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Nachdem sich die Pferde und Ponys ein paar Wochen an den Schnee gewöhnt hatten, suchten sie sich trittsicher und geschickt ihren Weg durch die felsige, eisig weiße Landschaft. Fast jeden Tag ritten Emily, Tilly und Meg auf der Suche nach Abenteuern durch die Berge. Heute hatte sich der Nebel schon früh verzogen und ihnen relativ warmes, ruhiges Wetter beschert.

Emily wollte ihren Kindern alles beibringen, was sie selbst über die Berge wusste. Sie vermutete, dass die Straße von Dargo geschlossen war, nachdem über Nacht so viel Schnee gefallen war. Sie empfand es als Erleichterung, von allem abgeschieden zu sein. Damit konnte sie die nagenden Ängste vergessen, dass Clancy auftauchen und ihr die Kinder wegnehmen könnte.

Heute wusste sie obendrein, dass kein Ranger sie zur Rede stellen würde, wenn sie Rousie mit in den Nationalpark nahm. Sie waren auf dem Weg zum Long Spur, wo sie den Mädchen eine jener Baum-Reservate zeigen wollte, die ihre Urgroßeltern angelegt hatten.

Emily freute sich, wie Megs und Tillys begeisterte Gesichter leuchteten, als sie über die Ebene trotteten. Die kleinen Ponys sahen fast aus wie Zeichentrickfiguren, wenn sie gelenkig über kleine Grasbüschel hinwegsetzten oder spitzen Steinen auswichen, und die Mädchen saßen völlig entspannt auf ihren Rücken. In den ersten Tagen waren die beiden ein paarmal von ihren Ponys gefallen, aber der weiche Schnee auf dem federnden hohen Gras hatte alle Stürze abgefangen, und inzwischen konnten Tilly und Meg auch lange Strecken angstlos reiten. Vor allem Tilly hatte sich gewandelt, seit sie sich so intensiv mit ihrem Pony beschäftigte. Immer seltener sprach sie von ihrem Vater; stattdessen schien sie in sich selbst zu ruhen.

Auf den Lichtungen hielten sie an, um die Berggipfel rundum zu studieren und um die Wolken zu beobachten, die wie breite Wasserfälle die Hänge herabstürzten und ihnen irgendwann die Sicht nehmen würden. An manchen Tagen war es absolut still, an anderen, wilderen Tagen peitschte ein eisiger Wind die Schweife der Pferde durch die Luft und zerrte den Reiterinnen die Hüte von den Köpfen. Meistens wechselten Himmel und Hölle ab, weil sich das Wetter ständig in Windeseile änderte.

Sie hatten sich Tücher vors Gesicht gebunden, damit die beißende Kälte nicht in ihre Lungen dringen konnte. Emily hatte einen Rucksack mit Proviant und ihre Cattleman-Ausrüstung mitgenommen, die sie an ihren Packsattel gebunden hatte.

Zurzeit bildete sie Bonus zum Packpferd aus. Schließlich sollte er die unterschiedlichsten Aufgaben übernehmen können. Dafür hatte sie ihm die alten Satteltaschen ihres Großvaters aufgebunden und gleichmäßig zu beiden Seiten beladen. In den Taschen lagen eine Kettensäge – nicht so groß, als dass sie wirklich störte, aber groß genug, um alle Äste zu zersägen, die womöglich über einen Zaun gefallen waren. Außerdem hatte sie ein paar Meter Zugdraht, eine Drahtzange, Eisenklammern, einen Hammer, eine Ratsche, eine kleine Schaufel und einen Drahtspanner mitgenommen. Bonus, der von Natur aus sehr ausgeglichen war, hatte sich widerspruchslos in seinen neuen Job gefügt und folgte Snowgum glücklich und zufrieden am Ende eines Führungsseiles. Falls sich eine der Taschen im Geäst verfing, scheute er nicht, sondern blieb einfach stehen und wartete geduldig ab, bis Emily zurückkam und ihn befreite. Obwohl das Pferd sie ständig an Luke erinnerte, schloss Emily es auf ihren Ritten über die schneebedeckten Berggipfel immer mehr ins Herz.

Einige der Zäune, die sie bei ihren Ritten überprüfte, umschlossen das kleine private Weidegebiet der Flanaghans, aber die meisten Zäune verliefen zwischen Weiden, die mittlerweile im Nationalpark lagen. Ein Großteil des Landes war niemals eingezäunt worden, es stand also einiges an Arbeit an, wenn Emily und ihre Familie aus nostalgischen Gefühlen eine kleine Herde auf ihren eigenen Weiden und in den nicht geschützten staatlichen Waldgebieten rund um ihre Farm halten wollten.

Als sie den Weg über den Long Spur erreichten, sah Emily, dass der Schnee hier vergleichsweise tief lag. Sie zeigte den Mädchen die Skigebiete am Mount Hotham und an der Dinner Plain in der Bergkette gegenüber. Ameisenhafte Skifahrer webten dort als winzige schwarze Punkte ihre Wege kreuz und quer über den Hang und schnitten durch den weißen Schnee. Am Ende des Skitages würden die Feriengäste in Richtung Dusche, Bar, Restaurant oder Club abziehen oder auch nur den Fernseher einschalten oder im Internet surfen.

Emily konnte kaum glauben, dass sie von hier aus auf diese hoch technisierte »Zivilisation« blicken konnte. Die Stille hier stand in absolutem Kontrast zu dem geschäftigen Treiben auf den Skipisten.

Sie saß hier auf ihrem Pferd neben ihren Töchtern auf einem Landabschnitt, der nach hundertfünfzig Jahren kontrollierter Beweidung immer noch gut erhalten war. Diese Stelle war einer ihrer Lieblingsflecken und ein besonders schöner Vesperplatz, wenn sie die Kühe zusammentrieben … solange man über die Skidörfer und Sende- und Strommasten hinwegsah, die sich an den Bergen gegenüber immer tiefer in die Hänge fraßen.

Der Long Spur führte an einer majestätischen Felswand entlang, die in das mit wildem Buschland bewachsene Tal Devil’s Hollow abfiel. Emily wollte es einfach nicht in den Kopf, dass man ihre Familie mit ihren Rindern aus diesem Gebiet vertrieben hatte, während am Berg gegenüber Tausende von Skifahrern die Landschaft nach Herzenslust verunstalten durften.

Sie hatte nichts gegen die Skifahrer, ihr Zorn galt den Bauunternehmern, die von dieser Landschaftsausbeutung profitierten. Wenn sie die Schwärme von Skifahrern, die dort über die Hänge kreuzten, und die Skidörfer mit ihren in der Sonne glänzenden Dächern betrachtete, von wo aus hektoliterweise Abwasser den Berg hinuntergeleitet wurde, erschien ihr der Beschluss der Regierung, die Cattlemen aus den Bergen zu vertreiben, während gleichzeitig die Erschließung der Region vorangetrieben wurde, noch absurder.

Die Skifahrer bekamen niemals zu sehen, welch tiefe Narben ihr Wintersport hinterließ. Sie kamen nie im Sommer und wussten daher nicht, wie der Boden zusammengepresst wurde, sodass die Pflanzen nur noch mit Mühe wachsen konnten. Selbst wenn der Schnee geschmolzen war und der Boden vom Schmelzwasser zu neuem Leben erweckt und von der Sonne erwärmt wurde, blieben die Hänge, die eigentlich grün leuchten sollten, braun und spärlich bewachsen.

Sie sah die Narben, die die Straßen und die Rollbahnen eines Flugfeldes hinterlassen hatten. Schon bald würde die Landschaft zusätzlich von weiteren Rohrleitungen zu einer Kläranlage und von noch mehr Dämmen für den erhöhten Wasserbedarf verschandelt. Sie sah die steilen Dächer der dicht gedrängt stehenden Wochenendhäuser rings um die kleinen Privatstraßen, die aussahen, als hätte man sie aus der Vorstadt in die Wildnis verpflanzt. Abrupt lenkte sie ihr Pferd weg.

»Kommt, Mädchen. Wir machen ein Feuer und trinken etwas Warmes. Wir haben es gleich geschafft.«

Obwohl ein frisch aufgestelltes Schild verkündete, was in diesem Gebiet inzwischen alles verboten war – darunter auch Haustiere, Feuerwaffen und Lagerfeuer –, ritten sie weiter auf eine funkelnagelneue knallgelbe Schranke zu. Der Anblick schmerzte Emily. Sie trieb Snowgum in einen lockeren Galopp und sprang, dicht gefolgt von Bonus, über den niedrigen Schrankenbaum. Die Ponys der Mädchen waren klein genug, um sich zwischen dem Schrankenpfosten und einem Fels durchzuquetschen, und folgten ihr, wobei Meg ihr Knie an dem Pfosten aufschrammte.

»Warum haben sie das hier aufgestellt?«, fragte sie ärgerlich.

»Weil jemand in Melbourne gesagt hat, dass das so sein muss«, antwortete Emily.

Sie ritten am Ostkamm abwärts, bis der Schnee so tief wurde, dass sie den Entschluss fällten, umzukehren und zu einem Schutzgebiet zu reiten, das ihre Großeltern angelegt hatten. Emily wäre gern auf die Lichtung geritten, auf der sie und Sam das letzte Mal den Rindern Salz gegeben hatten, beschloss aber, dass sie lieber in der Nähe des Bergkammes bleiben sollten. Das Wetter konnte jeden Moment umschlagen.

Auf dem Rückweg zur Schranke bog sie kurz vom Weg ab. Dann deutete sie auf das Schild, das ihr Dad angefertigt hatte.

»Darauf steht Flanaghan Reserve Nummer Fünf«, erklärte sie.

»Was ist eine Reverse?«, fragte Tilly.

»Eine Reserve«, korrigierte Emily. »Das ist ein Stück Land, das vor den Menschen und manchen Tieren geschützt wird, damit es gesund bleibt. In dem Gebiet hier liegt eine empfindliche Quelle, deshalb sollen hier keine Allradwagen, Rinder oder Menschen hinein.«

»Warum ist es die Fünf?«, fragte Meg.

»Weil es das fünfte Schutzgebiet ist, das eure Urgroßeltern angelegt haben. Insgesamt haben sie zehn Schutzgebiete auf diesem Berg ausgewiesen.«

Vor fast sechzig Jahren und damit Jahrzehnte, bevor irgendjemand in der Regierung etwas mit dem Begriff »Naturschutzgebiet« anfangen konnte, hatten Emilys Großeltern beschlossen, bestimmte Bereiche des Berges einzuzäunen. An manchen Stellen hatten die Zäune sogar die Allradenthusiasten abgehalten, die mit ihren Fahrzeugen anscheinend am liebsten durch Sumpflöcher, über steile, erosionsgefährdete Hänge und durch Flussfurten bretterten. Während die Rinder vielleicht nie wieder hier oben grasen durften, durften die Geländewagen, die zu Hunderten aus der Stadt und den umliegenden Regionen in die Berge einfielen, immer noch jeden Sommer durch den Park pflügen. Schutz der Wirtschaft um jeden Preis, dachte Emily sarkastisch.

Als sie auf das Schutzgebiet zuritten, sah sie zu ihrem Bedauern, dass ein Baum umgestürzt war und dabei einen Zaunpfahl mitgerissen hatte. Der Zaun lag schlaff auf dem Boden. Emily hielt die Pferde an.

»Sollen wir das für eure Urgroßeltern reparieren?«

Tilly und Meg nickten.

»Das dauert bestimmt nicht lang.« Sie sah zum Himmel auf, denn sie wusste, dass das Wetter bald schlechter würde.

Die Mädchen stiegen ab und banden ihre Ponys an, während Emily ein kleines Feuer machte und den Wasserkessel aufsetzte, frischen Schnee sammelte und ihn in den Kessel warf. Anschließend stellte sie die Tassen bereit, gab in jede einen Löffel Malzpulver und eine Prise Zucker.

Während die Mädchen glücklich ihr Milo tranken, besah sich Emily den Schaden, den der umgestürzte Baum angerichtet hatte. Bald durchschnitt das Knattern ihrer Kettensäge die Luft und die Stille der Berge, und wenig später hatte sie den knorrigen alten Eukalyptusbaum vom Zaun losgeschnitten. Als er krachend zersplitterte und sie die Reste mit dem Stiefel beiseiteschob, erkannte sie, dass der uralte Pfahl, den ihr Großvater in den Boden getrieben hatte, ebenfalls zersplittert war.

»So ein Mist«, sagte sie. Sie brauchte einen neuen Pfahl. Die Sache würde sich länger hinziehen. Andererseits saßen Tilly und Meg noch zufrieden am Feuer, und bis zum Einbruch der Dunkelheit war noch Zeit. Für den Rückweg zum Haus brauchten sie gute zwei Stunden, aber inzwischen waren die Pferde fit und an die Kälte gewöhnt, genau wie die beiden Mädchen. Außerdem stand nur eine halbe Stunde bergab eine kleine Hütte, falls sie tatsächlich stecken bleiben sollten.

Emily sah sich um. Im ehemaligen Cattleman-Schutzgebiet entdeckte sie keinen geeigneten Baum. Der eine war zu knorrig, der nächste hatte einen Astknoten und würde splittern. Alle anderen waren zu groß oder zu klein. Sie nahm eine Axt und ihre Kettensäge mit und hatte bald den richtigen Baum gefunden. Er stand nahe genug und hatte den perfekten Durchmesser. Sie machte sich daran, ihn zu fällen.

Als Luke Bradshaw und Giles Grimsley sich langsam über Lanky’s Plain vorarbeiteten, musste sich Luke alle Mühe geben, nicht jedes Mal »Wichser« zu denken, sobald sein Boss den Mund aufmachte. Andererseits musste er zugeben, dass einige der Geschichten, die ihm Giles über die Eskapaden der Cattlemen erzählt hatte, in Verbindung mit den wissenschaftlichen Daten über das Beweiden, mit denen Giles ihn ebenfalls versorgt hatte, ihn beinahe von der Notwendigkeit des Weideverbotes überzeugt hatten.

Luke und Giles hatten den Tag zusammen bei einer VPP-Konferenz im Skigebiet am Mount Hotham verbracht, und dabei hatte Luke ein paar sehr interessante Kollegen kennengelernt, was ihn darin bestätigt hatte, dass ein paar ausgesprochen kluge Köpfe für ihre Organisation arbeiteten. Es waren Leute seines Alters, die ihre Arbeit mit Spaß und Begeisterung betrieben. Alle hatten sich die Bäuche vollgeschlagen und sich dann noch ein paar Gläser Wein oder Bier gegönnt, bevor Giles verkündet hatte, dass es Zeit zum Aufbruch sei.

Obwohl wegen des starken Schneefalls die High Plains Road nach Dargo geschlossen war, hatte Giles darauf bestanden, dass Luke sie nahm, weil das zu seinem Allrad-Fahrtraining für den Job gehöre. Voller Stolz hatte er verkündet, dass es ihnen als registrierten VPP-Mitarbeitern gestattet sei, auch während der Park-Schließungszeiten die Dargo High Plains zu betreten. Luke wusste, dass Giles sein Amt als kommissarischer Regionsmanager bald wieder abgeben musste und seine Privilegien bis dahin nach Kräften auskostete. Mehrmals hatte er davon gefaselt, wie angenehm es doch sei, einen Dienstwagen zu haben und nicht immer an seinem Schreibtisch in Melbourne sitzen zu müssen. Außerdem hatte er sich immer wieder über ihre Fahrt ins Wonnangatta ausgelassen. Er hatte Luke erklärt, dass die Bußgeldbescheide bestimmt bald verschickt würden, und ihm dann die neue Gesetzeslage und die Pläne für den Park erläutert.

»Es war mir ein Vergnügen, dich unter meinen Fittichen zu haben.« Seine Nase war nach dem Wein zum Mittagessen immer noch gerötet. Luke ertrug die herablassenden Belehrungen geduldig, so wie er früher auch Cassys Befehlston ertragen hatte. Er tröstete sich damit, dass er in ein paar Tagen erlöst wäre. Giles würde schon bald nach Melbourne zurückkehren und dort die Karriereleiter wieder hinunterpurzeln. Dann könnte Luke in Frieden seinen Job erledigen, was er in Zukunft hauptsächlich von der Niederlassung in Heyfield aus erledigen könnte, während er deutlich seltener draußen im Busch arbeiten würde.

Die Straße nach Dargo zurück war halbwegs befahrbar gewesen, bis sie zum Mount Freezeout gekommen waren, wo der Schnee tiefer lag und die Reifen trotz des Allradantriebs durchzudrehen begannen. Giles freute sich wie ein Schneekönig, dass er endlich die neuen Schneeketten aus seinem Offroad-Kit holen konnte.

»Wir werden wahrscheinlich erst spätnachts heimkommen«, meinte er zu Luke. »Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Die Überstunden werden bezahlt.«

Luke warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Er war noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass er mehr Geld bekommen sollte, wenn er länger arbeitete. Auf der Farm wurde grundsätzlich bis zum Einbruch der Dunkelheit gearbeitet oder bis die anfallende Arbeit erledigt war, dort hatte niemand je von Überstunden geredet. Beim VPP hingegen ermahnten ihn alle, täglich genau sieben Stunden und sechsunddreißig Minuten zu arbeiten. Die sechs Minuten zusätzlich brachten ihm offenbar alle vierzehn Tage einen freien Tag ein. Luke verstand trotzdem nicht, wie man alles stehen und liegen lassen konnte, sobald die offizielle Arbeitszeit abgelaufen war, selbst wenn die anstehende Arbeit in nur einer Stunde zu bewältigen war. Auf dem Land gab es keine Stechuhren.

Als sie durch den tiefen Schnee auf einem Bergkamm fuhren, sah Luke Rauch zwischen den Bäumen in den winterblauen Himmel aufsteigen.

Er machte Giles darauf aufmerksam.

»Was in Dreiteufelsnamen? Camper hier draußen! Zu dieser Jahreszeit! Während der Schließungszeiten? Bieg ab, Junge. Bieg sofort ab!«, kommandierte Giles wie ein alter Fregattenkapitän.

Zuerst entdeckten sie die beiden kleinen Mädchen, die am Lagerfeuer saßen. Luke war genauso erschrocken wie Giles, sie hier zu sehen.

»Wie kann man Kinder nur unter so gefährlichen Bedingungen hierherbringen!«, ereiferte sich Giles. Dann sahen sie Emily ein Stück abseits zwischen den Bäumen mit der Kettensäge hantieren.

»Sie muss verrückt sein. Und sie fällt einen Baum im Nationalpark! Ich glaube, es ist dieselbe Frau, die im Wonnangatta die Kühe vor uns verstecken wollte. Eine typische Flanaghan. Nichts als Ärger!«

»Ja, ich glaube, das ist sie.« Luke spürte, wie er bleich wurde.

Rousie legte die Ohren an, um sich vor dem Lärm der Motorsäge zu schützen. Das infernalische Knattern übertönte sogar die Motorengeräusche des Wagens, der an der Schranke angehalten hatte. Bis der Baum endlich mit einem lauten, über das ganze Tal hallenden Krachen fiel, hatte das mit Schneeketten ausgerüstete Rangerfahrzeug bereits vor dem Lagerfeuer angehalten. Als Emily die Motorsäge ausschaltete, hörte sie Türen schlagen und sah verdattert auf.

Als sie sah, dass Luke ausgestiegen war, holte sie gleichzeitig entsetzt und nervös Luft. Dann bemerkte sie den älteren VPP-Mann, den Rothaarigen, der auch im Wonnangatta gewesen war, und sah seine ernste Miene. Sie wollte die beiden begrüßen, doch Luke hatte das Gesicht abgewandt und schien vollauf damit beschäftigt, die Rangerjacke, einen Hut und Handschuhe anzuziehen und sein Notizbuch zu zücken.

Gemeinsam kamen die beiden Männer in den Hufspuren der Pferde auf Emily zu, dabei sahen sie ungeheuer amtlich und ernst aus.

»Was tun Sie da?«, fragte der Rothaarige.

Emily wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als sie spürte, wie die Erde unter ihren Füßen zu pulsieren begann und Wärme durch ihren Körper strahlte, bis zornige Energie in ihr glühte. Sie dachte kurz an Evie, ihre Urgroßmütter Emily Flanaghan und Joan Flanaghan. Mit hoch erhobenem Kopf erwiderte sie laut, aber freundlich: »Was ich hier tue? Also, zuerst einmal begrüße ich Sie auf höfliche, altmodische Art, wie man es im Busch immer tun sollte.« Sie streckte die Hand aus. »Emily Flanaghan, sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mr …?«

Der Mann sah auf ihre Hand, als würde sie nach totem Fisch stinken.

Eilig mischte Luke sich ein. »Emily, das ist Mr Giles Grimsley, kommissarischer Regionsmanager im VPP

Er konnte nicht glauben, dass er ausgerechnet sie hier aufspüren musste. Ihre Töchter starrten ihn mit großen runden Augen an und hatten unverkennbar schreckliche Angst, dass ihre Mutter in Schwierigkeiten kommen könnte. Luke sah den Wallach, den er ihr verkauft hatte, von der Arbeit gestählt, gut genährt und mit einem Paar Packtaschen beladen an einem Baum stehen. Er schluckte nervös. Er wusste genau, dass es zu einer hässlichen Szene kommen würde.

Inzwischen hatte sich Giles vor Emily aufgebaut und durchbohrte sie mit zornigen Blicken. »Wissen Sie nicht, dass es strafbar ist, in einem Nationalpark Bäume zu fällen? Was haben Sie sich dabei gedacht?«

»Sieht man das nicht?« Sie deutete auf den am Boden liegenden Zaunpfahl. »Ich habe einen Baum gefällt, weil ich einen neuen Pfahl brauchte. Für das Schutzgebiet.«

»Aber es ist strafbar, im Nationalpark einen Baum zu fällen.«

Emily sah erst ihn ungläubig an und dann Hilfe suchend auf Luke. Doch der wich weiterhin ihrem Blick aus.

»Ich kann doch schlecht bis nach Bunnings runterfahren, um mir dort einen Zaunpfahl zu besorgen, oder?«, protestierte sie. »Nicht, wenn ich hier im Busch das perfekte Holz finden kann!«

»Sie haben in diesem Gebiet keine Zäune zu ziehen«, erklärte ihr Giles.

Emily sah wieder auf Luke, aber der sah weiter verlegen zur Seite. Würde er wirklich tatenlos zusehen?

»Ich bitte um Entschuldigung.« Zorn schlich sich in ihre Stimme. »Aber ich bin sehr wohl für diesen Zaun verantwortlich. Meine Großeltern haben das Schutzgebiet angelegt, um die Quelle in dem Dickicht dort drüben zu schützen. Ich betrachte es als meine Verantwortung, das Werk meiner Vorfahren zu bewahren und die Quelle auch weiterhin zu schützen.«

»Ihre Familie hat auf dieses Land keinen Anspruch mehr«, stellte Giles selbstzufrieden fest. Jahrelang hatte er von seinem Büro aus diese Cattlemen bekämpft. Dass er jetzt eine von ihnen in freier Natur gestellt hatte, die ihm auch noch mit solcher Arroganz entgegentrat, brachte sein Blut zum Kochen.

»Ich beanspruche dieses Land auch gar nicht«, schoss Emily zurück. »Ich will nur dafür sorgen.«

»Indem Sie die Bäume darauf fällen?«, fragte Giles sarkastisch. »Leute wie Sie behaupten nur, dass sie die Umwelt schützen wollen. Wenn Ihnen wirklich etwas an diesem Land liegen würde, würden Sie Ihre Kinder, Ihre Pferde und Ihre Rinder nehmen und von diesem Berg verschwinden!«

Emily blieb der Mund offen stehen.

»Arschloch«, sagte sie, bevor sie sich versah. Sie sah, wie er den Kiefer anspannte und Hass in seinem Gesicht aufblitzte.

Giles nahm Luke beiseite und redete leise auf ihn ein. Luke nickte mit ernster Miene und schrieb etwas in sein Notizbuch.

Dann wandten sich beide wieder ihr zu.

»Wenn Sie mich weiterhin beleidigen, wird sich die Polizei der Sache annehmen müssen«, verkündete Giles. »Außerdem gefährden Sie das Leben Ihrer Kinder, indem Sie sie während der Parkschließungszeiten in eine so abgelegene und wilde Gegend bringen. Womit sich die Frage stellt, ob Sie Ihrer Fürsorgepflicht als Mutter überhaupt nachkommen können.«

Emily fehlten vor Wut die Worte. Wusste dieser Mann nicht, dass die Flanaghans ihre Kinder seit Generationen in diesen Bergen großgezogen hatten? Wusste er nicht, dass in ihrer Familie die Jungen schon mit neun Jahren Packpferde durch den Schnee geführt hatten, um den hungrigen Minenarbeitern Lebensmittel und die Post zu bringen?

Wie konnte er andeuten, dass sie mit dem Leben ihrer Kinder spielte? Sie wusste, dass ihnen nichts passieren würde. Sie hatte jedes nur erdenkliche Szenario berücksichtigt und Vorkehrungen dafür getroffen. Außerdem hatte sie ihre Tiere dabei, die dem Leben im Busch bestens angepasst waren. Rousie und die Pferde würden sie in jedem Fall sicher nach Hause bringen. Die Arroganz und Ignoranz dieses Schreibtischhengstes ließen sie vor Wut beben.

Giles trat einen Schritt zurück. »Mein Kollege Mr Bradshaw wird Sie jetzt davon in Kenntnis setzen, gegen welche Parkvorschriften Sie verstoßen haben.«

Luke begann mit düsterer Stimme und gesenktem Kopf aus seinem Notizbuch vorzulesen. Emily sah auf das Gesicht, das sie früher so schön gefunden hatte, auf die Lippen, die sie geküsst hatte und so gern noch einmal geküsst hätte, und hörte ihn mit monotoner Stimme rezitieren:

»Hunde sind im Park nicht erlaubt. Für diesen Verstoß gegen die Parkvorschriften wird Ihnen ein Bußgeld auferlegt. Das Fällen eines Baumes innerhalb des Parks gilt als schweres Vergehen. Auch dafür wird Ihnen ein Bußgeld auferlegt. Sie haben gegen die Sicherheitsbestimmungen des Parks verstoßen, indem Sie ohne Genehmigung ein für die Öffentlichkeit gesperrtes Gebiet betreten haben. Das Mitführen von Kindern ist ein schwerer Fall von Vernachlässigung, über den die Polizei und das Jugendamt informiert werden.«

»Jetzt halt mal die Luft an!«, fiel ihm Emily ins Wort. »Meine Kinder? Willst du allen Ernstes behaupten, ich würde meine Kinder vernachlässigen, Luke? Das kannst du nicht allen Ernstes anzeigen! Und wenn … Du kannst doch nicht …« Ihr versagte die Stimme.

»Ruhe, Ms Flanaghan!«, schnauzte Giles sie an. »Lassen Sie meinen Kollegen aussprechen.«

Emily traute ihren Ohren nicht. Verzweifelt und mit Tränen in den Augen versuchte sie, einen freundlichen Blick von Luke aufzufangen. Stattdessen las er immer weiter aus seinem dämlichen grünen Notizbuch vor.

»An einer nicht gekennzeichneten Stelle Feuer zu machen, stellt einen weiteren Verstoß dar. Insgesamt belaufen sich die Bußgelder auf 2312 Dollar, eine Anhörung wird noch stattfinden.« Anschließend begann er sie über ihre Rechte aufzuklären. Als er fertig war, gab er sich alle Mühe, seine stählerne Miene aufrechtzuerhalten, doch Emily meinte zu sehen, wie sehr die Scham darunter brannte. Er konnte ihr immer noch nicht in die Augen sehen. Sie merkte, wie Zorn in ihr aufloderte. Ein eisiger Windstoß fegte über sie hinweg und wirbelte weiße Schneewolken auf, die alles um sie herum überzogen. In Emily wirbelten Zorn und Angst ebenso wild auf.

»Wie kannst du das tun? Wie kannst du dich dafür hergeben?«, fragte sie leise und versuchte, Luke dabei anzusehen. Sie war am Boden zerstört. Dabei wollte sie doch nur das Beste: für das Land und im Andenken an ihre Vorfahren, die sich vor ihr darum gekümmert hatten. Sie zahlte ihre Steuern. Sie respektierte ihre Mitmenschen. Wie konnte Luke sie und ihre Kinder nur so bedrohen? Und wie konnte Giles Grimsley behaupten, dass die Cattlemen nicht die Umwelt schützten, wo ihre Vorfahren über Generationen hinweg die Natur bewahrt hatten, lange bevor das schick geworden war? Sie musste sich hier, an einer für sie fast geweihten Stätte, wie eine Kriminelle vorführen lassen. Und ihre Kinder zu bedrohen! Wie konnte Luke nur für Giles Partei ergreifen und sie mit Füßen treten, wenn sie schon am Boden lag? Wochenlang hatte sie nichts mehr von Clancy gehört – als würden seine Mädchen nicht mehr für ihn existieren. Dass er sie so im Stich ließ, schmerzte sie immer noch. Und jetzt behandelte Luke sie genauso. Bedeutete es ihm gar nichts, dass sie ein Liebespaar gewesen waren?

Emily rief Meg und Tilly zu: »Kommt, Mädchen. Überlassen wir diesen Herrschaften ihren Park.«

»Sie hören von uns, Ms Flanaghan«, verkündete Giles Grimsley grimmig und streckte ihr den Strafzettel hin.

Emily riss ihm den Zettel aus der Hand. Das Wetter wurde von Minute zu Minute schlechter, darum zog sich Giles lieber in den geheizten Geländewagen zurück und wartete dort auf Luke. Der aber blieb im eisigen Schneesturm stehen und beobachtete, wie Emily ihre Ausrüstung auf den Wallach packte, den er ihr verkauft hatte. Im Rücken spürte er den scharfen Blick seines Vorgesetzten, der jede seiner Bewegungen verfolgte. Nachdem Emily ihn mit seinem Vornamen angesprochen hatte, ahnte Giles bestimmt, dass er mit den Einheimischen fraternisiert hatte. Mit finsterer Miene sah er zu, wie die Mädchen behände das Feuer löschten, den Teekessel und die Proviantdosen in ihren Satteltaschen verstauten und sich auf ihre Ponys schwangen. Emily stopfte geschickt ihre Werkzeuge in Bonus’ Packtaschen und schnürte sie fachmännisch zu. Dann schwang sie sich auf Snowgum. Sie griff die Zügel und ritt so dicht an Luke vorbei, dass sie ihn fast umgeworfen hätte. Den Blick hatte sie eisern auf den Mann im Auto gerichtet, der verächtlich zurückstarrte.

Sie wusste, dass sie die Männer bei diesem Wetter zum Hauptweg zurücklotsen sollte, aber sie war zu wütend, um ihnen das anzubieten. Stattdessen trieb sie Snowgum in einen lockeren Galopp und setzte mit ihr und Bonus über die Schranke. Ihre Mädchen nahmen ihren ganzen Mut zusammen und taten es ihrer Mutter nach, wobei das kleinste Pony haarscharf mit der Spitze des Hinterhufes über den gelben Balken schrammte. Dann ritten sie, so schnell sie konnten, durch den Schnee davon, so als könnten sie es kaum erwarten, von den beiden strengen und angsteinflößenden Männern wegzukommen. Als sie vom Weg abbogen und zwischen den Bäumen verschwanden, kämpfte Emily gegen die Tränen an. Aber ihr blieb keine Zeit, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Der Schneesturm nahm ihr jede Sicht. Sie sah nur knapp über die Ohren ihres Pferdes hinaus. Pfeif doch drauf, dachte sie. Emily zog den Hut in die Stirn und schlug den Kragen hoch. Sie lächelte. Sie wusste, dass Snowgum sie sicher über die gewundenen Reitpfade nach Hause führen würde, wenn sie der alten Stute nur ihren Willen ließ. Hier kannte sie sich aus. Hier war sie zu Hause.