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Emily hatte noch zugesehen, wie man sie über eine Berglichtung trug. Nun wandte sie den Blick ab und schwebte in den Himmel auf, bis sie über dem Dach der Eukalyptuswipfel trieb. Ein schmales Band von schwarzen Wolken wehte pulsierend in ihre Richtung. Die Intensität des nahenden Sturmes elektrisierte sie wie in einem Stromstoß. Die Welt um sie herum schien zu vibrieren und in einem Schimmer zu verschwimmen, dann spürte sie die erste beängstigende Sturmwolkenfront über ihrem Gesicht. Doch als Emily erst ins Auge des Sturmes getaucht war, begriff sie, dass sie nichts zu befürchten hatte. Stattdessen wurde sie ganz ruhig, denn sie wusste, dass sie alles und überall war und nur noch Liebe und Frieden empfinden musste. Zum ersten Mal überhaupt begriff sie wirklich, was Spiritualität bedeutete. Die wahrste Bedeutung dessen, was die Menschen auf der Erde als Gott bezeichneten. Endlich schaute sie hinter das Wort, das sie zeit ihres Lebens verwirrt hatte. Sie war eins mit allem, sie war vollkommen, und es war die pure Freude, als reine Lebensenergie dahinzutreiben.

Doch plötzlich verzogen sich die Wolken, und Emily sah hinunter auf ein weit ausgebreitetes Tal, in dem Rinder das hohe grüne Gras sprenkelten. Durch die Mitte des Tales wand sich ein silberner Fluss, flankiert von grünen Bäumen. Sie begriff, dass sie auf Mayford hinabschaute, den einstigen Familiensitz der Flanaghans, aber irgendwie wirkte alles anders als auf den Fotos, die sie davon gesehen hatte. Auf einer kleinen Anhöhe oberhalb des Tales entdeckte Emily auf einer Lichtung eine Hütte, wo eine Frau neben einem qualmenden Feuer stand.

Emily spürte, dass sie zu ihr musste. Sie ließ sich abwärts treiben. Als sie näher kam, erkannte sie, dass die Frau ein dunkelblaues Arbeitskleid mit hohem Kragen trug, das abgetragen und abgewetzt aussah. Der mehrlagige Rock reichte bis auf den Boden, sammelte am Saum Staub und lag auf den Spitzen ihrer verschrammten Schnürstiefel. Das graue Haar war mit einem Mittelscheitel geteilt und in einem hohen Dutt gebündelt, aber die tief liegenden dunklen Augen strahlten klar und jugendlich. Die Frau hatte eine lange, kräftige Nase und ein gütiges Gesicht.

Die gedrungene Hütte rechts von ihr war aus dicken, horizontal liegenden Stämmen gezimmert und schloss mit einem steilen Schindeldach und einem dicken quadratischen Kamin ab. Hinter der Frau war ein Mann aufgetaucht, der die kräftigen Arme vor der Brust verschränkt hatte. Die Hosenträger hingen ihm auf die Schenkel, und das offene, wollene Arbeitshemd war schweißfleckig. Das Haar über seiner hohen Stirn war ebenfalls ergraut. Die Brauen waren dunkel geblieben, genau wie der buschige Schnauzer, aber der kurz geschnittene Kinnbart war schneeweiß. Seine dunkelbraunen Augen leuchteten jugendlich und hellwach. Emily fielen die Hände auf, die im Kontrast zu seinem kleinen, gedrungenen Körperbau groß und flächig wirkten. Ihr Vater hatte genau die gleichen Hände. Rechts von dem Mann döste an einer Koppelstange ein fuchsfarbener Hengst mit weißen Fesseln. Ein zotteliger schwarzer Hund mit weißer Blesse, die ihm bis über den Scheitel reichte, stand vor der Hütte auf der Veranda und bellte Emily einmal schwanzwedelnd an, bevor er sich zu Füßen seines Herrn niederließ.

Nicht weit von der Hütte entfernt bemerkte sie ein Feld voller hoher Maispflanzen mit träge herabhängenden Blättern und direkt daneben eine Umfriedung aus Steinen, in der eine Sau faul dahingestreckt in der Sonne schlief. Irgendwo im Busch hoch über der Hütte hörte sie eine Glocke scheppern und eine Geiß blöken. Die Hände in die Hüften gestemmt stand die Frau da und beobachtete, wie Emily das Panorama in sich aufnahm.

»Was willst du hier, Emily?«, fragte sie. »Deine Zeit ist noch nicht gekommen.«

»Noch nicht?« Sie betrachtete suchend das Gesicht der älteren Frau.

»Suchst du nach deiner Mutter?«

»Sollte ich das?«

»Geh zurück«, erklärte ihr die Frau nachsichtig. »Auf dich wartet noch Arbeit.«

»Arbeit?«, fragte Emily. »Was für Arbeit?«

»Die Arbeit von Mutter Natur vielleicht.«

Emily runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

Die Frau lachte leise.

»Geh zurück, Emily, dann wirst du es herausfinden.«

»Aber ich will lieber hierbleiben. Das Pferd ist so schön. Und die Farm auch. Das ist unsere Farm, oder?«

»Geh zurück zu deinen Kindern.«

Emily zog die Stirn in Falten, doch die Frau beschwor sie noch einmal: »Geh zurück zu deinen Kindern, Emily. Ich werde für dich da sein.«

Sie bückte sich und warf ein paar Stöcke in das gemächlich glimmende Feuer, dann raffte sie die Röcke und kehrte Emily den Rücken zu. Sie ging zu dem Mann, die beiden verschwanden in der Hütte und ließen einen schweren Leinenvorhang vor die Tür fallen. Irgendwie wusste Emily, dass diese Frau ihre Ururgroßmutter Emily Flanaghan war und der Mann ihr Ururgroßvater Jeremiah. Die beiden hatten den zerklüfteten Bergen damals eine Heimat für ihre Familie abgerungen und waren dort auch geblieben, nachdem die Minenarbeiter abgezogen waren. Sie waren es gewesen, die damals die beschwerliche Reise in die Berge angetreten hatten.

Sie wollte ihnen in die Hütte folgen, aber im selben Moment stach sie etwas mit aller Macht, so als hätte jemand ihren Brustkorb in stählerne Zangen geklemmt. Der Schmerz schoss durch die Fasern ihrer Muskeln und schlug so fest auf ihre Knochen, dass sie in weiße Scherben zersprangen. Sie spürte, wie sie rückwärts durch die abgefallenen Eukalyptusäste gezerrt wurde, die um sie herum aus dem Boden stachen. Dann wurde sie von einem so scharfen Schmerz durchbohrt, dass sie erblindete.

Emily konnte ein rhythmisches Wummern hören und darüber aufgeregte Stimmen.

»Sie ist wieder weggesackt!«

»Zurück!«, rief jemand.

Ihr Körper bäumte sich unter einem elektrischen Schlag auf, ihre Beine begannen zu zappeln, und ihr Rückgrat presste sich in die Trage, auf der sie lag. Verschwunden war der Geruch nach Eukalyptus, Pferdeschweiß und Angst. Geblieben waren nur der Gestank von Auspuffgasen und das Dröhnen in ihrem Schädel. Sie versuchte zu erkennen, wo sie war, aber der Schmerz war zu stark. Dabei wollte sie auf gar keinen Fall zurückkehren. Nicht in ihr altes Leben. Nicht zu Clancy. Sie wollte nur noch ihr Tal in den Bergen wiederfinden und ihre Familie wiedersehen.