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Flo Flanaghan strich sacht über die Ohren ihres drahthaarigen Mischlingshundes. Trotzdem hörten ihre ledrigen Hände nicht auf zu zittern. Seit Rods Anruf war sie völlig aufgelöst. Er hatte ihr aus dem rauschenden Handy heraus erklärt, dass Emily mit dem Hubschrauber nach Melbourne ins Krankenhaus geflogen wurde. Flo hatte sich den Finger ins Ohr gesteckt, um das Muhen der Hereford-Kälber auszublenden, die überall nach ihren Müttern blökten, und sich dann so gut wie möglich auf Rods Stimme konzentriert. Sie hatte etwas von einer kollabierten Lunge verstanden, die Druck auf Emilys Herz ausübte, oder von einer stumpfen Herzverletzung oder irgendwas anderem, was sich ungeheuer blutig anhörte. Flo wusste es nicht mehr. Sie wusste nur, dass es schlimm klang und dass sie ganz krank vor Sorge um ihre Nichte war.

Mit zusammengekniffenen Augen sah sie über die Pferche hinweg, wo ihr Kater Muscles auf einem Pfosten thronte, seine weißen Pfoten leckte und zu der baumbestandenen Anhöhe sah. Flo schob sich die Kappe in den Nacken und hielt Ausschau nach einem Lieferwagen oder einem Pferdeanhänger. Rod hatte ihr eröffnet, dass sie Snowgum nach Hause bringen würden, vor allem wegen Emily. Er hatte Flo erklärt, es sei völlig offen, ob die Stute durchkommen würde oder nicht, außerdem würde sie die Heimreise halb narkotisiert und mit Schmerzmitteln vollgepumpt antreten. Als Flo vorgeschlagen hatte, den Tierarzt in Brigalow anzurufen, hatte Rod geantwortet, wahrscheinlich bräuchten sie eher einen Schaufelbagger, um ein Grab für sie auszuheben, sobald sie zu Hause eintraf. Erst an diesem Punkt ihres Gesprächs hatte es Flo mit der Angst zu tun bekommen. Sobald sie aufgelegt hatten, hatte sie angefangen zu beten, dass Snowgum es lebend nach Tranquility zurückschaffen würde. So unlogisch das auch war, sie hatte genau wie ihr Bruder Rod das Gefühl, dass alles wieder ins Lot kommen würde, wenn nur die Stute überlebte. Dass dann auch Emily lebend zurückkommen würde.

Jetzt stellte sich ihr anderer Bruder Bob zu ihr an den Pferch und blickte genau wie sie auf die staubige Schotterpiste.

»Wenn das Pferd abkratzt, haben die Hunde heute Abend was zu feiern«, sagte er. Flo schoss einen giftigen Blick auf ihn ab. Ihr Bruder war selbst an seinen besten Tagen ein sarkastischer Miesepeter. Am liebsten hätte sie ihm gleich hier am Rinderpferch eine runtergehauen, und früher hätte sie das wohl auch getan.

»Ach, halt einfach den Rand, Bob«, sagte sie stattdessen. Er konnte sie jederzeit mit einem einzigen Satz auf die Palme bringen. Tief im Inneren wusste sie, dass er mit der derben Sprücheklopferei nur seine Ängste überspielte, weil auch sein Herz an Emily und ihrer Stute hing. Aber hätte er in so einer Situation nicht einmal nett sein können? Sie hatte ihn schon fast den ganzen Nachmittag ertragen, während sie mit ihm die Rinder markiert hatte. Bob bot nur selten seine Hilfe an, darum hatte sie sie widerstrebend angenommen, auch weil sie gehofft hatte, dass er dabei aus seinem Schneckenhaus kommen würde. Sie hätte es besser wissen müssen. Die ganze Zeit hatte er nur gegen das Tieridentifikationsgesetz gewettert, das den Schafs- und Rinderfarmern zusätzliche Arbeit aufbürdete. Inzwischen musste jedes Tier auf einer Farm elektronisch markiert werden, damit die Herkunft von der Tränke bis zur Theke nachgewiesen werden konnte. Flos Notizbuch hatte im Wind geflattert wie ein panisches Vögelchen, während sie darauf gewartet hatte, dass Bob mit seinen Stummelfingern die kleinen runden Plastikscheiben in den Apparat pfriemelte.

»Dämliche windige Drecksdinger«, hatte er geknurrt. »Wenn ich den Schreibtischhengst erwische, der sich das ausgedacht hat, zerre ich ihn an den Ohren hierher und markiere ihn mit dem Scheißding.«

»Mach einfach weiter, Bob. Welche Nummer?«

Er versuchte, den winzigen Aufdruck zu entziffern.

»Ist das ein besch … eidenes E oder eine Acht?«

»Sch … eibe, woher soll ich das wissen?«, seufzte Flo. »Ich gehe meine Brille holen.« Sie kletterte über den Zaun und machte sich auf den Weg zu ihrem Pick-up. Acht Jahre lang hatte sie sich bemüht, es Bob nicht zu verübeln, dass er nach dem Tod ihrer Eltern das meiste und beste Land geerbt hatte. Er war der älteste Sohn, daher war das sein Anrecht, aber wenn Flo ihn so sah, mit dem Bierbauch unter dem blauen Trägerunterhemd und der himbeerroten Schnapsnase, fragte sie sich unwillkürlich, wie ihre Eltern einem Mann wie ihm den Großteil ihres Landes und Viehs hinterlassen konnten. Tradition, schnaubte sie abfällig. Dämliche, blinde Tradition, derzufolge die Farm automatisch dem ältesten Sohn zufiel.

Wenigstens waren sie so vernünftig gewesen, ihr und Rod ein Drittel des Landes zu überschreiben, damit sie sich ihr Überleben sichern konnten, außerdem lief die Genehmigung für die Nutzung der Weideflächen auf dem Hochland auch auf ihren Namen. Solange Flo genug Geld hatte, um die Rechnungen zu bezahlen, solange sie sich ab und zu ein Essen im Pub gönnen und sich alle zehn Jahre einen neuen Pick-up kaufen konnte, war sie glücklich. Die Flanaghans hatten sich nie wie Landadelige aufgeführt. Sie waren Arbeiter, die sich über mehrere Generationen hinweg hochgearbeitet hatten, bis sie die größten Rinderzüchter in den Bergen geworden waren.

Jede Generation hatte den Lebensstandard Stufe um Stufe erhöht, waren im Laufe der Generationen von einer Hütte in ein richtiges Heim gezogen, trotzdem hätte kein Flanaghan sein Geld für schicke Möbel oder Autos ausgegeben. Sie legten es lieber in Zuchtbullen und Arbeitspferden an. Ihr Stammsitz »Tranquility« bei Dargo war von unvergleichlicher Schönheit; 2500 Hektar an grasbewachsenen Hügeln und buschbedeckten Weiden entlang der üppigen Flussebene, die sich beiderseits des Dargo River erstreckte. Bäche hatten sich durch Granitklippen geschnitten, die die Abend- und Morgensonne einfingen wie ein klassisches Meisterwerk. In den Gewässern wimmelte es von Forellen und winzigen einheimischen Wassertieren. Der Fluss verlieh allem Herz und Seele.

Weil Rod als Einziger von den Geschwistern Kinder bekommen hatte, hatten die Eltern ihm das weitläufige, weiß vertäfelte Bauernhaus hinterlassen, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut worden war. Es stand über einer Flusswiese, wurde von den leichten Winden gekühlt, die über den großen, mit Schmelzwasser gefüllten Stausee wehten, und von einer tiefen, vorn herabgezogenen Veranda vor der glühenden Sonne und den eisigen Winterwinden geschützt. Es war ein bezauberndes altmodisches Heim, hatte aber inzwischen eine gewisse Patina angesetzt und erinnerte an eine gealterte Schönheit. Rod versprach jedes Jahr wieder, dass er es endlich streichen würde, und jedes Jahr wurden die Arbeiten verschoben, weil kein Geld da war.

Das Gleiche ließ sich über Flos Haus sagen. Sie lebte ein Stück entfernt an derselben Straße, nahe den Viehpferchen in einer ehemaligen Arbeiterhütte, die sie mit den geliebten alten Möbeln ihrer Eltern wohnlich gemacht hatte. Sie lebte dort zufrieden und glücklich mit ihren Arbeitshunden und ihrem dicken Kater Muscles. Die Tiere hatten die Stelle der Kinder eingenommen, die sie nie bekommen hatte.

Hinter dem Haus erhob sich das spektakuläre Panorama der Berge, die den anderen Teil der Flanaghan’schen Ländereien bildeten. Achtzig Kilometer entfernt an einer manchmal staubigen und immer von Schlaglöchern übersäten Bergstraße besaß Bob jetzt weitere 400 Hektar der besten Bergweiden, die man sich nur vorstellen konnte. Gemeinsam gehörte ihnen das handgezimmerte Bergbauernhaus, das inzwischen hundert verschneite Winter überstanden hatte, aber dass Bob das Land in den Bergen geerbt hatte, war immer noch ein wunder Punkt. Umgeben war das Land der Flanaghans von den atemberaubenden Dargo High Plains. Wenigstens teilten sich Rod und Flo die Genehmigung, ihre Rinder dort auf 40 000 Hektar weiden lassen zu dürfen. Dieses Recht war Flos Urgroßmutter Emily vor hundertfünfzig Jahren von der Regierung zugesichert worden, seither trieb die Familie jedes Jahr, sobald es wärmer wurde, das Vieh vom Tiefland auf die Hochebene. Natürlich eigneten sich nicht alle Gebiete in den Bergen für die Beweidung durch Rinderherden, aber immerhin konnte die Familie ihr Vieh auf die Sommerweiden treiben, sobald der Schnee geschmolzen war und die einheimischen Gräser erholt und neu belebt aus dem fruchtbaren Boden sprossen.

Flo und Rod liebten dieses Land, die Uferflächen im Tiefland genauso wie die Weidegebiete auf den High Plains, während sich Bob nur mit Mühe damit anfreunden konnte. Er hielt sich kaum je in der Hütte auf, die sie sich auf der Hochebene teilten. Obwohl Bob die Bergweiden und dazu ein Drittel der besten Flächen im Tiefland geerbt hatte, fühlte er sich von Jahr zu Jahr benachteiligter. Er besaß so viel Land und so viel Vieh … und konnte trotzdem kein Geld verprassen!

Statt wie ein Hund zu arbeiten, begann er wie ein Fisch zu trinken. Im gleichen Maße, wie es mit ihm bergab ging, ging es auch mit seiner Farm bergab: Die Zäune hingen durch, der Boden war übernutzt und erodierte, und die Felle der Rinder wirkten matt und spröde, weil die Tiere auf ausgelaugten Wiesen grasen mussten. Seine Hochlandweiden verunkrauteten allmählich und sahen übersäuert aus, weil sie überweidet waren. Es waren Cattlemen wie Bob, die alle Rinderzüchter in Verruf brachten. Immer wenn Flo und Rod ihm zu helfen versuchten, das Land, das ihre Eltern einst besessen hatten, in Ordnung zu halten, brachte Bob sie mit seiner Arroganz zur Weißglut.

Flo zog ihre Hand von Useless’ Ohr zurück und begriff im selben Moment, dass sich der Hund in einem frischen Kuhfladen gewälzt hatte.

»Ach Scheiße, Useless.« Ärgerlich wischte sie sich die Hände an den speckigen Jeans ab.

»Scheiße trifft es«, kommentierte Bob und drehte sich eine Zigarette. Er hob ein Bein an, kniff das knallrote Gesicht zusammen und ließ beim Anzünden einen langen, geräuschvollen Wind wehen.

»Jesus«, sagte er aus dem Mundwinkel. »Wenn ich nicht aufpasse, jag ich mich irgendwann noch selbst in die Luft.«

»Ach, mach’s dir doch selbst, Bob.« Flo begriff, dass die Thermoskanne, aus der er den Nachmittag über getrunken hatte, nicht mit Tee gefüllt war. Sie erkannte das daran, dass er die Augen zusammenkniff und leicht ins Schwanken kam, als er an seiner Zigarette zog. Kein Wunder, dass er sich aufführte wie ein Vollidiot. Bob und Alkohol waren keine gute Paarung.

»Was nervt dich so?«, fragte er und blies den Rauch in die Luft.

Flo schüttelte den Kopf und begann zu ihrer Überraschung zu weinen.

»Emily.« Die Tränen zogen schmale Spuren über ihre Wangen. Sie ging zum Geländer, lehnte sich dagegen, ließ den Kopf auf die Unterarme sinken und schloss die Augen. Sofort stand ihr Emilys Gesicht vor Augen. Auf Rods Bitte hin hatte Flo ihre Nichte praktisch großgezogen. Nach dem Tod ihrer Mutter Suzie war das kleine dunkelhaarige Mädchen mit den glänzenden kakaobraunen Augen in Flos Leben getappt und hatte sich dort eingenistet. Flo hatte sich nie für besonders mütterlich gehalten, darum war es ihr anfangs eher unheimlich gewesen, als Rod ihr stillschweigend seinen neugeborenen Sohn Sam in die Arme gelegt und Emily zu ihr geschickt hatte. Flo war wie versteinert stehen geblieben, überwältigt von Panik und Trauer, während sich ihr gebrochener Bruder abgewandt hatte, um Suzies Trauerfeier zu organisieren. Jetzt sollte sich all das wiederholen. Während Suzie damals in einem Buschkrankenhaus gestorben war, ohne dass irgendein Arzt in Rufweite gewesen wäre, kämpfte Em jetzt in einem Hubschrauber auf dem Weg in ein Stadtkrankenhaus um ihr Leben.

»O Mann, Flo! Hör auf, hier rumzuflennen wie ein Waschweib«, knurrte Bob. »Die wird schon wieder. Sie ist ein zähes Biest, unsere kleine Emily.« Er schlug unbeholfen auf Flos Schulter. Erleichtert, dass er wenigstens etwas Mitleid zeigte, nickte sie schniefend. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken die Nase und lachte über sich und ihn. O ja, dachte sie und sah an ihrem drahtigen Körper in Männerkleidung herab, sie war tatsächlich eher ein Kerl als eine Sheila.

Flo Flanaghan war nicht unattraktiv, aber sie war drahtig und zäh, so als läge unter ihrer wettergegerbten Haut blanker Stahl. Sie hatte einen kantigen Körper und ein markantes Gesicht mit glühenden mandelförmigen Augen, aber sie ging breitbeinig wie ein Mann, spreizte beim Sitzen die Beine und hielt ihre Teetasse, als wäre es ein Schraubenschlüssel. Manche, die sie nur flüchtig kannten, behaupteten, sie sei ein verkleideter Kerl und hätte ihr Ding zwischen die Beine geklemmt. Sie sah komisch aus, wenn sie ein Kleid trug, und schien, wenn sie tatsächlich einmal eins angezogen hatte, nicht zu wissen, wie sie sich darin bewegen sollte. Ihre sehnigen Beine waren nach vielen Jahren im Sattel nach außen gebogen. Ab und an stieg sie mit ihren dürren Stelzen über einen Viehhändler oder einen übergewichtigen Traktorfahrer, nur um den Dummschwätzern im Pub zu beweisen, dass sie keine Lesbe war.

»Du hast recht«, sagte Flo. »Emily ist zäh. Aber ich möchte trotzdem, dass du dich jetzt verpisst. Wir markieren die Tiere morgen fertig.«

Bob zuckte mit den Achseln, nahm noch einen Zug und trat die Kippe dann in einem Kuhfladen aus. »Wie du meinst. Dann fahr ich jetzt heim.«

Flo sah ihm nach, während er zu seinem schlammverkrusteten Pick-up stapfte. Er sah aus wie Shrek – breite Schultern, kein Hintern und dünne Beine. Auf der Ladefläche begann DD, kurz für Dickhead Dog, wie verrückt zu bellen, sobald Bob den Motor anließ und davonbrauste.

Bobs Heim war das neue Ziegelhaus, das sich ihre Eltern als Alterssitz gebaut hatten. Es stand nicht weit vom ursprünglichen Farmhaus entfernt, aber immerhin außer Sichtweite. Der Garten von Flos Mutter war einst einladend und grün gewesen; mittlerweile war nur noch ein Gestrüpp aus langen toten Gräsern und Drahtschlingen geblieben. Auf der Veranda lagen kaputte Flaschen herum, und durch den Hinterhof wehte der Müll.

Flo ließ gerade die letzte Kuh aus dem Pferch, als ein LKW heranrumpelte und mit einem lauten »Pff« der hydraulischen Bremsen vor dem Schuppen zum Stehen kam. Flo wappnete sich für den Anblick, der sich ihr auf der Ladefläche bieten würde.

»Danke, dass du sie vorbeigebracht hast«, rief sie dem alten Cattleman zu.

»Vielleicht hat sie’s nicht geschafft, dann wirst du mir gleich nicht mehr danken«, sagte er und humpelte auf sie zu. »Große Hoffnungen hat sich keiner gemacht. Aber wir haben beschlossen, dass wir wenigstens versuchen, sie am Leben zu halten – für Em.«

Sobald Emilys Name fiel, senkte sich in der stillen Abendluft eine Wolke von Angst und Ungewissheit über sie. Flo wusste, dass Baz jetzt daran dachte, wie großzügig und leichtherzig Emily jeden mit einem Lächeln beschenkte und wie fröhlich sie allen begegnete. Eine Welt ohne sie war undenkbar. Langsam gingen sie zur Ladeklappe des Lasters. Schweigend verfolgten sie, wie sich die Klappe senkte, denn beide rechneten damit, die Stute tot am Boden liegend vorzufinden.

»Ja, leck mich doch«, sagte Baz.

Snowgum stand mit gespreizten Beinen vor ihnen und hatte den Kopf so tief gesenkt, dass die Nüstern fast die Gummimatte im Laderaum berührten. Sie atmete noch, doch sie holte so mühsam und kläglich Luft, dass sie rhythmisch grunzte. Ihre Flanken sahen aus, als hätte jemand die Haut mit der Käseraspel abgehobelt, und ihr schneeweißes Fell war blutbedeckt, glänzend und aufgeschürft. Als das Licht in den Laderaum fiel, drehte sie langsam den Kopf und begrüßte Flo halb wiehernd, halb stöhnend.

Flos Augen füllten sich beim Anblick der geschundenen, blutigen Stute mit Tränen.

»Braves altes Mädchen. Jetzt bist du daheim, jetzt bist du daheim.«

Sie stieg in den Laster und legte die Handfläche auf den schweißverkrusteten Hals der Stute. Gott, was hatte das arme Tier durchmachen müssen? Wie hatte sie sich nur so lange aufrecht halten können? Einen flüchtigen Augenblick dachte Flo, dass es grausam und egoistisch gewesen war, sie auf die lange Reise über die Berge zu schicken. Man hätte ihr den Gnadenschuss geben sollen. Und wenn das Pferd schon in diesem Zustand war, wie mochte dann Emily aussehen? Flo unterdrückte ein Schluchzen. Baz schlurfte zu ihr, hob ihre Hand von Snowgums Fell und drückte sie tröstend.

»Wo Leben ist, ist auch Hoffnung, sagt man.« Er tätschelte ihren Handrücken. »Komm, Mädel, wir holen sie vom Laster.«

Snowgum aus dem Laderaum zu schaffen war kein leichtes Unterfangen. Die Stute war wie erstarrt. Die zerschundenen Muskeln waren angeschwollen und inzwischen so steif, dass sich das Tier kaum umdrehen und aus dem Laderaum gehen konnte. An der Rampe scheute die Stute und stöhnte tief auf, als könnte sie keinen Schritt mehr tun. Flo schlug die Hand vor den Mund, als die Abendsonne die grausige Wahrheit über Snowgums Verletzungen ans Licht brachte. Ihre Haut war über weite Strecken abgeschält, an einer Stelle klaffte eine tiefe Wunde, die wahrscheinlich ein Ast gerissen hatte. Offenbar hatte ein Tierarzt sie noch an der Rennstrecke notdürftig zusammengeflickt, aber die hässlichen braunen Jodflecken trugen nicht dazu bei, den Anblick der Wunden, die von ihrer Brust über die ganze Seite reichten, erträglicher zu machen, ganz zu schweigen von dem hässlichen Riss, der sich bei jedem Atemzug öffnete und schloss wie ein verzerrter Clownsmund.

»Mein Gott«, sagte Flo. »Wie hat das andere Pferd ausgesehen … das in sie reingerannt ist?«

»Das hat nichts abgekriegt, nicht mal eine Schramme. Aber Mick Parker ist am Ende. Kann gar nicht sagen, wie leid ihm das tut. Er ist ein grober Klotz, aber es ist ihm wirklich arg, dass er in Em reingekracht ist. Ich hab ihn noch nie so aufgelöst gesehen. Er sagt, ich soll der Familie ausrichten, dass es ihm mächtig leidtut.«

»Kann ich mir vorstellen. Trotzdem, ein Unfall ist ein Unfall.«

Flo schüttelte den Kopf. Emily hätte gar nicht an den Rennen teilnehmen dürfen. Sie war schlecht vorbereitet gewesen, nachdem sie so lange in der Vorstadt gelebt hatte und so lange nicht mehr geritten war, aber jedem in der Familie war klar gewesen, dass sie den Sprung wagen musste. Das war ihre Art, diesem Windhund von einem Ehemann zu entfliehen.

»Vollidiot«, murmelte Flo.

Während sie die Stute Schritt um Schritt von der Rampe lockten, ratterte Baz herunter, was ihm der Tierarzt an der Rennstrecke erzählt hatte.

»Er schätzt, dass sie sich eine Rippe oder die Schulter gebrochen hat – darum schnauft sie wie eine Hure im Bordell. Die anderen Wunden heilen bestimmt aus, vorausgesetzt, sie infizieren sich nicht. Manukahonig für die tiefe. Das sage ich, nicht der Tierarzt, nur dass du’s weißt.«

Flo nickte und hätte am liebsten bei jedem einzelnen Schritt um Snowgum geweint. Sie dachte an Alfie Jones, den Pferdearzt aus Brigalow. Sobald sie Snowgum in den Stall geschafft hatten, würde sie ihn anrufen. Er musste gleich morgen früh kommen. Tagsüber war auf Alfie Verlass, nachts war er normalerweise zu abgefüllt, um noch Farmbesuche zu machen. Die Vorstellung, Snowgum eine Nacht allein versorgen zu müssen, machte ihr Angst. Sie hatte früher oft verletzte Pferde gepflegt, aber diesmal war es anders. Diese Stute musste um jeden Preis überleben. Sie musste.

Gerade als Flo darüber nachsann, blieb Snowgum stehen. Sie stieß einen Seufzer aus und knickte einen Huf ein, als wollte sie sich hinlegen.

»O nein, das tust du nicht! Du legst dich nicht hin, Mädchen!« Verzweifelt zerrte Flo am Führstrick, wedelte mit den Armen und schnalzte mit der Zunge. Wenn sich die Stute jetzt hinlegte, würde sie aufgeben, das wusste Flo genau. Sie würden sie nie wieder auf die Beine bekommen. Genauso erschrocken wie sie redete auch Baz auf Snowgum ein und schlug ihr auf die unverletzte Flanke. »Auf, Mädchen, auf. Komm, mein Baby. Hah!« Die Stute war inzwischen unter einem kehligen Stöhnen auf beide Knie niedergegangen, ließ ihr Maul auf den Boden sinken, wo die Atemstöße vor ihren Nüstern kleine Staubfontänen hochwirbelten, und reckte den Rumpf nach oben, als wollte sie sich gen Mekka verneigen.

»Bitte, Snow.« Flos Stimme brach. »Du stehst jetzt auf. Für Em. Bitte.«

Ein paar Sekunden verstrichen. Eine Krähe krächzte. Snowgum schloss die Augen. Flo wartete nur darauf, dass die Stute zur Seite kippte. Aber dann sprang Muscles vom Zaun, spazierte gemächlich zu Snowgum herüber und begann seinen Körper am Kopf der Stute zu reiben. Er stieß ein gedehntes Kater-Hallo aus und machte dann kehrt, um mit der anderen Körperseite an der Stute entlangzustreichen.

»Ach, hau ab, Muscles«, stöhnte Flo. »Als wollte Snowgum ausgerechnet jetzt deinen kleinen Katzenarsch ins Gesicht gerieben bekommen! Also, Snowgum, soll das wirklich das Letzte sein, woran du dich erinnerst? Ein Katzenhintern?« Plötzlich musste sie lachen, beinahe hysterisch, und Baz lachte mit ihr.

»Jetzt komm schon«, redete sie dem Pferd zu. »Entscheide dich. Durchhalten oder aufgeben? Was willst du?« Sie ging in die Hocke, presste die Wange an Snowgums Hals und flüsterte ihr ins Ohr: »Halt durch, Snowgum, bitte!«

Gerade als Flo glaubte, dass sich die Stute endgültig zum Sterben auf den Boden legen würde, stieß Snowgum ein mächtiges Schnauben aus und hievte sich wieder auf die Hufe.

Flo warf Baz einen »Gott sei Dank«-Blick zu, und Schritt für Schritt legten sie die kurze Strecke zum Stall zurück, angeführt von Muscles, der den Schwanz steil zum Himmel erhoben hatte.

Als sie Snowgum endlich auf einem weichen Bett aus Stroh zur Ruhe gebracht und ihr ein weiteres Mal eine Nadel in den Hals gerammt hatten, um ihr noch mehr Schmerzmittel in den Leib zu pumpen, seufzte Flo erschöpft auf. Allerdings weigerte sich die Stute immer noch zu fressen und trank nur ein paar kleine Schlucke von dem Wasser, das Flo ihr in einem Eimer hingestellt hatte.

»Das ist kein gutes Zeichen«, bemerkte Baz.

»Ich weiß nicht, wer schlimmer dran ist, die Stute oder Em.«

»Schon was von ihr gehört?«, fragte Baz aus dem Mundwinkel.

Flo schüttelte den Kopf, und im selben Moment kochten die Gefühle in ihr auf, bis ihre Knie einknickten und sie ganz unerwartet wieder weinen musste. Sie spürte, wie sich Baz’ Arme um sie schlossen, was sie noch mehr überraschte. Er war ein kleiner Mann, den das Alter noch weiter schrumpfen lassen hatte, und Flo musste sich leicht vorbeugen, um den Kopf auf seine Schulter legen zu können. Sie dachte, dass es wohl ziemlich komisch aussehen musste, wenn sich eine so breitschultrige Frau von einem so kurzärschigen Mann trösten ließ, und plötzlich sprudelte das Lachen aus ihr heraus. Peinlich berührt, dass sie so viel Gefühl gezeigt hatte, ließ sie ihn los. Sie wischte sich mit ihren großen Händen übers Gesicht.

»Es geht schon wieder, Baz. Ehrlich.«

»Du schaffst das schon, Süße.« Er tätschelte wieder ihre Hand.

Plötzlich wollte Flo um keinen Preis allein sein und rang sich ein Lächeln ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, Alfie anzurufen, ohne dass Baz ihr Halt gab, und sie ertrug den Gedanken nicht, allein und mit ängstlich verkrampftem Magen neben dem Telefon auf Rods nächsten Anruf zu warten. Keinesfalls wollte sie sich ausmalen, wie sie einsam an Snowgums Seite Nachtwache hielt und hilflos abwartete, ob sie durchhielt oder nicht; nicht, während sie noch viel größere Ängste um ihre Nichte ausstehen musste.

Sie sah Baz an und versuchte, sich möglichst freundlich zu zeigen.

»Hättest du Lust auf einen kleinen Schluck? Du könntest auch über Nacht bleiben. Deinen Laster kannst du morgen früh wieder runterfahren. Wenn du magst.«

»Ob ich mag? Komm schon, Flo.« Seine Augen strahlten. »Du kennst mich. Ich bin ein Mann der Berge und liebe die Frauen der Berge. Klar bleibe ich.« Er rückte ein bisschen näher. »Was hältst du davon, ein bisschen mit einem armen alten Zausel wie mir zu kuscheln, hm? Jetzt, wo die Missus nicht mehr ist, ist es ganz schön einsam auf meiner Seite des Berges.«

Flo lachte. »Alter Schmutzfink.« Sie schlug ihm auf den Arm.

Er verzog das Gesicht zu einer deprimierten Fratze. »Also schön, wenn ich dich mit meinem Körper nicht in Versuchung führen kann, dann trinken wir eben nur ein Tässchen Tee. Und ich bleibe im Gästezimmer, Ehrenwort.«

Während sie Arm in Arm zum Farmhaus gingen, Baz mit leicht wackligen Hüften, murmelte er: »Trotzdem kann man ja mal fragen, oder, Flo? Du weißt doch, was man in meinem Alter sagt …«

»Was denn, Baz?«

»Vertrau keinem Furz und vergeude keine Erektion.« Er lachte pfeifend.

»O Baz.« Sie seufzte. »Ich sehe schon, das wird auf jeden Fall eine lange Nacht. Pfeif auf den Tee, wir fangen gleich mit dem Whisky an.«