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Als Emily am Esszimmer der Flanaghans vorbeikam, warf sie einen Blick durchs Fenster ihres Farmhauses und musste lächeln. Tilly und Meg halfen mit leuchtenden Gesichtern Evie dabei, die Speisen für das Festmahl auf dem alten Tisch aus Eukalyptusholz aufzutragen. Er war mit feinem alten Porzellan und Silberbesteck gedeckt, und in der Mitte stand ein Kandelaber mit flackernden weißen Kerzen. Den Kerzenständer hatte Emilys Großvater mit einem Hereford-Bullen bei der Bairnsdale Show im Jahr 1955 gewonnen. Der Schein der Kerzen legte ein engelsgleiches Leuchten auf die Gesichter der Mädchen.

Am alten Sideboard schenkte Rod Portwein in zerbrechliche Kristallgläser, ebenfalls Trophäen, die jemand bei einer längst vergessenen Tierschau auf einer längst vergessenen Landwirtschaftsschau gewonnen hatte. Manche dieser alten Gegenstände hatte Emily seit Jahren nicht mehr gesehen, weil sie im Schrank über die Jahre hinweg immer weiter nach hinten gewandert waren, aber Evie hatte bestimmt, dass der heutige Abend etwas Besonderes werden sollte.

Also hatten sie die alten Sachen abgestaubt und poliert und konnten sie jetzt benutzen und genießen. Selbst das große alte Speisezimmer, das gewöhnlich abgeschlossen war und als Lagerraum zweckentfremdet wurde, war ausgefegt worden und erstrahlte jetzt in alter Pracht. Das Feuer loderte im offenen Kamin und beleuchtete das darüber angebrachte große, wunderschöne Gemälde einer Hirtenhütte, und in der Vase auf dem Sideboard standen frische Blumen. Evie hatte das Haus wieder zum Leben erweckt.

Emily merkte, dass sie hungrig wurde, und konnte es kaum erwarten, alle Arbeiten erledigt zu haben, damit sie zu den anderen ins Haus konnte. Mit langen Schritten eilte sie in den Futterschuppen, wo sie Hundetrockenfutter in einen Eimer schaufelte, um es den Kelpies zu bringen, die aufgeregt in ihren Gehegen tanzten. Flos Katze Muscles schlängelte sich zwischen ihren Beinen durch und miaute sie flehend an. Über ihr standen die Sterne klar und hell am kühlen Nachthimmel. Der Viehtrieb hatte sie müde gemacht, aber gleichzeitig war sie überglücklich, dass ihr Körper die Anstrengung unbeschadet überstanden hatte. Im Gegensatz zu ihrem Geist. Die Begegnung mit Luke hatte Spuren hinterlassen.

In der fast vollkommenen Dunkelheit kippte sie Hundekuchen in die Futterschüsseln und sprach dabei jedem einzelnen Tier gut zu, doch Rousie lobte sie wie immer ganz besonders. Danach ging sie in den Geräteschuppen weiter, schwang ein Bein über ihr Quad und ließ es heulend an. Muscles sprang für eine Miezen-Spritztour auf ihren Schoß. Emily lenkte das röhrende Geschoss auf die Straße und fuhr die zwei Kilometer zu Bobs Haus hinunter.

Drinnen brannte kein Licht. Flo hatte erzählt, dass ihr Bruder wieder abgetaucht sei und dass niemand wisse, wo er steckte. Wenn Bob verschwand, übernahmen sie es regelmäßig, nach seinen Tieren zu sehen. Er hatte seine Pferde schon tagelang ohne Wasser und Futter im Pferch stehen lassen, bis die Tiere die obersten Stangen zu splittrigen Zahnstochern abgekaut hatten. Einmal hatte er seinen Hund DD im Sommer so lange an der Kette liegen lassen, dass das arme Tier um ein Haar jämmerlich verdurstet wäre. Emily fuhr ausgesprochen ungern zu Bobs Haus. Dort tummelten sich Spinnen und Schlangen, außerdem erinnerte es sie jedes Mal an ihre verstorbenen Großeltern, die den Garten als wahres Kinderparadies gestaltet hatten.

Sie erinnerte sich an einen Teich mit Goldfischen, die gemächlich im kristallklaren Wasser schwammen, und an Trittsteine, die zu einem weichen, von Farnen überwachsenen Feengarten führten. Damals hatte es hier Blumen und Windspiele und überall versteckte Winkel gegeben, in denen man sich niederlassen konnte. Seit Bob hier lebte, ließ er seine verwilderten Mischlingshunde im Garten herumlaufen, der inzwischen praktisch nicht mehr zu erkennen war. Das Anwesen strahlte etwas Deprimierendes aus.

Heute Abend stutzte sie, als sie auf das Haus zuging. DD zappelte nicht wild kläffend an seiner Kette. Emily schwenkte die Scheinwerfer über den leeren Zwinger. An dem leeren Pfahl, an den der Hund normalerweise gekettet war, hing ein halber Bierkarton. Darauf hatte Bob in seiner krakeligen Handschrift mit Textmarker hinterlassen: Danke, aber DD ist in Ferien.

Emily holte tief Luft. Damit meinte er doch hoffentlich nicht, dass er den guten alten Hund erschossen hatte? Das Tier war zwar bissig, aber eine echte Persönlichkeit und ein fester Bestandteil dieses Hauses.

Sie runzelte die Stirn und ging weiter zu Bobs Hühnerstall. Auch hier eine Nachricht auf einem zerfetzten Bierkarton. Die Mädels sind alle bei Donna. Emily warf einen Blick in das dunkle Innere des leeren Hühnerhauses. Dann ging sie zu der Koppel, auf der Bob seine Stute hielt. Normalerweise warf Emily ihr einen Eimer voll Heu zu, wenn ihr Onkel nicht da war, weil er das Tier auf einer engen Weide voller Unkraut grasen ließ und sich oft die Rippen unter dem matten Fell abzeichneten. Auch in dem am Zaun hängenden Futtereimer lag ein Karton. Die Stute habe ich Kate überlassen.

Was war da los? Emily lief zu Bobs Wohnhaus, und ein Bewegungsmelder schaltete das Licht ein. Sie sah, dass der Rasen hinter dem Haus frisch gemäht und der Unrat auf der Veranda weggeräumt war. Die Vorhänge waren zugezogen. Das Haus wirkte menschenleer, aber überraschenderweise sah es sauber und aufgeräumt aus.

Emily sprang wieder auf ihr Quad, wartete ab, bis Muscles sich auf ihrem Schoß niedergelassen hatte, und raste zurück nach Tranquility. Gerade als sie ins Haus stürmen wollte, sah sie ein Paar Scheinwerfer. Sams getunter Pick-up hielt an, und er und Bridie purzelten lachend aus der Fahrerkabine.

»Hey, Viehtreiberin!« Bridie sah in ihrem roten Top und den flippigen schwarzen Jeans einfach umwerfend aus. Sam, ganz in Johnny-Cash-Schwarz gekleidet, schloss Emily kurz in die Arme.

»Du hast dich richtig rausgeputzt, wie ich sehe«, neckte er sie nach einem prüfenden Blick auf Emilys alte Farmklamotten.

»Was fangen wir nur mit ihr an?« Bridie schüttelte tadelnd die blonde Mähne, die sie Jane-Mansfield-mäßig mit einem breiten roten Band hochgebunden hatte.

»Was gefällt euch nicht an dem hier?«, beschwerte sich Emily und sah an ihrem unförmigen schwarzen Wollpullover herab.

»Wir werden dir was richtig Schickes zum Anziehen raussuchen. So erscheinst du jedenfalls nicht zu unserem Galadinner.«

»Zu zweit seid ihr wirklich unausstehlich«, beschwerte sich Emily, und dann polterten sie durch den großen Flur ins Herz des Hauses.

Als sich schließlich alle um den Esstisch versammelt hatten, konnte Emily, die inzwischen ein hübsches kariertes Cowgirl-Hemd trug, die Neuigkeiten nicht länger für sich behalten. »Ich glaube, Onkel Bob steckt in Schwierigkeiten. Ich mache mir echt Sorgen um ihn«, platzte es aus ihr heraus.

Alle drehten sich zu ihr um.

»Wir machen uns doch schon seit Jahren Sorgen um Bog«, bemerkte Flo trocken.

»Aber diesmal ist es anders. Alle seine Tiere sind verschwunden, außerdem hat er merkwürdige Botschaften hinterlassen, und das ganze Anwesen ist aufgeräumt. Ich meine, richtig aufgeräumt.« Emily rang die Hände im Schoß. »Ihr glaubt doch nicht, dass er sich etwas angetan hat?«

»Nein, natürlich nicht«, beschwichtigte Evie. »Bob hat bei mir spirituelle Heilung gesucht.«

»Wahnsinn!« Flo fiel wieder ein, dass sie gesehen hatte, wie er aus Evies Haus gekommen war. »Bestimmt hat Onkel Bog nur ›spirituell‹ gehört und geglaubt, er würde bei dir was zu trinken bekommen. Evie, wie hast du es angestellt, dass dieser Mann zu dir kommt?«

»Ich habe gar nichts getan. Er kam von sich aus, nachdem das Weideverbot erlassen wurde.«

»Ach was. Und warum?«, wollte Sam wissen.

»Das kann ich euch nicht sagen«, erklärte sie. »Aber ich kann euch versichern, dass ihm nichts passiert ist. Er wird keine Dummheiten anstellen … also, das kann ich nicht garantieren, aber ihr wisst schon, was ich meine. Er wird sich nichts antun.«

»Puh!«, atmete Emily auf.

»Dann trinken wir auf Onkel Bog, wo zum Henker er auch stecken mag«, verkündete Flo, die der Portwein vor dem Essen schon ziemlich in Fahrt gebracht hatte. Alle erhoben ihre Gläser.

»Auf Bob!«, prosteten sie sich zu. »Wo zum Henker er auch stecken mag!«

Emily schaute zu, wie ihre Familie im flackernden Kerzenlicht und dem Schein des Kaminfeuers aß. Alle waren dermaßen mit Evies Roastbeef mit Gemüse beschäftigt, dass sich die Konversation eine Weile auf »Mmms« und »Ohs« und »Noch mal, bitte« beschränkte.

Als sie schließlich fertig gegessen hatten, sah Evie sie der Reihe nach an. »Und jetzt?«, fragte sie.

»Nachtisch?«, schlug Tilly hoffnungsvoll vor.

»Den gibt’s auch, Schätzchen, aber erst möchte ich etwas von euch allen hören. Was wollt ihr jetzt mit eurem Leben anfangen? Rod, willst du nicht den Anfang machen?«

Er setzte sein Glas ab und räusperte sich. Dann verschränkte er die Finger auf der Tischplatte und überlegte.

»Erst werden wir die Rinder aussortieren. Das beste Drittel behalten wir, die Übrigen werden verkauft. Danach … weiß ich noch nicht. Ich dachte, ich könnte Zäune reparieren und Gebüsche ausholzen. Hier gibt es jede Menge Wochenendhäuser, die einen guten Verwalter gebrauchen könnten, und die Melbourniten, denen sie gehören, haben bestimmt genug Geld in der Tasche. Damit können wir uns finanziell über Wasser halten, bis wir etwas anderes gefunden haben. Vielleicht wirft das mehr ab, als man denkt.«

Emily hörte ihrem Vater an, dass er sich sein neues Leben schönzureden versuchte. Es versetzte ihr einen leisen Stich, gleichzeitig war sie stolz auf ihn, weil er so tapfer Neuland zu erschließen versuchte, nachdem er sein ganzes Leben als Cattleman gearbeitet hatte.

»Flo?«, fragte Evie.

»Hmm, also …«, setzte sie an. »Baz hat mir ein Angebot gemacht.«

»Nicht schon wieder!«, bemerkte Sam frech.

»Nicht so ein Angebot. Na schön, solche Angebote macht Baz mir ständig. Aber er will auf Viehtransporte umsteigen und möchte, dass ich auf dieser Seite der Berge einen seiner Transporter fahre.«

»Flo wird Truckerin!«, rief Bridie begeistert aus. »Darf ich dich stylen? Als Truckerin musst du einfach super aussehen. Dann beißen mehr Kunden an. Ich denke da an durchsichtige Tops, hautenge Jeans, sexy Stiefel. Aber trotzdem mit Klasse … ungefähr so wie Nicole Kidman in Australia. O Flo, dein Geschäft wird florieren!«

»Pass auf! Am Ende haben wir lauter tierlose Farmen rundum, weil alle wie verrückt ihr Vieh verkaufen, immer in der Hoffnung, dass sie mal mit dir in die Kabine dürfen«, neckte Emily sie.

»Das klingt ja wunderbar!«, fand Evie. »Und du, Sam?«

»Also«, begann er mit leuchtenden Augen und nahm dabei Bridies Hand, »ich werde auch gleich für Bridie antworten müssen, weil …« Die beiden sahen sich glücklich an, »wir nach Norden ziehen wollen, an die Küste von New South Wales ins Zentrum der Country-Musik! Sie hat mir geholfen, genügend Songs für ein neues Album zu schreiben, das wir dort aufnehmen wollen. Wir haben schon ein Haus und ein Studio über den Winter angemietet. Sobald ich die ersten Demos habe, sehe ich mich nach einem wirklich guten Vertrag um. Wir haben ein paar ziemlich scharfe Sachen geschrieben.«

»Dass ihr beim Schreiben ziemlich scharf wart, kann ich mir vorstellen«, warf Emily ein, und Sam trat ihr unter dem Tisch gegen das Schienbein. Das Bein schmerzte nicht so sehr, als dass es ihre Freude über diese gute Nachricht getrübt hätte. Aber als sich alle Blicke auf sie richteten, spürte sie den Druck.

»Du bist dran, Emily«, sagte Evie.

»I-ich«, stotterte sie, »ich weiß es wirklich nicht.«

»Komm schon, Emily«, sagte ihr Bruder.

»Also, ehrlich gesagt spiele ich mit dem Gedanken, den Winter auf der Hochebene zu verbringen. Ganz allein mit meinen Mädchen.«

»Wow!«, rief Meg aus. »Dann wohnen wir mitten im Schnee!«

»Ich will aber nicht im Schnee wohnen.« Tilly verschränkte schmollend die Arme.

»Wir werden auch nicht im Schnee wohnen. Sondern in unserem Haus im Schnee«, erklärte Emily, aber ihre ältere Tochter blieb verstockt.

»Das macht bestimmt Spaß«, meinte sie verunsichert. »Du wirst schon sehen.«

Rod sah sie besorgt an. »Bist du sicher? Das könnte härter werden, als du glaubst.«

»Ich weiß, aber Evie wohnt nicht weit weg. Wir können auf Skiern zu ihr runterfahren oder zu ihr reiten. Wahrscheinlich sind wir maximal drei Wochen eingeschneit. Außerdem haben dort schon früher Flanaghans überwintert.«

»Bist du sicher, dass du den Mädchen diese Einsamkeit zumuten willst?«

»Ja, ich bin sicher. Ich brauche diese Einsamkeit. Ich bin anders als ihr. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich in Zukunft machen soll. Ich war mit Leib und Seele Cattleman. Jetzt brauche ich Zeit, um herauszufinden, was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen will.«

Alle dachten über Emilys Antwort nach. Sie wussten, dass ihre emotionalen Verletzungen noch nicht verheilt waren. Dass ihre Ehe zerbrochen war, Clancy sich eine neue Familie gesucht hatte und sich ihre Träume in Luft aufgelöst hatten, setzte ihr noch zu. Allerdings wussten nur Evie und Bridie, wie sehr ihr auch die Sache mit Luke zusetzte und welche Rolle er bei ihrem Wunsch, sich im Schnee zu verschanzen, spielte.

»Tilly«, sagte Emily, »wenn du wirklich nicht mitwillst, könnten wir Daddy fragen, ob du bei ihm bleiben kannst. Oder du könntest hier bei Grandpa Rod und Flo bleiben, wenn du auf keinen Fall da oben überwintern willst. Aber Mummy muss das machen. Ich muss es einfach. Ich kann es dir nicht erklären, aber es hat etwas mit dem Traum zu tun, von dem ich dir erzählt habe.«

Tilly presste die Lippen zusammen und überlegte. Alle Augen waren auf sie gerichtet.

»Komm schon, Tilly«, lockte Meg sie. »Wir können uns einen Iglu bauen. Und Schneemänner. Und wir können die Ponys mitnehmen, oder, Mummy?«

Emily nickte.

»Okay«, sagte Tilly kleinlaut. »Ich komme mit.« Emily fiel ein Stein vom Herzen. Sie hätte ganz bestimmt nicht gewollt, dass Tilly zu Clancy zog oder allein hier im Tal blieb, selbst wenn ihre Tochter damit in der Obhut ihrer Familie geblieben wäre. Sie stand auf, ging zu ihrer Älteren und drückte sie an ihre Brust.

»Damit ist es beschlossen«, fasste Rod zusammen. »Emily, du gehst mit deinen Mädchen ins selbstgewählte Exil. Aber bitte, bitte vergiss nicht, dass du jederzeit zurückkommen kannst, wenn es dir dort oben zu anstrengend wird.«

»Wir kommen schon zurecht, Dad. Da bin ich ganz sicher.«