum wurde im ganzen Ort über Lukes Grundstückskauf geredet. Wenigstens lieferte ihr das einen guten Vorwand, ihn zu besuchen und ein Willkommensgeschenk und eine Entschuldigung zu überbringen, dachte Emily.

Früh am Morgen war sie aus den Bergen heruntergekommen, hatte die Mädchen bei Evie abgeliefert und war dann nach Dargo weitergefahren, den Pferdehänger an der Kupplung, den Flo für einen Reitwettbewerb am Wochenende brauchte. Emily freute sich auf einen Tag ganz allein, auch wenn ihr bei dem Gedanken, ins Krankenhaus zu müssen und dort möglicherweise auf Penny zu treffen, flau im Magen wurde. Aber irgendwann mussten sich ihre Wege ohnehin kreuzen, und dieser Tag war so gut wie jeder andere, um die Sache hinter sich zu bringen, ermahnte sich Emily. Trotzdem begannen bei der Vorstellung, Penny gegenüberzustehen, ihre Hände zu schwitzen, und ihr Herz schlug sofort schneller.

Während sie so an der Bar stand, wurde ihr klar, dass sie sich nur davor zu drücken versuchte, ins Krankenhaus zu fahren.

»Ich nehme ein Sixpack Bier«, verkündete sie schließlich entschlossen.

»Flaschen oder Dosen?«, fragte Donna.

»Äh …« Donna verdrehte die Augen. »Dosen? Nein! Flaschen? Nein! Ach Mist. Flaschen!«

»Flaschen«, wiederholte Donna. »Leicht oder stark? Lager oder Bitter? VB oder Cascade? Crown oder Blonde?«

Emily wand sich unentschlossen, bis sie Donnas spöttisches Grinsen bemerkte.

»Bier, Donna. Irgendein verdammtes Bier!«

Donna wuchtete einen Karton auf die Theke. Emily zuckte zurück. Das war nicht gerade ein elegantes Wiedergutmachungsgeschenk.

»Nein. Entschuldige, Donna. Ich nehme doch keinen Karton. Lieber eine Flasche Bundy-Rum. Du hast nicht zufällig ein Geschenkband zur Hand? Um die Flasche ein bisschen aufzumotzen?«

Donna seufzte laut und flatterte wieder mit den Mascara-verklebten Wimpern. »Das muss ein Mann sein!«

Emily legte die Rumflasche zusammen mit einem Knäuel blauer Plastikschnur, der einzigen Dekoration, die sie auftreiben konnte, auf den Beifahrersitz des Pick-ups und fuhr die paar Meter zum laubumrankten Eingang des Buschkrankenhauses.

Kaum hatte sie den Bau betreten, da sah sie schon fünf Krankenhausangestellte, die Empfangssekretärin, Putzfrau und Ärztin eingeschlossen, um Penny herumstehen. Alle tranken Sekt aus dünnen Flöten, in denen ein paar Erdbeeren schwammen. Die Runde wirkte ausgesprochen fröhlich. An Pennys Handgelenk war ein Aluminiumballon gebunden, auf den Alles Gute und viel Glück! aufgedruckt war. Auf der Theke standen ein Kuchen und ein Teller mit Pralinen. Penny lächelte ihr hübsches kleines Elfenlächeln, und ihr rotbrauner Pferdeschwanz hob sich glänzend über dem jungfräulichen Weiß ihrer Schwesternuniform ab. Als sie sich umdrehte und Emily am Empfang stehen sah, rutschte das Lächeln von ihrem Gesicht und wich einem Ausdruck von Verunsicherung.

Die Empfangssekretärin Betty Waldron, die so untrennbar zum Krankenhaus gehörte wie die elektrischen Leitungen, schaltete als Erste in Arbeitsmodus um.

»Ach, Emily, Schätzchen! Du bist hier, um dir von Dr. Doreen den Gips abnehmen zu lassen, richtig?« Emilys Blick löste sich von Betty und kam auf den anderen Frauen zu liegen. O Gott, dachte sie, während sie ihnen in die Augen sah. Die wissen bestimmt alle über Penny und Clancy Bescheid.

»Ach, du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Dr. Doreen hatte nur den alkoholfreien Sekt! Die schneidet den Gips in Null Komma nichts auf.«

Dr. Doreen trat in ihren Gesundheitstretern vor, wobei ihre ausladenden, in Nylon gezwängten Schenkel unter dem formlosen Blumenkittel geräuschvoll aneinanderrieben.

»Na, dann los, Emily, und nimm deinen Arm mit«, befahl sie in einem aristokratischen Englisch, dann sah sie über ihre Brille hinweg prüfend auf die beiden Krankenschwestern.

»Tracy«, sagte sie. »Du hilfst uns. Wir wollen Penny an ihrem letzten Tag doch nicht so schwer arbeiten lassen.«

Vielleicht wusste Dr. Doreen doch nichts von der Sache zwischen Penny und Clancy, dachte Emily hoffnungsvoll. Den Blick eisern auf den Boden gerichtet, mit geröteten Wangen und der Klimaanlage zum Trotz einem leichten Schweißfilm auf der Stirn eilte sie an den Krankenhausangestellten vorbei.

Im Behandlungszimmer streckte sie den Arm vor, während die Ärztin und Krankenschwester den Gips mit einem Gerät aufschnitten, das aussah wie eine kleine Kreissäge. Bald brach der Gips auf wie eine Auster, und zum Vorschein kam ein weißer, fast schuppiger Arm, der verglichen mit Emilys anderem kräftigen und gebräunten Arm kaum noch Muskelmasse besaß. Während Dr. Doreen die Haut säuberte, stellte sie Emily zahllose Fragen und hob dabei den Arm an, um ihn zu ziehen, zu drehen und zu drücken.

»Wie es aussieht«, sagte sie schließlich, wobei sie einen Schritt zurücktrat und Emily begutachtete wie ein Kunstobjekt, »hat Evie Jenner Sie wieder auf die Beine gebracht. Sie sind gut in Form.«

Emily beugte und streckte die Finger und sagte: »Gut, ja, gut.«

Sie konnte sich unmöglich auf Dr. Doreens Geplänkel konzentrieren, weil sie wusste, dass Penny gleich nebenan stand. Gab Penny etwa ihren Job in Dargo auf, um mit Clancy in Brigalow zu leben? Emily stellte sich vor, wie Penny auf ihrer Couch saß und fernsah. Ihrer Couch, die sie mit dem Verkauf ihrer Kühe bezahlt hatte. Sie malte sich aus, wie Penny und Clancy zusammen im Bad standen und sich unter der Dusche liebten, so wie er und Emily es getan hatten, als sie frisch verheiratet waren. Sie versuchte ihre Gedanken halbwegs im Zaum zu halten – doch dann ließ Dr. Doreen die Bombe platzen. Sie beantwortete alle Fragen und noch mehr.

»Tracy hier wird jetzt unsere neue Oberschwester«, verkündete Dr. Doreen. Tracy, geformt wie ein Wasserball, wackelte nickend mit ihren diversen Kinnen und ließ nervös die kleinen Augen zwischen Emily und der Ärztin hin und her zucken.

»Sie übernimmt Pennys Stelle, die einen neuen Job in Bairnsdale gefunden hat. Wobei sie nur ein paar Monate dort arbeiten wird, bevor sie in Mutterschutz geht. Wirklich albern.«

Mutterschutz? Emily spürte, wie sie kalkweiß wurde, während Tracy aussah, als hätte sie eben einen Kricketball verschluckt. Dr. Doreen schien von alldem nichts mitzubekommen und plapperte weiter: »Natürlich hat ihr der Typ einen Antrag gemacht und ihr ein neues Haus versprochen, aber wenn Sie mich fragen, ist das Kind schon in den Brunnen gefallen, oder genauer gesagt dorthin unterwegs. Ich bin da einfach altmodisch. Ich verstehe diese jungen Dinger nicht. Was meinen Sie, Tracy?«

»Mmm«, war alles, was die Krankenschwester herausbrachte.

Schwanger! Penny schwanger? Emily fühlte sich, als hätte Clancys Truck sie mit hundert Sachen überrollt. Am Empfang konnte sie nur mit Mühe die Rechnung bezahlen. Ihre Hände zitterten, und ihr wollte kaum noch der PIN-Code für die Scheckkarte einfallen. Kaum hatte Betty ihr die Quittung überreicht, da taumelte Emily schon zur Tür, ohne recht zu wissen, ob sie heulen oder kotzen sollte oder beides zugleich. Sie fummelte gerade am Türgriff ihres Pick-ups herum, als sie in ihrem Rücken eine leise Stimme hörte.

»Emily?«

Sie schoss herum und sah Penny in blütenreines Krankenschwesterweiß gewandet vor sich auf dem Parkplatz stehen. In der Sonne zeigte sich erst, wie blass und sommersprossig ihre Haut war. Der Farbton erinnerte Emily an ein gesprenkeltes Hühnerei – hübsch und bunt. Sie stellte sich vor, wie Clancy diese Haut berührte. Und erstarrte.

»Ist alles okay?«, fragte Penny.

Emily klappte der Mund auf. Penny fragte sie, ob alles okay war?

»Nein«, antwortete sie mit bebender Stimme. »Ist es nicht.«

Penny trat einen Schritt vor. In ihren Augen glänzten Tränen, und über ihren hoch geschwungenen, dünnen roten Brauen stand eine Kummerfalte. »Es tut mir leid. Ich …«

Emily begann den Kopf zu schütteln. Sie hob beide Hände und presste sich mit dem Rücken gegen den Pick-up.

»Nein, hör auf! Lass … Lass mich einfach in Frieden.« Hektisch atmend stieg sie ein, fummelte den Schlüssel ins Zündschloss und fuhr davon, ohne auch nur einmal in den Rückspiegel zu blicken. Sie wollte nicht sehen, wie Penny allein vor dem Buschkrankenhaus Dargo stand und weinte. Sie wollte sie überhaupt nicht mehr sehen oder an sie und Clancy denken … oder an das Baby.

Emilys Hände zitterten so stark, während sie auf die alte Straße am Fluss bog, dass sie am liebsten den für Luke gekauften Rum geöffnet und einen großzügigen Schluck genommen hätte. Dann fiel ihr eine Bierdose ein, die ihr irgendwann unter den Sitz gerollt war, sie hielt kurz an, um danach zu angeln. Sie riss den Verschluss auf und trank die Dose in einem langen Zug aus, um danach laut zu rülpsen.

Penny schwanger! Von Clancy! Sie schloss die Augen und begann zu weinen und dann unter dem Weinen zu lachen. Es war einfach zu lächerlich. Die Vorstellung, dass Meg und Tilly bald einen Halbbruder oder eine Halbschwester bekommen würden …

»Scheiße!«, sagte sie. Sie griff nach einer Packung mit Tictacs auf dem Armaturenbrett und warf eine ganze Handvoll ein, als wären es Partypillen. Dann rammte sie den Gang ein, zog den Pick-up wieder auf die Straße und sagte sich, dass das Leben schön war. Und zwar ganz und gar. Selbst die beschissenen Teile. Alles war perfekt. Hatte ihr wenigstens die blöde Evie erklärt.

»Von wegen perfekt!«, schrie sie und schlug auf das Lenkrad ein. Schreiend lenkte sie um die Kurven. Schreiend schaltete sie an einer Steigung einen Gang zurück. Es war ein tiefer, wütender Schrei, und er schien aus einem Gefängnis in ihrem Innersten zu steigen, das seit dem Tod ihrer Mutter versiegelt und vergessen worden war. Emily schrie und schrie, bis kein Laut mehr aus ihrem Mund kam.

Wieder hielt sie am Straßenrand an. Ich werde noch verrückt, dachte sie. Dann hörte sie eine Stimme sagen: »Kontrolliere deine Gedanken.«

Es war nicht die Stimme in ihrem Kopf. Ihr Blick ging über den Busch, der sie umgab. Dann hörte sie wieder ein Flüstern: »Kontrolliere deine Gedanken.« Es war die Stimme der alten Frau aus ihren Träumen. »Ich werde noch verrückt!«, flüsterte Emily und presste die Hände gegen die Schläfen. Eine Weile blieb sie bei ausgeschaltetem Motor und mit geschlossenen Augen so sitzen, sie ließ die bitteren Erinnerungen aufsteigen und dann verfliegen, bevor sie ihren Geist behutsam zu den besseren Zeiten lenkte, die vor ihr lagen.