8

 

Letztendlich setzten sie sie auf einen Stuhl und Gretchen musste sie mit ihren starken, eisenharten Händen festhalten, die sie ihr auf die Schulter legte. Claire kämpfte weiterhin gegen sie an, aber Angst und Schrecken trugen den Sieg über ihre Wut davon. Und Shane rührte sich nicht. Er beobachtete sie, aber er konnte wegen des Knebels nichts sagen, und wenn Shane nicht kämpfte, dann gab es vielleicht gar nichts zu gewinnen.

Eve fuhr herum und gab Oliver eine Ohrfeige. Ein harter Schlag mit der Handfläche, der wie ein Gewehrschuss von dem vielen Marmor im Raum widerhallte. Alle schnappten nach Luft. »Du Mistkerl!«, fauchte sie. »Lass Shane gehen! Er hat nichts damit zu tun!«

»Ach wirklich.« Eine schlichte Aussage, nicht einmal eine richtige Frage. Anders als ein menschliches Gesicht zeigte Olivers kein Zeichen eines Handabdrucks von dem Schlag, der definitiv heftig genug ausgefallen war. Er sah nicht einmal so aus, als hätte er ihn überhaupt gespürt. »Setz dich, Eve, dann erzähle ich dir die wahre Geschichte deines ziemlich jämmerlichen Lebens.«

Sie setzte sich nicht. Oliver legte ihr die flache Hand auf die Brust, direkt unter dem Schlüsselbein, und schubste sie. Eve fiel auf einen Stuhl und starrte ihn an.

»Detective Hess«, sagte Oliver. »Ich würde vorschlagen, Sie erklären meiner lieben Exangestellten genau, was sie riskiert, wenn sie mich das nächste Mal im Zorn anrührt. Oder, wo wir gerade dabei sind, überhaupt anrührt.«

Hess bewegte sich schon. Er saß auf dem Stuhl neben Eve und beugte sich zu ihr hinüber. Er flüsterte ihr etwas zu, eindringliche Worte, die Claire nicht verstehen konnte. Eve schüttelte heftig den Kopf. Schweiß lief in einem Rinnsal von ihren zerzausten Haaren seitlich an ihrem Gesicht herunter und hinterließ eine fleischfarbene Spur in ihrem weißen Make-up.

»Nun«, fuhr Oliver fort, als Hess fertig war. Eve saß still da. »Wir sind, was Technik angeht, schließlich keine Volltrottel, Eve. Und wir besitzen die Telefonanbieter hier in der Gegend, vor allem die Handyanbieter. Shane wählte von euch zu Hause eine Nummer, die, wie wir zu unserer großen Überraschung herausfanden, zu einem Gerät gehörte, das bei seinem Freund Mr Wallace lokalisiert wurde.« Oliver deutete auf den Biker. »GPS ist übrigens eine fabelhafte Erfindung. Wir sind sehr dankbar dafür, dass die Menschheit so viel harte Arbeit da reinsteckt, ihre eigene Spur verfolgbar zu machen. Deshalb ist es viel leichter als früher, Menschen aufzustöbern.«

»Shane hat nichts getan«, sagte Claire. »Bitte, Sie müssen ihn gehen lassen.«

»Shane wurde am Tatort angetroffen«, sagte Oliver. »Mit Brandons Leiche. Und ich glaube, wir können kaum sagen, dass er nicht darin verwickelt war, wenn er gut genug mit Mr Wallace befreundet ist, um mit ihm zu telefonieren.«

»Nein, er hat nicht...!«

Oliver gab ihr eine Ohrfeige. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, sie fühlte nur den Schlag und sah einen Augenblick lang Rot. Ihr ganzer Körper bebte vor Verlangen zurückzuschlagen und sie fühlte den brennenden Abdruck seiner Hand wie ein Brandzeichen auf ihrer Wange.

»Siehst du, Eve?«, sagte Oliver. »Auge um Auge. Natürlich ist meine Auslegung der Heiligen Schrift ein wenig frei.«

Shane brüllte durch seinen Knebel und er wehrte sich jetzt auch, aber die Vampire hielten ihn auf den Knien unten, ohne dabei auch nur ins Schwitzen zu geraten. Eves Augen waren riesig und dunkel und Hess hielt sie auf ihrem Stuhl fest, bevor sie auf Oliver losgehen konnte.

Nicht, dachte Claire eindringlich. Denn ihre Freunde hatten Oliver nun genau das verraten, was er wissen wollte: Dass sie etwas preisgeben würden, wenn er Claire verletzte.

»Oliver«, sagte Amelie. Ihre Stimme war leise und sehr sanft. »Gibt es noch eine Frage, die du den Kindern stellen möchtest? Oder frönst du gerade nur deinen Leidenschaften? Du sagst, du weißt ohnehin, dass der Junge diesen Mann angerufen hat. Was brauchst du mehr an Informationen?«

»Ich möchte wissen, wo sein Vater ist«, sagte Oliver. »Einer von ihnen weiß es.«

»Die Mädchen?« Amelie schüttelte den Kopf. »Es scheint unwahrscheinlich, dass jemand wie Mr Collins einem von ihnen vertraut.«

»Dann weiß es der Junge.«

»Möglich.« Sie tippte sich mit einem ihrer blassen Finger an die Lippen. »Dennoch bezweifle ich irgendwie, dass er es dir verraten wird. Und ich glaube, es gibt keinen Anlass für Grausamkeit, um die Wahrheit herauszufinden.«

»Das heißt?« Oliver wandte sich ihr vollständig zu und verschränkte die Arme.

»Das heißt, dass er von selbst zu uns kommen wird, Oliver, und das weißt du ganz genau. Um den Jungen vor den Konsequenzen seines Handelns zu retten.«

»Du entziehst also dem Jungen deinen Schutz?«

Amelie schaute auf den Leichnam auf dem Tisch hinunter. Nach einem Augenblick der Stille erhob sie sich würdevoll und ging zu Brandons sterblichen Überresten hinüber, strich mit geisterhaft weißen Fingern über sein verzerrtes Gesicht und sagte: »Er wurde noch vor King John geboren, wusstet ihr das? Ein geborener Prinz. All diese Jahre – und das ist das Ende. Ich trauere um den Verlust all dessen, was er sah, was wir nie erfahren werden. All die Erinnerungen, die uns niemals bereichern werden.«

»Amelie.« Oliver klang ungeduldig. »Wir können nicht zulassen, dass seine Mörder frei herumlaufen. Das weißt du doch.«

»Er gehörte zu deinen Leuten, Oliver. Du könntest nach diesem Verlust einen Moment der Trauer erübrigen, bevor du anfängst, den Bluthund zu spielen.«

Amelie hatte ihm den Rücken zugekehrt, deshalb konnte sie es nicht gesehen haben, aber Claire sah es: Hass blitzte in Olivers Augen auf, Hass verzerrte sein Gesicht. Er bekam es unter Kontrolle, bevor sich Amelie ihm wieder zuwandte.

»Brandon hatte seine Schwächen«, sagte Oliver. »Von uns allen war er derjenige, der die Jagd am meisten liebte. Ich glaube nicht, dass er je mit den Gesetzen in Morganville zurechtkam. Aber ebendiese Gesetze müssen wir nun einhalten. Indem wir diese Verbrecher bestrafen.«

Bestrafen? Wie sieht es mit einem Prozess aus?, wollte Claire fragen, aber eine kalte Hand legte sich von hinten auf ihren Mund, und als sie aufblickte, sah sie, dass Gretchen sich mit ausgefahrenen Vampirzähnen über sie beugte und einen Finger auf ihre eigenen Lippen legte, um sie zum Schweigen zu bringen. Eve wurde auf ähnliche Weise von Hans geknebelt. Neben ihnen verschränkte Detective Hess die Arme und sah zutiefst beunruhigt aus, aber er sagte nichts.

Amelie blickte zu Oliver, dann an ihm vorbei zu Shane.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte sie ruhig. »Mein Schutz reicht nur bis zu diesem Punkt. Du hast mein Vertrauen missbraucht, Shane. Um der Freundlichkeit willen breche ich deinen Freunden nicht die Treue. Sie verbleiben unter meinem Schutz.« Ihre blassen Augen wanderten zu Oliver und sie neigte langsam und königlich den Kopf. »Er gehört dir. Ich ziehe meinen Schutz ab.«

Claire schrie aus Protest auf, ihr Schrei wurde aber durch Gretchens Hand erstickt. Amelie beugte sich vor und küsste Brandon auf seine wächserne Stirn.

»Leb wohl, Kind«, sagte sie. »Trotz deiner Schwächen warst du einer der Ewigen. Wir werden dich nicht vergessen.«

Claire hörte außerhalb des Saales jemanden schreien und Amelie fuhr so schnell herum, dass man es nur verschwommen sah, dann sprang sie zur Seite...und etwas schlug in die Marmorsäule neben ihr, dort, wo sie gestanden hatte, und explodierte mit einem scharfen Knallen.

Eine Flasche. Claire roch Gas und hörte dann ein heftig zischendes Geräusch.

Dann gingen die Vorhänge in Flammen auf.

Amelie knurrte und war plötzlich knöchrig weiß und überhaupt nicht mehr menschlich, dann wurde sie aus dem Weg und zu Boden gezogen, wobei sie rundum von ihren Bodyguards Deckung erhielt, die sich um sie drängten. Schüsse explodierten im Saal und jemand – Detective Hess? – stieß Claire auf den Teppich und gab ihr ebenfalls Deckung. Auch Eve lag auf dem Boden und rollte sich zu einem Knäuel zusammen; ihre Hände mit den schwarzen Fingernägeln schützten ihren Kopf.

Und dann wurde gekämpft; Knurren und Knallen, Holz, das gegen die Wände geschleudert wurde und beim Kämpfen zu Bruch ging. Claire konnte in dem, was vor sich ging, keinen Sinn erkennen, außer dass es brutal war und rasch vorüberging. Als der beißende Rauch sich endlich verzog, stand Hess auf und sie konnte sich aufsetzen.

Im Eingang des Saales lagen zwei tote Männer. Kräftige Typen in Lederkluft. Ein weiterer bewegte sich noch.

Amelie schob ihre Bodyguards beiseite und stolzierte an Claire vorbei, als würde sie gar nicht existieren. Sie glitt den Gang hinunter zu dem einen Biker, der noch immer kraftlos versuchte, wegzukriechen. Er zog eine dunkle Spur auf dem braunen Boden hinter sich her. Claire kam langsam auf die Beine und war dankbar, dass Detective Hess den Arm um sie gelegt hatte; sie wechselte mit Eve, die auf seiner anderen Seite stand, einen Blick blanken Entsetzens.

Amelie kam nie bei dem Biker an. Oliver war zuerst da, zerrte den verletzten Mann hoch und brach ihm, noch bevor Claire blinzeln konnte, mit einem trockenen Geräusch das Genick.

Der Körper fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Claire wandte sich um und verbarg ihr Gesicht in Hess’ Jacke, wobei sie versuchte, aufkeimende Übelkeit zu unterdrücken.

Als sie wieder hinschaute, starrte Amelie Oliver an. Er starrte direkt zurück. »Man sollte es nie darauf ankommen lassen«, sagte er und schenkte ihr ein langsames, breites Lächeln. »Er hätte dich töten können, Amelie.«

»Ja«, sagte sie sanft. »Und das wäre in niemandes Interesse gewesen oder vielleicht doch, Oliver? Was für ein Glück ich habe, dass du hier warst, um mich zu... retten.«

Ohne dass sie eine Bewegung oder eine Geste gemacht hätte, schwärmten ihre Bodyguards aus und umringten sie und die ganze Meute bewegte sich hinaus, wobei sie um den Toten herumgingen (oder einfach über ihn hinweg).

Oliver beobachtete, wie sie sich entfernte, dann wandte er sich um und starrte alle im Raum finster an, wobei sich sein Blick an Shane heftete.

»Dein Vater glaubt, er könne ohne Folgen handeln, so wie ich das sehe«, sagte er. »Traurig für dich. Bringt diese beiden dorthin, wo sie hingehören. In Käfige.«

Der Biker und Shane wurden hochgezerrt und hinter den Vorhang geschleppt. Claire machte einen Satz nach vorne, aber Gretchen packte sie und legte die Hand auf Claires Mund. Claire zuckte zusammen, als Gretchen ihr den Arm auf den Rücken drehte, und ihr wurde bewusst, dass sie weinte; sie bekam keine Luft, wegen des Drucks der Hand auf ihrem Mund und weil sich ihre Nase langsam verstopfte.

Eve weinte nicht. Sie starrte Oliver an und selbst als Detective Hess sie losließ, rührte sie sich nicht von der Stelle.

»Was werdet ihr mit ihnen machen?«, fragte sie. Sie klang unnatürlich ruhig.

»Du kennst die Gesetze«, sagte Oliver. »Nicht wahr, Eve?«

»Das könnt ihr nicht machen. Shane hat nichts damit zu tun.«

Oliver schüttelte den Kopf. »Ich diskutiere mein Urteil nicht mit dir. Bürgermeister? Unterschreiben Sie die Papiere? Wenn Sie damit fertig sind, sich zu ducken, meine ich.«

Der Bürgermeister hatte kauernd hinter einer Urne Schutz gesucht. Nun stand er beschämt und verärgert auf. »Natürlich unterschreibe ich«, sagte er. »Die haben vielleicht Nerven, diese Mistkerle! Hier zuzuschlagen! Absolut bedrohlich...«

»Ja, ziemlich traumatisch«, sagte Oliver. »Die Papiere.«

»Ich habe einen Notar mitgebracht. Alles wird hübsch legal abgewickelt.«

Gretchen ließ Claire los, da sie fühlte, dass ihr Kampfgeist nachgelassen hatte. »Legal?«, keuchte Claire. »Aber...es gab ja noch nicht einmal einen Prozess! Was ist mit den Geschworenen?«

»Er hatte seine Geschworenen«, erklärte ihr Detective Hess. Er klang sanft, aber was er sagte, war hart. »Die Geschworenen waren die Leute des Opfers. So funktioniert das Gesetz hier. Dasselbe gilt für Menschen. Wenn je ein Vampir wegen Mordes angeklagt würde, entscheiden Menschen bei ihm über Leben und Tod.«

»Außer dass noch nie gegen einen Vampir Anklage erhoben wurde«, sagte Eve. Sie sah selbst schon fast so kalt und blass aus wie ein Vampir. »Oder je erhoben werden würde. Belüg dich nicht selbst, Joe. Es sind nur die Menschen, die hier die volle Härte des Gesetzes abbekommen.« Sie sah zu den beiden Toten hin, die auf dem Teppich am Eingang des Saales lagen. »Ihr hattet aber ganz schön die Hosen voll wegen ihnen, nicht wahr?«

»Du brauchst ihnen gar nicht zu schmeicheln. Sie hatten keine Hoffnung auf Erfolg«, sagte Oliver. Er schaute Hans an. »Ich brauche die beiden nicht mehr.«

»Moment! Ich möchte mit Shane sprechen!«, schrie Claire. Gretchen schubste sie heftig in Richtung Ausgang. Sie musste sich bewegen, sonst wäre sie über die toten, blutüberströmten Körper gefallen.

Claire bewegte sich. Hinter ihr hörte sie, wie Eve dasselbe tat.

Sie blinzelte ihre Tränen weg, wischte sich ärgerlich über Gesicht und Nase und versuchte, darüber nachzudenken, was sie jetzt tun sollte. Shanes Dad, dachte sie. Shanes Dad wird Shane retten. Aber die toten Typen am Boden, über die sie stieg, waren natürlich ein Zeichen dafür, dass bereits ein Rettungsversuch stattgefunden hatte, der nicht allzu gut verlaufen war. Außerdem war Shanes Dad gar nicht da. Er war nicht dageblieben, als Shane geschnappt wurde. Vielleicht kümmerte ihn das gar nicht. Vielleicht sorgte sich außer ihr gar niemand.

»Langsam«, sagte Detective Hess und trat neben sie, um sie am Ellbogen zu halten. Er schaffte es, es so aussehen zu lassen, als würde er sie begleiten, anstatt sie abzuführen. »Wir haben noch Zeit. Das Gesetz sagt, dass die Verurteilten zwei Nächte lang auf dem Square gezeigt werden müssen, damit jeder sie sehen kann. Sie werden in Käfige gesteckt, sie werden also sicher genug sein. Es ist nicht das Ritz, aber Brandons Freunde werden daran gehindert, sie ohne gebührenden Prozess in Stücke zu reißen.«

»Wie...« Claire hatte einen Kloß im Hals. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Wie werden sie sie...?«

Hess tätschelte ihre Hand. Er sah erschöpft, besorgt und wütend aus. »Ihr werdet nicht dabei sein, wenn es passiert«, sagte er. »Also denk nicht darüber nach. Wenn du mit ihm sprechen willst, kannst du das. Sie stecken sie jetzt in der Mitte des Parks in Käfige.«

»Oliver sagte, du sollst sie zurückbringen«, sagte Gretchen hinter ihnen. Hess zuckte die Achseln.

»Na ja, er hat nicht gesagt, wann, oder?«

***

Founder’s Park bestand aus einem großen Kreis, mit Fußwegen, die wie Radspeichen zum Zentrum führten.

Und in der Mitte standen zwei Käfige. Zellen, die gerade groß genug waren, dass ein Mensch darin stehen konnte, aber nicht breit genug, um sich auszustrecken. Shane würde im Sitzen schlafen müssen oder in Embryohaltung zusammengekrümmt.

Er saß mit angezogenen Knien, sein Kopf ruhte auf seinen Armen, als Eve und Claire ankamen. Der Biker schrie und rüttelte am Gitter. Shane nicht. Er war... ruhig.

»Shane!« Claire flog förmlich über den freien Platz, umfasste die kalten Eisenstäbe mit beiden Händen und presste ihr Gesicht dazwischen. »Shane!«

Er sah auf. Seine Augen waren gerötet, aber er weinte nicht. Zumindest jetzt nicht. Es gelang ihm, sich in dem kleinen, beengten Käfig so zu bewegen, dass er näher bei ihr war; er griff durch die Stäbe, um seine Hand an ihre Wange zu legen, die er mit dem Daumen streichelte. Es war die Wange, auf die Oliver sie geschlagen hatte, bemerkte sie. Sie fragte sich, ob sie noch immer rot war.

»Es tut mir leid«, sagte Shane. »Mein Dad...ich musste gehen. Ich konnte ihn das nicht tun lassen. Ich musste versuchen, ihn aufzuhalten, Claire, ich musste einfach...«

Sie weinte wieder leise. Er wischte die Tränen, die herunterrollten, mit dem Daumen ab. Sie fühlte, wie seine Hand zitterte. »Du hast ihm nichts angetan, oder? Ich meine Brandon?«

»Ich mochte den Mistkerl nicht, aber ich habe ihm nichts getan und ich habe ihn nicht getötet. Das war schon erledigt, als ich dort ankam.« Shane lachte, aber es klang gezwungen. »Tja, mein Pech, was? Losgeritten, um den Helden zu spielen, und stattdessen als Schurke geendet.«

»Dein Dad...«

Er nickte. »Dad wird uns herausholen. Mach dir keine Sorgen, Claire. Alles wird gut.«

Aber an der Art, wie er das sagte, erkannte sie, dass er selbst nicht daran glaubte. Sie biss sich auf die Lippen, um eine neue Welle von Schluchzern zu unterdrücken, und wandte ihren Kopf, um seine Handfläche zu küssen.

»Hey«, sagte er leise. Er kam noch näher an die Gitterstäbe und presste sein Gesicht dazwischen.

Sie versuchte zu lachen. Sie versuchte es wirklich.

Sein Lächeln wirkte brüchig. »Ich werde das als Schutzhaft betrachten. Zumindest kann ich so nichts anstellen, was mich in echte Schwierigkeiten bringen könnte, oder?«

Sie lehnte sich vor, um ihn zu küssen. Seine Lippen fühlten sich an wie immer, weich und warm, und sie wollte nicht weggehen. Nie mehr.

Er ließ sie zuerst los und sie blieb hilflos, zitternd und erneut den Tränen nahe zurück. Verdammt! Shane konnte dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden. Das war einfach nicht fair!

»Ich werde mit Michael sprechen«, sagte sie.

»Okay.« Shane nickte. »Sag ihm...naja, was soll’s. Sag ihm, dass es mir leidtut, ja? Und dass er meine Playstation haben kann.«

»Hör auf! Hör sofort auf damit...du wirst nicht sterben, Shane!«

Er schaute sie an und sie sah einen hellen Funken Angst in seinen Augen. »Ja«, sagte er leise. »Stimmt.«

Claire ballte die Fäuste, bis sie schmerzten, und schaute Eve an, die ruhig im Hintergrund stand. Als Eve an den Käfig trat, wandte sich Claire ab und ging zu Detective Hess. »Wie?«, fragte sie wieder. »Wie werden sie sie töten?«

Er schaute sie zutiefst unbehaglich an, aber dann senkte er den Blick und sagte: »Feuer. Es ist immer Feuer.«

Das brachte sie beinahe wieder zum Weinen. Beinahe. Shane wusste es schon, dachte sie. Eve auch. Sie haben es von Anfang an gewusst. »Sie müssen ihm helfen«, sagte sie. »Sie müssen es einfach! Er hat nichts getan!«

»Ich kann nicht«, sagte er. »Es tut mir leid.«

»Aber...«

»Claire.« Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und zog sie in eine Umarmung. Sie bemerkte, dass sie zitterte, und dann kamen die Tränen, eine ganze Flut davon, und sie hielt sich an den Aufschlägen seiner Jacke fest und weinte herzzerreißend. Hess strich ihr über das Haar. »Bring mir Beweise, dass er nichts mit Brandons Tod zu tun hat, und ich schwöre dir, alles zu tun, was in meiner Macht steht. Aber bis dahin sind mir die Hände gebunden.«

Der Gedanke, dass Shane in diesem Käfig verbrannt werden könnte, war das Schlimmste, was sie sich je vorgestellt hatte. Reiß dich zusammen, dachte sie wütend. Du bist alles, was er hat! Also atmete sie tief und zitternd durch und löste sich aus Hess’ Umarmung, wobei sie sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts die Tränen aus dem Gesicht wischte. Hess bot ihr ein Papiertaschentuch an. Sie nahm es, putzte sich die Nase und kam sich bescheuert vor. Sie fühlte Eves Hand auf der Schulter, noch bevor sie wusste, dass sie hinter ihr stand.

»Gehen wir«, sagte Eve. »Wir haben noch zu tun.«

***

Es war Michael, der im Hauseingang gestanden hatte, als sie auf ihrem Weg zum Founder’s Square vorbeigefahren waren, und er stand wieder im Hauseingang, als sie jetzt vor 716 Lot Street anhielten. Gretchen öffnete die hintere Autotür, um Eve und Claire aussteigen zu lassen. Claire schaute sich um; Hess saß noch immer auf dem Rücksitz und blickte ihnen nach. Er machte keine Anstalten, mit ihnen auszusteigen. »Detective?«, fragte sie. Eve war schon halb den Gartenweg entlanggegangen, sie bewegte sich schnell. Claire wusste, dass die erste Regel in Morganville »Nicht im Dunkeln herumhängen« lautete, aber sie tat es trotzdem.

»Ich fahre zurück zur Wache«, sagte er. »Hans und Gretchen setzen mich dort ab. Alles in Ordnung.«

Ihr gefiel der Gedanke nicht, jemanden mit Hans und Gretchen allein zu lassen, aber er war der Erwachsene und musste wissen, was er tat, oder? Sie nickte und trat zurück. Dann drehte sie sich um und rannte den Rest des Weges, die Stufen hinauf und ins Haus.

Michael hatte Eve hineingezogen, aber nicht besonders weit; Claire wäre beinahe in die beiden hineingerannt, als sie über die Schwelle stürmte. Sie schlug die Tür zu und verriegelte sie – Shane oder Michael hatte die Schlösser noch einmal gewechselt und durch weitere ergänzt – dann fuhr sie herum und sah, dass Michael Eve umarmt hielt und sie so sehr an sich drückte, dass sie fast in seinen Armen verschwand. Er sah Claire über Eves Schulter hinweg kummervoll an. »Was zum Teufel geht hier vor? Wo ist Shane?«

Oh Gott, er wusste es noch nicht. Warum wusste er es nicht? »Was ist passiert?«, platzte sie heraus. »Warum hast du ihn gehen lassen?«

»Shane? Ich hab ihn überhaupt nirgendwohin gehen lassen. So wenig wie ich euch mitten am Tag völlig ungeschützt gehen ließ. Sein Dad hat angerufen. Er ging einfach weg. Es war immer noch hell. Es gab nichts, was ich hätte tun können.« Michael schob Eve ein wenig von sich weg und schaute sie an. »Was ist passiert?«

»Brandon ist tot«, sagte Eve. Sie versuchte nicht, es abzumildern, und ihre Stimme war hart wie eine Eisenstange. »Sie haben Shane für seinen Mord in einen Käfig am Founder’s Square gesteckt.«

Michael sank gegen die Wand, als hätte ihm jemand in den Magen geschlagen. »Oh«, flüsterte er. »Oh, mein Gott.«

»Sie werden ihn töten«, sagte Claire. »Sie werden ihn bei lebendigem Leibe verbrennen.«

Michael schloss die Augen. »Ich weiß. Ich erinnere mich.« Oh Shit, er hatte schon mal gesehen, wie es gemacht wurde. Eve ebenfalls. Sie erinnerte sich, dass sie es schon mal erwähnt hatten, wobei sie ihr aber die Details erspart hatten. Michael atmete einige Sekunden tief durch, dann sagte er: »Wir müssen ihn da rausholen.«

»Ja«, sagte Eve. »Ich weiß. Aber mit ›wir‹ meinst du wohl Claire und mich, oder? Denn du nützt uns verdammt noch mal überhaupt nichts.«

Sie hätte ihm genauso gut ins Gesicht schlagen können, dachte Claire. Michaels Kinnlade klappte herunter und sie sah den Schmerz in seinen Augen. Eve hatte das wohl nicht gesehen. Sie wandte sich abrupt ab und stapfte schnell davon.

»Claire!«, rief sie über ihre Schulter. »Los, komm! Beweg dich!«

Claire sah Michael bekümmert an. »Tut mir leid«, sagte sie. »Sie hat es nicht so gemeint.«

»Doch, hat sie«, sagte er leise. »Und sie hat recht. Ich nütze euch nichts. Shane nütze ich auch nichts. Wofür bin ich eigentlich gut? Ich könnte genauso gut tot sein.«

Er wandte sich um und ließ seine Hand gegen die Wand krachen, hart genug, um sich etwas zu brechen.

Claire schrie vor Schreck auf, stolperte rückwärts und rannte Eve nach. Wenn Michael zum Racheengel wurde, dann war das ziemlich erschreckend. Außerdem sah er nicht so aus, als wollte er Zeugen für das, was gerade in ihm vorging.

Eve war schon auf der Treppe. »Warte!«, sagte Claire. »Michael... sollten wir nicht...?«

»Vergiss Michael. Bist du dabei oder bist du nicht dabei?«

Dabei. Nahm sie an. Claire warf noch einen Blick in den Flur hinunter, von wo sie noch immer das Geräusch einer Hand hörte, die auf Holz traf, und sie zuckte zusammen. Michael konnte sich nicht verletzen, zumindest nicht dauerhaft, aber es klang schmerzhaft.

Vermutlich nicht so schmerzhaft wie das, was in ihm vorging.

Als Claire Eves Zimmertür erreichte, riss Eve gerade Schubladen auf, zog rüschenbesetztes Zeug heraus und warf es beiseite. Schwarze Spitze. Netzklamotten. Netzstrümpfe. »Ah!«, sagte sie und brachte eine große schwarze Schachtel zum Vorschein. Sie war wohl schwer. Sie machte ein hohles, dumpfes Geräusch, als sie sie auf die Kommode knallte. Dabei stieß sie gegen ihre Sammlung gruseliger Wackelfiguren, die alle unheilvoll mit dem Kopf zu nicken begannen.

»Komm her.«

Claire kam, sie war beunruhigt. So kannte sie Eve gar nicht und sie wusste noch nicht, ob ihr diese neue Eve gefiel. Sie mochte die verletzliche Eve, die, die wegen jeder Kleinigkeit anfing zu weinen. Diese hier war unwirsch und hart und kommandierte gern Leute herum.

»Streck deine Hand aus«, sagte Eve. Claire gehorchte zögernd. Eve klatschte etwas Rundes aus Holz hinein.

An einem Ende war es spitz.

Ein selbst gemachter Pfahl.

»Der beste Freund des Vampir-Killers«, sagte Eve. »Ich habe ein paar davon gemacht, als Brandon mich belästigte. Ich ließ ihn wissen, dass er das nächste Mal, wenn er um mich herumschnuppern würde, einen Holzpflock abkriegen würde. Einen echten.«

»Sind die nicht gesetzlich verboten?«

»Die bringen dich sogar unter das Gefängnis. Oder sie töten dich und werfen dich irgendwo auf ein leeres Grundstück. Lass dich also nicht mit einem erwischen.«

Sie zog noch mehr Pfähle heraus und legte sie auf die Kommode. Danach einige grobe, selbst gemachte, extra große Kreuze. Sie reichte eines davon Claire, die es mit tauben Fingern ergriff. »Aber... Eve, was machen wir denn jetzt?«

»Shane retten. Du willst wohl nicht mehr, was?«

»Natürlich will ich! Aber...«

»Sieh mal.« Eve zog noch mehr Zeug hervor und warf es auf den Stapel Pfähle: Feuerzeugflüssigkeit, ein Zippo-Feuerzeug. »Nette Mädchen war gestern. Wenn wir Shane da rausholen wollen, müssen Vampire sterben. Das bedeutet, dass wir einen Krieg anfangen, den niemand will, aber auf die taffe Art. Ich werde nicht zuschauen, wie Shane brennt. Auf keinen Fall. Sie wollen das. Oliver will das. Schön, können sie haben. Soll er doch daran ersticken!«

»Eve!« Claire ließ das Kreuz und den Pfahl fallen, packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Das kannst du nicht machen! Du weißt, dass das Selbstmord ist. Das hast du selbst zu mir gesagt! Du kannst nicht einfach... Vampire töten! Du wirst in einem Käfig enden, direkt neben...«

Oh Gott. Sie hatte es zuvor nicht gesehen, aber nun wusste sie, was bei Eve anders war. Was in ihren Augen fehlte.

»Du willst sterben«, sagte Claire langsam. »Nicht wahr?«

»Ich habe keine Angst davor«, sagte Eve. »Keine große Sache, oder? Trala, ab ins Paradies, wie meine Eltern mir immer erzählt haben, perlenbesetzte Tore und so. Außerdem wird uns niemand helfen, Claire. Wir müssen zusammenhalten. Wir müssen uns selbst helfen.«

»Was, wenn ich Beweise finde?«, fragte Claire. »Detective Hess sagte...«

»Detective Hess hat zugeschaut und keinen Finger gerührt. Und das werden sie alle tun. Nichts. Wie Michael.«

»Himmel noch mal, Eve, hör schon auf damit! Das ist nicht fair. Michael kann das Haus nicht verlassen! Das weißt du genau!«

»Yeah. Keine große Hilfe, oder?« Eve begann, ihr Vampir-Vernichtungsarsenal in eine schwarze Sporttasche zu stopfen. »Es wird Zeit, dass wir denen mal ein bisschen was heimzahlen. Es gibt noch andere Leute, die es leid sind, den Vamps in den Arsch zu kriechen. Vielleicht kann ich sie finden, wenn du abspringst. Ich brauche Leute, auf die ich mich verlassen kann.«

»Eve!«

»Komm mit oder geh mir aus dem Weg.«

Claire zog sich in den Türrahmen zurück und prallte gegen einen warmen Körper. Sie schrie auf und sprang nach vorne, wobei sie den Kopf wandte und sich... Michael gegenübersah.

Sein Gesicht sah wie eine kreidige Maske aus, seine großen Augen verletzt und zornig. Er nahm Claire an der Hand und zog sie durch die Tür hinaus in den Flur.

Dann nahm er den Türknauf in die Hand und sah Eve an. »Du gehst nirgendwohin«, sagte er. »Nicht, solange ich dich aufhalten kann.«

Er schlug die Tür zu und verschloss sie mit einem altmodischen Schlüssel. Sekunden später knallte Eve von der anderen Seite gegen die Tür und begann, am Knauf zu rütteln. »Hey!«, brüllte sie. »Mach auf! Aber sofort!«

»Nein«, sagte Michael. »Tut mir leid, Eve. Ich liebe dich. Ich lasse nicht zu, dass du das tust.«

Sie brüllte und hämmerte noch heftiger gegen die Tür. »Du liebst mich? Du Arschloch! Lass mich raus!«

»Kannst du sie wirklich da drin lassen?«, fragte Claire ängstlich.

»Für heute Nacht schon«, sagte Michael, wobei sein Blick an der Tür haftete, die unter der Kraft ihrer Tritte und Schläge vibrierte. »Die Fenster und Türen lassen sich nicht öffnen. Sie sitzt fest. Aber wenn die Sonne aufgeht...«Er wandte sich Claire zu. »Du sagtest, Detective Hess würde für Shane eintreten, wenn du Beweise finden könntest?«

»Das hat er zumindest gesagt.«

»Das reicht nicht. Wir brauchen Amelie auf seiner Seite. Und Oliver.«

»Oliver ist derjenige, der ihn in den Käfig gebracht hat! Und Amelie – sie ist einfach weggegangen. Ich glaube nicht, dass sie uns helfen wird, Michael.«

»Versuch es«, sagte er. »Geh. Du musst das tun.«

Claire blinzelte. »Du meinst... da rausgehen? Bei Nacht?«

Michael sah plötzlich erschöpft aus. Und sehr jung. »Ich kann nicht. Ich vertraue Eve nicht genug, als dass ich sie aus ihrem Zimmer herauslassen könnte. Noch viel weniger kann ich sie gehen lassen, um mit einigen der einflussreichsten Vampire der Stadt zu sprechen. Ruf Detective Hess an oder Lowe. Geh nicht allein... aber Claire, du musst das für mich tun. Du musst es für mich in Ordnung bringen. Ich kann nicht...«

All die Dinge, die er nicht tun konnte, standen ihm auf die Stirn geschrieben. Er hatte sich den Kopf an den Mauern eingerannt, die ihn umgaben, und stand nun gebrochen und blutig zwischen den Trümmern.

»Ich weiß«, sagte Claire. »Ich werde es versuchen.«

***

Es war finster, sie war in Morganville und sie war sechzehn. Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, um noch einmal aus dem Haus zu gehen. Trotzdem zog Claire ihre dunkelste Jeans an und ein schwarzes T-Shirt. Außerdem nahm sie ein großes, bombastisches Kreuz mit, das Eve ihr gegeben hatte. Es wurde ihr mulmig bei dem Gedanken an Pfähle. Noch mulmiger, wenn sie daran dachte, tatsächlich jemanden damit zu pfählen.

Ich stehe immer noch unter Schutz, Amelie hatte es gesagt.

Sie hoffte, dass das auch wirklich so gemeint war.

Claire wählte Detective Hess’ Nummer, die sie von der Karte ablas, die Eve an das Brett in der Küche geheftet hatte. Er ging beim zweiten Klingeln ran und klang müde und niedergeschlagen.

»Könnten Sie mich fahren?«, fragte Claire. »Nur wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich muss mit Amelie sprechen.«

»Nicht einmal ich weiß, wie man zu Amelie kommt«, sagte Hess. »Das ist das bestgehütete Geheimnis Morganvilles. Sorry, Kleines, aber...«

»Ich weiß, wie man zu ihr gelangt«, sagte sie. »Ich möchte nur nicht zu Fuß gehen. Angesichts der Tageszeit.«

Einen Moment lang herrschte Stille, dann hörte sie einen Stift, der über Papier kratzte. »Du solltest überhaupt nicht rausgehen«, sagte Hess. »Außerdem glaube ich nicht, dass du irgendetwas erreichst. Du musst jemanden finden, der Shanes Geschichte bestätigen kann. Das heißt, einen der Biker-Kumpel seines Dads. Einer oder zwei könnten noch frei herumlaufen, aber ich glaube nicht, dass man bei ihnen weit kommt, wenn man nett mit ihnen plaudert.«

»Was ist mit seinem Dad?«

»Glaub mir, du wirst Frank Collins nicht finden. Zumindest nicht vor den Mächten, die ihn bereits suchen. Jeder Vampir der Stadt ist heute draußen, sie durchkämmen die Straßen nach ihm. Sie werden ihn irgendwann finden. Es gibt nicht viele Orte, an denen er sich verstecken kann, wenn eine umfassende Suche durchgeführt wird.«

»Aber... wenn sie ihn fänden, hätte das doch sein Gutes. Er könnte ihnen sagen, dass Shane es nicht getan hat!«

»Könnte er«, stimmte Hess zu. »Aber er ist auch wahnsinnig genug zu glauben, dass er in ewigem Ruhm erstrahlen würde, wenn er sich neben seinem Sohn verbrennen lässt. Eine Art Sieg. Er könnte sagen, Shane war dabei, nur um ihn zu bestrafen. Das können wir nicht wissen.«

Das konnte sie nicht leugnen. Claire schluckte schwer. »Also... fahren Sie mich jetzt oder nicht?«

»Du bist also entschlossen rauszugehen«, sagte Hess. »In der Dunkelheit.«

»Ja, und ich werde zu Fuß gehen, wenn es nötig ist. Ich hoffe nur, ich muss nicht.«

Als er seufzte, rasselte es im Hörer. »Also gut. Zehn Minuten. Bleib im Haus, bis ich hupe.«

Claire legte auf, und als sie sich umdrehte, stieß sie beinahe mit Michael zusammen. Sie schrie auf und er streckte die Hand aus, um sie zu beruhigen. Er hielt ihre Arme fest, auch als dies nicht mehr nötig war. Er fühlte sich warm und real an und sie dachte – nicht zum ersten Mal –, wie seltsam es doch war, dass er so lebendig wirkte, obwohl er das in Wirklichkeit gar nicht war. Nicht direkt. Nicht die ganze Zeit.

Er sah aus, als wollte er etwas sagen und wüsste nicht, wie er das sagen sollte. Schließlich schaute er weg. »Kommt Hess?«

»Ja. Zehn Minuten, hat er gesagt.«

Michael nickte. »Wirst du zu Amelie gehen?«

»Vielleicht. Ich habe genau einen Versuch. Wenn es nicht klappt, dann...«Sie breitete die Arme aus. »Dann werde ich stattdessen mit Oliver sprechen.«

»Wenn... wenn du Amelie siehst, sag ihr, ich muss sie sprechen«, sagte er. »Würdest du das für mich tun?«

Claire blinzelte. »Klar. Aber warum?«

»Wegen etwas, das sie einmal gesagt hat. Schau mal, offensichtlich kann ich ja wohl nicht selbst zu ihr gehen. Sie muss hierherkommen.« Michael zuckte die Schultern und schenkte ihr ein dünnes Lächeln. »Nicht so wichtig, warum.«

In ihrem Hinterkopf läutete ein kleines Alarmglöckchen. »Michael, du hast nicht irgendwas, na ja, Verrücktes vor, oder?«

»Sagt die Sechzehnjährige, die zur Tür hinausgeht, um sich mit einer Vampirin zu treffen? Nein, Claire. Ich mache nichts Verrücktes.« In Michaels Augen glitzerte plötzlich ein heftiges Gefühl auf. Es sah aus wie Wut oder Schmerz oder eine ungesunde Mischung aus beidem. »Ich hasse das. Ich hasse es, dich gehen zu lassen. Ich hasse Shane, weil er sich schnappen ließ. Ich hasse das...«

Claire verstand, dass Michael in Wirklichkeit sagen wollte, ich hasse mich. Das verstand sie voll und ganz. Sie hasste sich selbst auch regelmäßig.

»Drisch nicht wieder auf irgendwas ein, okay?« Er sah nämlich wieder so aus. »Pass auf Eve auf. Pass auf, dass sie nicht verrückt spielt, okay? Versprochen? Wenn du sie liebst, musst du gut auf sie aufpassen. Sie braucht dich jetzt.«

Die Wut in seinen Augen ließ ein wenig nach und durch die Art, wie er sie anschaute, fühlte sie sich innerlich ganz weich und warm. »Ich verspreche es«, sagte er und strich mit beiden Händen von oben nach unten über ihre Arme, dann ließ er sie los. »Sag Hess, wenn dir irgendetwas zustößt – irgendetwas –, dann werde ich ihn eigenhändig umbringen.«

Sie lächelte schwach. »Oooh, taffer Typ.«

»Ab und zu. Hör mal, ich hab gar nicht gefragt: Geht es Shane gut?«

»Gut? Du meinst, ob sie ihm was angetan haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, er war mehr oder weniger noch ganz. Aber er sitzt in einem Käfig, Michael. Und sie werden ihn umbringen. Das heißt also, nein, es geht ihm nicht gut.«

Sein Blick wurde ein wenig wild. »Nur deshalb lasse ich dich gehen. Wenn ich eine andere Wahl hätte...«

»Die hast du«, sagte sie. »Wir könnten alle hier rumsitzen und ihn sterben lassen. Oder du könntest Eve auf ihre Kamikaze-Mission gehen lassen, damit sie sich umbringen lässt. Oder du schickst die süße, ruhige, vernünftige Claire los, um ein paar Verhandlungen zu führen.«

Er schüttelte den Kopf. Seine langen, eleganten Hände, die sich so zu Hause fühlten, wenn sie um eine Gitarre gelegt waren, ballten sich zu Fäusten. »Schätze, das bedeutet, dass es keine andere Wahl gibt.«

»Nicht wirklich«, stimmte Claire zu. »Ich habe, was die Sache mit der Wahl angeht, glatt gelogen.«

***

Detective Hess war überrascht, als sie ihm die Adresse gab. »Das ist das Haus der alten Lady Day«, sagte er. »Sie lebt dort mit ihrer Tochter. Was willst du von ihnen? Soweit ich weiß, sind sie in nichts von alldem verwickelt.«

»Dort muss ich jedenfalls hin«, sagte Claire störrisch. Sie hatte keine Ahnung, wo Amelies Haus lag, aber sie kannte eine Tür, die hineinführte. Sie hatte lange darüber nachgedacht, wie man beim Öffnen einer Badezimmertür in ein Haus gelangen konnte, das vielleicht auf der anderen Seite der Stadt lag. Aber das Einzige, worauf sie kam, war ein in sich gefalteter Raum, und sogar die abgedrehtesten Physiker gaben zu, dass dies so gut wie unmöglich war.

Aber sie konnte sich mit in sich gefaltetem Raum als Erklärung besser abfinden als mit irgendeinem verrückten Booga-Booga-Vampirzauber.

»Bist du auf Ärger vorbereitet?«, fragte er. Als sie nicht antwortete, griff er ins Handschuhfach des Wagens und zog ein kleines, schmuckkästchenartiges Schächtelchen heraus.

»Hier. Ich habe immer ein paar zusätzliche dabei.«

Sie öffnete es und fand ein feines Silberkreuz an einer langen Kette. Schweigend legte sie es sich um den Hals und ließ es in den Ausschnitt ihres T-Shirts fallen. Sie hatte zwar bereits eins von Eves selbst gemachten Holzkreuzen als Hilfe dabei, aber dieses hier fühlte sich irgendwie echter an. »Ich gebe es Ihnen später zurück«, sagte sie.

»Nicht nötig. Wie ich schon sagte – ich habe noch mehr davon.«

»Ich nehme keinen Schmuck von älteren Herren an.«

Hess lachte. »Weißt du, als ich dich zum ersten Mal traf, dachte ich, du seiest eine unscheinbare kleine Maus, Claire. Aber das stimmt nicht, nicht wahr? Zumindest nicht tief drinnen.«

»Oh, ich bin eine Maus«, sagte sie. »All das jagt mir höllische Angst ein. Aber ich weiß nicht, was ich sonst tun sollte, Sir, außer, es zu probieren. Auch Mäuse können beißen.«

Hess nickte, das Lachen wich aus seinem Gesicht. »Dann will ich dir mal die Chance geben, die Zähne zu zeigen.«

Er fuhr ungefähr einen Kilometer, wobei er den Wagen mühelos durch die dunklen Straßen lenkte. Sie erhaschte kurze Blicke auf Leute, die sich in der Dunkelheit bleich und schnell bewegten. Die Vampire waren mit allen Kräften draußen, hatte er gesagt und er hatte recht. Sie entdeckte die glühenden Reflexe von Augen, als der Wagen um eine Ecke bog. Vampiraugen reflektierten Licht wie die einer Katze. Unheimlich.

Hess hielt vor einem alten Haus im viktorianischen Stil. »Möchtest du, dass ich mit reinkomme?«, fragte er.

»Sie würden sie nur erschrecken«, sagte Claire. »Sie kennen mich schon. Außerdem sehe ich nicht unbedingt bedrohlich aus.«

»Nicht, solange sie dich nicht kennen«, sagte Hess. »Halte dich von der Gasse fern.«

Sie hielt inne, die Hand auf der Wagentür. »Warum?«

»Ein Vampir lebt an ihrem Ende. Verrückter alter Mistkerl. Er kommt dort nie heraus und jeder, der dorthinein geht, ebenso wenig. Also, halt dich einfach fern.«

Sie nickte und duckte sich in die Dunkelheit hinaus. Draußen hatten die Schatten von Morganville ihren ganz eigenen Charakter. Die Gegend, die tagsüber ein wenig schäbig aussah, verwandelte sich nachts in einen Freakshow-Park, der von kaltem Mondlicht versilbert wurde. Die Schatten sahen aus wie Löcher in der Welt, so schwarz waren sie. Claire schaute das Haus an und fühlte seine Präsenz. Es war wie das Glass House, also war es okay. Es hatte eine Art lebendige Seele, aber das Glass House schien nur mäßig daran interessiert, was für Kreaturen darin kreuchten und fleuchten, wohingegen dieses Haus...sie war sich nicht einmal sicher, ob ihm gefiel, was vor sich ging.

Sie schauderte, öffnete das Lattentor und eilte hinauf, um an die Tür zu klopfen. Sie pochte ungeduldig dagegen, bis eine Stimme durch das Holz rief: »Wer zum Teufel ist da?«

»Claire! Claire Danvers. Ich war schon einmal hier, erinnern Sie sich? Sie haben mir Limonade angeboten!« Keine Antwort. »Bitte, Ma’am, bitte lassen Sie mich herein. Ich muss Ihr Badezimmer benutzen!«

»Du musst was? Du verschwindest jetzt besser von Grammas Veranda, Mädchen.«

»Bitte!« Claire wusste, dass sie verzweifelt klang, aber nun ja...sie war verzweifelt. Ganz zu schweigen davon, dass sie nur einen kleinen Schritt davon entfernt war durchzudrehen. »Bitte, Ma’am, lassen Sie mich nicht hier draußen im Dunkeln stehen!«

Es war ehrlich gesagt nur ein klein wenig Schauspielerei dabei, denn die Dunkelheit um sie herum wurde schwerer und schloss sich enger um sie und sie konnte nicht aufhören, an die Gasse zu denken, an den verrückten Vampir, der sich an ihrem Ende wie eine Riesentarantel versteckte und darauf lauerte, dass...

Beinahe hätte sie aufgeschrien, als die Tür auf einmal geöffnet wurde und sich eine Hand um ihren Arm schloss.

»Um Himmels willen, komm schon rein!«, fuhr Lisa sie an. Sie sah verärgert, müde und zerknittert aus. Claire hatte sie offensichtlich geradewegs aus dem Bett geholt. Sie trug einen rosa Satinpyjama und flauschige Häschenhausschuhe, die sie auch nicht weniger sauer aussehen ließen. Sie zerrte Claire herein, die über die Schwelle stolperte, und Lisa knallte die Tür zu und verriegelte sie mehrmals hinter sich.

Dann drehte sie sich um, verschränkte die Arme und schaute Claire finster an. Das hätte ziemlich Respekt einflößend ausgesehen, wären da nicht der rosa Pyjama und die Häschenhausschuhe gewesen...

»Was zum Teufel hast du hier zu suchen? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Lisa. Claire holte tief Luft, öffnete den Mund... und hatte nichts mehr zu sagen.

Im Flur standen nämlich Gramma und neben ihr Amelie.

Der Kontrast hätte schärfer nicht sein können. Amelie war voll und ganz die perfekte Schneekönigin, von ihrem geflochtenen, gewickelten Haar bis hin zu ihrem faltenlosen Gesicht und dem seidigen weißen Kleid, das sie anhatte. Sie hatte sich umgezogen, seit sie im Gebäude des Ältestenrates das schwarze Kostüm getragen hatte. Sie sah aus wie eine dieser griechischen Statuen aus Marmor. Neben ihr wirkte Gramma steinalt, erschöpft und zerbrechlich.

»Die Besucherin kommt zu mir«, sagte Amelie ruhig. »Ich habe sie schon erwartet. Ich bedanke mich für deine Freundlichkeit, Katherine.«

Wer ist Katherine? Claire schaute sich um und kurz darauf wurde ihr bewusst, dass Gramma gemeint sein musste. Komisch, sie konnte sich nicht vorstellen, dass Gramma einen Vornamen hatte oder je jung gewesen war. Lisa sah ebenfalls ein wenig erschüttert aus.

»Und ich schätze deine Wachsamkeit, Lisa, aber deine Vorsicht ist unnötig«, fuhr Amelie fort. »Geh bitte zurück in dein...« Amelie zögerte einen Augenblick und Claire konnte sich nicht vorstellen, warum, bis sie bemerkte, dass der Blick der Vampirin an Lisas Häschenschuhen hängen geblieben war. Nur eine Sekunde lang, nur ein winziger Riss im Marmor, aber Amelies Augen weiteten sich ein wenig und ihr Mund bog sich. Sie hat Sinn für Humor. Mehr als alles andere sorgte dies dafür, dass sich Claire verloren fühlte. Wie konnten Vampire Humor haben? War das eigentlich fair?

Amelie gewann ihre Fassung wieder. »Du kannst wieder schlafen gehen«, sagte sie und beugte würdevoll den Kopf zu Lisa und ihrer Großmutter. »Wenn du mich jetzt bitte geleiten würdest, Claire.«

Sie wartete nicht ab, ob Claire es tun würde, und gab auch keine weiteren Erklärungen dazu ab, was »geleiten« bedeutete.

Sie drehte sich einfach um und glitt den Gang entlang. Claire und Lisa tauschten Blicke aus – dieses Mal sah Lisa besorgt, nicht verärgert aus – und Claire eilte Amelies rasch zurückweichender Gestalt hinterher.

Amelie öffnete die Badezimmertür und ging in das Arbeitszimmer, in dem Claire sie damals besucht hatte, nur dass es jetzt Nacht war und ein Feuer in dem riesigen Kamin prasselte, das wohl den eisigen Raum erwärmen sollte. Die Wände bestanden aus dickem Stein und sahen sehr alt aus. Die Wandteppiche ebenfalls; sie waren verblasst und zerfleddert, aber irgendwie strahlten sie dennoch eine gewisse Pracht aus. Das Zimmer sah im Feuerschein noch viel gruseliger aus. Es war kein elektrisches Licht an – falls es das überhaupt gab. Nicht einmal die Bücher, die sich auf den Regalen drängten, verliehen dem Raum Wärme.

Amelie ging zu einem Sessel in der Nähe des Feuers hinüber und bedeutete Claire elegant, gegenüber von ihr Platz zu nehmen. »Du darfst dich setzen«, sagte sie. »Aber ich muss dich warnen, Claire. Was du, wie ich annehme, von mir forderst, liegt nicht in meiner Hand.«

Claire setzte sich vorsichtig und wagte nicht, sich zu entspannen. »Sie wissen, weshalb ich gekommen bin.«

»Ich wäre eine Närrin zu glauben, es ginge um etwas anderes als um den jungen Shane«, sagte Amelie und lächelte sehr traurig. »Ich erkenne Loyalität auf den ersten Blick. Ihr beide strahlt sie sehr stark aus, was einer der Gründe war, dir so sehr zu vertrauen, obschon wir uns nur flüchtig kannten.« Ihr Lächeln erlosch und ihre blassen Augen wurden wieder frostig. »Und deshalb kann ich nicht verzeihen, was Shane getan hat. Er brach mir die Treue, Claire, und das kann ich nicht hinnehmen. Morganville beruht auf Treue. Ohne Treue hätten wir hier nichts als Verzweiflung und Tod.«

»Aber er hat nichts getan!« Claire wusste, dass sie wie ein weinerliches kleines Mädchen klang, aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Sie hätte auch weinen können, aber das wollte sie nicht. Sie hatte das Gefühl, dass sie ohnehin schon genug geweint hatte. »Er hat Brandon nicht getötet. Er versuchte, ihn zu retten. Sie können ihn nicht dafür bestrafen, dass er am falschen Ort war!«

»Wir haben außer Shane niemanden, der das bezeugen kann. Und mach jetzt keinen Fehler, Kind. Ich weiß, aus welchem Grund Shane eigentlich nach Morganville zurückgekehrt ist. Es ist bedauerlich, dass seine Schwester so brutal und unnötig getötet wurde. Wir haben versucht, eine Wiedergutmachung zu leisten, wie es üblich ist. Wir erlaubten ihnen sogar, Morganville zu verlassen, was, wie du verstehen wirst, nicht üblich ist, in der Hoffnung, dass Shane und seine Eltern ihren Schmerz in einer weniger... schwierigen Umgebung heilen könnten. Aber es war nicht möglich. Und seine Mutter durchbrach die Blockade, die ihre Erinnerungen umgab.«

Claire rutschte unbehaglich auf ihrem Sessel herum. Er war zu groß und zu hoch und sie erreichte mit den Zehenspitzen kaum den Boden. Sie umklammerte fest die Armlehnen und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie stark und mutig war, dass sie es wegen Shane sein musste. »Haben Sie sie getötet? Shanes Mutter?«, fragte sie so unverblümt, wie sie nur konnte. Es klang trotzdem noch schüchtern, aber wenigstens hatte sie die Frage herausgebracht.

Einen Moment lang dachte sie, dass Amelie ihr nicht antworten würde, aber dann schaute die Vampirin weg und starrte ins Feuer. Ihre Augen leuchteten orange in seinem Schein und zeigten in der Mitte gelbe reflektierende Lichtpünktchen. Sie zuckte mit den Achseln. Es war eine so kleine Geste, dass Claire sie kaum wahrnahm. »Ich habe seit Hunderten von Jahren meine Hand nicht mehr gegen einen Menschen erhoben, kleine Claire. Aber das war nicht deine Frage, oder? Ob ich verantwortlich bin für den Tod seiner Mutter? Im weitesten Sinne trage ich für alles, was in Morganville geschieht, die Verantwortung, sogar noch über seine Grenzen hinaus, wenn es Vampire betrifft. Aber ich glaube, du wolltest fragen, ob ich es ausdrücklich anordnete.«

Claire nickte. Ihr Nacken fühlte sich steif an und ihre Hände hätten gezittert, wenn sie nicht die Armlehnen des Sessels so fest umklammert hätten, dass ihre Knöchel knackten.

»Ja«, sagte Amelie und wandte ihren Kopf wieder, sodass sich ihre Augen trafen. Sie sah kühl, gnadenlos und absolut gewissenlos aus. »Natürlich habe ich das. Shanes Mutter gehörte zu den seltenen Menschen, die es bisher geschafft haben, die psychische Blockade zu überwinden, die ihnen auferlegt wurde, als sie diesen Ort verließen. Das tat sie, indem sie sich auf ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit konzentrierte. Sie erinnerte sich an den Tod ihrer Tochter und davon ausgehend erinnerte sie sich an andere Dinge. Gefährliche Dinge. Sobald wir erkannten, dass dies geschah, wurde es mir mitgeteilt und ich gab den Befehl, sie zu töten. Es sollte schnell und ohne Schmerzen durchgeführt werden und es war eine Gnade, Claire. Shanes Mutter hat so lange gelitten, verstehst du? Sie war verletzt und manche Verletzungen können nicht geheilt werden.«

»Wenn man tot ist, heilt nichts mehr«, flüsterte Claire. Sie dachte an Shane, wie er auf der Couch saß und der ganze Horror seines Lebens aus ihm heraussprudelte, und sie wollte sich auf Amelies perfektes Outfit übergeben. »Sie können so etwas nicht tun. Sie sind nicht Gott!«

»Wenn es um die Sicherheit aller geht, die hier wohnen? Doch, Claire, das kann ich. Ich muss. Es tut mir leid, dass meine Entscheidungen nicht deine Zustimmung finden, aber letztendlich sind es meine Entscheidungen und ich trage auch die Konsequenzen. Shane ist eine Konsequenz. Meine Agenten warnten mich damals. Sie glaubten, dass der Junge von seiner Mutter angesteckt wurde, dass seine Blockade verrutschte, aber ich beschloss, die Tragödie nicht noch größer zu machen, indem ich einen Jungen tötete, der vielleicht keine Gefahr darstellte.« Amelie zuckte erneut mit den Achseln. »Du siehst also, nicht alle meine Entscheidungen sind grausam. Aber die, die es nicht sind, sind in der Regel falsch. Hätte ich Shane damals getötet und seinen Vater ebenfalls, dann stünden wir jetzt nicht vor dieser... blutigen und schmerzhaften Schmierenkomödie.«

»Weil er tot wäre!« Claire fühlte, wie Tränen in ihren Augen und hinten in ihrer Kehle brannten. »Bitte. Bitte lassen Sie es nicht zu. Sie können die Wahrheit herausfinden, nicht wahr? Es steht in Ihrer Macht. Sie können erklären, dass Shane Brandon nicht ermordet hat...«

Amelie sagte nichts. Sie wandte sich wieder dem Feuer zu.

Claire schaute sie einige Augenblicke lang kläglich an und fühlte, wie ihr die Tränen hemmungslos über die Wangen rollten. Sie fühlten sich in dem überheizten Raum eiskalt an. »Sie können es erklären«, wiederholte sie. »Warum versuchen Sie es nicht wenigstens? Nur weil Sie böse auf ihn sind?«

»Sei nicht kindisch«, sagte Amelie kühl. »Ich handle nicht aus Ärger heraus. Ich bin zu alt, um in die Falle der Gefühle zu tappen. Ich handle aus Zweckmäßigkeit und um der Zukunft willen.«

»Shane ist die Zukunft! Er ist meine Zukunft! Und er ist unschuldig!«

»Das alles weiß ich«, sagte Amelie. »Aber es ist nicht von Bedeutung.«

Claire verstummte fassungslos. Ihr Mund stand offen und sie schmeckte Holzrauch auf ihrer Zunge, bis sie ihn wieder zumachte und schluckte. »Was?«

»Ich weiß, dass Shane des Verbrechens, dessen er angeklagt ist, nicht schuldig ist«, sagte Amelie. »Und ja, ich könnte Oliver aufhalten. Aber das werde ich nicht tun.«

»Warum?« Es brach aus Claire heraus wie ein Schrei, aber eigentlich war es eher ein Winseln, da ihm jeglicher Kampfgeist entwichen war.

»Ich habe keinen Grund, mich zu erklären. Begnüg dich damit, dass ich Shane zu einem bestimmten Zweck in diesen Käfig gesperrt habe. Vielleicht lebt er, vielleicht stirbt er. Das liegt nicht länger in meinen Händen und du kannst dir sowohl deinen Atem als auch deine Hoffnungen sparen. Wenn sie die Scheiterhaufen anzünden, werde ich mich nicht im letzten Augenblick dramatisch erheben und deinen Geliebten retten. Sollte es dazu kommen, musst du auf die harte Realität vorbereitet sein, dass die Welt kein fairer oder gerechter Ort ist und dass all unser Wünschen sie nicht dazu machen kann.« Amelie seufzte leise. »Eine Lektion, die ich vor langer, langer Zeit lernte, als die Ozeane noch jung waren und der Sand noch Felsen. Ich bin alt, Kind. Älter, als du wahrscheinlich begreifen kannst. Alt genug, um mit Leben zu spielen wie mit den Spielfiguren eines Spiels. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber verdammt will ich sein, wenn ich ändern könnte, was ich bin. Was die Welt ist.«

Claire sagte nichts. Es schien nichts mehr zu sagen zu geben, deshalb weinte sie einfach leise und hoffnungslos, bis Amelie ein weißes Seidentaschentuch aus ihrem Ärmel zog und es ihr in einer eleganten Bewegung reichte. Claire tupfte sich das Gesicht damit ab, schnäuzte sich und umklammerte das seidene Viereck zögernd. Sie war mit Papiertaschentüchern aufgewachsen. Sie hatte noch nie ein Stofftaschentuch in der Hand gehalten. Nicht so eines, mit schönen Stickereien und Monogramm. Man warf sie nicht weg, oder?

Amelies Lippen formten sich zu diesem ihr eigenen distanzierten Lächeln. »Wasch es und gib es mir irgendwann zurück«, sagte sie. »Aber geh jetzt. Ich bin dieser Sache überdrüssig und du wirst meine Meinung nicht ändern. Geh.«

Claire glitt aus ihrem Sessel und stand auf, drehte sich um und schnappte nach Luft. Zwei von Amelies Bodyguards waren direkt hinter ihr und sie hatte keine Ahnung gehabt, dass sie die ganze Zeit dort gestanden hatten. Wenn sie irgendetwas versucht hätte...

»Geh schlafen, Claire«, sagte Amelie. »Lass die Dinge, wie sie sind. Wir werden sehen, wie die Würfel in unserem Spiel fallen.«

»Es ist kein Spiel: Es geht um Shanes Leben«, schoss Claire zurück. »Und ich gehe nicht schlafen.«

Amelie zuckte die Achseln und faltete ihre Hände ordentlich im Schoß. »Dann nimm deine Mission in Angriff«, sagte sie. »Aber komm nicht zu mir zurück, kleine Claire. Ich werde dir nicht wieder so gewogen sein.«

Claire blickte nicht zurück, aber sie wusste, dass ihr die Bodyguards den ganzen Weg bis zur Tür folgten.

»Wolltest du mir nicht noch etwas sagen?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Amelie seufzte. »Jemand bat dich um einen Gefallen.«

Michael. Claire schluckte schwer. »Michael möchte Sie sprechen.«

Amelie nickte. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.

»Was soll ich ihm ausrichten?«, fragte Claire.

»Das liegt ganz bei dir. Sag ihm die Wahrheit – dass es dir nicht wichtig genug war, seine Botschaft zu übermitteln.« Amelie machte eine Handbewegung, wobei sie sie nicht einmal ansah. »Geh.«

Lisa saß mit finsterem Blick und verschränkten Armen im Wohnzimmer, als Claire zurück in den Flur kam. Sie sah trotz ihrer Häschenhausschuhe noch immer verärgert aus, als sie aufstand, um die Schlösser an der Haustür zu öffnen. Eine Kriegerprinzessin im Urlaub, dachte Claire. Sie nahm an, dass man taff wurde, wenn man in Morganville aufwuchs, vor allem, wenn man in einem Haus wohnte, das Amelie jederzeit nach Belieben besuchen konnte.

»Schlechte Nachrichten«, sagte Lisa. »Stimmt’s?«

Merkte man ihr das so an? »Stimmt«, sagte Claire und wischte sich wieder mit dem Taschentuch über die Augen. Sie stopfte es zurück in ihre Tasche und schniefte kläglich. »Aber ich gebe nicht auf.«

»Gut«, sagte Lisa. »Wenn du diese Tür jetzt aufmachst, dann beeil dich. Geh geradewegs zu diesem Auto da draußen. Schau nicht nach rechts oder links.«

»Warum? Gibt es da etwas...?«

»Die Gesetze von Morganville, Claire. Lern sie, lebe sie, überlebe sie. Nun geh schon!« Lisa riss die Tür auf, legte Claire die flache Hand auf den Rücken und schubste sie hinaus auf die Veranda. Eine Sekunde später schlug Lisa die Tür zu und Claire hörte das Rattern von Schlüsseln, die im Schloss gedreht wurden. Sie gewann wieder das Gleichgewicht, sprang die Stufen hinunter, hetzte den Gartenweg entlang und durch das Lattentor und riss die Beifahrertür des Wagens auf. Sie kletterte hinein, verriegelte die Tür und entspannte sich.

»Alles okay«, sagte sie und wandte sich Detective Hess zu.

Er war nicht da.

Der Fahrersitz war leer. Die Zündschlüssel steckten noch, das Auto lief im Leerlauf und das Radio dudelte leise. Aber außer ihr war kein Mensch im Wagen.

»Oh Gott«, flüsterte Claire. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott.« Sie konnte zwar Auto fahren, aber das würde bedeuten, Detective Hess im Stich zu lassen, falls er losgegangen war, um Polizeiarbeit zu erledigen. Ihn ohne einen Partner, der ihm helfen könnte, im Stich zu lassen. Sie hatte genug Krimiserien gesehen, um zu wissen, dass das keine gute Idee war. Vielleicht ist er nur gegangen, um mit jemandem zu sprechen, und kommt gleich wieder... oder vielleicht wurde er von einem hungrigen Vamp aus dem Auto gezerrt? Aber hatte Hess nicht eine Art Spezialschutz?

Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte.

Während sie noch darüber nachdachte, hörte sie Stimmen. Nicht laut, aber es war ein ununterbrochener Gesprächsfluss. Es klang nach Detective Hess und es hörte sich so an, als sei er gar nicht weit weg. Claire kurbelte vorsichtig das Fenster herunter und lauschte aufmerksam. Sie konnte kein Wort verstehen, aber sie hörte definitiv Stimmen.

Claire entriegelte die Tür und schob sie auf. Sie strengte sich an, die Worte zu verstehen, aber sie hörte nur unzusammenhängende Laute. Sie zögerte, dann schlüpfte sie aus dem Auto, schob die Tür zu und eilte dem Geräusch der Stimmen entgegen. Ja, es war Detective Hess, sie erkannte seine Stimme. Das stand außer Frage.

Ihr war nicht einmal bewusst, wohin sie ging – sie war so mit Lauschen beschäftigt –, bis sie merkte, wie finster es war. Die Worte wurden nicht deutlicher und sie war sich überhaupt nicht mehr sicher, ob es tatsächlich Detective Hess’ Stimme war.

Sie war schon halb durch die Gasse gegangen, wobei die hohen, groben Bretterzäune sie von beiden Seiten einschlossen.

Sie war in die Gasse gegangen. Warum in aller Welt hatte sie das getan? Hess hatte sie gewarnt. Gramma hatte sie gewarnt. Und sie hatte nicht auf sie gehört!

Claire versuchte umzukehren, sie versuchte es wirklich, aber dann hörte sie das Flüstern wieder und, ja, ganz sicher war es Detective Hess. Es gab keine Sicherheit dort im Auto, das Auto war eine Falle, die nur darauf wartete zuzuschnappen, und wenn sie bis zum Ende der Gasse gelangen könnte, wäre sie in Sicherheit, Detective Hess würde auf sie aufpassen und sie wäre...

»Claire.«

Es war eine kalte, klare Stimme, die ihr wie Eis den Rücken hinunterrieselte, und sie riss sie mit einem Ruck aus der Trance, in die sie gefallen war. Claire schaute auf. Im zweiten Stock von Grammas Haus, das an der Gasse lag, stand eine schlanke, weiße Gestalt am Fenster, die auf sie herunterstarrte.

Amelie.

»Geh zurück«, sagte sie und dann war das Fenster leer, nur die Vorhänge flatterten im Wind.

Claire keuchte, wandte sich um und rannte, so schnell sie konnte, aus der Gasse heraus. Sie konnte es in ihrem Rücken fühlen, wie es an ihr zog – es, was immer es war, war kein Vampir wie die, die sie aus Morganville kannte. Es war etwas anderes, etwas Schlimmeres. Falltürspinne, so hatten Gramma und Lisa es beschrieben. Panik bemächtigte sich ihres Verstandes und sie schaffte es – irgendwie, ans Ende der Gasse zu kommen und auf die Straße hinauszustürzen.

Detective Hess stand am Wagen und schaute direkt in Richtung Gasse. Er hatte seine Waffe gezogen und hielt sie an seiner Seite. Bei ihrem Anblick war er sichtlich erleichtert, er kam um den Wagen und zog sie auf die Beifahrerseite. »Das war bescheuert«, sagte er. »Du hast wirklich Glück.«

»Ich dachte, ich hätte Sie gehört«, sagte sie leise. Hess zog die Augenbrauen hoch.

»Wie ich schon sagte. Bescheuert.« Er machte die Tür hinter ihr zu, ging auf die andere Seite und legte den Gang ein.

»Wo waren Sie?«

Er antwortete nicht. Claire schaute zurück. Da war etwas in den Schatten der Gasse, aber sie konnte nicht erkennen, was es war.

Nur dass seine Augen das Licht reflektierten.

***

Es war tief in der Nacht, eine Zeit, in der die meisten vernünftigen Menschen in ihren Betten lagen, Türen und Fenster fest verriegelt hatten und tief und fest schliefen; und Claire klopfte an die Tür des Common Grounds. Das GESCHLOSSEN-Schild hing zwar im Fenster, aber hinten brannte noch Licht.

»Du bist dir sicher, dass du das tun willst?«, fragte Detective Hess.

»Sie klingen ja schon wie mein Unterbewusstsein«, sagte Claire und klopfte weiter. Die Jalousien wackelten und wölbten sich, dann rasselten Schlüssel in Schlössern.

Oliver öffnete die Tür des Cafés und der Duft von Espresso, Kakao und aufgeschäumter Milch überwältigte sie. Es war warm, einladend und ganz und gar falsch, wenn man bedachte, was sie über Oliver wusste.

Er sah bei ihrer Ankunft auf sehr menschliche Art verärgert aus. »Es ist schon spät«, sagte er. »Was gibt’s?«

»Ich möchte mit Ihnen sprechen, über...«

»Nein«, sagte er ganz einfach und schaute über ihren Kopf hinweg Hess an. »Detective Hess, Sie sollten dieses Kind nach Hause bringen. Sie hat heute Glück gehabt, überhaupt mit dem Leben davongekommen zu sein. Wenn diese Glückssträhne andauern soll, sollte sie etwas vorsichtiger sein und nicht mitten in der Nacht in Morganville herumrennen und an meine Tür klopfen.«

»Fünf Minuten«, versprach Claire. »Dann gehe ich wieder. Bitte. Ich hab Ihnen doch noch nie was getan, oder?«

Er starrte sie einige Sekunden lang kühl an, dann trat er zurück und hielt die Tür auf. »Sie auch, Detective. Ich will nicht, dass jemand mit einem schlagenden Herzen heute Nacht ungeschützt draußen herumläuft.«

Darauf würde ich wetten, dachte sie. Olivers Flowerpower-Hippie-Masche zog bei ihr nicht mehr. Amelie hatte eine Art edle Würde, durch die sie sich erlauben konnte, Besorgnis vorzutäuschen; bei Oliver war das anders. Er versuchte, wie Amelie zu sein, schaffte es aber nicht.

Und ich wette, das ärgert ihn.

Hess drängte sie über die Schwelle und blieb dicht hinter ihr. Oliver schloss wieder ab, ging zur Theke und begann, ohne zu fragen, drei Getränke zuzubereiten – Kakao für Claire, starken schwarzen Kaffee für Detective Hess und einen blassen Tee für sich selbst. Seine Hände bewegten sich ruhig und sicher und so normal, dass es Claire einlullte und sie sich ein klein wenig entspannte, als sie sich an den Tisch setzte. Alles tat ihr weh vor Erschöpfung und der Anspannung, die ihren Körper bei Amelie im Griff gehabt hatte.

»Lange Nacht, was?«, sagte Oliver, als er ihren Kakao umrührte. »Hier. Aufgeschäumte Milch und Kakao mit Gewürzen. Scharfer Pfeffer. Das hat eine erstaunliche Wirkung.«

Er brachte ihn an den Tisch und reichte ihn ihr, stellte Hess’ Kaffee ab und holte seinen Tee, bevor er sich setzte. Alles so lässig wie im Alltag.

»Du bist wegen des Jungen hier, nehme ich mal an«, sagte Oliver. Er tunkte seinen Teebeutel ein und beobachtete kritisch das Ergebnis. »Ich muss wirklich einen neuen Lieferanten finden. Dieser Tee ist ein echter Witz. In Amerika hat man ja keine Ahnung von Tee.«

»Er ist nicht der Junge. Sein Name ist Shane«, sagte Claire. »Und er ist unschuldig. Selbst Amelie weiß das.«

»Ist er das?« Oliver sah auf und fixierte seinen Blick auf sie. »Wie interessant, ich persönlich weiß davon ja nichts. Brandon wurde auf schreckliche und abscheuliche Art gefoltert und ermordet. Er hatte zwar seine Schwächen...«

»Was, dass er Kinder missbraucht hat?«

»... aber er ist nun mal in einer anderen Zeit geboren und einige seiner Angewohnheiten ließen sich nur schwer ändern. Er hatte auch seine guten Seiten, Claire, wie wir alle. Und nun ist es vorbei, bei allem Schaden, den er angerichtet haben mag.« Oliver ließ nicht zu, dass sie wegschaute. »Hunderte von Jahren an Erinnerungen und Erfahrungen wurden ausgeschüttet wie Wasser. Vergeudet. Denkst du, das kann ich so einfach vergessen? Irgendeiner von uns? Wenn wir uns Brandons Körper anschauen, sehen wir uns selbst von der Gnade der Menschen abhängig. Von deiner Gnade, Claire.« Er warf Detective Hess einen Blick zu. »Oder von Ihrer, Joe. Und ihr müsst zugeben, dass das erschreckende Aussichten sind.«

»Deshalb töten Sie einfach alle, die Ihnen Angst einjagen. Die Sie verletzen könnten.«

»Nun... ja.« Oliver nahm den Teebeutel aus der Tasse und legte ihn auf die Untertasse, dann nippte er daran. »Eine Angewohnheit, die wir eigentlich von euch gelernt haben. Die Menschen schlachten nur allzu bereitwillig die Unschuldigen zusammen mit den Schuldigen ab, und wenn du älter wärest, Claire, dann wüsstest du das auch. Ich bin mir sicher, Joe ist nicht so naiv.«

Hess lächelte schmallippig und schlürfte seinen Kaffee. »Sprechen Sie nicht mit mir. Ich bin nur der Fahrer.«

»Ah«, sagte Oliver. »Wie großmütig von Ihnen.« Sie tauschten einen Blick aus, den Claire nicht zu interpretieren wusste. War es Ärger? Amüsiertheit? Die Bereitschaft, jeden Moment aufzustehen und sich gegenseitig eine reinzuhauen? Sie konnte ja nicht einmal erraten, was Shane und Michael dachten, obwohl sie sie kannte.

»Kennt sie denn den Preis für Ihre Dienste?«

»Er möchte dich verwirren, Claire. Es gibt keinen Preis.«

»Wie interessant. Und was für ein Gesinnungswandel.«

Oliver wandte sich von Hess ab und sah wieder Claire an, die hastig einen Schluck Kakao nahm. Oooooooh... er explodierte förmlich in ihrem Mund, üppiger Kakao, warme Milch und eine würzige Note, die sie nicht erwartet hatte. Wow. Sie zwinkerte und nahm vorsichtig noch einen Schluck. »Ich sehe, du magst meinen Kakao.«

»Ähm...ja, Sir.« Wenn sich Oliver gesittet verhielt, fühlte sie sich noch immer verpflichtet, Sir zu ihm zu sagen. Mom und Dad hatten ganze Arbeit geleistet, entschied sie. Sie konnte noch nicht mal zu fiesen Vampiren unhöflich sein, die ihren Freund in einen Käfig sperren und bei lebendigem Leibe rösten wollten. »Was ist nun mit Shane?«

Oliver lehnte sich zurück, die Augenlider auf halbmast. »Wir haben dieses Thema schon gründlich durchgekaut, Claire. Ich glaube, du hast Blutergüsse, die deinem Gedächtnis in Bezug auf meine Meinung auf die Sprünge helfen können.«

»Er hat es nicht getan.«

»Lass uns die Fakten betrachten. Fakt ist, der Junge kam mit dem klaren Vorhaben nach Morganville zurück, bestenfalls den Frieden zu stören, aber, was wahrscheinlicher ist, Vampire zu töten, was automatisch die Todesstrafe nach sich zieht. Fakt ist, er versteckte sich und seine Absichten vor uns. Fakt ist, er kommunizierte sowohl mit seinem Vater als auch den Freunden seines Vaters, bevor sie nach Morganville kamen und danach. Fakt ist, er war am Tatort. Fakt ist, er hatte wenig zu seiner eigenen Verteidigung beizutragen. Soll ich noch weitermachen?«

»Aber...«

»Claire.« Oliver klang traurig und verletzt. Er lehnte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte sein Kinn auf seine gefalteten Hände. »Du bist noch jung. Ich verstehe, was du für ihn empfindest, aber sei keine Närrin. Er wird dich mit sich runterziehen. Wenn du mich dazu zwingst, kann ich bestimmt Beweise finden, dass du wusstest, dass Shanes Vater in Morganville ist und was sie im Schilde führen. Und das, meine Süße, würde bedeuten, dass dein kostbarer Schutz aufgehoben würde und du in einem Käfig neben deinem Freund landen würdest. Ist es das, was du möchtest?«

Hess legte die Hand warnend auf ihren Arm. »Genug, Oliver.«

»Nicht annähernd genug. Wenn ihr gekommen seid, um zu verhandeln, so glaube ich, dass ihr mir nichts bieten könnt, was ich nicht auch anderswo bekommen könnte«, sagte Oliver. »Also, nehmt euch bitte...«

»Ich unterschreibe, was immer Sie möchten«, platzte Claire heraus. »Sie wissen schon, Ihnen die Treue schwören. Anstatt Amelie. Wenn Sie möchten. Aber lassen Sie Shane bitte gehen.«

Sie hatte nicht geplant, das zu sagen, aber als das Wort verhandeln fiel, entwickelte es in ihr eine Art Eigenleben und schlüpfte ihr direkt in den Mund. Hess stöhnte und strich sich über die Haare, dann bedeckte er seinen Mund, offensichtlich um sich selbst davon abzuhalten, ihr zu sagen, was für eine Idiotin sie war.

Oliver starrte sie immer noch mit diesen festen, freundlichen Augen an.

»Verstehe«, sagte er. »Das wäre dann Liebe. Aus Liebe zu diesem Jungen würdest du dich für den Rest deines Lebens an mich binden. Mir das Recht geben, dich so einzusetzen, wie ich es für richtig halte. Hast du auch nur die geringste Ahnung, was du mir da anbietest? Ich würde dir nämlich nicht diesen Vertrag mit Vorbehalten anbieten, den die meisten in Morganville unterzeichnen, Claire. Nein, für dich wäre es ein Vertrag der alten Art. Der harten Art. Ich würde deinen Körper und deine Seele besitzen. Ich würde dir vorschreiben, wann du heiraten musst und wen, und ich würde deine Kinder und alles, was dazugehört, besitzen. Ich wurde zu einer Zeit geboren, als dies üblich war, verstehst du? Und ich bin heute nicht gerade in mildtätiger Verfassung. Ist es das, was du willst?«

»Nein«, sagte Hess scharf. Er packte Claire am Unterarm und zog sie auf die Füße. »Wir gehen, Oliver. Sofort.«

»Sie hat das Recht, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, Detective.«

»Sie ist ein Kind! Oliver, sie ist gerade mal sechzehn!«

»Sie war alt genug, um sich gegen mich zu verschwören«, sagte er. »Alt genug, um das Buch zu finden, nach dem ich seit einem halben Jahrhundert gesucht habe. Alt genug, um mir die einzige Chance zu rauben, meine Leute aus Amelies unerträglichem eisernen Griff zu befreien. Glauben Sie etwa, ihr Alter interessiert mich?« Olivers Höflichkeit und Freundlichkeit waren auf einen Schlag verschwunden und alles, was übrig war, war eine mannsgroße Schlange mit einem grausamen Flackern in den Augen und Eckzähnen, die drohend herabzuckten. Claire ließ zu, dass Hess sie hinter dem Tisch hervor und in Richtung Tür zog. Er hatte seine Waffe gezogen.

»Ich könnte euch daran hindern zu gehen«, sagte Oliver. »Ist euch das klar?«

Hess wirbelte herum, hob seine Waffe und richtete sie geradewegs auf Olivers Brust. »Silberkugeln, die in geweihtem Wasser gewaschen wurden. Ein Kreuz ist direkt in sie hineingegossen.« Er ließ den Hahn zurückschnellen. »Wollen Sie die Grenze austesten, Oliver? Sie ist nämlich genau hier. Sie stehen bereits auf ihr. Ich kann eine Menge Müll von Ihnen schlucken, aber nicht das. Nicht diese Art von Vertrag, nicht mit einem Kind.«

Oliver machte sich nicht einmal die Mühe aufzustehen.

»Ich nehme an, ich soll eure Getränke nicht zum Mitnehmen umschütten? Schade. Nehmen Sie sich in Acht, Detective. Sie und ich, wir sprechen uns noch die Tage. Und Claire...du kannst jederzeit zu mir zurückkommen. Wenn die Zeit knapp wird und du einen Deal machen möchtest, werde ich für dich da sein.«

»Denken Sie nicht mal daran«, sagte Hess. »Claire, mach die Tür auf.« Er hatte die Waffe noch immer, ohne zu zwinkern, auf den Vampir gerichtet, während Claire die drei Riegel öffnete und die Tür aufschwang. »Geh zum Auto. Los!« Er ging rückwärts hinaus, als sie zum Wagen rannte und sich hineinstürzte. Hess knallte die Tür zum Common Grounds so heftig zu, dass das Glas einen Riss bekommen haben könnte, und rollte sich in einer Bewegung über die Kühlerhaube, die sie nur aus Actionfilmen kannte; er war im Auto und ließ es an, noch bevor sie Luft holen konnte.

Das Auto raste durch die Nacht. Claire überprüfte den Rücksitz, weil sie plötzlich fürchtete, Oliver säße dort und grinste sie an, aber er war leer.

Hess schwitzte. Er wischte sich die Schweißtropfen mit dem Handrücken ab. »Es ist kein Spaß, wenn du dich in Schwierigkeiten bringst. Lass dir das von mir gesagt sein«, sagte er. »Ich lebe schon mein ganzes Leben hier, aber ich habe noch nie jemanden gesehen, bei dem Oliver so weit geht. Noch nie.«

»Ähm... danke?«

»Das war kein Kompliment. Hör mal, unter keinen Umständen gehst du jemals wieder zurück ins Common Grounds, verstanden? Meide Oliver um jeden Preis. Und was auch immer passiert, geh nicht auf diesen Deal ein. Shane würde es nicht wollen und du würdest es dein ganzes Leben lang bereuen. Du hättest ein sehr langes Leben und du würdest jede einzelne schreckliche Sekunde davon hassen.« Hess schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Okay, das ist das Ende der Fahnenstange für heute Nacht. Du gehst nach Hause, ich bringe dich sicher hinein und fahre dann zu mir und verstecke mich in einem Schrank, bis der Sturm vorüber ist. Das Gleiche empfehle ich dir.«

»Aber Shane...«

»Shane ist tot«, sagte Hess so ruhig und sachlich, dass sie dachte, dass er das auch so meinte, dass irgendwie jemand hineingeschlüpft war und ihn getötet hatte und sie hätte es dann nicht mal gewusst... aber er sprach weiter: »Du kannst ihn nicht retten. Niemand kann ihn jetzt retten. Du hast sowohl Amelie als auch Oliver in einer einzigen Nacht sauer gemacht. Das reicht jetzt. Eine kleine Portion gesunder Menschenverstand könnte dir jetzt nicht schaden.«

Den Rest des Nachhauseweges schwieg sie verärgert und mürrisch.

***

Hess stand zu seinem Wort. Er begleitete sie vom Wagen die Treppe hoch, sah ihr zu, wie sie die Haustür öffnete, und nickte müde, als sie hineinging. »Schließ ab«, sagte er. »Und ruh dich um Himmels willen ein wenig aus.«

Als sie die Tür aufschloss, stand Michael schon da, mitfühlend und tröstlich. Er hielt seine Gitarre am Hals, er hatte also gespielt; seine Augen hatten rote Ränder, sein Gesicht war angespannt. »Und?«, fragte er.

»Hallo, Claire, wie geht es dir?«, fragte Claire ins Leere. »Keine Todesdrohungen, oder? Danke, dass du in die Dunkelheit hinausgegangen bist, um mit den beiden grausamsten Menschen der Welt zu verhandeln.«

Wenigstens waren seine Manieren so gut, dass er verlegen wurde. »Sorry. Bist du okay?«

»Klaro. Zumindest keine Abdrücke von Vampirzähnen.« Sie schauderte. »Ich mag diese Menschen einfach nicht.«

»Vampire?«

»Vampire.«

»Technisch gesehen keine Menschen, so wenig wie ich, wo ich gerade darüber nachdenke. Was soll’s.« Michael legte den Arm um sie und führte sie ins Wohnzimmer, wo er sie hinsetzte und ihr eine Decke um die Schultern legte. »Es lief wohl nicht so gut, nehme ich an.«

»Es lief überhaupt nicht«, sagte sie. Sie war schon auf dem gesamten Heimweg niedergeschlagen gewesen, aber dann auch noch darüber zu berichten, dass sie versagt hatte, war noch um einiges mehr zum Kotzen. »Sie werden ihn nicht gehen lassen.«

Michael sagte nichts, aber das Licht in seinen Augen erlosch. Er ließ sich neben ihr auf ein Knie sinken, fummelte an ihrer Decke herum und zog sie enger um sie. »Claire, ist wirklich alles in Ordnung? Du zitterst ja.«

»Sie sind kalt, weißt du?«, sagte sie. »Und mir wird dann auch kalt.«

Er nickte langsam. »Du hast getan, was du konntest. Ruh dich jetzt aus.«

»Was ist mit Eve? Ist sie noch hier?«

Er schaute zur Decke hinauf, als könnte er durch sie hindurchsehen. Vielleicht konnte er. Claire wusste wirklich nicht, was Michael konnte oder nicht konnte; immerhin war er schon ein paarmal gestorben. So jemanden durfte man nicht unterschätzen. »Sie schläft«, sagte er. »Ich habe mit ihr gesprochen. Sie versteht es. Sie wird nichts Dummes machen.« Er schaute Claire nicht an, als er das sagte, und sie fragte sich, was das wohl für eine Art von Gespräch gewesen war.

Ihre Mom riet ihr immer nachzufragen, wenn sie Zweifel hatte. »War es die Art von Gespräch, bei dem du ihr etwas gegeben hast, wofür es sich zu leben lohnt? Zum Beispiel vielleicht, ähm, dich?«

»Habe ich... was zum Teufel redest du da eigentlich?«

»Ich dachte mir nur, dass du und sie vielleicht...«

»Himmel noch mal, Claire!«, sagte Michael. Sie hatte es tatsächlich geschafft, dass er zusammenzuckte. Wow. Etwas ganz Neues. »Glaubst du, wenn sie mit mir poppt, vergisst sie darüber, hinauszustürmen und ein eiskaltes Vampir-Blutbad anzurichten? Ich weiß nicht, welche Maßstäbe du beim Sex anlegst, aber dieser hier scheint mir ziemlich hoch gegriffen. Außerdem, was immer zwischen mir und Eve...naja, das ist eine Sache zwischen mir und Eve.« Bis sie mir später alles erzählt, dachte Claire. »Jedenfalls meinte ich das nicht. Ich... habe sie überzeugt. Das ist alles.«

Überzeugt. Alles klar. In der Stimmung, in der Eve war, als Claire sie verließ? Nicht besonders wahrscheinlich...

Und dann erinnerte sich Claire an die Stimmen, die ihr in der Gasse zugeflüstert hatten, und wie sie blind und dumm angenommen hatte, in Sicherheit zu sein, obwohl sie sich in Gefahr brachte. Konnte Michael das auch? Würde er das tun?

»Du hast nicht...«Sie berührte ihre Schläfe mit dem Finger.

»Was?«

»Mit ihrem Kopf herumgepfuscht? Wie sie es können?«

Er antwortete nicht. Er fummelte weiter an der Decke auf ihren Schultern herum, holte ihr ein Kissen und sagte: »Leg dich hin. Ruh dich aus. In ein paar Stunden wird es hell und ich brauche dich dann.«

»Oh Gott, Michael, das hast du nicht getan! Das kannst du nicht getan haben! Das wird sie dir nie verzeihen!«

»Wenigstens lebt sie dann noch lange genug, um mich hinterher hassen zu können«, sagte er. »Ruh dich jetzt aus, ich meine es ernst.«

Sie hatte nicht vorgehabt zu schlafen. Ihr Gehirn drehte sich wie eine Reifenfelge, die über das Pflaster schabt und Funken in alle Richtungen aussandte. Viel Energie wurde verbraucht, die sie aber nicht schnell vorwärts brachte. Muss darüber nachdenken. Muss...

Michael begann, etwas zu spielen, eine sanfte, melancholische Melodie, alles in Moll, und sie fühlte, wie sie abdriftete...

... und dann war sie eingeschlafen, ohne dass sie es gemerkt hatte.

***

Die Decke um sie herum roch nach Shane.

Claire mummelte sich tiefer in ihre Wärme ein und murmelte, als sie aufwachte, etwas, das sein Name sein konnte; sie fühlte sich in seiner Umarmung gut, entspannt und sicher. Wie vor Kurzem, als sie den Abend auf der Couch verbrachten und sich küssten...

All das verblasste schnell, als sie die Ereignisse des Vortages wieder einholten, die Behaglichkeit abstreiften und sie frierend und verängstigt zurückließen. Claire setzte sich auf, umklammerte die Decke und schaute sich um. Michaels Gitarre war wieder in ihrem Kasten und die Sonne war schon am Horizont aufgegangen. Er war also wieder fort und sie und Eve...sie und Eve waren allein.

»Also gut«, flüsterte sie. »Zeit, sich an die Arbeit zu machen.« Sie musste eine brauchbare Strategie finden, Shane aus diesem Käfig auf dem Founder’s Square zu befreien. Das erforderte Recherche... vielleicht konnte ihr Detective Hess sagen, wie viele Wachen dort aufgestellt waren und wo. Bestimmt gab es so etwas wie Sicherheitsvorkehrungen, um menschliche Loser wie sie fernzuhalten, aber jegliche Art von Security konnte durchbrochen werden, oder? Zumindest hatte sie das immer gehört. Vielleicht fiel Eve etwas Nützliches ein.

Vorausgesetzt, Eve war heute Morgen nicht mehr auf Selbstmordkommandos aus. Claire dachte sehnsüchtig an eine heiße Dusche, entschied aber, dass das warten konnte, und ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Eve würde nicht gerade glücklich sein, aber noch unglücklicher wäre sie ohne Koffein. Claire wartete, bis sich die Kanne gefüllt hatte, und trug dann eine schwarze Tasse voll von dem Zeug nach oben. Der Schlüssel zu Eves Zimmer hing an einem Haken, ein Zettel klebte darauf. Michaels Handschrift. Sie las: Lass sie nicht aus dem Haus. Was natürlich indirekt sagte, dass Claire auch zu Hause bleiben sollte.

Als wenn sie daran auch nur denken könnte, wenn Shanes letzte Stunden abliefen. Und wer wusste schon, was ihm da draußen passierte? Sie dachte an Olivers kalte Wut, an Amelies Gleichgültigkeit, wobei sich ihr Magen verkrampfte. Sie nahm den Schlüssel, drehte ihn im Schloss und öffnete Eves Zimmertür.

Eve saß komplett angezogen in Zombie-Glamour auf dem Bettrand. Sie hatte ihre Haare zu zwei Rattenschwänzen zusammengebunden, auf jeder Seite einen, und sie hatte sich sehr sorgfältig geschminkt. Sie sah wie eine unheimliche Porzellanpuppe aus.

Eine zornige unheimliche Porzellanpuppe. Solche, die in Horrorfilmen vorkamen und Schnappmesser bei sich hatten.

»Kaffee?«, fragte Claire schwach. Eve sah sie einen Moment an, nahm den Kaffee, stand auf und ging zur Tür hinaus zur Treppe. »Oh Mann.«

Als Claire unten an der Treppe anlangte, stand Eve mitten im Wohnzimmer und starrte ins Leere. Sie hatte den Kaffee abgestellt und die Hände in die Hüften gestemmt. Claire hielt an, eine Hand noch immer auf dem Geländer, und beobachtete, wie Eve sich langsam im Kreis drehte, als würde sie etwas suchen.

»Ich weiß, dass du hier bist, du Feigling«, sagte sie. »Jetzt hör mal zu, du übersinnlicher Wahnsinnsknabe. Wenn du noch einmal so einen Mist mit mir machst, dann gehe ich zu dieser Tür hinaus und komm nie wieder, das schwör ich dir. Hast du das verstanden? Einmal für Ja, zweimal für Nein.«

Er musste ja gesagt haben, denn Eves Schultern entspannten sich ein wenig. Sie war aber immer noch böse. »Ich weiß nicht, was mieser ist, dass du Vamp-Spielchen mit mir gespielt oder dass du mich in mein Zimmer eingeschlossen hast, aber jedenfalls bist du so am Arsch, Mann. Da hilft es dir auch nicht, dass du tot bist. Wenn du heute Abend zurückkommst, dann tret ich dir so was von in den Hintern.«

»Es tat ihm leid«, sagte Claire. Sie setzte sich auf die unterste Stufe, als Eve ihr einen Blick voll gerechten Zorns zuwarf. »Er wusste, du würdest ausflippen, aber er konnte nicht. Er macht sich Sorgen um dich, Eve. Er konnte dich nicht da rausgehen lassen, wo sie dich umgebracht hätten.«

»Soweit ich mich erinnern kann, bin ich über achtzehn und niemandes Eigentum!«, schrie Eve und stampfte mit dem Fuß auf. »Es ist mir egal, ob es dir leidtut, Michael! Du musst dich echt anstrengen, um das wiedergutzumachen! Also wirklich!«

Claire sah, wie eine Brise durch Eves Haar fuhr. Eve schloss einen Moment lang ihre Augen, schwankte und öffnete ihren Mund zu einem roten O.

»Okay«, sagte sie leise. »Schon besser.«

»Was?«, fragte Claire und sprang auf die Füße.

»Nichts. Ähm, gar nichts.« Eve räusperte sich. »Was war letzte Nacht? Hast du sie dazu gebracht, Shane freizulassen?«

Claire fühlte vor Traurigkeit einen Kloß im Hals. Sie schüttelte den Kopf und sah zu Boden. »Aber es nützt nichts, mit Pfählen und Kreuzen da rauszugehen«, sagte sie. »Sie sind darauf gefasst. Wir brauchen einen anderen Plan.«

»Was ist mit Joe? Detective Hess?«

Claire schüttelte erneut den Kopf. »Er kann nicht.«

»Dann lass uns mit ein paar Leuten sprechen, die können«, sagte Eve sachlich. Sie nahm ihren Kaffee und trank ihn in langen Schlucken auf ex aus, stellte die Tasse dann ab und nickte. »Fertig.«

»Mit wem werden wir uns treffen?«

»Vielleicht bist du jetzt schockiert, aber es war nicht komplett vergebens, dass ich schon mein ganzes jämmerliches Leben lang in Morganville wohne. Ich kenne Leute, okay? Und einige von ihnen haben sogar Rückgrat.«

Claire blinzelte. »Ähm... okay? Zwei Minuten.«

Sie rannte nach oben, nahm die schnellste Dusche ihres Lebens und zog sich ebenso rasch um.