14

Auf den Dargo High Plains leuchteten die Eukalyptusbäume weiß im Vollmondlicht. Die Blätter dieser Snow Gums glänzten wie flüssiges Silber, so als würden Millionen winzige Feenlichter in den Baumwipfeln tanzen. Lange Gräser schimmerten durch die stille Nacht. Sam geriet auf der mäandernden Schotterstraße in eine weitere Spurrille und rüttelte so heftig über die Furchen in der Kurve, dass sich Emily mit schmerzverzerrtem Gesicht am Türgriff festhalten musste, um nicht umzukippen.

»Pass doch auf!«, beschwerte sie sich und warf ihrem Bruder, der fröhlich das Lenkrad herumzog, einen tadelnden Blick zu.

»’tschuldige.« Er bremste und wich um Haaresbreite einer Herefordkuh und ihrem Kalb aus, die auf der Straße dösten. »Upps!«

Im Seitenspiegel sah Emily, wie Rousie die Pfoten in die Abdeckplane über der Ladefläche bohrte, so als würde er auf einer Brandungswelle surfen. Sie lächelte, als sie erkannte, wie glücklich ihr Hund aussah, nachdem er endlich die Vorstadtkette abgelegt hatte und wieder in der Natur war, die Nase im Wind, so wie es sich für einen Kelpie gehörte. Als sie das Ortsschild von Dargo sahen, hätte Emily ihren Bruder beinahe gebeten, doch anzuhalten, damit sie ihre Mädchen besuchen konnten. Sie malte sich aus, wie sie auf Zehenspitzen durchs Haus schleichen und sich neben einer ihrer Töchter ins Bett legen würde, aber eine innere Stimme trieb sie an, weiterzufahren und den Aufstieg auf die Berge noch heute Nacht zu bewältigen. Sam schien zu ahnen, dass sie in Gedanken am Scheideweg stand, und bremste kurz ab, als sie das Tor des Farmhauses passierten, das im Scheinwerferlicht weiß aufstrahlte.

»Und du bist sicher, dass ich nicht abbiegen soll?«

»Hör auf, mich zu fragen, ob ich sicher bin! Morgen«, erklärte sie ihm. »Ich sehe sie morgen.« Als Sam wieder Gas gab, zerriss es ihr fast das Herz, dass sie ihren Babys so nahe war, ohne sie zu sehen, doch es zog sie aus irgendeinem Grund auf die Hochebene.

Und so begann ihre Rückreise in die Berge, an den Cherry Tree Yards vorbei und den Long Cutting hinauf. Je höher sie kamen, desto besser ging es Emily. Sobald die Bergluft dünner wurde und im Scheinwerferlicht von Sams Pick-up die Woollybutt-Eukalyptusbäume mit ihrem aufrechten Stamm und die braunen Sallees allmählich den knorrigen, auf felsigem Basalt wurzelnden Snow Gums Platz machten, fühlte sie sich unbeschwerter, stärker, glücklicher.

Noch über einen letzten Viehrost, und sie waren endlich angekommen: auf der Flanaghan High Plains Station. Sie fuhren von der Schotterstraße ab und parkten am Tor der Station. Abgesehen von den Einheimischen in Dargo wusste praktisch niemand, dass dies die Zufahrt zu ihrer Farm war. Es war ein völlig unauffälliges Gatter, das zwischen einigen Snow Gums stand, nur dass dieses Tor krumm und schief war. Der Rohrrahmen war verzogen, seit zu Zeiten von Emilys Großvater ein junges Pferd dagegengeprallt war. Niemand hatte sich je die Mühe gemacht, es zu richten oder zu ersetzen.

Sam sah seine Schwester an. »Heimat, süße Heimat«, sagte er und sprang aus dem Wagen.

Emily fuhr das Fenster hinunter, atmete tief ein und inhalierte den Duft von Sommergräsern, die sich nach einem Tag in der Spätsommersonne abkühlten, von dickblättrigem Klee, Eukalyptus und reiner Bergluft. Ihr wurde das Herz weit. Dieser Ort würde ihre Schmerzen lindern; und er würde die Erinnerung an Clancys wütende Attacke in erträgliche Ferne rücken lassen. Sie war zu Hause. Bald würden auch ihre Töchter und ihr Pferd heimkehren, und dann könnten sie endgültig ein neues Leben anfangen.

Der alte Weg zum Farmhaus war ein von silbernen Eukalyptusbäumen überwölbter Tunnel. Der Mond schimmerte durch das Blätterdach und erhellte gelbe Strohblumen, Trommelstockblumen und weiße Margeriten. Der Anblick war so wunderschön, dass Sam und Emily andächtig schwiegen, während sie die hügelige Straße zu dem mit handgezimmerten Brettern verkleideten Farmhaus entlangrumpelten.

Sam ließ den Motor laufen und stieg aus.

»Du bleibst im Warmen sitzen, bis ich das Feuer angemacht habe.«

»Das kannst du vergessen. Ich bin zäh. Ich helfe dir.«

»Spiel dich nicht auf.« Sam öffnete ihre Tür und half ihr aus dem Wagen. »Meinetwegen geh ins Haus und warte dort. Bei jeder Bewegung ächzt du wie eine Uroma!«

»Hey!« Emily versuchte den stechenden Schmerz in ihrer Schulter zu ignorieren, als sie aus dem Pick-up stieg und sich mühsam aufrichtete. Die Armschlinge zerrte an ihrem Genick, und der Arm selbst juckte unter dem Gips. Eine Hand an den Pick-up geklammert wartete sie ab, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, und bemühte sich, ihren hektischen Atem zu kontrollieren. Sie konzentrierte sich darauf, das Herz des uralten Basaltbodens und der Felsen unter ihren Sohlen zu spüren. Sie merkte, dass sie diesen Ort bat, ihr Halt zu geben, damit sie nie wieder wegzugehen brauchte. Die Erde schien unter ihr zu pulsieren. Sie schloss die Augen und hatte das Gefühl, dass für einen Moment die Zeit stehengeblieben war.

Dann fegte ein Windstoß durch die Bäume und strich über Emilys Gesicht. Den Mond über sich, die dunkle Erde unter sich, spürte sie, trotz ihrer Schmerzen, eine überschäumende Lebenslust, gepaart mit eigenartiger Entschlossenheit. Dies war der Platz, an den sie gehörte, auch wenn sie nicht wirklich begriff, warum. Was wollte die alte Flanaghan-Ahnin wohl von ihr?

Emily sah zu dem samtschwarzen Himmel mit seiner Staubzuckerverzierung aus Sternen auf. Sie erwachte erst aus ihrer Trance, als Sam einen Schlafsack auf die tiefe alte Veranda schleuderte und Rousie glückselig von der Ladefläche des Pick-ups sprang. Sofort drückte er seine feuchte Schnauze gegen ihre Handfläche.

»Hallo, mein Junge.« Sie bückte sich und umarmte den Kelpie. Sein Fell roch ranzig und fühlte sich fettig an. Als sie mit der Hand über seinen Rücken fuhr, erschrak sie wieder darüber, wie dünn er während ihres Krankenhausaufenthaltes geworden war. Emily lächelte wehmütig. So wie es aussah, müsste auch Rousie auf den High Plains neue Kräfte tanken.

Als sie die Haustür öffneten und Sam seiner Schwester ins Haus half, wurde ein Schwall von Erinnerungen an die Sommerviehtriebe wach. Allein das Quietschen und Schlagen der alten hölzernen Fliegentür löste eine Flut von Erinnerungen an Ankunft und Abschied aus. Das Farmhaus, das nur im Sommer und Herbst genutzt wurde, um die Herden auf den Bergweiden zu versorgen, war wie ein lebendes Museum der Familiengeschichte der Flanaghans.

Im Gang standen unter einer uralten Sitzbank eine Reihe von Stiefeln, die von den Füßen vieler Generationen geformt worden waren. Beim Anblick der alten Mäntel, die immer noch getragen wurden, wenn an Ostern einmal unerwartet Schnee fiel, musste Emily an ihren Großvater denken. Sie sah vor sich, wie er in einem dieser Mäntel einen regennassen Abhang hinuntergerutscht war, um einem Kalb aus dem Gestrüpp zu helfen, während sie von oben zugeschaut hatte, fünfjährig, unter einem tropfenden Cowgirlhut und mit knallroten und eiskalten Fingern. Während Emily über das abgetretene Linoleum wanderte, spürte sie, wie das alte Haus durch ihre Anwesenheit wieder zum Leben erwachte.

In der Küche tastete Sam auf dem Kaminsims nach Zündhölzern. Das Reißen und Zischen und der Schwefelgeruch strahlten auf Emily etwas Tröstliches aus, kurz darauf hatte ihr Bruder eine Reihe von Kerzen angezündet, die in Tante Flos leeren Whiskyflaschen steckten. Zuletzt zog er die schwere Tür des alten Holzofens auf und hielt eine Kerze hinein, damit die Flamme die Ecke der Zeitung erreichte, die schon brennbereit unter einem Zunderstapel steckte.

»Setz dich hin«, sagte er. »Ich drehe das Gas auf und hole eine Ladung Brennholz für heute Nacht.«

Emily nickte. Zaghaft zog sie einen Stuhl aus Chrom und rotem Vinyl heraus, der in den sechziger Jahren richtig schick gewesen war, und setzte sich an den Küchentisch.

»Siehst du, du tust es schon wieder.« Sam streckte den Kopf noch einmal zur Küchentür herein.

»Was?«

»Du hast schon wieder gestöhnt wie eine Uroma.«

»Habe ich nicht!«

»Hast du wohl!«

»Na schön, du Klugscheißer«, rief sie ihm nach.

Emily blickte durch den Spalt der Ofentür und schaute dem Tanz der hellen Flammen zu. Sie lauschte dem Rauschen der Luft im Ofenrohr und reckte die Fingerspitzen der Wärme entgegen. Ihre Hände strichen über den schweren Holztisch. In seine Oberfläche waren unzählige Erinnerungen an die Geschichte ihrer Familie gekerbt. Das weiche Licht der Kerzen warf flackernde, dunkle Schatten auf die pockennarbige Landschaft der Tischplatte. Ihre Ururgroßmutter hatte ihn aus der ersten Hütte im Tal von Mayford heraufbringen lassen, und seither stand er hier oben. Emily spürte einen Schub frischer Energie, unter dem sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten. Ihre Haut begann zu kribbeln, als sie vor sich sah, wie die Emily von damals mit ihren massigen Stiefeln über den Lehmboden stapfte, um an diesem Tisch einen Hasen zu füllen und ihn dann zum Schmoren in einen geschlossenen Topf zu legen, der anschließend in die Holzkohle gestellt wurde. Emily blinzelte, das Bild verschwand, und im selben Moment kam Sam mit einer Armladung Holz zurück.

»Bisschen ruhiger als in Nashville hier draußen«, bemerkte er.

»Tut dir nur gut«, erklärte ihm Emily.

»Dir auch.«

»Ich will nur meine Mädchen zu mir holen, dann bin ich zufrieden.«

»Gleich morgen früh rufen wir Dad an.« Sam hob den Wasserkessel hoch. »Eine Tasse Tee?«

Emily schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich lege mich gleich hin.«

Während sie die Kerze durch den schmalen Gang trug, eine Hand schützend vor die Flamme haltend, spürte Emily, wie sich der Trost, den das Haus ausstrahlte, schützend über sie legte. Inzwischen tat ihr alles weh, und Angst hatte sie auch, trotzdem wusste sie, dass es richtig gewesen war, aus dem Krankenhaus zu verschwinden. Hier würde sie viel schneller gesund.

Weil sie unbedingt den Schlafanzug ausziehen wollte, der so nach Krankenhaus roch, öffnete sie den alten Schrank und leuchtete mit der Kerze hinein. Wann immer sich die Flanaghans hier aufgehalten hatten, hatten sie aus dem Koffer gelebt, denn sie waren nie länger als eine Woche am Stück auf den High Plains geblieben. Zu Zeiten ihrer Großeltern war das anders gewesen. Die Kleider im Schrank hingen dort, seit ihre Vorfahren die Sommer hier verbracht hatten, um das Vieh zu versorgen und zu treiben, um die Zäune zu reparieren und gegen das wuchernde Unkraut anzukämpfen. Damals war es einfacher gewesen, den Sommer über in den Bergen zu bleiben, als in ihrem kleinen, klapprigen und schlecht gefederten Auto oder auch auf dem Pferderücken die kurvenreiche achtzig Kilometer lange Reise nach Dargo zu unternehmen. Ihr Großvater war immer lieber geritten als Auto gefahren.

Damals war er von Zeit zu Zeit bei geeignetem Wetter ausgeritten und hatte entlang der Wege in regelmäßigen Abständen ein Streichholz fallen lassen, um kontrollierte Buschbrände auszulösen, so wie es schon die Aborigines getan hatten. Aber im Lauf der Jahre war die althergebrachte Brandrodung, mit der neues Wachstum gefördert wurde, von der Regierung immer weiter eingeschränkt und schließlich ganz verboten worden, was die Landschaft allmählich verändert hatte. Das einst offene, baumbestandene Bergland der australischen Alpen war inzwischen übersät von knochenbleichen Ästen, die der Winterschnee von den Bäumen gebrochen hatte. Weiter unten erstickte die Vegetation unter Hartriegeln und Akazien, die früher von den Cattlemen durch gezielte Brandrodungen in Schach gehalten worden waren. Wiesen, die einst behutsam durch kontrollierte Brände entlaubt und in regelmäßigen Abständen beweidet worden waren, waren inzwischen unzugänglich.

Auch das Leben der Flanaghans hatte sich im Lauf der Zeit verändert. Die einst abgeschieden auf der Hochebene lebende Familie war den Behörden zunehmend ein Dorn im Auge, denn die Beamten sahen nicht ein, warum die Flanaghans von der unversehrten Natur profitieren sollten. Je dichter das Straßennetz wurde, desto dichter wurde auch das Regelwerk. Je mehr Buschwalker, Skifahrer und Tagestouristen auftauchten, desto mehr Vorschriften hatten die Cattlemen zu befolgen. Emilys Großvater war als trauriger Mann gestorben. Er hatte um seine Berge getrauert. Um das einfache Leben, das seine Enkelin nicht mehr führen konnte, um ihre Abgeschiedenheit und ihre Freiheit.

Emily strich mit dem Finger über zwei Morgenmäntel aus grober Wolle – den braunkarierten ihres Großvaters und den hellblauen ihrer Großmutter. Sie sah ihre Großeltern vor Sonnenanbruch Hammelkoteletts in der Pfanne braten, während auf dem Tisch eine Kanne Tee unter einer wollenen braun-gelben Teemütze wartete, die heute noch benutzt wurde.

Ganz hinten im Schrank fand sie ein Nachthemd, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Es war lang und weiß, und der tiefe Ausschnitt war kunstvoll mit blauen Blumen und winzigen Knöpfchen bestickt. Die langen Ärmel endeten in dünnen Spitzen. Emily lächelte. Das Nachthemd war unglaublich altmodisch, verglichen mit den durchsichtigen Negligées, die sie immer für Clancy anziehen sollte. Je wütender er über ihre gemütlichen Frotteeschlafanzüge geschimpft hatte, desto standhafter hatte sie sich geweigert, sie auszuziehen. Nur wenn er unterwegs war, war sie selig nackt ins Bett geschlüpft und hatte das sinnliche Streicheln der Decke auf ihrer Haut genossen.

Sie zog das Nachthemd von seinem Bügel, der mit denselben winzigen Blumen bestickt war, und beschloss, es anzuziehen. Langsam und unter Schmerzen streifte sie es über und starrte dann ihr geisterhaftes Spiegelbild an. Die Kerze leuchtete so schwach, dass ihre Beine und Füße in der Dunkelheit verschwanden.

»Verfluchte Jeanne d’Arc!« Emilys Blick wanderte über ihre abgehackten schwarzen Haare, über die tiefen Höhlen, in denen ihre Augen lagen, und das cremefarben schimmernde Nachthemd. Sie schnüffelte an den Ärmeln, roch aber nur Mottenkugeln – der Duft ihrer Großmutter war längst verflogen. Wieder sah sie in den Spiegel, drehte sich dabei langsam im Kreis und stellte sich vor, eine altmodische Heldin zu sein.

Zuletzt schlüpfte sie unter die eiskalte Decke, erleichtert, das Krankenhaus verlassen zu haben, und merkwürdig glücklich, »auf der Flucht« zu sein. Eine Weile lag sie still da, drehte das Krankenhausarmband um ihr Handgelenk und schaute auf das verschnörkelte gusseiserne Gestell des alten Doppelbettes. Statt an die Schmerzen zu denken, die sie immer noch peinigten, dachte sie an ihre Großeltern. Geleitet von Gott und Mutter Natur und den Geistern des Landes hatten sie ausschließlich von dem gelebt, was der Boden abwarf. Sie dachte daran, wie einfach ihr Leben gewesen war und welches Glück sie immer ausgestrahlt hatten. Sie hatte das damals als Kind gespürt, und sie war überzeugt, denselben Charakterzug in ihren Mädchen, vor allem in der kleinen Meg wiederzufinden. Wenn die Kleine ihre Hände auf die Haut ihrer Mutter legte, spürte Emily etwas Besonderes in ihrer Berührung. Meg war ein eigenwilliges Kind, das sich gern von den anderen Kindern absonderte und für sich allein spielte, wobei sie mit imaginären Freundinnen Gespräche führte, die nur für sie existierten. Tilly war längst nicht so verträumt und kam dafür besser mit den praktischen Seiten des Lebens zurecht. Im Krankenhaus war es Tilly gewesen, die ihrer Mutter Wasser geholt und die Kissen aufgeschüttelt und das Laken straff gezogen hatte, während Meg still dagesessen und ihre kleinen warmen Hände auf Emily gelegt hatte, als wollte sie ihre Mutter heilen. Jetzt, im Dunklen, sehnte sich Emily nach ihren beiden Mädchen.

»Gute Nacht, Tilly und Meg«, flüsterte sie in das leere Zimmer hinein und beschwor das Bild herauf, wie sie friedlich in Rods Haus in ihrem alten Kinderzimmer schliefen. Bevor sie einschlummerte, dachte sie noch einmal an ihren Traum, die Mädchen hier heraufzubringen, um hier zu leben, und zwar auch den Winter über. War das möglich? Selbst die Flanaghans vor drei Generationen hatten sich in ihr Winterhaus im Tal bei Mayford zurückgezogen, wenn sich der Schnee in einer dicken, blendend weißen Decke über die Berge gelegt hatte. War sie stark genug, um einen Winter hier oben zu überstehen?

»Emily«, hörte sie ein Flüstern.

Im Schlaf runzelte sie die Stirn und wälzte sich herum.

»Emily.«

Wieder diese Stimme … Emilys Augen flogen auf. Sie setzte sich im stockfinsteren Zimmer auf. Der Kerzenstummel war ausgegangen. Der Mond hatte sich hinter die Baumwipfel verzogen; das Licht, das er durch die alten Spitzenvorhänge geworfen hatte, war erloschen.

Ein schwaches, geisterhaftes Licht trieb vom Flur herein, und sie konnte leise Musik spielen hören. Sam war das bestimmt nicht. Hier gab es kein Radio. Und keinen Strom, um eines laufen zu lassen. Bevor sie es mit der Angst bekommen konnte, stand sie auf und spürte das kalte Linoleum unter ihren nackten Füßen. Sie zündete ein Streichholz an, und aus dem Fitzelchen von Kerze, das noch übrig war, züngelte eine jämmerliche Flamme. Sie schlich auf Zehenspitzen durch den Gang und drückte sacht die Tür zu Sams Zimmer auf. Gerade als die Kerze blakend erlosch, sah sie ihn tief und fest unter den alten grauen Wolldecken schlafen.

Immer noch hörte Emily die Musik spielen. Die Fingerspitzen ihrer unverletzten Hand gegen den unregelmäßigen Rosshaarputz gestemmt, tastete sie sich durch den Flur bis zur Küche vor, wo immer noch die Glut glomm. Hier war die Musik deutlicher zu hören. Emily hörte ein altes Akkordeon und dazu Stimmen, die in die Melodie einstimmten. Es waren Männer- und Frauenstimmen, und sie sangen ein Kirchenlied. Als sie durch die Küche in das alte Speisezimmer weiterging, sah sie mehrere wettergegerbte Arbeiter in ihrem abgetragenen Sonntagsstaat darin sitzen. Emily blieb in der Tür stehen und hielt den Atem an.

Den Blick fest auf ihre ledergebundenen Gesangsbücher gerichtet, standen sie vor provisorischen Kirchenbänken, die aus einigen auf Ziegeln liegenden Brettern bestanden. Ganz vorn stand ein gut aussehender, junger Priester mit zurückgekämmtem und streng gescheiteltem dunklem Haar. Er trug einen Anzug mit Weste, und sein strahlend weißer Priesterkragen fing das Licht der Öllampen ein. War das vielleicht Archie, der Sohn der Flanaghans, der irgendwann sein Priesterseminar verlassen hatte und in die Berge zurückgekehrt war, um hier mit seiner jungen Braut Joan Gemeindearbeit zu leisten? Emily sah sich um. Neben den Erwachsenen saß eine Schar Kinder in allen Altersstufen – Flanaghans, wie Emily instinktiv wusste, denn neben ihnen standen die beiden Menschen, die sie in ihrer ersten Vision der Hütte in Mayford gesehen hatte: Emily und Jeremiah. Gemeinsam mit einer derb aussehenden Gruppe von Minenarbeitern sangen sie Dankeslieder an Gott.

Ohne jede Angst trat Emily in den Raum, um sich zu der Gruppe zu stellen. Als sie es tat, blickte die Frau mit dem ergrauenden Haar auf. Sie legte den Kopf schief und lächelte Emily sanft an. Emily lächelte ebenfalls. Dann stimmte sie in das Kirchenlied ein, denn die ihr unbekannten Worte waren ihr seltsam vertraut.

»Emily! Emily!«, hörte sie eine Stimme aus der Dunkelheit, dann drückten zwei Hände auf ihren Arm. Sie wachte auf und sah Sam über ihr stehen. Sein Gesicht wurde vom Schein einer kleinen Kerosinlampe erhellt.

»Was ist denn?« Sie stützte sich auf ihren gesunden Ellbogen.

»Du hast mich aufgeweckt.«

»Aber ich war im Esszimmer …«

»Was? Nein, warst du nicht! Du warst hier im Bett und hast im Schlaf geredet. Naja, eigentlich nicht direkt geredet … Du hast gesungen. Glaub mir, ich bin in dieser Familie der Sänger. Es hat geklungen, als würde jemand eine Katze ertränken.«

Er leuchtete sie mit der Lampe an. »O Mann, was hast du da an? Du siehst aus wie Julie Andrews in Meine Lieder, meine Träume, verdammt noch mal!«

»Ein Nachthemd. Von Nan.«

»Ein echter Lustkiller, wenn du mich fragst. Ein Wunder, dass sie überhaupt Nachkommen hatte.«

»Krieg dich wieder ein«, sagte Emily. »Außerdem singe ich gar nicht so schlecht. Und was sollte ich hier mit meinen Gelüsten anfangen?«

»Du bist also okay? Du brauchst keine Schmerztabletten?«

»Warum fragst du das immerzu? Es geht mir gut, ehrlich. Ich schätze, in Wahrheit brauchst du die Pillen. Bist du abhängig oder so?«

»Nö«, antwortete Sam sofort, aber Emily spürte einen Stich der Angst um ihren Bruder, der es in letzter Zeit offensichtlich ziemlich wild getrieben hatte.

»Mach mir bloß nicht den Heath Ledger, Kumpel«, sagte sie.

Sam blickte ins dunkle Zimmer, und der Schein der Lampe spiegelte sich in seinen großen, blaugrünen Augen. Er antwortete nicht. Stattdessen drehte er sich um und sagte: »Er hat dir wirklich wehgetan, stimmt’s?«

Sie merkte, wie die nicht vergossenen Tränen zu brennen begannen. »Aber ich habe es auch zugelassen. Es ist nicht allein Clancys Schuld. Ich habe mich nicht dagegen gewehrt …« Ihre Stimme versagte.

»Wir kriegen das schon wieder hin. Und zwar alle beide«, sagte ihr Bruder, aber sie hörte den Zweifel in seiner Stimme.

Sie wusste, dass Sam sich wirklich abgerackert hatte, seit seine Single vor zwei Jahren die Charts erobert hatte und danach sang- und klanglos verhallt war. Der Erfolg hatte ihm nicht genug Rückenwind verschafft, um in jenem Jahr mit der Tamworth Golden Guitar von der Bühne zu spazieren, dem anerkannten Erfolgsbeweis für jeden Newcomer in der australischen Musikszene. Die Enttäuschung war ihm deutlich anzumerken gewesen, und Emily hatte den Eindruck, dass Sams Leben seit jenem Abend Stück für Stück aus den Fugen geraten war. Ganz langsam hatte er sich immer weiter von dem Leben entfernt, das sie früher geführt hatten. Er war in die Stadt abgewandert und hatte sich in einem Strudel aus schönen Menschen, Partys und Hype verloren. Seit zwei Jahren hatte er keinen einzigen neuen Song geschrieben.

»Was willst du jetzt anfangen, Sam?«

»Erst mal wieder auf die Beine kommen.«

»Was nimmst du?«

»Nur Gras.«

»Du lügst.«

Er zuckte mit den Achseln. »In L.A. habe ich auch härtere Sachen probiert. Aber das hat mich echt fertiggemacht.«

»Hast du auch jetzt was dabei?«

»Nur ein bisschen Gras.«

»Gib es mir. Ich verbrenne es.«

»Spinnst du?« In seinen Augen blitzte es erschrocken auf.

»Sam«, meinte Emily unnachgiebig, »willst du wirklich wieder auf die Beine kommen?«

»Klar!«

»Dann gib es mir gleich morgen früh. Deine ganzen Partypillen, dein Dope, das Gras, was weiß ich – du gehst auf kalten Entzug.«

Emily sah ihren kleinen Bruder an. Sie hatte gesehen, wie sich Frauen jeden Alters bei seinen Konzerten an die Bühne gedrängt und ihn angehimmelt hatten, als wäre er ein Gottesgeschenk. Vielleicht führte er sich inzwischen auf, als wäre er drei Meter groß und kugelsicher, aber sie konnte immer noch den kleinen Jungen in ihm sehen.

Außerdem konnte Emily sehen, dass Sam tief in seinem Inneren über eine sehr seltene Gabe verfügte. Als er noch jünger gewesen war, schien die Musik einfach aus ihm herauszusprudeln. Draußen im Dunkeln gab es immer noch jenen Kreis aus geschwärzten Steinen, in dem früher das Lagerfeuer gebrannt und wo die Familie während des Viehtriebs im Sommer zu Abend gegessen hatte. Wieder sah sie vor sich, wie der halbwüchsige Sam in seinem Flanellhemd, die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, das klar geschnittene, hübsche Gesicht vom Lagerfeuer beleuchtet, mit seinen kräftigen Fingern eine Melodie auf der Gitarre improvisierte.

Das Treiberteam, das hauptsächlich aus Verwandten bestand, hatte rundum auf Klappstühlen, Baumstümpfen, Kühlbehältern oder abgerundeten Basaltsteinen gesessen und wie hypnotisiert zugehört, während Sams Musik durch ihre Körper vibrierte. Seine Stimme schien vom schwarzen Himmel über ihnen herabzufließen, gefiltert durch die Sterne und den Lagerfeuerrauch. Es war die Stimme eines starken, kühnen Engels, der unverfälschte Countrysongs sang.

»Morgen fängst du wieder an, Songs zu schreiben«, erklärte sie ihm. »Du schreibst so viele, dass es für ein Album reicht. Schreib über diesen Fleck hier: über die Rinder, über die Feuer, die uns jedes Jahr in Panik geraten lassen, über den Schnee, über die blöden Bürokraten, die uns ständig im Nacken hocken. Dann rufen wir deinen Manager an, und du nimmst das beste Album aller Zeiten auf. Okay?«

»Ich werde bestimmt nichts über diesen Fleck hier schreiben, Em. Du weißt genau, was dann passiert. Dann bin ich für die Cattlemen ein verfluchter Held und für die Grünen der Antichrist.«

Emily schüttelte den Kopf. »Und wenn schon! Das ist dein Erbe.«

»Ich scheiße auf dieses Erbe!« Er biss die Zähne zusammen. »Ich habe keinen Bock, durch jeden Reifen zu springen, der mir hingehalten wird. Dad und Flo sind noch jedes Mal gesprungen, nur damit sie hier oben ein paar Kühe grasen lassen können.«

»Es geht nicht nur um ein paar grasende Kühe, das weißt du ganz genau. Sondern darum, dass wir uns so um das Land kümmern, wie es ihm zukommt. Indem wir es beweiden. Roden. Pflegen. Und nicht, indem wir es abkapseln und verwildern lassen und es dann als ›unberührt‹ bezeichnen, so als wäre es unantastbar oder ein riesiges wissenschaftliches Experiment.«

»Du kannst einfach nicht aufgeben, oder? Du prügelst immer noch auf dasselbe tote Pferd ein.«

Als Kindern hatte man Emily und Sam beigebracht, wie dieses Land im neunzehnten Jahrhundert von fanatischen Goldsuchern verwüstet worden war und wie es sich seither erholt hatte, so wie Gras über ein Schlachtfeld wächst und die Knochen der Gefallenen bedeckt. Sie hatten mit eigenen Augen gesehen, wie das Land im Lauf der Zeit ein neues Gleichgewicht gefunden hatte. Mittlerweile waren die eingeschleppten Unkräuter die größte Sorge. Jedes Jahr halfen die Flanaghans, Bob ausgenommen, jene Ranken auszumerzen, die am wildesten wucherten – die Brombeeren. Sam und Emily wussten, dass das Land auf den Weideflächen, die sie nutzen durften, in erstklassiger Verfassung war und dass die leichte Beweidung während der Sommermonate sich nur positiv auswirkte.

Natürlich war ihnen klar, dass sie nicht immer alles richtig machten. In schweren Zeiten, wenn die Fleischpreise in den Keller fielen und es nicht regnete, musste die Umweltarbeit hintanstehen, weil das Geld dafür fehlte. Dann steckte ihr Vater bis über beide Ohren in Formularen, mit denen er Hilfsgelder beantragte, um an Bächen Zäune zu errichten oder die wuchernden Brombeeren zu bekämpfen. Sie hatten gesehen, wie tief es ihn getroffen hatte, als das billigste Mittel zur Unkrautkontrolle verboten worden war – die Brandrodung. Sie hatten die schmerzvolle Erfahrung gemacht, dass ein Antrag fast immer abgewiesen wurde, sobald ihr Name darauf stand. Der Name Flanaghan war inzwischen zum Symbol für extensive Weidewirtschaft geworden, und sie spürten die tiefe Ablehnung, die man bei den Behörden gegen sie hegte, wo sie zu notorischen Umweltsündern abgestempelt worden waren – Menschen, die kostbare Naturschutzgebiete zerstörten, Torfteiche verschlammten und deren Rinder empfindliche Blumen zertrampelten.

An manchen Tagen wäre Sam lieber kein Flanaghan gewesen, und seit er in die Stadt gegangen war, gab er nicht mehr viel auf seine Herkunft.

»Du weißt, dass keiner von uns Cattlemen die nötige Ausbildung hat, um sich mit diesem riesigen Behördenapparat anzulegen«, sagte er sanfter. »Wir können für unser Land und unsere Tiere sorgen, aber die Presse füttern und politische Debatten beeinflussen können wir nicht.«

»Aber deine Musik, Sam! Wenn ein Song wirklich von Herzen kommt, kann er die Herzen der Menschen für neue Ideen öffnen. Nur darum hast du deine Gabe … Du kannst die Menschen aus tiefstem Herzen überzeugen, dass das, was wir hier oben tun, der Umwelt nicht schadet, sondern im Gegenteil dem Hochland nützt.«

Er lachte. »Da bleibe ich lieber ein Stadtcowboy und überlasse das Protestieren ein paar müden alten Cattlemen.«

Emily seufzte. »Dann bist du ein verfluchter Feigling und Deserteur.«

»Ach ja? Und wenn?« Er schauderte. »Ich lege mich wieder hin. Ich friere mir hier draußen noch die Eier ab.«

Gerade als er ihre Zimmertür zuziehen wollte, rief Emily: »Hey, Sam?«

»Ja?«

»Der Traum, aus dem du mich geweckt hast … was habe ich da eigentlich gesungen?«

Er hielt inne, senkte den Kopf im Lampenschein und überlegte.

»Keine Ahnung, ehrlich. Ich hab noch halb geschlafen. Aber es hat sich angehört wie ein Kirchenlied.«

»Ein Kirchenlied?«

»Genau. Schräg, wie? Ich hätte nicht gedacht, dass du auch nur ein Kirchenlied kennst.«

»Ich kenne auch keines.«