10

 

Die Schreie erstarben und die Musik brach mittendrin ab. Das war irgendwie noch schlimmer. Die Stille fühlte sich... kalt an. Claire klammerte sich trotzig an ihr Bewusstsein. Die Wirkung der Droge schien zu kommen und zu gehen. Vielleicht war bald alles wieder in Ordnung.

Eine Diele knarrte direkt vor der Schranktür.

Claire fühlte, wie den Jungen, dessen Hand sie hielt, ein Beben durchlief, und sie drückte sich enger an die Wand und starrte auf die Schranktür, ein großes schwarzes Rechteck, das von warmem Gelb umrahmt war.

Ein Schatten zuckte vorbei, man hörte ein Fauchen und einen Mann, der aus voller Kehle schrie; dann das Geräusch eines Körpers, der auf dem Fußboden aufschlug.

Dann das Krachen eines Gewehrs. Claire zuckte zusammen und sie fühlte, dass Eve und der Junge ebenfalls zuckten. »Oh Gott«, wisperte er. Er zitterte am ganzen Körper. Das einzig Gute an Drogen war, dass in einem Notfall die Herzfrequenz nicht stieg, fand Claire. In Anbetracht der Umstände war sie ziemlich ruhig. Oder sie gewöhnte sich einfach langsam daran, zu Tode erschreckt zu werden.

Rennende Schritte. Das Geländer im Flur knarrte. Rufe von unten, Füße, die die Treppe hinuntertrampelten...

Und dann in der Ferne das schrille Heulen von Sirenen.

»Cops«, flüsterte jemand, vielleicht der Cafeteria-Idiot. Er klang eine ganze Ecke weniger arrogant. »Wir werden gerettet. Alles wird gut.«

»Klar, bis diese beiden uns anzeigen«, murmelte ein anderer Junge. »Für, du weißt schon. Die Sache.«

»Du meinst versuchte Vergewaltigung?«, flüsterte Eve erbittert. »Himmel noch mal, hör dir mal selbst zu. Die Sache. Nenn es doch beim Namen, du Arschloch.«

»Hör mal, es war nur...es tut mir leid, okay? Wir wollten ihr nicht wehtun. Wir wollten nur...«

»Sie ist sechzehn, Mann!«

»Was?«

»Sechzehn. Du kannst dich also bei mir bedanken, weil ich dir eine ganze Menge Zeit im Gefängnis erspart habe. Versuchte Vergewaltigung ist eine ganze Ecke besser als tatsächliche Vergewaltigung. Und dann auch noch Vergewaltigung einer Minderjährigen. Hat Monica euch dazu angestiftet?«

»Ich...ähm... also, sie sagte...sie sagte, Claire sei gut zu haben, dass sie es nur derb bräuchte. Sie wollte sichergehen, dass wir sie hier kriegen.«

»Pssst!«, flüsterte Claire verzweifelt. Sie hörte wieder ein Bodenbrett knarren.

Alle wurden still.

Die Tür ging auf, sie wurden in blendendes Licht getaucht und Claire blinzelte den Mann an, der dort stand.

Rote Haare.

»Raus hier«, sagte Sam. »Bewegt euch.«

Die Jungs stiegen der Reihe nach heraus, wobei sie weit weniger eingebildet aussahen als zuvor, und scharten sich in einer Ecke. Es war jedenfalls Ian, dessen Hand sie gehalten hatte, bemerkte Claire. Er schaute sie auf eine andere, seltsame Art an, so, als würde er sie zum ersten Mal sehen.

»Tut mir leid wegen deiner Nase«, sagte sie. Er blinzelte.

»Nicht so schlimm«, sagte er. »Hör mal, Claire...«

»Nicht.«

»Willst du immer noch zu den Cops gehen?«, fragte der Cafeteria-Idiot.

»Nein«, sagte Claire.

»Scheiße! Doch«, sagte Eve. »Dreimal doch. Ihr werdet das nie wieder tun. Niemals. Und wenn ihr es doch tut, dann sind die Cops euer kleinstes Problem. Stimmt’s, Sam?«

Sam nickte wortlos.

»Machen wir, dass wir hier herauskommen. Claire? Kannst du gehen?«

»Ich kann es versuchen.«

Aber die Welt rutschte ihr einfach unter den Füßen weg, als sie aufstand, und sie fiel Eve in die Arme. Eve balancierte sie ungeschickt, als sie versuchte, sie aufrecht zu halten, und plötzlich schwebte Claire einen Meter über dem Boden.

Oh. Sam hatte sie hochgehoben, als wäre sie ein Sack voll Federn.

»Hey«, sagte der Cafeteria-Idiot. Sam hielt auf dem Weg zur Tür an. »Sorry, echt. Es war nur... Monica sagte...«

»Hör auf, Mann«, sagte Ian. »Monica hat uns nur auf die Idee gebracht. Wir sind die, die es getan haben. Keine Ausreden.«

»Ja«, sagte der Cafeteria-Idiot. »Wie auch immer, Mann. Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Wenn doch«, sagte Sam, »vergesst die Polizei. Ich werde euch finden.«

Die Dinge verschmolzen miteinander. Claire war übel und sie hatte die Orientierung verloren. Nur weil sie die Arme um Sams kalten, starken Hals gelegt hatte, wurde sie nicht von einer Woge aus Chemikalien davongetragen. Als sie die Augen öffnete, fing sie einzelne Bilder wie Lichtblitze auf...Das EEK-Verbindungshaus war verwüstet. Kaputte Möbel, ramponierte Wände, Leute, die am Boden lagen...

Einige von ihnen bluteten.

Eve hielt an und presste ihre Finger auf den Hals eines Jungen, der sich – im wahrsten Sinne des Wortes bis auf die Zähne – komplett als Vamp verkleidet hatte. Seine blauen Augen standen offen und blickten zur Decke. Er rührte sich nicht.

»Er ist tot«, flüsterte sie.

Ein Holzpfahl steckte in seiner Brust.

»Aber – er war doch gar kein Vampir«, sagte Claire. »Oder?«

»Das hat sie nicht gekümmert. Er sah aus wie einer und er muss ihnen wohl in die Quere gekommen sein«, sagte Sam. »Im Zimmer nebenan liegen zwei tote Vampire. Der da war ein Versehen.«

»Im anderen Zimmer?«, fragte Claire. »Woher weißt du das?«

»Ich weiß es eben.« Sam stieg über die Leiche und bewegte sich um eine kaputte Couch herum. Glas knirschte unter seinen Füßen. Die Sirenen kamen näher, wie immer kamen sie zu spät zur Party.

»Waren das Franks Typen?«, fragte Eve. »Die Biker?«

Sam antwortete nicht, aber das brauchte er eigentlich auch nicht. Wie viele randalierende Antivamp-Gangs mochten schon in Morganville wüten?

Claire schloss die Augen und ließ ihren Kopf gegen Sams Brust sinken, wo sie sich einen Augenblick ausruhen wollte.

Und... sie verließ für eine Weile einfach diese Welt.

***

Claire erwachte durch das Geräusch von Stimmen und von den Kopfschmerzen, die ungefähr so groß waren wie Cleveland; ihr Mund war staubtrocken und ihre Zunge eine dicke, mit Sandpapier bedeckte Filzrolle. Hallo, Übelkeit.

Sie lag zu Hause in ihrem Bett.

Claire rollte sich heraus, rannte ins Badezimmer und kümmerte sich zuerst um ihre Übelkeit, dann schaute sie in den Spiegel. Es war furchtbar. Ihr Gesicht war mit Make-up verschmiert, ihr schwarzer Eyeliner war in alle Richtungen verlaufen, ihr schwarz besprühtes Haar stand ihr in dicken Klumpen zu Berge.

Claire machte die Dusche an, legte ihre Goth-Verkleidung ab, setzte sich in die Badewanne und ließ das Wasser auf sich herunterprasseln. Es gab nicht genug Seife auf der Welt, wirklich, aber sie schrubbte sich heftig ab. Sie schrubbte, bis ihre Haut brannte.

Sie erstarrte, als es an der Badezimmertür klopfte. »Claire? Ich bin’s, Eve. Alles okay?«

»Ja«, sagte sie. »Alles okay.« Ihre Stimme klang schwach und zäh.

Eve musste sie beim Wort genommen haben, denn sie ging weg. Claire wünschte sich irgendwie, sie wäre nicht weggegangen. Sie brauchte jemanden, den sie fragen konnte. Sie brauchte jemanden, der für sie da war. Ich wäre fast...

Das Schlimmste daran war, dass sie keine Monster waren, diese Typen. Wahrscheinlich waren sie eigentlich die meiste Zeit okay. Wie war das überhaupt möglich? Wie konnten Menschen gleichzeitig gut und böse sein? Gut war gut, böse war böse – man musste dazwischen eine Trennlinie ziehen, oder? Wie bei den Vampiren?, flüsterte ein Teil von ihr. Wo steht dann Amelie? Wo Sam? Sam hat dir das Leben gerettet. Auf welcher Seite der Linie steht er für dich?

Sie wusste es nicht. Und sie wollte auch nicht mehr darüber nachdenken. Claire saß unter dem prasselnden harten Regen des heißen Wassers und ließ für eine Weile alles los, bis nur noch kaltes Wasser kam und sie sich daran erinnerte, dass Eve wahrscheinlich auch duschen wollte. Mist. Sie sprang auf, drehte die Wasserhähne zu und trocknete sich ab. Dann bemerkte sie, dass sie keine anderen Klamotten mitgebracht hatte, und wickelte sich für den kurzen Weg zu ihrem Zimmer in ihr Handtuch.

Als sie die Badezimmertür öffnete, stand Michael davor. Er schaute auf, sah, dass sie nicht angezogen war, und war kurz im Konflikt mit sich.

Er löste ihn, indem er sich umdrehte. »Geh dir was anziehen«, sagte er. »Dann muss ich dich sprechen.«

»Wie spät ist es?«, fragte sie. Er antwortete nicht und sie fühlte, wie sich Übelkeit ihres Magens bemächtigte. »Michael? Wie spät ist es?«

»Zieh dich einfach an«, sagte er. »Und komm runter.«

Sie rannte in ihr Zimmer, ließ das Handtuch fallen und griff nach ihrem kleinen Reisewecker.

Es war vier Uhr morgens. Nur noch wenige Stunden bis zur Dämmerung. »Nein«, flüsterte sie. »Nein...«Sie hatte Stunden geschlafen.

Keine Zeit zu verlieren, also. Claire zog Unterwäsche, Jeans und ein T-Shirt an, griff nach ihren Schuhen und Socken und eilte zur Treppe.

Sie hielt auf der ersten Stufe inne, als sie Amelies Stimme hörte. Amelie? Hier im Haus? Warum? Sam hatte sie eigentlich erwartet – nicht dass Michael Vampire mochte, aber hey, er gehörte zur Familie, oder? Und außerdem schien Sam okay zu sein. Und tatsächlich entdeckte sie Sams kupferfarbenes Haar, als sie eine weitere Stufe hinunterging; er stand mit verschränkten Armen hinten in der Ecke bei der Küche.

Amelie und Michael standen in der Mitte des Zimmers. »Hey!« Beim Klang von Eves Stimme, die von hinten kam, zuckte sie zusammen. Claire drehte sich um und sah, dass Eve in einem dicken schwarzen Bademantel und mit einem Armvoll Kleider dort stand. »Ich gehe duschen. Sag ihnen, ich bin gleich da, okay?«

Eve sah erschöpft aus, ihr Make-up hatte sich beim Schwitzen aufgelöst oder war verschmiert. Claire dachte schuldbewusst daran, dass sie das ganze heiße Wasser aufgebraucht hatte. »Okay«, sagte sie und ging eine weitere Stufe zum Wohnzimmer hinunter. Eves Schritte knarrten hinter ihr und die Badezimmertür fiel zu. Das Wasser ging an.

Claire hörte, wie Amelie sagte: »... kann es nicht rückgängig machen. Verstehst du? Wenn du diese Entscheidung getroffen hast, ist es getan. Es gibt keinen Weg zurück.«

Das klang nicht gut. Nein, das klang ganz und gar nicht gut. Claire fühlte sich noch immer zittrig und krank, als hätte sie auf der Party zwei Liter von der roten Bowle getrunken, und sie fühlte sich nicht in der Lage, Amelie noch einmal unter die Augen zu treten. Sie hatte sich heute schon mehr gegruselt, als sie vertragen konnte. Vielleicht sollte sie einfach auf Eve warten...

»Verstehe«, sagte Michael. »Aber es steht nicht mehr viel zur Wahl. Ich kann so nicht leben, eingesperrt in diesem Haus. Ich muss hier raus. Ich kann Shane nicht helfen, wenn ich hier feststecke.«

»Es kann sein, dass du Shane überhaupt nicht helfen kannst«, sagte Amelie kühl. »Ich würde eine solche Entscheidung nicht auf die Liebe zu einem Freund stützen. Es könnte sich als schlecht für euch beide herausstellen.«

»Leben bedeutet Risiko, nicht wahr? Also muss ich es riskieren.«

Sie schüttelte den Kopf. »Bitte sprich du mit ihm, Samuel. Erkläre es ihm.«

Sam bewegte sich in der Ecke, in der er stand, aber er kam nicht näher. »Sie hat recht, Junge. Du weißt nicht, worauf du dich da einlässt. Du denkst, du weißt es... aber das stimmt nicht. Du bist hier gut dran. Du lebst, du bist in Sicherheit, du hast Freunde, die sich um dich kümmern. Familie. Bleib, wo du bist.«

Michael stieß ein hohles Lachen aus, das ein bisschen irr klang. »Bleiben, wo ich bin? Große Güte, was für eine Wahl habe ich überhaupt? Dieses Haus ist ein zig Quadratmeter großes Grab. Ich bin nicht am Leben. Ich bin lebendig begraben.«

Sam schüttelte den Kopf und beugte ihn, um Michaels Blick auszuweichen.

Amelie trat näher an ihn heran. »Michael, bitte denk darüber nach, worum du mich da bittest. Es ist nicht nur schwierig für dich; es ist auch schwierig für mich. Wenn ich dich aus diesem Haus befreie, kostet dies einen schrecklichen Preis. Es bringt große Schmerzen mit sich und den Verlust von Dingen, die weder du noch ich vollständig beim Namen nennen können. Du wirst nicht mehr sein, was du bist, du wirst dich für immer verändern. Du wirst auf meinen Befehl leben und sterben, verstehst du? Und du wirst nie mehr auch nur halb Mensch sein, so wie jetzt.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube, du wirst das bereuen und Reue ist für uns wie Krebs. Sie zersetzt unseren Willen zu leben.«

»Ja? Was denken Sie, wie es ist, wenn man hier in der Falle sitzt, wenn einen jemand braucht?«, fragte Michael. Seine Fäuste waren geballt, sein Gesicht angespannt und rot. »Ich habe zugesehen, wie meine Freundin einen Meter von mir entfernt beinahe umgebracht worden wäre, und ich konnte nichts tun, weil sie draußen vor dem Haus war. Und jetzt Shane, der ganz allein da draußen ist. Schlimmer kann es nicht kommen, Amelie. Glauben Sie mir. Wenn Sie Shane schon nicht retten, dann müssen Sie wenigstens das für mich tun. Bitte.«

Er bat Amelie um... was? Um etwas, das sie tun konnte, damit er frei wäre? Claire nahm eine weitere Stufe und sah, wie Sam ihr den Blick zuwandte. Sie erwartete, dass er etwas sagen würde, aber er schüttelte nur ganz leicht den Kopf. Er warnte sie.

Sie zog sich zögernd wieder nach oben zurück. Vielleicht sollte sie Eve holen... Nein, die Dusche war immer noch an. Sie konnte warten. Michael würde nicht Dummes machen... oder doch?

Während sie noch zögerte, hörte sie, wie Amelie etwas sagte, das sie abgesehen von einem Wort nicht verstehen konnte.

»Vampir.«

Und sie hörte, wie Michael Ja sagte.

»Nein!« Claire sprang auf und raste, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter, aber bevor sie unten ankam, stand Sam da und schaute zu ihr hinauf. Er versperrte ihr den Weg. Sie schaute über das Geländer zu Michael und Amelie und sah, dass Michael sie beobachtete.

Er sah aus, als hätte er Angst, aber er lächelte sie an – ein schiefes Lächeln wie das, das Shane ihr am Käfig geschenkt hatte. Das auszudrücken versuchte, dass alles nicht so schlimm sei.

»Schon okay, Claire«, sagte er. »Ich weiß, was ich tue. So soll es sein.«

»Nein, so soll es nicht sein!« Sie kam noch eine Stufe herunter und klammerte sich mit beiden Händen am Geländer fest. Ihr war heiß und sie war wieder verwirrt, aber sie dachte, dass Sam sie zumindest auffangen würde, falls sie fiele. »Michael, bitte, tu es nicht!«

»Oliver hat versucht, einen Vampir aus mir zu machen. Er machte aus mir...« Michael deutete mit einer angewiderten Geste auf sich selbst. »Ich bin nur halb am Leben, Claire, und es gibt kein Zurück. Ich kann nur vorwärts gehen.«

Sie konnte dazu nichts sagen, weil er recht hatte. Auf der ganzen Linie. Er konnte kein normaler Typ mehr werden; er konnte nicht weiterhin hilflos hier festsitzen. Vielleicht wäre es gegangen, wenn sie Shane nicht geschnappt hätten, aber jetzt...

»Michael, bitte.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich möchte nicht, dass du dich veränderst.«

»Jeder verändert sich.«

»Nicht so, wie du dich verändern wirst«, sagte Amelie. Sie stand da wie eine Schneekönigin – perfekt, weiß und glatt – und hatte überhaupt nichts Menschliches an sich. »Du wirst nicht mehr der Mann sein, den sie kennt, Michael. Oder der, den Eve liebt. Willst du das auch riskieren?«

Michael holte tief Luft und wandte sich zu ihr um. »Ja«, sagte er. »Das will ich.«

Amelie stand einen Moment schweigend da, dann nickte sie. »Sam«, sagte sie. »Bring das Kind weg. Es soll keine Zeugen dafür geben.«

»Ich gehe nicht weg!«, sagte Claire.

Yeah, prima Plan. Sam kam drei Stufen herauf, nahm sie auf den Arm und trug sie hinauf. Claire versuchte, nach dem Geländer zu greifen, aber ihre Finger rutschten ab. »Michael! Michael, nein! Tu es nicht!«

Sam trug sie in ihr Zimmer und ließ sie auf das Bett plumpsen, und noch bevor sie sich in eine sitzende Position aufgerappelt hatte, war er schon draußen und machte die Tür zu.

Wenn Claire später daran dachte, konnte sie nicht sagen, ob sie den Schrei gehört oder gefühlt hatte; jedenfalls schien er durch die Knochen und Bretter des Glass House zu zucken und durch ihren Kopf, sodass sie stöhnte und die Hände über die Ohren schlug. Das half nichts. Der Schrei hielt an – schrill und schmerzlich wie die Dampfpfeife eines Zuges – und Claire fühlte, wie etwas...an ihr zog, als bestünde sie aus Stoff und ein riesiges, bösartiges Kind würde an ihren losen Fäden zerren.

Und dann hörte es einfach auf.

Sie glitt vom Bett, rannte zur Tür und öffnete sie. Sam war nirgends zu sehen. Eve stürzte aus dem Badezimmer, den Bademantel um den tropfnassen Körper gezogen. Ihre Haare klebten nass an ihrem Gesicht. »Was ist da los?«, schrie sie. »Michael? Wo ist Michael?«

Die beiden Mädchen wechselten einen verzweifelten Blick, dann rannten sie zur Treppe.

***

Amelie saß in einem Lehnstuhl, in dem, den Michael normalerweise benutzte; sie sah verhärmt und erschöpft aus und ihr Kopf war gebeugt. Sam kauerte neben ihr und hielt ihre Hand. Als Eve und Claire atemlos unten an der Treppe angelangt waren, erhob er sich.

»Sie ruht sich aus«, sagte er. »Es gehört viel dazu zu tun, was sie getan hat. Lasst sie in Ruhe. Sie soll sich erholen.«

»Wo ist Michael?«, fragte Eve. Ihre Stimme zitterte. »Was hast du mit Michael gemacht, du Mistkerl?«

»Langsam, Kind. Sam hat nichts damit zu tun. Ich habe ihn befreit«, sagte Amelie. Sie hob den Kopf und ließ ihn nach hinten gegen den Sessel sinken. Sie hatte die Augen geschlossen. »So viel Schmerz in ihm. Ich hatte gedacht, er könnte hier glücklich sein, aber ich habe mich geirrt. Jemand wie Michael kann nicht lange in einem Käfig leben.«

»Was meinen Sie damit, Sie haben ihn befreit?« Eve stotterte jetzt, ihr Gesicht war auch ohne die Unterstützung von Goth-Make-up aschfahl. »Haben Sie ihn getötet?«

»Ja«, sagte Amelie. »Ich habe ihn getötet. Sam!«

Claire verstand erst, weshalb sie den Namen des anderen Vampirs zischte, als Sam sich wie der Blitz umdrehte und ein anderer Blitz von der gegenüberliegenden Seite des Zimmers auf sie zukam. Es kam zum Kampf zwischen zwei Körpern, die sich zu schnell bewegten, als dass Claire ihnen mit den Augen hätte folgen können; er endete, als einer von ihnen flach auf dem Rücken am Boden lag.

Es war Michael da am Boden... aber nicht der Michael, den sie kannte. Nicht der, den sie vor fünf Minuten noch gesehen hatte, als er mit Amelie sprach und seine Entscheidung traf. Dieser Michael war Furcht einflößend. Sam hatte alle Mühe, ihn festzuhalten. Michael kämpfte und versuchte, ihn abzuwerfen. Und er fauchte, oh Gott, und seine Haut – seine Haut hatte die bleiche Farbe von Marmor und Asche...

»Hilf mir auf«, sagte Amelie ruhig. Claire sah sie betäubt an. Amelie hob königlich die Hand und erwartete offensichtlich, dass man ihr gehorchte. Claire half ihr auf die Füße, nur weil man ihr immer eingetrichtert hatte, höflich zu sein, und stützte die Vampirin, da es schien, als würde sie das Gleichgewicht verlieren. Amelie erlangte das Gleichgewicht wieder und schenkte ihr ein schwaches, dünnes Lächeln. Sie ließ Claires Arm los und ging langsam – unter Schmerzen – zu Sam, der versuchte, Michael unten zu halten.

Claire sah Eve an. Eve war in die Ecke zurückgewichen und hielt sich die zu Fäusten geballten Hände vor den Mund. Ihre Augen waren riesig.

Claire legte den Arm um sie.

Amelie legte ihre weiße Hand auf Michaels Stirn und er hörte sofort auf, sich zu wehren. Er bewegte sich überhaupt nicht mehr und starrte mit wilden, seltsamen Augen zur Decke hinauf. »Ruhe«, flüsterte Amelie. »Ruhe, mein armes Kind. Die Schmerzen werden vorübergehen. Der Hunger wird vorübergehen. Das wird helfen.« Sie griff in eine Tasche ihres Kleides und zog ein sehr kleines, sehr dünnes Silbermesser heraus, das nicht größer als ein Fingernagel war, und schnitt sich damit in die Handfläche. Sie blutete nicht wie ein normaler Mensch. Das Blut sickerte dicker und dunkler als normal heraus. Amelie hielt es an Michaels Lippen, presste es dagegen und schloss die Augen.

Eve schrie hinter ihren schützenden Händen auf, dann drehte sie sich blindlings um und stieß mit dem Gesicht gegen Claire. Claire umarmte sie fest, wobei sie zitterte.

Als Amelie ihre Hand zurückzog, war die Wunde geschlossen und es war kein Blut auf Michaels Lippen. Er schloss die Augen, schluckte und keuchte. Nach einigen langen Momenten nickte Amelie Sam zu, der ihn losließ und zurücktrat. Michael rollte sich langsam auf die Seite und schaute in Claires erschrockene Augen.

Seine Augen. Sie hatten noch dieselbe Farbe... und doch nicht dieselbe Farbe. Michael leckte sich die blassen Lippen ab und sie bemerkte das helle Aufblitzen von Schlangenzähnen in seinem Mund.

Sie schauderte.

»Siehe«, sagte Amelie leise, »der Jüngste unserer Art. Von diesem Tag an, Michael Glass, bist du einer der Ewigen der Großen Stadt und alles wird dir gehören. Steh auf. Nimm deinen Platz unter den Deinen ein.«

»Yeah«, sagte Sam. »Herzlich willkommen in der Hölle.«

Michael kam auf die Füße. Keiner von ihnen half ihm auf. »Das war’s?«, fragte Michael. Seine Stimme klang seltsam. Sie kam tief aus seiner Kehle, tiefer, als Claire sie in Erinnerung hatte. Ein leichter Schauder lief ihr über den Rücken. »Ist es erledigt?«

»Ja«, sagte Amelie. »Es ist vollbracht.«

Michael ging zur Tür. Er musste unterwegs anhalten und sich gegen die Wand stützen, aber er wirkte von Sekunde zu Sekunde stärker. Stärker, als Claire eigentlich lieb war.

»Michael«, sagte Amelie. »Vampire können getötet werden und viele kennen die Methoden. Wenn du nachlässig wirst, wirst du sterben, ganz gleich, wie viele Gesetze es in Morganville gibt, die uns vor unseren Feinden schützen.« Amelie warf den beiden Mädchen, die in der Ecke standen, einen Blick zu. »Vampire können nicht unter Menschen leben. Es ist zu schwierig, zu verlockend. Verstehst du? Sie müssen dein Haus verlassen. Du brauchst Zeit herauszufinden, was du bist.«

Michael schaute Eve und Claire an – eher Claire als Eve, als könne er es noch nicht wirklich aushalten, sie anzuschauen. Er sah jetzt eher wie er selbst aus, mehr unter Kontrolle. Abgesehen von der blassen Haut hätte man ihn fast für normal halten können.

»Nein«, sagte er. »Das ist ihr Zuhause und mein Zuhause und Shanes Zuhause. Wir sind eine Familie. Ich gebe das nicht auf.«

»Weißt du, weshalb ich dich aufgehalten habe?«, fragte Amelie. »Warum ich Sam befohlen habe, dich aufzuhalten? Weil man deinen Instinkten nicht trauen kann, Michael. Noch nicht. Du kannst dich nicht um sie kümmern, weil sie durch die Gefühle, die du für sie empfindest, verletzt werden. Verstehst du? Hast du dich diesen beiden Mädchen nicht mit dem Vorsatz genähert, Blut zu saugen?«

Seine Augen wurden groß und auf einmal sehr dunkel. »Nein.«

»Denk nach.«

»Nein.«

»Doch«, sagte Sam hinter ihm ruhig. »Ich weiß es, Michael. Ich war auch in dieser Situation. Und niemand war da, um mich aufzuhalten.«

Michael versuchte nicht noch einmal, es zu leugnen. Er schaute Eve jetzt direkt an und in seinen Augen erwachte eine so schreckliche Angst, dass es schmerzte, es mit anzusehen.

»Es wird nicht wieder vorkommen.«

Eve hatte lange Zeit kein Wort gesagt, deshalb war es ein wenig erschreckend, dass sie jetzt so ruhig reagierte, so...normal: »Ich kenne Michael. Er hätte das nicht getan, wenn er einen von uns dabei verletzen würde. Eher würde er selbst sterben.«

»Er ist gestorben«, sagte Amelie. »Der menschliche Teil von ihm ist tot. Was übrig geblieben ist, gehört mir.« Man hörte ein wenig Bedauern in ihrer Stimme, was Claire nicht besonders überraschte; sie hatte es in Amelies unendlich müden Augen gesehen, als sie ihr aufgeholfen hatte. »Komm, Michael. Du musst etwas essen. Ich zeige dir, wohin du gehen musst.«

»Einen Moment«, sagte er. »Bitte.« Und er entfernte sich von ihr und streckte Eve die Hand hin.

Amelie holte Luft, um etwas zu sagen – vermutlich Nein, aber sie blieb stumm. Sam sagte auch nichts, aber er wandte sich um, ging weg und streifte ziellos durchs Zimmer. Claire ließ Eve nur widerwillig los und Eve ging direkt zu Michael, ohne auch nur ein bisschen zu zögern.

Er nahm ihre beiden Hände in seine.

»Es tut mir leid. Es gab keine andere Lösung.« Michael schluckte, seine Augen hefteten sich an Eves. »Ich habe es immer mehr gefühlt. Wie einen – Druck im Inneren. Ich musste es nicht nur tun, um Shane zu retten. Ich brauchte es einfach... um nicht verrückt zu werden. Und es tut mir leid. Du wirst mich dafür hassen.«

»Warum?«, fragte Eve. Es war zur Hälfte Angeberei, anders war ihr Verhalten nicht zu erklären. Aber ihre Stimme klang sicher. »Weil du ein Vamp bist? Also bitte. Ich habe dich geliebt, als du nur zur Hälfte da warst. Solange du nur bei mir bist, komme ich mit allem zurecht, Michael. Dir zuliebe kann ich damit umgehen.«

Er küsste sie und Claire blinzelte und schaute weg. Es lag so viel Hunger in diesem Kuss und so viel Verzweiflung. Außerdem war er viel zu intim.

Eve zog sich auch nicht als Erstes zurück.

Als er zurücktrat, war er schließlich doch der alte Michael, trotz der blasseren Haut und des seltsamen Glanzes in seinen Augen. Dieses Lächeln... ja, es war Michael und alles würde gut werden.

Er wischte Eves stille Tränen mit seinen Daumen fort, küsste sie noch einmal, ganz leicht, und sagte: »Ich komme zurück. Amelie hat recht, ich muss...« Er hielt inne, schaute Amelie an, dann wieder Eve. »Ich muss essen, ich werde mich daran gewöhnen müssen, das zu sagen.« Sein Lächeln wirkte dieses Mal etwas getrübt. »Ich werde die Abendessen vermissen.«

»Nein, wirst du nicht«, sagte Sam. »Du kannst immer noch feste Nahrung zu dir nehmen, wenn du willst. Ich tue das jedenfalls.«

Aus irgendwelchen Gründen war ihnen das sehr wichtig. Es war etwas, woran sie sich festhalten konnten.

»Ich koche heute Abend«, sagte Claire. »Um Shanes Heimkehr zu feiern.«

»Wenn das kein Deal ist.« Michael ließ Eve los und trat zurück. »Ich bin so weit.«

»Dann komm mit hinaus«, sagte Amelie. »Komm zurück in die Welt.«

Michael mochte zwar ein Vampir sein, aber wenn man ihn beobachtete, wie er da draußen in der Nachtluft stand und seine Freiheit atmete... Claire glaubte, dass dies das Menschlichste war, das sie je gesehen hatte.