4

 

Claire konnte gar nicht glauben, wie sehr Shane ihnen sein Herz ausgeschüttet hatte – all die Trauer, der Schrecken, die Bitterkeit und Wut. Er hatte immer irgendwie, na ja, normal gewirkt und es war schockierend, von diesem ganzen emotionalen Blutvergießen zu hören...und es war schockierend, dass er so viel von Dingen erzählte, die so persönlich waren. Shane war eigentlich niemand, der viele Worte machte.

Sie sammelte das Geschirr ein und spülte es allein. Das heiße Wasser und der Schaum des Spülmittels auf ihren Händen hatten eine tröstliche Wirkung. Sie wusch Töpfe und Pfannen und wischte Spritzer roter Soße ab, wobei sie daran denken musste, wie Shane seine Mutter tot in einer blutigen Badewanne gefunden hatte.

Ich war nicht unbedingt an einem guten Ort, hatte Shane gesagt. Der Meister der Untertreibung. Claire war sich nicht sicher, ob sie je wieder hätte lächeln können, wieder lachen können, wieder funktionieren können, wenn ihr das zugestoßen wäre. Vor allem wenn sie eine Schwester verloren und mit ihrem Vater bei »Amerika sucht den Super-Alki« gewonnen hätte. Wie machte er das? Wie behielt er alles im Griff und blieb so... tapfer?

Sie wollte für ihn weinen, aber sie war sich fast sicher, dass ihm das peinlich gewesen wäre, deshalb behielt sie ihre Trauer für sich und schrubbte das Geschirr. Das hat er nicht verdient. Warum lassen ihn nicht einfach alle in Ruhe? Warum muss er derjenige sein, auf den alle einprügeln?

Vielleicht nur, weil er gezeigt hatte, wie stark er ist und wie viel er wegstecken kann.

Die Küchentür schwang auf und sie zuckte zusammen. Sie hatte Shane erwartet, aber es war Michael. Er ging hinüber zur Spüle, ließ kaltes Wasser in seine Hände laufen und spritzte es sich über Gesicht und Nacken.

»Üble Nacht«, sagte Claire.

»Was du nicht sagst.« Er warf ihr von der Seite einen schneidenden Blick zu.

»Glaubst du, er hat recht? Wegen ihnen, du weißt schon, ob sie seine Mutter umgebracht haben.«

»Ich glaube, Shane trägt Schuldgefühle mit sich herum, die so hoch sind wie das Empire State Building. Und ich glaube, es hilft ihm, zornig zu sein.«

Michael zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Möglich wäre es. Aber ich glaube, wir werden nicht dahinterkommen, ob es so war oder anders.«

Das hörte sich irgendwie... schaurig an. Kein Wunder, dass Shane nur widerwillig darüber sprach. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es war, mit dieser Art von Ungewissheit zu leben, diesen Erinnerungen. Aber sie schaffte es nicht.

Und sie war froh darüber.

»Also«, sagte Michael. »Ich habe noch ungefähr drei Stunden bis zum Morgen. Wir müssen uns überlegen, was wir machen und was wir nicht machen.«

Claire nickte und legte einen Teller zum Trocknen beiseite.

»Erstens verlässt keiner von euch das Haus«, sagte Michael. »Verstanden? Kein Unterricht, keine Arbeit. Ihr bleibt zu Hause. Ich kann euch nicht beschützen, wenn ihr rausgeht.«

»Wir können uns doch nicht einfach hier verstecken!«

»Wir können das eine Zeit lang und wir werden das auch tun. Schau mal, Shanes Dad kann nicht ewig da draußen herumrennen. Es ist ein vorübergehendes Problem. Jemand wird ihn finden.« Was mit Shanes Dad passieren würde, wenn man ihn fand, sprach keiner der beiden aus – das stand auf einem anderen Blatt. »Solange wir nichts tun, was uns direkt damit verbindet, was auch immer Shanes Dad tut, sind wir okay. Dafür steht Amelies Wort.«

»Du setzt eine Menge Vertrauen in...«

»... einen Vampir, ja, ich weiß.« Michael zuckte mit den Schultern und lehnte sich mit der Hüfte gegen die Theke, wobei er auf sie herabschaute. »Was bleibt uns anderes übrig?«

»Nicht viel, glaube ich.« Claire betrachtete ihn eingehender. Er sah müde aus. »Michael? Alles in Ordnung mit dir?«

Nun war es an ihm, überrascht auszusehen. »Klar. Shane ist derjenige, der hier Probleme hat. Nicht ich.«

Nein, Michael ging es blendend. Getötet, zerstückelt, begraben, wiedergeboren...ein ganz normaler Tag eben. Claire seufzte. »Männer«, sagte sie traurig. »Heute bleibe ich zu Hause, Michael, aber ich muss echt zum Unterricht, weißt du? Wirklich!« Denn wenn sie den Unterricht verpasste, war das, als würde ein Koffeinsüchtiger nicht seinen täglichen Kick kriegen.

»Deine Ausbildung oder dein Leben, Claire. Mir wäre es lieber, du wärst ein wenig dümmer, aber dafür am Leben.«

Sie schaute ihm direkt in die Augen. »Nun, mir nicht. Ich werde heute zu Hause bleiben. Für morgen verspreche ich nichts.«

Er lächelte, beugte sich vor und drückte ihr einen warmen, feuchten Kuss auf die Stirn. »Braves Mädchen«, sagte er und ging hinaus. Sie stieß erneut einen Seufzer aus, diesmal vor Glück, und ertappte sich bei einem Grinsen. Michael mochte zwar vor allem Eves großer Schwarm sein, aber sie war noch immer für einen Oh-my-God-wie-süß-er-ist-Kick zu haben.

Claire spülte fertig ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Der Fernseher war an, es lief eine Gerichtsmedizin-Show. Shane saß zusammengesunken auf der Couch und stierte auf den Bildschirm. Keine Spur von Eve und Michael. Claire zögerte, sie dachte sehnsüchtig an ihr Bett und daran, all das für eine Weile zu vergessen. Aber Shane sah einfach so... allein aus.

Sie ging hin und ließ sich neben ihm nieder. Sie sagte nichts, er auch nicht, und nach einer Weile legte er den Arm um sie und das war in Ordnung so.

Sie schlief an seinen warmen Körper gelehnt ein.

Es war schön.

***

Claire sagte sich, sie hätte darauf vorbereitet sein müssen, dass Shane Albträume haben würde – schlimme Albträume –, aber sie hatte nie richtig darüber nachgedacht. Als Shane zuckte und von der Couch rollte, plumpste sie flach auf die Kissen. Der Fernseher war noch immer an, ein flackerndes Durcheinander von Farben, und unter dem Schleier des unterbrochenen Schlafs musste sich Claire erst mal orientieren, um zu begreifen, was vor sich ging.

»Shane?«

Er lag auf seiner Seite auf dem Fußboden, schlotternd und zu einer Kugel zusammengerollt. Claire rutschte neben ihm zu Boden und legte ihre Hände auf seinen breiten Rücken. Unter dem dünnen T-Shirt war seine Haut klamm, seine Muskeln waren angespannt wir Stahlkabel. Er gab Laute von sich, ein qualvolles Keuchen, das nicht direkt ein Schluchzen war, aber auch nicht direkt keines.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte sich in den letzten Stunden oft hilflos gefühlt, aber das hier war irgendwie noch schlimmer, weil Michael und Eve nirgends zu sehen waren. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob Shane gewollt hätte, dass sie ihn so sahen. Oder ob er gewollt hätte, dass sie ihn so sah. Sein Stolz ging Shane über alles.

»Mir geht’s gut«, keuchte er. »Ich bin okay. Ich bin okay.« Er klang nicht okay. Er klang ängstlich und er klang wie ein kleiner Junge.

Es gelang ihm, sich aufzusetzen. Claire schlang ihre Arme um ihn, umarmte ihn fest und nach einigen Sekunden gab er seinen Widerstand auf, ließ sich gegen sie sinken und umarmte sie ebenfalls. Er streichelte ihr Haar, als wäre sie zerbrechlich.

»Schhhh«, flüsterte sie ihm zu, wie ihre Mutter es immer getan hatte, wenn alles schlecht lief. »Du bist hier. Du bist in Sicherheit. Du bist okay.« Denn wo immer er in seinen Träumen gewesen war, dort war er nichts davon gewesen. Wenn sie erwartet hatte, dass er darüber sprach, wurde sie enttäuscht. Er zog sich zurück, mied ihren Blick und sagte: »Du solltest schlafen gehen.«

»Klar«, sagte sie. »Nach dir.«

»Kann nicht schlafen.« Wahrscheinlich wollte er eher nicht. Seine Augen waren rot und trübe vor Erschöpfung. »Ich brauche einen Kaffee oder so was.«

»Cola?«

»Was auch immer.«

Sie holte eine für ihn und Shane stürzte sie hinunter wie ein Stundentenverbindungstyp an der Bar. Er rülpste und zuckte als Entschuldigung mit den Achseln. »Wo ist Michael?« Sie breitete die Hände aus. »Eve?« Sie deutete durch eine weitere Geste an, dass sie es nicht wusste. »Na ja, zumindest kann jemand von uns gut schlafen. Sind sie zusammen?«

Claire blinzelte. »Ich... keine Ahnung.« Sie hatte eigentlich nicht darüber nachgedacht. Sie hatte sie nicht gehen sehen, wusste nicht, ob jeder in sein eigenes Zimmer gegangen war oder ob Eve schließlich doch noch den Mut aufgebracht hatte, Michael etwas anderes vorzuschlagen. Er würde nämlich nie und nimmer den ersten Schritt unternehmen. Das entsprach irgendwie nicht Michaels Charakter.

»Himmel, ich hoffe doch«, sagte Shane. »Sie haben sich ein bisschen Spaß verdient, selbst in dieser Hölle.« Er meinte das nicht ernst, aber irgendwie dann doch. Er sah Morganville tatsächlich als Hölle. Claire musste zugeben, dass er damit nicht ganz unrecht hatte. Es war die Hölle und sie waren die verlorenen Seelen. Die Nacht neigte sich dem Morgen zu und sie fühlte sich, als würde sie schon seit sehr, sehr langer Zeit in Angst leben...

Er betrachtete sie aufmerksam, auf eine Art, die sie wie Wärme auf der Haut fühlte, wie einen leichten Sonnenbrand.

»Was ist mit uns?«, hörte sie sich selbst sagen. »Verdienen wir nicht auch ein bisschen Spaß?«

Das habe ich jetzt nicht wirklich gesagt.

Hatte sie aber.

Er lächelte. Sie fragte sich, ob die Schatten seine Augen jemals wieder verlassen würden. »Ich könnte durchaus ein bisschen Spaß vertragen.«

»Hm...« Sie leckte sich die Lippen ab. »Definiere Spaß.«

»Lass das, du frühreifes Früchtchen. Es verwirrt mich.«

Allein den Gedanken, dass sie jemand für ein frühreifes Früchtchen hielt, fand sie furchtbar aufregend. Vor allem bei Shane. Sie versuchte, das zu verbergen und so zu tun, als würde sie innerlich nicht wabbeln wie Götterspeise. »Jetzt möchtest du plötzlich, dass ich aufbleibe. Ich dachte, du hast gesagt, ich soll schlafen gehen.«

»Sollst du auch.« Aber er legte keine besondere Betonung darauf. »Wenn du jetzt nämlich hier unten bleibst, dann gibt es Spaß. Ich sag’s ja nur.«

»Game-Spaß?«

Er machte große Augen. »Möchtest du Games spielen?«

»Möchtest du?«

»Du bist das sonderbarste Mädchen, das mir je untergekommen ist.«

»Also, bitte. Du lebst mit Eve zusammen.« Sie stellte es nicht richtig an. Wie verführten Mädels Jungs? Was sagen sie? Sie war sich ziemlich sicher, dass es nicht zum Spaß-haben-Spielplan gehörte, über Games zu plaudern und Mitbewohnerinnen ins Spiel zu bringen. Außerdem dachte sie zu viel über ihren Körper nach. Wie sollte sie sich bewegen? Sie fühlte sich ungeschickt und kantig und wäre gern eins dieser anmutigen Mädchen gewesen, die zart und elegant waren. Wie in den Filmen.

Eve wüsste Bescheid. Sie hatte Strümpfe mit Strapsen an und diese Stringtangas und Claire besaß so etwas nicht einmal und hatte auch keine Ahnung, wo sie so was herbekam. Und Eve hatte sie für Michael getragen oder vielleicht auch nur als heimlichen kleinen Kick für sich selbst, wenn sie um Michael herum war. Ja, Eve wüsste, was sie jetzt sagen müsste.

Sag was, das sexy ist, befahl sie sich selbst und in blinder Panik öffnete sie den Mund und platzte mit »Glaubst du, sie tun es?« heraus. Sie war so entsetzt, dass sie beide Hände über den Mund schlug. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so dringend und so rasch irgendwelche Worte zurücknehmen wollen... und einen Augenblick lang sah Shane sie an, als hätte er keine Ahnung, wovon sie sprach.

Und dann lachte er. »Das hoffe ich, Mann. Die beiden könnten einen guten – ähm...« Er blinzelte und sie sah, wie ihm plötzlich ihr Alter vor Augen stand. »Himmel! Vergiss es!«

Worte waren nichts für sie. Sie beugte sich vor und küsste ihn. Es fühlte sich seltsam an und ungeschickt und er reagierte nicht sofort. Vielleicht war er zu überrascht. Vielleicht machte sie es falsch oder vielleicht war es ein Fehler, dass sie die Initiative ergriff.

Seine Lippen öffneten sich feucht und weich und warm unter den ihren und sie vergaß das alles. Ihr ganzes Leben konzentrierte sich auf die Gefühle, auf den sanften Druck, der umso intensiver wurde, je länger der Kuss dauerte.

Unschuldige Küsse, dann weniger unschuldige – und wow!, was schmeckten die gut. Sie schmeckten besser, je weiter sie den Mund öffnete, und besonders als seine Zunge die ihre berührte.

Sie hätte ein ganzes Semester lang mit Shane küssen üben können. Intensive persönliche Studien. Inklusive Laborstunden.

Sie verlor jegliches Zeitgefühl, aber schließlich bemerkte Claire, dass ein sanfter Schimmer von den Fenstern hereinschien und dass ihr alles wehtat und ihre Glieder taub waren, weil sie auf dem Fußboden gesessen hatte. Sie zuckte zusammen, als ein Muskel in ihrem Rücken protestierte, und Shane streckte die Hand aus, zog sie hoch und ließ sich auf der Couch nieder.

Er rekelte sich und streckte ihr die Hand entgegen. Sie starrte ihn kribbelig und verwirrt an. »Da ist kein Platz mehr.«

»Massig Platz«, sagte er.

Sie fühlte sich atemlos und irgendwie ausgelassen, als sie sich auf dem winzigen Stückchen Sofakissen, das neben ihm noch frei war, ausstreckte, und sie unterdrückte einen Aufschrei, als Shane sie hochhob und sie sich über die Brust und, oh mein Gott, über seinen ganzen übrigen Körper legte.

»Besser?«, fragte er und hob die Augenbrauen. Es war eine echte Frage und er erwartete eine echte Antwort.

Claire fühlte, wie ihre geröteten Wangen in Flammen aufgingen, aber sie wandte den Blick nicht von seinem ab.

»Perfekt«, sagte sie.

Es fühlte sich an, als wären sie nackt, abgesehen davon, dass sie die ganzen Klamotten anhatten. Die Küsse waren dieses Mal drängend und tief und das Gefühl, wie sich Shanes Muskeln unter ihr anspannten und wieder entspannten, war unglaublich aufregend. Das gehört eigentlich verboten, dachte sie. Na ja, es war ja irgendwie auch verboten. Oder wäre verboten, wenn sie die Klamotten ausziehen würden.

Shane war vielleicht nicht so verantwortungsbewusst wie Michael, aber so impulsiv war er auch wieder nicht. Zumindest nicht ihr gegenüber. Seine Hände wanderten, aber nie zu Stellen, an denen sie sie wahnsinnig gerngehabt hätte. Bei einigen Stellen, zu denen sie wanderten, fragte sie sich, warum sie nicht zuvor schon gewollt hatte, dass sie dort jemand berührte. Zum Beispiel unten am Rücken, wo sich die Haut in ein flaches Tal senkt. Oder am Nacken. Oder an den Innenseiten ihrer Arme. Oder...

Als seine Hände an ihrer Seite nach oben glitten, streiften seine Finger nur knapp die äußere Wölbung ihrer Brust und sie stöhnte in seinen Mund.

Shane zog sie sofort in eine sitzende Position und verzog sich ans andere Ende des Sofas. Sein Gesicht war gerötet; seine Augen glänzten und sahen überhaupt nicht mehr müde aus. »Nein«, sagte er und hob wie ein Verkehrspolizist die Hand, als sie näher zu ihm rücken wollte. »Rote Karte. Wenn du noch einmal diesen Laut von dir gibst, haben wir ein Problem. Ich jedenfalls.«

»Aber...« Claire fühlte, wie sie erneut rot wurde, und hatte keine Ahnung, wie sie das in Worte packen sollte. »Wie ist es mit dir? Ich meine...«Sie machte eine vage Geste, die alles bedeuten konnte. Oder nichts. Oder irgendwas.

»Mach dir keine Sorgen um mich. Ich brauchte das jetzt.« Er atmete immer noch tief, aber er sah besser aus. Stabiler. Eher wie... Shane und nicht wie ein verlorener und verletzter kleiner Junge, der von seinen Albträumen in Angst und Schrecken versetzt wird. »Und? Hatten wir Spaß?«

»Spaß«, stimmte sie schwach zu. So viel Spaß, dass sie sich wie eine geschüttelte Limo fühlte, die kurz vor dem Explodieren ist. »Ähm, ich sollte...«

»Ja, ich auch.« Aber Shane machte keine Anstalten zu gehen. Claire schluckte schwer, beschloss, kein Risiko einzugehen, und ging die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Sie machte die Tür zu und schloss sie ab. Sie warf sich auf ihre brandneue Matratze und federte ein wenig – sie hatte noch nicht mal ein Laken darübergespannt, sie hatten nicht mehr so viele davon, seit sie die meisten davon zum Feuerlöschen benutzt hatten. Das Zimmer roch nach nassem, rauchigem Hund, aber das war ihr gleichgültig.

Voll und ganz.

Spaß.

Aber hallo.

***

Gegen Mittag hörte Claire die Türklingel und rannte hinunter. Shane lag auf der Couch und schlief wie ein Murmeltier. Noch immer keine Spur von Eve und sie erwartete nicht, am helllichten Tag Michael anzutreffen. Sie flitzte den Flur entlang zur Tür, die mit einem Holzstuhl als provisorischem Schloss verkeilt war, und zögerte.

»Michael? Bist du da?« Ein eisiger Hauch streifte sie und zerzauste ihr das Haar. Wow. Der war heute aber stark. »Kann ich die Tür aufmachen? Einmal für Ja, zweimal für Nein.«

Offensichtlich ja. Sie zog den Stuhl weg und schaute nach draußen. Zwei Männer standen auf der Veranda, sie waren beide groß. Der eine war hager, sah streng aus und hatte schwarzes Haar. Der andere war ein wenig blass (aber nicht vampirblass) und untersetzt, und wo er keine Glatze hatte, sah sein sehr kurz geschnittenes Haar braun aus.

Beide zeigten ihre Abzeichen. Polizei.

»Du bist Claire, oder?«, sagte der Hagere und streckte seine Hand aus. »Joe Hess. Das ist mein Partner, Travis Lowe. Wie geht’s?«

»Ähm...«Sie griff ungeschickt nach seiner Hand. »Gut eigentlich.« Lowe schüttelte ihr ebenfalls die Hand. »Ist etwas... ich meine, haben Sie etwas gefunden...?« Einerseits hoffte sie nämlich, dass Shanes Dad in einer Gefängniszelle saß, andererseits hatte sie Angst davor, wegen Shane. Sie wippte nervös auf ihren Fersen vor und zurück, wobei ihre Augen von einem zum anderen wanderten.

Joe Hess lächelte. Anders als die meisten Lächeln, die sie seit ihrer Ankunft in Morganville gesehen hatte, schien das hier... unkompliziert zu sein. Irgendwie natürlich. Nicht glücklich – das wäre auch merkwürdig gewesen –, aber tröstlich. »Schon okay«, sagte er. »Nein, wir haben sie nicht gefunden, aber ihr braucht keine Angst zu haben. Dürfen wir reinkommen?«

Sie hörte schlurfende Schritte hinter sich. Shane war aufgewacht und stand barfuß und zerzaust im Flur mit fies platt gewalzter Frisur, die noch schlimmer wurde, als er gähnte und sich mit dem Finger durch die Haare fuhr, sodass sie nach allen Richtungen abstanden.

Wie krank war es, wenn sie das sexy fand?

Claire riss sich zusammen und deutete auf die Cops in der Haustür. Shane erfasste sofort die Situation.

»Meine Herren«, sagte er und ging zur Tür. »Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?«

»Ich fragte gerade, ob wir nicht hereinkommen könnten, um zu reden«, sagte Detective Hess. Er hatte aufgehört zu lächeln, sah aber immer noch freundlich aus. »Inoffiziell.«

Ein kalter Hauch glitt über Claires Haut. Ein einzelner Kältehauch. Ja. Michael gab sein Okay.

»Klar«, sagte Claire und trat zurück, um die Tür weiter aufzumachen. Die Cops traten über die Schwelle, zuerst Hess, dann Lowe, und Shane warf Claire einen Blick zu, den sie nicht richtig zu deuten wusste. Sie führte die Männer ins Wohnzimmer.

Lowe zeigt mehr Interesse an dem Zimmer als an ihnen beiden. Es schien ihm wirklich zu gefallen. »Schön«, murmelte er – das erste Mal, dass er überhaupt etwas sagte. »Großartiger Einsatz von Holz hier drin. So organisch.«

Sie konnte nicht wirklich Danke sagen, denn, hey, schließlich hatte sie das Haus nicht gebaut. Es gehörte ihr nicht einmal. Aber Michael zuliebe sagte sie: »Das finden wir auch, Sir.« Claire nahm nervös auf der Sofakante Platz. Shane blieb stehen und Hess und Lowe tigerten herum, nicht dass sie etwas suchten, aber sie nahmen alles auf. Hess konzentrierte sich weiterhin auf die beiden und einen Augenblick später beugte er die Knie und setzte sich auf den Stuhl, auf dem Michael am Vorabend gesessen hatte. Déjà vu, dachte Claire. Hess schien ein wenig zu frösteln und schaute auf, vielleicht um nachzuschauen, wo der Luftzug herkam, der ihn soeben gestreift hatte.

Michael mochte diesen Stuhl.

»Ihr hattet gestern Abend Ärger hier«, sagte Hess. »Ich weiß, dass ihr euch mit meinen Kollegen Gretchen und Hans unterhalten habt. Ich habe heute Morgen den Bericht gelesen.«

Konnte nicht schaden, das zuzugeben. Shane und Claire nickten beide.

»Ein bisschen unheimlich, was?«

Claire nickte. Shane nicht. Er schenkte den Detectives ein schmales kleines Lächeln. »Ich wohne schon mein ganzes Leben in Morganville. Definieren Sie unheimlich«, sagte er. »Jedenfalls, wenn Sie hier guter Cop, böser Cop spielen möchten...«

»Nein«, sagte Hess. »Glaubt mir, ihr würdet es merken, wenn es so wäre, ich wäre dann nämlich der böse Cop.« Und etwas in seinen Augen sagte Claire merkwürdigerweise, dass das stimmte. »Seht mal, ich will euch nicht anlügen. Gretchen und Hans verfolgen ihre eigenen Ziele. Wir auch. Wir möchten sicher sein, dass ihr geschützt seid, versteht ihr? Das ist unser Job. Die Polizei, dein Freund und Helfer – Travis und ich glauben daran.«

Lowe machte eine Pause beim Herumtigern und nickte.

»Wir sind neutral. Es gibt ein paar von uns in der Stadt, die beiden Seiten genug Gutes getan haben, um ein wenig Freiheit zu verdienen, solange wir vorsichtig damit umgehen.«

»Joe meint damit«, sagte Detective Lowe, »dass sie uns ignorieren, solange wir auf unserer Seite der Spielwiese bleiben. Hier sind die Menschen die Sklaven. Vergiss die Sache mit der Hautfarbe. Wir müssen deshalb auf unsere Leute aufpassen, wenn wir können.«

»Und wenn wir das nicht mehr können«, sagte Hess so glatt, als hätte er es auswendig gelernt, »wird’s hässlich. Es ist nicht so, dass wir Handlungsfreiheit hätten. Wir sind die Schweiz. Wenn ihr über die Grenze geht, seid ihr auf euch allein gestellt.«

Shane sah ihn finster an. »Was können Sie für uns tun, wenn Sie die Schweiz sind?«

»Ich kann dafür sorgen, dass Gretchen und Hans euch keine weiteren Besuche abstatten«, sagte Hess. »Ich kann euch die meisten Cops vom Hals halten, vielleicht nicht alle. Ich kann verbreiten – und zwar weitläufig –, dass ihr nicht nur unter dem Siegel der Gründerin steht; Travis und ich haben ein Auge auf euch. Das wird alle anderen von dem Versuch abhalten, Freunde zu gewinnen, indem sie euch herumschubsen.«

»Alle anderen menschlichen Cops«, fügte Lowe hinzu. »Die Vamps werden euch Angst machen, bis ihr die Hosen voll habt, aber sie werden euch nichts tun. Es sei denn, ihr vermasselt es und verliert das Siegel der Gründerin. Verstanden?«

Was im Grunde schon passiert war. Der Teil mit dem Vermasseln. Na ja, eigentlich hatte Shanes Dad kein Gesetz gebrochen, dachte sie. Noch nicht. Denn Michael war ja nicht tot.

Er war ja nur gestorben.

Himmel, Morganville bereitete ihr Kopfschmerzen.

Oben knallte eine Tür zu und Eve klapperte in voller Goth-Montur die Treppe herunter: ein durchsichtiges violettes Shirt über einem schwarzen Korsett-Teil, ein Rock, der aussah, als sei er in den Häcksler geraten, Strümpfe mit eingewebten Totenköpfen und ihre schwarzen Mary Janes. Ziemlich wild. Ihr Make-up erstrahlte wieder in alter Pracht, schneeweißes Gesicht, schwarz umrandete Augen, Lippen, die aussahen wie drei Tage alte Blutergüsse.

»Joe!« Eve flog praktisch durch das Zimmer, um ihn zu umarmen. Shane und Claire tauschten Blicke aus. So etwas sahen sie hier nicht alle Tage. »Joe, Joe, Joe! Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst!«

»Hi, Skippy. Du erinnerst dich bestimmt an Travis, oder?«

»Big T.!« Noch eine Umarmung. Das überschritt, wie Claire fand, die Grenze des Surrealen, selbst für Morganville. »Ich bin so froh, euch zu sehen, Jungs!«

»Wir auch, Kleines«, sagte Lowe. Er lächelte, was seinem Gesicht fast schon etwas Engelhaftes verlieh.

»Du hast unsere Nummern noch, oder?«

Eve klopfte mit der Hand auf das Handy, das in einem sargförmigen Halter an ihrem Gürtel hing. »Oh ja, auf Schnellwahl. Aber es war nicht... ähm...«

Claire hatte plötzlich das seltsame Gefühl, dass es etwas gab, worüber Eve vor ihnen nicht sprechen wollte. Die Cops schienen dasselbe zu denken, denn ihre Blicke trafen sich kurz und Hess sagte: »Sollen wir dich auf den neuesten Stand bringen? Wie wär’s, wenn du uns mal deine Kaffeemaschine vorführst?«

»Klar!«, sagte Eve strahlend und führte sie in die Küche.

»Na«, sagte Shane, als die Tür hinter ihnen zufiel, »wenn das mal nicht seltsam ist.«

»Habe ich was verpasst?«, fragte Claire. »Kann mir mal jemand auf die Sprünge helfen?«

»Keine Ahnung.«

Die Geräusche einer Unterhaltung drangen aus der Küche, Musik ohne Worte. Claire zappelte ein wenig herum, dann stand sie auf und schlich auf Zehenspitzen hinüber.

Hess redete über jemanden, der Jason hieß. Shane reagierte, indem er seine Hand auf Claires Schulter legte und seinen Finger an die Lippen hob.

Was?, formte sie schweigend mit den Lippen.

Ich möchte zuhören.

Detective Lowe sprach gerade. »... interessiert es dich bestimmt, dass er heute rauskommt. Nun, bevor du etwas dazu sagst, er bekam eine Verwarnung. Es ist ihm nicht erlaubt, sich dir oder deinen Eltern zu nähern. Er wird überwacht.«

»Überwacht.« Eve klang erschüttert. »Aber ich dachte, er würde sehr lange im Gefängnis bleiben! Was ist mit diesem Mädchen...?«

»Sie hat die Anschuldigung zurückgezogen«, sagte Hess. »Wir konnten ihn nicht ewig eingesperrt lassen, Süße. Tut mir leid.«

»Aber er ist schuldig!«

»Ich weiß. Aber jetzt steht dein Wort gegen seines und du weißt, wie so was entschieden wird. Du bist auf niemanden vereidigt, Eve. Er schon.«

Eve fluchte. Es hörte sich an, als versuchte sie, nicht zu weinen. »Weiß er, wo ich bin?«

»Er wird es herausfinden«, sagte Hess. »Aber wie ich schon sagte: Er wird überwacht und wir werden ein Auge auf euch Kids hier haben. Du lässt Jason in Frieden, er lässt dich in Frieden. Okay?«

Falls Eve zustimmte, tat sie das in aller Stille. Claire wäre fast nach hinten gekippt, als Shane sie an den Schultern zog. Dann erlangte sie das Gleichgewicht wieder und folgte ihm zurück zur Couch. »Wer ist Jason?« Sie konnte mit ihrer Frage nicht einmal warten, bis sie sich gesetzt hatten.

»Shit«, seufzte er. »Jason ist ihr Bruder. Das Letzte, was ich über ihn gehört habe, ist, dass er im Gefängnis sitzt, weil er jemanden erstochen hatte. Er ist eine Art Psycho und Eve hat ihn angezeigt. Kein Wunder, sie hat durchgedreht.«

»Ihr älterer Bruder?« Claire stellte sich einen Football spielenden Goth-Muskelprotz vor, der mindestens drei Meter groß war und ein Doping-Problem hatte.

»Jünger«, sagte Shane. »Siebzehn, schätze ich. Dürres, unheimliches Kerlchen. Ich mochte ihn nie.«

»Glaubst du...«

»Was?«

»Glaubst du, er kommt hierher? Denkst du, er wird versuchen, Eve wehzutun?«

Shane zuckte die Schultern. »Wenn er das tut, wird er das auf dem ganzen Weg ins Krankenhaus bereuen.« Er sagte das so, als sei es eine Tatsache, was bei Claire ein seltsam warmes Gefühl hervorrief. Sie rang nach Atem. Shane schien das nicht bemerkt zu haben. Jedenfalls ließ er sich nichts anmerken. »Solange wir hierbleiben, sind wir sicher.« Er schaute hinauf zur leeren Decke. »Nicht wahr, Michael?«

Ein kalter Hauch strich über Claires Haut. »Klar«, sagte Claire an Michaels Stelle.

Aber sie war sich da nicht so sicher.