13

 

Sie landete hart auf Stein und unterdrückte das brennende Verlangen zu wimmern. Eine Hand schloss sich um ihren Arm und half ihr auf. Sie hörte ein kolossales Rumpeln hinter sich und konnte gerade noch aus dem Weg gehen, bevor Shane – sie glaubte zumindest, dass es Shane war – nach ihr aus dem Schacht purzelte.

Und dann gingen die Lichter an.

Na ja, nicht direkt Lichter... ein Licht und das stammte von einer Taschenlampe.

Und Shanes Dad hielt sie.

Er warf einen schnellen Blick auf seinen Sohn, danach auf Claire, dann sagte er: »Wo ist Des?«

»Er ist tot!«, rief Shane. »Verdammt, Dad...«

Frank Collins sah furchtbar wütend aus, sein Gesicht war verzerrt und er schwang die Taschenlampe von ihnen weg. Claire blinzelte, damit die Lichtpunkte vor ihren Augen verschwanden, und sah, dass er damit auf zwei seiner Typen zielte, die im Dunkeln gestanden hatten. »Also gut«, sagte er. »Lasst es uns hinter uns bringen.«

»Was?«, fragte Shane und kam auf die Füße. Er zuckte zusammen, als er sein Gewicht auf den verletzten Knöchel verlagerte. »Dad, was zum Teufel geht hier vor? Du sagtest, ihr würdet abhauen!«

»Ich hab noch nicht genug Vampire abgemurkst, um abzuhauen«, sagte Frank Collins. »Aber ich bin gerade dabei, die Bilanz auszugleichen.«

Die beiden Typen, auf die er die Taschenlampe gerichtet hatte, kauerten neben einer provisorischen Stromkreisplatte, die, so wie es aussah, aus alten Computerteilen zusammengebastelt war. Das Ganze hing an einer Autobatterie. Einer der beiden Typen hielt zwei Drähte an ihren isolierten Abschnitten fest, die Spitzen bestanden jedoch aus reinem Kupfer, das frisch abisoliert war.

Eins fügte sich zum anderen.

Shanes Dad hatte Shane wieder einmal benutzt. Er hatte ihn als Köder benutzt und ihn in dem Glauben gelassen, der Held zu sein, der die Vampire ablenkt, um seinem Vater Zeit zum Verschwinden zu geben.

Er hatte ihn benutzt, um eine große Anzahl Vampire an einem Ort zu versammeln. Aber es waren nicht nur Vampire, sondern es waren auch Menschen dabei. Cops und Möchtegern-Vampire. Und Menschen, die nur da waren, weil sie es Oliver schuldeten.

Es war kaltblütiger Mord.

Richard hatte es gesagt. Sprengung diese Woche. Der Sprengstoff war schon an Ort und Stelle.

»Sie wollen das Gebäude in die Luft jagen!«, schrie Claire und machte einen Satz. Sie konnte nicht gegen die Biker kämpfen, aber das brauchte sie auch nicht.

Sie brauchte nur an den Drähten unter der Stromkreisplatte zu ziehen.

Sie gaben mit einem bläulich weißen Plopp nach und sie hatte Glück, dass sie nicht gegrillt wurde. Dann erreichte sie einer der Biker, griff nach ihr und warf sie zurück. Er schaute sich das Durcheinander an und schüttelte den Kopf. »Es gibt ein Problem!«, schrie er. »Sie hat die Platte geschrottet! Es wird dauern, bis alles wieder angeschlossen ist!«

Frank schoss die Zornesröte ins Gesicht und er rannte mit erhobener Faust auf sie zu. »Du miese kleine...«

Shane fing seine Faust mit der Handfläche ab und hielt sie fest. »Nicht«, sagte er. »Genug, Dad. Es reicht.«

Frank versuchte, ihn zu schlagen. Shane wich aus. Er fing den zweiten Schlag wieder mit der Hand ab.

Den dritten blockierte er und schlug zurück. Nur ein Mal.

Frank ging zu Boden, er saß auf dem Hintern und etwas wie Angst spiegelte sich in seinem Gesicht.

»Genug«, sagte Shane. Auf Claire hatte er noch nie zuvor so groß oder so Furcht einflößend gewirkt. »Du hast immer noch genug Zeit abzuhauen, Dad. Das solltest du besser tun, solange du noch kannst. Sie werden bald herausfinden, wo wir sind, und weißt du was? Ich werde nicht für dich sterben. Nicht mehr.«

Frank öffnete den Mund und klappte ihn dann wieder zu. Er wischte sich Blut vom Mund und starrte Shane an, als er wieder auf die Füße gekommen war.

»Ich dachte, du würdest es verstehen«, sagte er. »Ich dachte, du wolltest es...«

»Weißt du, was ich will, Dad?«, fragte Shane. »Ich möchte mein Leben zurück. Ich möchte bei meiner Freundin sein. Und ich möchte, dass du gehst und nie wieder zurückkommst.«

Franks Augen wurden ausdruckslos wie die eines Hais. »Deine Mutter würde sich im Grab umdrehen, wenn sie sehen könnte, wie du die Deinen verrätst. Deinen eigenen Vater. Und dich auf die Seite der Parasiten schlägst, die diese kranke Stadt befallen haben.«

Shane antwortete nicht. Die beiden starrten sich einige Sekunden in angespanntem, wütendem Schweigen an, dann hörte Claire über ihnen das Klappern von Metall. Sie zog Shane eindringlich am Arm. »Ich glaube, sie haben den Schacht gefunden«, sagte sie. »Shane...«

Shanes Dad sagte: »Ich hätte dich in dem verdammten Käfig lassen sollen, damit sie dich grillen, du undankbarer kleiner Bastard. Du bist nicht mehr mein Sohn.«

»Halleluja«, sagte Shane leise. »Endlich frei.«

Sein Dad machte die Taschenlampe aus und Claire hörte rennende Schritte im Dunkeln.

Shane griff nach Claires schweißiger Hand und sie rannten in die andere Richtung, wobei Shane atemlos die Schritte zählte, bis sie einen goldenen Lichtschimmer am Ende des Tunnels sahen.

***

Shane wollte weglaufen, aber es gab kein Entkommen. Außer, sie kämen irgendwie aus Morganville heraus, und selbst dann, glaubte Claire, würden die Vampire sie letztendlich nicht davonkommen lassen. Nicht mit dem, was sie getan hatten oder beinahe getan hatten.

Sie musste es richtig machen.

Claire durchdachte es bei sich, bevor sie etwas zu ihm sagte. Shane führte einen atemlosen Monolog, entwickelte den Plan, ein Auto zu klauen, aus der Stadt zu fliehen, vielleicht auch aus dem Bundesstaat. Claire schwieg, bis sie die kirschroten und blauen Lichter eines Polizeiautos von Morganville sah, das die verdunkelte Straße herunterkam, dann ließ sie Shanes Hand los und sagte: »Vertrau mir.«

»Was?«

»Vertrau mir einfach.«

Sie trat vor das Polizeiauto, das schnell und kontrolliert zum Stehen kam. Ein Scheinwerfer blendete sie und sie blieb ruhig stehen. Sie fühlte, wie Shane zurückwich, und sagte scharf: »Shane, nein! Bleib, wo du bist!«

»Was zum Teufel hast du vor?«

»Aufgeben«, sagte sie und hob die Arme. »Komm schon. Du auch.«

Für einen langen, beängstigenden Moment glaubte sie nicht, dass er es tun würde, aber dann trat er mit ihr hinaus auf die Straße, nahm die Arme hoch und verschränkte die Finger hinter seinem Kopf. Die Türen des Streifenwagens gingen auf und Shane sank auf die Knie. Claire blinzelte ihn an und tat es ihm nach.

Innerhalb von Sekunden lag sie am Boden, festgenagelt von einer heißen, harten Hand, und sie hörte, wie eine männliche Stimme sagte: »Heller hier. Wir haben Danvers und den Collins-Jungen. Sie sind am Leben.«

Sie konnte die Antwort nicht hören, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, sich zu fragen, ob sie nicht einen schrecklichen Fehler gemacht hatte, als kalte Stahlhandschellen um ihre Handgelenke einrasteten. Der Polizist zerrte sie am Ellbogen nach oben und sie zuckte zusammen, als er an ihren geschundenen Muskeln zog. Neben ihr wurde Shane der gleichen Behandlung unterzogen. Er leistete keinen Widerstand. Er sah... angespannt aus.

»Es wird alles gut«, sagte sie zu ihm. »Vertrau mir.«

Seine Augen sahen wild aus, aber er nickte.

Hoffentlich habe ich recht, dachte sie und schluckte schwer, als sie in das Polizeiauto geschoben wurden.

***

Die Polizisten sprachen kein Wort mit ihr oder Shane. Die Fahrt war kurz und verlief schweigend, und als der Wagen in die Tiefgarage beim Rathaus einbog, wartete dort ein Empfangskomitee auf sie. Claire hätte beinahe angefangen zu weinen, als sie Michael und Eve sah, die – rußverschmiert, wie sie waren – Seite an Seite dort standen und Händchen hielten. Sie sahen besorgt aus. Neben ihnen stand Richard Morrell, der einen Verband um den Kopf trug.

Und Bürgermeister Morrell. Aus seinem Gesichtsausdruck wurde sie nicht schlau. Er sah verärgert aus, dachte sie, aber das war bei ihm ja normal. Claire erhaschte einen Blick auf einen roten Haarschopf und sah Sam, der an einer Säule lehnte. Außer Michael war er der einzige Vampir, der anwesend war. Zumindest der einzige, den sie sehen konnte.

Die Türen des Wagens wurden geöffnet und Claire schlüpfte hinaus. Der Bürgermeister musterte sie und dann Shane. Seine Augen wurden schmal.

»Meine Quellen sagen, dass jemand eine Zündvorrichtung unten im Krankenhaus installiert hat«, sagte er, »die Drähte verbunden hat, um das Gebäude in die Luft zu jagen. Sieht aus, als hätte es jemand kaputt gemacht, bevor etwas passierte.«

Shane sagte: »Claire hat die Drähte herausgerissen. Mein Dad wollte das Gebäude sprengen und alle töten, die sich darin befanden.«

Vater und Sohn Morrell wechselten einen Blick. Sogar Sam hob den Kopf, auch wenn er mit verschränkten Armen blieb, wo er war, und entspannt und neutral aussah. »Und wo ist dein Dad jetzt?«, fragte Richard. »Shane, du schuldest ihm nichts. Das weißt du.«

»Ja, schon«, sagte Shane. »Ich weiß. Er ist weg. Ich wünschte, ich könnte sagen, er kommt nicht mehr zurück, aber...«Er zuckte die Schultern. »Lasst Claire laufen, Mann. Sie hat Menschenleben gerettet. Sie hat niemandem etwas getan.«

Bürgermeister Morrell nickte dem Cop zu, der hinter Claire stand. Sie fühlte, wie sich ihre Handschellen bewegten und dann lösten. Dankbar verschränkte sie die Arme über der Brust.

»Was ist mit Shane?«, fragte sie.

»Die Vampire haben zwei von Franks Männern geschnappt. Sie haben zugegeben, dass Frank Brandon ermordet hat. Shane ist entlastet«, sagte Richard.

Shane blinzelte ihn an. »Was?«

»Geh nach Hause«, sagte Richard und der Cop löste auch Shanes Handschellen. »Sam hat dafür gesorgt, dass es bei den Vampiren die Runde macht. Sie mögen dich nicht besonders, deshalb solltest du auf der Hut sein, aber du bist keines Verbrechens schuldig. Zumindest keines schwereren.«

»Großartig!«, sagte Eve und griff nach Claires Hand, dann nach Shanes. »Wir sind dann mal weg.«

Eves Cadillac stand einige Parklücken weiter. Die Heckscheibe und die Seitenfenster waren geschwärzt, bemerkte Claire, und der Geruch frischer Farbe lag in der Luft. Am Boden lagen zwei Dosen Spraylack. Sie stieg vorne ein, Michael nahm auf dem Rücksitz Platz. Shane zögerte und schaute zu ihm hinein, dann kletterte er nach hinten und schlug die Tür zu.

Eve ließ den Motor an. »Shane?«

»Ja?«

»Wenn wir zu Hause sind, bringe ich dich um, verdammt noch mal.«

»Prima«, sagte Shane. »Im Moment scheint mir das nämlich weit angenehmer, als über all das zu reden.«

Die Stadt war seltsam still. Die Feuer waren gelöscht, der Mob zerstreut, nichts rührte sich. Aber Claire glaubte nicht, dass es wirklich vorbei war. Überhaupt nicht.

Erschöpft und unglücklich lehnte sie sich auf der Heimfahrt ans Fenster. Eine unheilvolle Stille hatte sich auf dem Rücksitz ausgebreitet, ein Gefühl, als wären dunkle Gewitterwolken heraufgezogen, die nur darauf warteten, sich zu entladen. Eve schwafelte nervös von Shanes Dad und wohin er wohl gegangen war; niemand antwortete. Ich hoffe, er verschwindet, dachte Claire. Ich hoffe, er kommt davon. Nicht weil er nicht zur Rechenschaft gezogen werden sollte – das sollte er –, aber wenn er dafür bezahlen musste, dann bedeutete dies nur noch mehr Trauer für Shane. Er würde dadurch das letzte Mitglied seiner ohnehin schon zerstörten Familie verlieren. Besser, wenn sein Dad einfach... verschwand.

»Hast du es Shane gesagt?«, fragte Eve. Claire setzte sich auf, blinzelte und gähnte, als Eve den Caddy vor ihrem Haus anhielt.

»Was?«

Eve deutete auf Michael. »Du weißt schon.«

Claire wandte sich um, um ihn anzuschauen. Shane blickte mit versteinertem Gesicht stur geradeaus. »Lass mich raten«, sagte er. »Du hast eine zauberhafte Märchenfee aufgetan, die dir deine Freiheit gewährte, und jetzt kannst du kommen und gehen, wie du willst«, sagte er. »Sag mir, dass es das ist, Michael. Ich denke nämlich schon die ganze Fahrt lang darüber nach, warum du hier im Auto sitzt, und ich finde darauf echt keine andere Antwort, außer solchen, die ich zum Kotzen finde.«

»Shane...«, sagte Michael und schüttelte dann den Kopf. »Yeah. Meine gute Fee ist vorbeigekommen und gewährte mir einen Wunsch. Belassen wir es einfach dabei.«

»Es dabei belassen?«, sagte Shane. »Wie genau soll ich das machen? Verpiss dich doch!«

Er stieg aus dem Auto und stakste den Gartenweg entlang. Eve ergriff einen riesigen schwarzen Schirm und eilte hinüber auf die Seite des Autos, wo Michael saß. Sie öffnete die Tür wie ein Hotelpage und er stieg aus, packte den Schirm und rannte Shane hinterher. Trotz des dünnen Schattens begann seine Haut leicht zu qualmen, als würde sie schmoren.

Michael schaffte es bis in den Schatten der Veranda, wo er den Schirm fallen ließ. Shane wandte sich um und versetzte ihm einen Schlag.

Einen ziemlich heftigen.

Michael ließ den Schlag über sich ergehen, fing den nächsten mit der offenen Hand ab, trat näher und umarmte Shane.

»Lass mich los!«, brüllte Shane und stieß ihn zurück. »Verdammt noch mal! Geh weg!«

»Ich wollte dich nicht beißen, du Vollidiot!«, sagte Michael resigniert. »Mein Gott, ich bin einfach nur froh, dass du noch lebst.«

»Ich wünschte, ich könnte dasselbe von dir sagen, aber da du das nicht bist...« Shane riss die Tür auf und verschwand im Haus, wobei er Michael zurückließ, der an der Wand lehnte.

Claire und Eve kamen langsam den Weg herauf.

»Ich werde...« Claire schluckte schwer. »Ich werde mit ihm reden. Es tut mir leid. Er ist nur ein wenig...es war ein langer Tag, wisst ihr? Das wird schon.«

Michael nickte. Eve legte den Arm um ihn und half ihm ins Haus.

Shane war nirgends zu sehen, als Claire das Wohnzimmer betrat, aber sie hörte, wie er oben seine Tür zuknallte. Verdammt, er war schnell, wenn er wollte. Und verbittert. Und da sagte man, Mädchen seien launisch! Sie beäugte müde und sehnsüchtig die Couch – das erste gemütliche Fleckchen seit Langem, auf dem man sich ausstrecken konnte. Vielleicht sollte sie Shane einfach selbst damit fertig werden lassen. Es war ja nicht so, dass er nicht daran gewöhnt wäre, ein Trauma zu verarbeiten.

Aber andererseits...nur weil er es allein konnte, hieß das ja nicht, dass er das auch sollte.

Etwas im Zimmer war seltsam und für einen langen Augenblick konnte Claire nicht den Finger darauf legen. Dann dämmerte es ihr.

Das Zimmer duftete nach Blumen. Rosen, um genau zu sein.

Claire runzelte die Stirn, wandte sich um und sah einen riesigen Strauß roter Rosen auf dem Beistelltischchen liegen. Daneben lag ein Umschlag, auf dem in einer altmodischen, gestochenen Handschrift ihr Name stand.

Sie riss ihn auf und faltete das Blatt auseinander, das darin lag.

**

Liebe Claire,

mein inoffizieller Schutz reicht für dich und deine Freunde nicht mehr aus und ich nehme an, das weißt du inzwischen. Es müssen drastischere Maßnahmen ergriffen werden, und zwar schnell, sonst werden deine Freunde den Preis dafür bezahlen. Olivers Reaktion auf die Ereignisse des heutigen Tages wird nicht ausbleiben. Du warst tapfer, aber was deine Feinde angeht, äußerst töricht.

Denke reiflich über meinen Vorschlag nach.

Ich werde ihn kein zweites Mal vorbringen.

**

Keine Unterschrift, aber Claire war sich sicher, wer das geschrieben hatte. Amelie. Der Brief trug ein Wasserzeichen mit ihrem Siegel.

Die anderen Papiere im Umschlag sahen nach Rechtsunterlagen aus. Sie las sie sich mit finsterer Miene durch und versuchte zu verstehen, was damit gemeint war, und etwas sprang ihr sofort ins Auge.

**

Ich, Claire Elizabeth Danvers, schwöre, mein Leben, mein Blut und meine Arbeit in die Dienste der Gründerin zu stellen, jetzt und mein ganzes Leben lang, auf dass die Gründerin mir in allen Dingen befehle.

**

Es waren dieselben Worte, die Oliver vor dem Krankenhaus verwandt hatte, als er versucht hatte, sie...

... sie zu seiner Sklavin zu machen.

Claire ließ das Blatt fallen, als hätte sie sich daran verbrannt. Nein, sie konnte das nicht tun. Sie konnte es einfach nicht.

Sonst werden deine Freunde den Preis dafür bezahlen.

Claire schluckte, steckte den Vertrag wieder zurück in den Umschlag und stopfte ihn in ihre Tasche, gerade als Eve um die Ecke kam. »Rosen! Himmel, wer ist denn gestorben?«

»Niemand«, sagte Claire heiser. »Sie sind für dich. Von Michael.«

Michael sah überrascht aus, aber er stand mit dem Rücken zu Eve, und wenn er einigermaßen bei Verstand war, dann spielte er mit.

Claire ging nach oben, um zu duschen.

***

Als sie sauber war, ging es ihr besser. Nicht wahnsinnig besser, aber immerhin. Sie saß eine Weile da und starrte auf den weißen Umschlag mit ihrem Namen und wünschte sich, sie könnte mit Shane darüber sprechen oder mit Eve oder mit Michael. Aber sie traute sich nicht, weil es ihre Entscheidung war. Nicht die der anderen. Außerdem wusste sie sowieso, was sie sagen würden. Sie würden so laut Nein schreien, dass man sie bis ans Ende der Welt hören würde.

Es war schon dunkel, als Shane schließlich an ihre Tür klopfte. Sie öffnete und stand einfach nur da und schaute ihn an. Sie schaute ihn einfach an, denn irgendwie glaubte sie, dass sie niemals genug davon bekommen würde, ihn anzuschauen. Er sah müde aus und vom Schlafen zerzaust und zerknittert.

Und er war so schön, dass sie fühlte, wie ihr Herz in eine Million kleine, scharfkantige Splitter zerbrach.

Er trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Darf ich reinkommen? Oder möchtest du einfach, dass ich...?« Er deutete in den Flur hinaus. Sie trat zurück und ließ ihn herein, dann machte sie hinter ihm die Tür zu. »Ich bin ausgerastet wegen Michael.«

»Ach, findest du?«

»Warum hast du es mir nicht gesagt?«

»Na ja, es sah nicht so aus, als wäre es der günstigste Zeitpunkt«, sagte sie müde. Sie setzte sich aufs Bett und lehnte sich ans Kopfende. »Komm schon, Shane. Wir rannten gerade um unser Leben.«

Er bedachte ihr Argument mit einem Schulterzucken. »Wie ist das passiert?«

»Du meinst, wer es getan hat? Amelie. Sie war hier und Michael hat sie darum gebeten.« Claire schaute ihn für einen langen Augenblick an, bevor sie ihm den Gnadenstoß versetzte. »Er bat sie darum, weil er das Haus verlassen wollte.«

Shane sah mitgenommen aus. Er ließ sich auf die Bettkante sinken und starrte sie mit diesem verletzten, verwundbaren Blick an, bei dem ihr das Herz gleich noch einmal brach. »Nein«, sagte er. »Nicht meinetwegen. Sag mir, dass es nicht...«

»Er sagte, es sei nicht deinetwegen. Jedenfalls nicht nur. Er musste es tun, Shane. Er konnte so nicht weiterleben, nicht für immer.«

Shane wandte seinen Blick ab. »Mein Gott, er weiß doch, was ich für Vampire empfinde. Und jetzt wohne ich auch noch mit einem zusammen. Ich bin jetzt der beste Freund eines Vampirs. Das ist nicht gut.«

»Das muss aber auch nicht schlecht sein«, sagte sie. »Shane – sei nicht böse, okay? Er hat das getan, von dem er glaubte, es tun zu müssen.«

»Tun wir das nicht alle?« Er ließ sich rücklings aufs Bett fallen und legte sich die Hände unter den Kopf. Er starrte an die Decke. »Langer Tag.«

»Yeah.«

»Also«, sagte er. »Irgendwas vor heute Abend? Ich hätte jetzt nämlich doch Zeit.«

Er brachte sie zum Lachen, obwohl sie geglaubt hatte, dass das nicht mehr ginge. Shane rollte sich auf die Seite und stützte sich auf den Ellbogen. Er lächelte sie so sanft an, dass ihr der Atem stockte.

Er fasste herüber und zog sie lächelnd an den Haaren.

»Du bist heute aber stürmisch«, sagte er. »Heldin.«

»Ich? Auf keinen Fall.«

»Ja, du. Du hast Menschenleben gerettet, Claire. Zugegeben, manche Leute würde ich lieber tot sehen, aber... trotzdem. Ich glaube, du hast sogar meinen Dad gerettet. Wenn er dieses Gebäude in die Luft gejagt hätte, all diese Leute umgebracht hätte...er hätte nicht einfach so weggehen können. Ich hätte es nicht zugelassen.« Sie sahen einander an und Claire fühlte, wie sich zwischen ihnen eine Spannung entwickelte und sie zueinander hinzog. Sie sah, dass er es auch fühlte, da er sich zu ihr beugte. Er streckte die Hand aus und strich langsam über ihren nackten Fuß. »Also, wie ist der Plan, Heldin? Willst du einen Film anschauen?«

Sie fühlte sich seltsam. Verrückt und komisch und voller Unsicherheit. »Nein.«

»Willst du vielleicht ein paar Video-Zombies killen?«

»Nein.«

»Wenn es jetzt auf Canasta hinausläuft, dann springe ich... aus... dem... was machst du da?«

Sie streckte sich auf ihrer Seite des Bettes aus und wandte sich ihm zu. »Nichts. Was möchtest du gern machen?«

»Oh, komm mir nicht damit.«

»Warum nicht?«

»Hast du morgen nicht Unterricht?«

Sie küsste ihn. Es war kein unschuldiger Kuss – ganz und gar nicht. Sie fühlte sich wie die Rosen unten im Wohnzimmer, dunkelrot und voller Leidenschaft, und das war ganz neu für sie, aber sie musste das tun, und zwar jetzt, immerhin hätte sie ihn beinahe verloren, und schon gedacht, wie würde ihn nie mehr küssen können.

Shane lehnte seine Stirn gegen ihre und unterbrach den Kuss mit einem Keuchen, wie ein Ertrinkender. »Moment mal«, sagte er. »Mach langsam. Ich gehe nirgendwohin. Das weißt du, oder? Du brauchst jetzt nicht irgendwas zu investieren, um mich hierzubehalten. Na ja, solange du letztendlich...«

»Halt die Klappe.«

Er tat es – hauptsächlich, indem er seine Lippen auf ihre presste. Ein langsamerer Kuss dieses Mal, zuerst warm, dann heiß. Sie glaubte, dass sie niemals genug davon bekommen könnte, wie er schmeckte; es durchzuckte sie wie Strom und brachte sie innerlich zum Leuchten. Ließ sie auf eine Art und Weise leuchten, von der sie wusste, dass sie nicht gut war, zumindest nicht vollkommen legal.

»Willst du Baseball spielen?«, fragte sie. Shane öffnete die Augen und hörte auf, ihr Haar zu streicheln.

»Was?«

»Erste Ziellinie«, sagte sie. »Du bist fast angekommen.«

»Ich laufe nicht von einer Ziellinie zur anderen.«

»Na ja, du könntest wenigstens so tun, als hättest du die zweite schon erreicht.«

»Himmel noch mal, Claire. Ich habe früher versucht, mich in schwierigen Zeiten mit Sportstatistiken abzulenken, aber jetzt stürmst du einfach los und machst meine guten Vorsätze zunichte.«

Ein weiterer feuchtheißer Kuss und seine Hände strichen federleicht an ihrem Hals herunter. Über ihre Schultern, wo er die Haut streichelte, die ihr dünnes Jersey-Nachthemd frei ließ. Hinunter...

»Verdammt.« Er rollte sich schwer atmend auf den Rücken und starrte wieder an die Decke.

»Was?«, fragte sie. »Shane?«

»Du hättest dabei umkommen können«, sagte er. »Du bist sechzehn, Claire.«

»Fast siebzehn.« Sie rückte an seine Seite und schmiegte sich an ihn.

»Na klar, das macht doch alles gleich viel besser. Hör mal...«

»Möchtest du noch warten?«

»Ja«, sagte er. »Na ja, natürlich ist das nicht meine erste Wahl, aber ich bin im Moment sehr dafür, uns das gut zu überlegen. Die Sache ist nur...ich möchte dich nicht verlassen.« Er hatte den Arm um sie gelegt und für sie gab es nichts auf der Welt als die Wärme seines Körpers an ihrem und sein Wispern und das zutiefst verwundbare Verlangen in seinen Augen. »Aber es wird nicht so einfach für mich sein, Nein zu sagen. Du musst mir dabei helfen.«

Ihr Herz begann zu klopfen. »Du möchtest hierbleiben?«

»Ja. Ich...«Er öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und nahm einen neuen Anlauf. »Ich muss einfach hierbleiben. Ich brauche dich.«

Sie küsste ihn, ganz zart. »Dann bleib.«

»Okay, aber was Baseball betrifft – weiter als bis zur zweiten Ziellinie gehe ich nicht.«

»Bist du dir da sicher?«

»Ich schwöre es dir.«

Und irgendwie hielt er sein Wort, egal wie sehr sie versuchte, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Shane schlief noch. Er hatte sich zwischen den Kissen zu einem Knäuel zusammengerollt und schnarchte leise. Sie hatte ihm irgendwann das T-Shirt ausgezogen und nun lag Claire im sanften Glühen der aufgehenden Sonne und schaute zu, wie das Licht auf den starken Muskeln seines Rückens schimmerte. Sie wollte ihn berühren... aber sie wollte nicht, dass er aufwachte. Er brauchte Schlaf und es gab etwas, das sie tun musste.

Etwas, das ihm nicht gefallen würde.

Claire schlüpfte aus dem Bett, bewegte sich sehr vorsichtig und fand ihre Jeans, die zusammengeknüllt auf dem Boden lag. Der Umschlag war noch immer in der hinteren Tasche. Sie öffnete ihn und ließ das steife, formelle Papier herausgleiten. Sie faltete es auseinander und las die Nachricht noch einmal.

Sie legte den Vertrag auf den Schreibtisch, schaute Shane an und dachte über das Risiko nach, ihn zu verlieren. Oder auch Eve und Michael.

Ich, Claire Elizabeth Danvers, schwöre, mein Leben, mein Blut und meine Arbeit...

Shane hatte gesagt, sie sei eine Heldin, aber sie fühlte sich nicht wie eine. Sie fühlte sich wie ein verstörter Teenager, der eine ganze Menge zu verlieren hatte. Ich kann nicht mit ansehen, wie er verletzt wird, dachte sie. Nicht, wenn ich nicht irgendetwas tun kann, um es zu verhindern. Michael Eve ich kann das Risiko nicht eingehen.

Wie schlimm würde es werden?

Claire öffnete die Schublade und fand einen Stift.