9

 

Es leuchtete Claire ein, dass Eve mehr öffentliche Orte kannte als sie selbst, aber irgendwie überraschte es sie, was das für Orte waren. Ein Waschsalon beispielsweise. Und ein Fotogeschäft. In beiden Fällen ließ Eve sie im Auto warten, während sie mit jemandem sprach – mit irgendjemand Menschlichem, da war Claire sich fast sicher. Aber beide Male kam nichts dabei heraus.

Eve stieg wieder in ihren großen, staubigen Cadillac und sah sauer und wegen der morgendlichen Hitze auch schon wieder erschöpft aus. »Pater Jonathan ist auf Reisen«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, wir könnten ihn dazu bringen, mit dem Bürgermeister zu sprechen. Sie kennen sich schon lange.«

»Pater Jonathan? Es gibt einen Priester in der Stadt?«

Eve nickte. »Den Vampiren ist es egal, wenn er Gottesdienste veranstaltet, solange er dabei keine Kreuze verwendet. Das Abendmahl ist ganz interessant; die Vampire bewachen die Oblaten und den Wein. Oh, und Weihwasser kannst du natürlich vergessen. Wenn sie ihn dabei erwischen würden, wie er ein Kreuz über irgendetwas Flüssigem schlägt, würden sie dafür sorgen, dass er seinen nächsten Gottesdienst jenseits der perlenbesetzten Paradiestore hält.«

Claire blinzelte und versuchte, das zu begreifen. »Aber...er ist auf Reisen? Außerhalb der Stadt? Wie das?«

»Er ist im Vatikan. Sondergenehmigung.«

»Der Vatikan weiß Bescheid über Morganville?«

»Nein, Dummkopf. Wenn er die Stadt verlässt, ergeht es ihm so wie allen anderen: keine Erinnerung an die Vamps. Ich glaube also nicht, dass wir damit rechnen können, dass die schnelle Eingreiftruppe des Vatikans hier einrückt, um Shane zu retten – nur falls du dir das jetzt so vorgestellt haben solltest.«

Hatte sie nicht, aber irgendwie hatte es etwas Tröstliches, sich paramilitärische Priester in kugelsicherer Ausrüstung und Kreuzen auf der Weste vorzustellen. »Also, was nun? Wenn du Pater Jonathan nicht erreichen kannst?«

Eve ließ den Wagen an. Sie standen auf dem winzigen Parkplatz des Fotogeschäfts neben einem riesigen Industriemüllcontainer. Ihr Auto war das einzige weit und breit, aber gerade bog ein weißer Lieferwagen in den Parkplatz ein und kam mit quietschenden Reifen auf dem Stellplatz neben ihnen zum Stehen. Es war noch immer recht früh, noch vor neun Uhr, und was man in Morganville unter Verkehr verstand, sickerte gemächlich durch die Straßen. Das Fotogeschäft war täglich vierundzwanzig Stunden geöffnet; Claire war sich sicher, dass sie so einen Job nicht haben wollte. Ließen Vampire Fotos von sich machen? Wie sahen sie aus? Vielleicht bestand der Trick ja darin, sich nicht anzuschauen, was da aus dem Automaten kam, sondern die Fotos einfach in einen Umschlag zu stecken und dem Kunden auszuhändigen... aber wahrscheinlich war dieser Trick auch außerhalb von Morganville üblich.

Sie schaute noch einmal auf die Uhr. »Eve! Deine Arbeit!«

»Ich finde auch einen anderen Job.«

»Aber...«

»Claire, so herausragend war der Job nun auch wieder nicht. Schau doch mal, womit ich mich dort herumschlagen musste. Sportler. Idioten. Monica.«

Eve fuhr rückwärts aus der Parklücke und stieg auf die Bremsen, als ein anderes Auto von hinten angefahren kam und ihr den Weg versperrte. »Verdammt«, stieß sie keuchend hervor und tastete hektisch nach ihrem Handy. Sie warf es Claire zu. »Ruf die Cops.«

»Warum?« Claire wandte sich um und schaute durch die Heckscheibe nach hinten, aber sie konnte nicht erkennen, wer den Wagen fuhr.

Sie schaute in die falsche Richtung. Die Gefahr ging nicht von dem Auto hinter ihnen aus; es war der weiße Lieferwagen an der Beifahrerseite des Cadillacs, und als sie begann, 911 zu wählen, glitt die Seitentür auf, eine Hand fasste herüber und zog am Griff von Claires Tür.

Sie war abgeschlossen. Sie war schließlich keine Vollidiotin. Aber zwei Sekunden später war das sowieso belanglos, da eine Brechstange das Fenster hinter ihr traf und in Millionen kleiner, funkelnder Scherben zerschlug. Claire warf sich unwillkürlich nach vorne und hielt die Hände über den Kopf. Sie tastete auf dem Boden nach dem Handy und versuchte verzweifelt, es zu finden. Eve fluchte atemlos.

»Bring uns hier raus!«, brüllte Claire.

»Ich kann nicht! Wir sind blockiert!«

Claire grabschte triumphierend nach dem Handy, wählte 911 zu Ende und drückte gerade auf SENDEN, als vom Rücksitz eine Hand nach ihr griff und ihr Gesicht gegen das Armaturenbrett knallte.

Danach waren die Dinge irgendwie weiter weg und ein bisschen fluffig an den Rändern. Sie erinnerte sich daran, dass sie aus dem Auto gezerrt wurde. Erinnerte sich, dass Eve brüllte und um sich schlug und dann verstummte.

Erinnerte sich, dass sie in den Lieferwagen gepackt wurde und sich die Tür schloss.

Und als sie abgesehen von monströsen Kopfschmerzen, die direkt über ihren Augen pochten, wieder etwas klarer im Kopf wurde, erinnerte sie sich auch an den Lieferwagen. Sie hatte ihn früher schon einmal gesehen. Sie war sogar schon einmal in ihm gewesen.

Und wie damals saß Jennifer am Steuer und Monica und Gina waren hinten. Gina hielt sie am Boden. Die Mädels sahen erhitzt aus. Wahnsinnig. Das war nicht gut.

»Eve«, flüsterte Claire.

Monica beugte sich zu ihr herüber. »Wer, der Freak? Ist nicht da.«

»Was habt ihr mit ihr gemacht?«

»Nur ein kleiner Schnitt, nichts allzu Ernstes«, sagte Monica. »Du solltest dir lieber Gedanken um dich selbst machen, Claire. Mein Daddy möchte dir eine Botschaft übermitteln.«

»Dein... was?«

»Daddy. Wie, hast du so was nicht? Oder weißt du einfach nicht, welcher Freier den Samen gespendet hat?« Monica grinste höhnisch. Sie trug enge blaue Jeans und ein orangefarbenes Top; sie sah so blendend aus, als wäre sie gerade einer Illustrierten entsprungen. »Oh, beruhige dich, Mäuschen. Bleib einfach unten, dann wird dir niemand wehtun.«

Gina zwickte Claire kräftig. Claire schrie auf, woraufhin Monica grinste. »Nun ja«, räumte sie ein, »vielleicht ein bisschen wehtun. Aber ein taffes Ding wie du kann das wegstecken. Oder, Superhirn?«

Gina zwickte Claire erneut und Claire knirschte mit den Zähnen, sodass sie dieses Mal nur wimmerte. Das fiel ihr leichter, weil sie schon auf den Schmerz vorbereitet war. Gina sah enttäuscht aus. Vielleicht sollte sie sich die Lungen herausbrüllen, koste es, was es wolle, um sich selbst die Quälerei zu ersparen, dass Gina härter arbeiten musste...

»Ihr seid uns gefolgt«, stellte Claire fest. Ihr war übel, wahrscheinlich weil sie mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett geprallt war, und sie machte sich große Sorgen um Eve. Ein kleiner Schnitt. Monica war nicht der Typ für halbe Sachen.

»Seht ihr? Ich sagte doch gleich, sie ist ein Genie, nicht wahr?« Monica ließ sich auf einem der gepolsterten Ledersitze des Lieferwagens nieder und schlug die Beine übereinander. Sie hatte süße Plateauschuhe an, die zu ihrem orangefarbenen Tanktop passten, und überprüfte, ob sie sich einen ihrer ebenfalls orange lackierten Fingernägel abgebrochen hatte. »Weißt du was, Superhirn? Du hast recht. Ich bin euch gefolgt. Schau mal, ich wollte dich in aller Stille abfangen, aber nein, du und deine Zombie-Braut musstet ja alles kompliziert machen. Warum gehst du übrigens nicht mehr zum Unterricht? Ist Unterrichtschwänzen nicht irgendwie gegen deinen Glauben oder so?«

Claire bemühte sich, sich aufzusetzen. Gina warf Monica einen Blick zu, die nickte. Claire rückte ein wenig von Gina weg und lehnte sich an die Schiebetür des Lieferwagens. Sie rieb sich den schmerzenden Arm, dort wo Gina sie gezwickt hatte. »Shane«, sagte sie. »Wegen ihm möchte mich dein Dad sprechen, stimmt’s?«

Monica zuckte die Schultern. »Ich nehme es an. Hör mal, ich mag Shane nicht. Das ist kein Geheimnis. Aber es war nicht meine Absicht, dass seine Schwester in diesem Feuer umkam. Das war so eine blöde Schul-Geschichte, okay? Keine große Sache.«

»Keine große Sache?« Von allem, was Monica je zu ihr gesagt hatte – und es war vieles dabei gewesen, bei dem einem die Kinnlade herunterklappen konnte –, war dies vielleicht das Schlimmste. »Keine große Sache? Ein Kind ist ums Leben gekommen und du hast die ganze Familie zerstört. Kapierst du das nicht? Shanes Mom...«

»Dafür kann ich nichts!« Monica war plötzlich rot im Gesicht. Sie war wohl nicht daran gewöhnt, dass sie beschuldigt wurde, dachte Claire. Vielleicht hatte ihr außer Shane noch nie jemand die Schuld daran gegeben. »Auch wenn sie sich erinnerte – hätte sie die Klappe gehalten, wäre alles in Ordnung gewesen. Und das mit Alyssa war ein Unfall!«

»Klar«, sagte Claire. »Ich bin mir sicher, das macht die Sache um einiges besser.« Sie fühlte sich zerschlagen und erschöpft, obwohl sie geschlafen und geduscht hatte. Der Boden des Lieferwagens war schmutzig. »Was zum Teufel will dein Vater überhaupt von mir?«

Monica starrte sie einige Sekunden lang schweigend an, dann sagte sie: »Er glaubt nicht, dass Shane Brandon ermordet hat.«

»Du machst wohl Witze.«

»Nein, er glaubt, dass es Shanes Dad war.« Monicas perfekt angemalter Mund verzog sich langsam zu einem Lächeln. »Er möchte, dass du das Shanes Dad sagst, und dann mal sehen, was passiert. Denn wenn er tatsächlich so etwas wie ein Vater ist, dann würde er nicht abwarten, bis sein kleiner Junge in der Hölle schmort. Im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Er möchte also, dass ich Shanes Dad sage...der Bürgermeister möchte einen Deal machen?«

»Shanes Leben für das seines Vaters«, sagte Monica. »Kein echter Vater könnte so etwas widerstehen. Shane ist nicht so wichtig, aber Dad möchte, dass diese Sache aus der Welt geschafft wird. Sofort.«

Claire hatte ein sehr unangenehmes Gefühl in der Magengrube, als hätte sie Würmer verschluckt. »Ich glaube das nicht. Sie würden Shane nie gehen lassen!« Jedenfalls nicht, wenn Oliver ein Wörtchen mitzureden hätte.

Monica zuckte die Achseln. »Ich überbringe nur die Botschaft. Du kannst Frank ausrichten, was immer du verdammt noch mal willst. Aber wenn du schlau bist, erzählst du ihm etwas, was ihn aus seinem Versteck herauslockt. Verstanden? Amelies Schutz reicht nur so weit. Du kannst noch immer verletzt werden. Gina würde das beispielsweise eine Menge Freude bereiten, auch wenn man ihr dafür zur Strafe ein wenig auf die Finger klopfen würde.«

»Und denk an deine Freundin, die wir jetzt ganz allein dort zurückgelassen haben«, sagte Gina. Sie hatte ein träges, leicht irres Lächeln aufgesetzt. »Mädchen, die ganz allein in dieser Stadt unterwegs sind, kann alles Mögliche zustoßen. Alle möglichen schlimmen Sachen.«

»Yeah, na ja, Eve sollte das eigentlich wissen«, sagte Monica. »Schau dir an, wer ihr Bruder ist.«

Claires Kopf knallte nach hinten gegen das Metall, als der Lieferwagen über etwas fuhr, das sich wie ein Bahnübergang anfühlte. Ihr Kopf begann, wie ein Bohrer zu vibrieren, außerdem hatte sie über den Augen noch immer diese fiesen Kopfschmerzen. »Also«, sagte Monica. »Du weißt, was du zu tun hast, oder? Geh zu Shanes Dad. Überzeug ihn, sich selbst an Shanes Stelle auszuliefern. Oder...du wirst herausfinden, wie unfreundlich Morganville wirklich sein kann.«

Claire sagte nichts. Die Dinge, die sie gern sagen wollte, würden sie wahrscheinlich um Kopf und Kragen bringen. Dass Monica und Gina später dafür bestraft würden, wäre ihr nicht gerade ein großer Trost.

Schließlich nickte sie widerwillig.

»Heimwärts, James!«, rief Monica Jennifer zu, die ihr ein Okay gab und um eine Ecke bog. Claire versuchte hinauszuspähen, aber sie erkannte die Straße nicht. Sie waren aber irgendwo in der Nähe des Campus. Rechts sah sie den Glockenturm, der neben dem UC stand.

Sie grabschte nach einem Haltegriff, als Jennifer in die Bremsen stieg. Monica hatte nicht so viel Glück. Sie fiel von ihrem Sitz auf den Boden, wobei sie schrie und fluchte. »Verdammt noch mal! Was zum Teufel war das denn, Jen? Wir sind doch keine Crash Test Dummys!«

Jen schwieg. Langsam nahm sie die Hände hoch als Zeichen der Kapitulation.

Die Tür hinter Claire ging auf und eine große Hand packte sie am Nacken und zog sie ins warme Sonnenlicht. Kein Vampir, dachte sie, aber es war kein großer Trost, denn sie sah einen strammen, muskulösen Arm, unter dem ein abgesägtes Gewehr klemmte. Sie erkannte die Tattoos mit den bläulichen Flammen, die auf seinem Arm bis zum Handrücken hinunterzüngelten.

Einer der Biker.

Sie schaute sich um und sah drei weitere, alle waren bewaffnet und richteten ihre Gewehre auf den Lieferwagen. Und dann sah sie Shanes Vater. Er kam ganz einfach auf sie zu, als wäre nicht die ganze Stadt mit all ihren Vampiren schon nächtelang hinter ihm her. Er sah sogar richtig ausgeruht aus.

»Monica Morrell«, sagte er. »Komm raus! Schau mal, was du gewonnen hast!«

Monica blieb völlig erstarrt sitzen, wo sie war, und klammerte sich an einer der Lederschlaufen im Lieferwagen fest. Sie schaute die Gewehre an, dann Gina, die mit erhobenen Händen auf dem Boden kniete, und schließlich blickte sie hilflos zu Claire.

Sie hatte Angst. Monica – die verrückte, seltsame, hübsche Monica – hatte tatsächlich Angst. »Mein Vater...«

»Lass uns später über ihn sprechen«, sagte Frank. »Schwing deinen hübschen Hintern hier runter, Monica. Oder muss ich erst kommen und dich holen?«

Sie zog sich weiter ins Innere des Lieferwagens zurück. Shanes Dad grinste und wies zwei der Biker an einzusteigen. Einer packte Gina an den Haaren, zerrte sie heraus und schleuderte sie auf die Straße.

Der andere ergriff Monica, die sich wehrte und fauchte, und fesselte sie hinten an eine der Lederschlaufen. Sie hörte erstaunt auf zu kämpfen. »Aber...«

»Ich wusste gleich, du würdest das Gegenteil von dem machen, was ich dir sage«, sagte Frank. »Die einfachste Art, dich im Wagen zu halten, bestand darin, dir zu sagen, dass du rauskommen sollst.« Er öffnete die Tür an der Fahrerseite und hielt Jennifer die Kanone ins Gesicht. »Dich brauche ich nicht. Raus mit dir.«

Sie schlüpfte schnell hinaus und hielt die Hände oben, als Frank sie zu den Bikern stieß. Sie setzte sich neben Gina auf die Bordsteinkante und legte den Arm um sie. Lustig, Claire hätte nicht gedacht, dass die beiden miteinander befreundet waren und nicht nur die Anhängsel von Monica. Aber jetzt schienen sie plötzlich... echt. Aber auch echt verängstigt.

»Du.« Shanes Dad wandte sich um und schaute Claire direkt an. »Nach hinten.«

»Aber...«

Einer der Biker hielt ihr das Gewehr an den Schädel. Sie schluckte, kletterte in den Lieferwagen und nahm den Ledersitz in Beschlag, aus dem Monica zuvor herausgefallen war. Shanes Dad stieg hinter ihr ein, danach eine verschwitzte Truppe Biker. Einer von ihnen setzte sich auf den Fahrersitz und der Lieferwagen setzte sich in Gang.

Das alles hatte nicht einmal eine Minute gedauert, dachte Claire. Zu dieser Tageszeit bemerkte das in Morganville wahrscheinlich niemand. Die Straßen waren wie ausgestorben.

Sie schaute Monica an, die zurückstarrte, und zum ersten Mal glaubte sie zu begreifen, was Monica fühlte, denn sie fühlte dasselbe.

Und das war wirklich entsetzlich.

Der Lieferwagen bog immer wieder schlingernd ab und Claire dachte über die einfachste Methode nach, an ihr Handy zu kommen, das in der Tasche ihrer Jeans war. Sie hatte Eves vorhin im Auto fallen lassen, als Monica sie mit dem Gesicht voran auf das Armaturenbrett geknallt hatte...Sie schaffte es, ihre Finger lässig in den Taschen einzuhängen, wobei sie das Metallgehäuse berührte. Ich brauche nur 911 zu wählen, dachte sie. Eve hatte die Entführung wahrscheinlich schon gemeldet, vorausgesetzt, Eve war so weit in Ordnung, dass sie sprechen konnte. Man konnte Handys orten, oder? Mit GPS oder so?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, kam Shanes Dad zu ihr, ließ sie aufstehen und klopfte sie von oben bis unten ab. Er tat es schnell, wobei er es vermied, seine Hände irgendwo länger zu lassen als nötig, und fand das Handy in ihrer Tasche. Er nahm es an sich. Monica schrie wieder und versuchte, um sich zu treten. Einer der Biker machte das Gleiche wie Frank, auch wenn Claire fand, dass es diesmal wirklich mehr nach Befummeln als nach Durchsuchen aussah. Aber er fand auch ihr Handy – ein Smartphone – und schob die Wagentür auf, um sie auf die Straße hinauszuwerfen. »Mach sie platt!«, rief er dem Fahrer zu, der einen U-Turn machte und auf der anderen Straßenseite zurückfuhr. Claire hörte kein Knirschen, aber sie stellte sich vor, dass die Handys zu elektronischem Brei zerstampft worden waren.

Das Abbiegen und Schlingern ging weiter. Claire klammerte sich einfach fest, hielt den Kopf nach unten gebeugt und dachte gründlich nach. Sie konnte niemandem Bescheid geben, aber Eve hatte es bestimmt getan. Detective Hess, Detective Lowe? Vielleicht würden sie ihnen zu Hilfe eilen.

Vielleicht würde Amelie ihre eigenen Leute schicken, um ihren Schutz durchzusetzen. Das wäre momentan einfach fabelhaft.

»Hey«, sagte Monica zu Shanes Dad. »Schlechter Zug, Arschloch. Mein Dad wird innerhalb von Sekunden jeden einzelnen Cop in Morganville auf Sie hetzen. Sie werden niemals davonkommen, und wenn sie Sie haben, dann werfen sie Sie in ein Loch, das so tief ist, dass daneben sogar die Kanalisation wie das Paradies aussehen wird. Fass mich nicht an, du Schwein!« Monica wand sich, um von den streichelnden Händen des Bikers neben ihr wegzukommen, der nur lächelte und dabei seine Goldzähne entblößte.

»Fass sie nicht an«, sagte Shanes Dad. »Wir sind keine Tiere.« Claire fragte sich, wo dieses Edler-Ritter-Syndrom plötzlich herkam, denn als sie im Glass House waren, hätte er zugelassen, dass seine Jungs, was immer sie wollten, mit Eve und ihr machten. »Nimm ihr das Armband ab.«

»Was? Nein. Nein! Man kann es nicht abnehmen, das wissen Sie doch!«

Der Biker fasste nach unten und nahm einen Bolzenschneider aus einem Beutel an seinem Gürtel. Claire keuchte entsetzt auf, als der Biker Monicas Arm packte. Oh Gott, dachte sie, er wird ihr die Hand abschneiden...

Aber er durchtrennte stattdessen nur das Metallarmband, riss es vom Handgelenk und warf es Shanes Vater zu. Monica starrte ihn zitternd an und versetzte ihm eine Ohrfeige. Eine ziemlich heftige.

Er holte aus und schlug zurück. »Lass sie«, sagte Shanes Vater. Er starrte auf das Armband. Außen war natürlich das Symbol. Claire konnte es nicht lesen, aber sie nahm an, dass es Brandons Symbol war, und sie fragte sich, wer wohl die Schutzfunktionen übernahm, nun, da Brandon tot war. Vielleicht Oliver...

Innen war Monicas voller Name eingraviert: MONICA ELLEN MORRELL. Shanes Vater grunzte zufrieden.

»Möchtest du auch einen ihrer Finger?«, fragte der Biker und schnippte mit dem Bolzenschneider. »Kein Problem für mich.«

»Ich glaube, das reicht, um unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen«, sagte Shanes Dad. »Schaff uns in den Untergrund, Kenny. Los!«

Der Typ am Steuer, Kenny – wenigstens wusste Claire jetzt einen ihrer Namen – nickte. Er war groß und ziemlich dünn, hatte lange schwarze Haare und ein blaues Bandana. Hinten auf seiner Lederweste war ein nacktes Mädchen auf einer Harley abgebildet, und soweit Claire sehen konnte, passte das zu den Tattoos auf seinem Arm. Kenny steuerte den Wagen fachmännisch durch die verwirrenden Straßen und Windungen Morganvilles, wobei er schnell, aber nicht gefährlich schnell fuhr, und dann herrschte plötzlich Dunkelheit.

Kenny knipste die Lichter an. Sie fuhren durch einen Regenkanal, einen riesigen Betontunnel, der für den Lieferwagen groß genug war – aber nur gerade eben so –, und sie fuhren steil bergab in die Finsternis. Claire rang nach Luft. Sie mochte eigentlich keine engen, geschlossenen Räume, ganz zu schweigen von der Dunkelheit...Sie erinnerte sich daran, wie sie ausgeflippt war, als sie vor noch nicht allzu langer Zeit in dem geheimen Raum hinter der Speisekammer des Glass House eingesperrt war. Nein, sie mochte das nicht. Überhaupt nicht.

»Wo bringen Sie uns hin?«, fragte sie. Sie hatte vor, es taff klingen zu lassen, stattdessen klang es genau nach dem, was sie war: nach einer verängstigten Sechzehnjährigen, die versucht, tapfer zu sein. Na wunderbar!

Frank Collins, der sich an einer der Lederschlaufen festhielt, schaute sie an und etwas Seltsames lag in seinen Augen, fast so etwas wie Respekt, dachte sie. »Dich bringen wir überhaupt nirgends hin«, sagte er. »Du wirst die Botschaft überbringen.« Und er warf ihr Monicas durchtrenntes Armband zu. »Sag dem Bürgermeister, dass das hübsche kleine Fräulein hier lernen wird, was Feuer ist, wenn mir nicht vor morgen zu Ohren kommt, dass mein Sohn freigelassen wurde. Wir haben uns einen netten Schneidbrenner zugelegt.«

Sie mochte Monica wirklich nicht. Eigentlich hasste sie sie fast schon und sie dachte, dass Morganville um einiges besser wäre, wenn sie einfach... verschwände.

Aber niemand verdiente das, was er da erzählte.

»Das können Sie nicht machen«, sagte sie. »Das dürfen Sie nicht!« Aber als sie sich die grinsende, verschwitzte Truppe in seinem Schlepptau anschaute, wusste sie, dass er das sehr wohl konnte. Das und noch weit Schlimmeres. Shane hatte recht gehabt. Sein Dad war richtig krank.

»Kenny wird bald an einer Leiter vorbeikommen«, fuhr Frank fort. »Und dann möchte ich, dass du aus diesem Wagen aussteigst, Claire. Klettere die Leiter hoch und drücke das Gitter auf. Dann stehst du direkt vor dem Rathaus von Morganville. Du gehst zum nächstbesten Cop, der dir über den Weg läuft, und sagst ihm, dass du den Bürgermeister sprechen musst, es ginge um Frank Collins. Und du sagst ihm, dass Frank Collins seine Tochter hat und dass sie für das Leben bezahlen wird, das sie genommen hat, und für das andere, das auf dem Spiel steht. Verstanden?«

Claire nickte steif. Monicas Armband lag kalt und schwer in ihrer Hand.

»Noch was«, sagte Frank. »Du musst ihnen beibringen, wie ernst ich das meine. Und du solltest überzeugend sein, denn wenn ich bis zum Morgengrauen nichts vom Bürgermeister gehört habe, kommt dieser Bolzenschneider zum Einsatz und wir schicken ihm etwas, das seinem Gedächtnis auf die Sprünge hilft. Außerdem hat sie neuerdings kein Armband mehr.«

Der Lieferwagen hielt an und Frank schob schwungvoll die Schiebetür auf. »Raus jetzt«, sagte er. »Du tust gut daran, dich anzustrengen, Claire. Schließlich möchtest du meinen Sohn retten, nicht wahr?«

Er sagte nichts davon, Monica zu retten, bemerkte sie. Überhaupt nichts.

Monica sah sie an, sie sah gar nicht mehr glamourös und modelmäßig aus, sondern einfach nur klein und verwundbar, allein im Lieferwagen mit all diesen Männern. Claire zögerte, dann stand sie von ihrem Sitz auf und griff nach der Lederschlaufe, um Halt zu finden. Ihre Knie fühlten sich wie Wackelpudding an. »Das ist doch Wahnsinn«, sagte sie. »Halte durch. Ich werde Hilfe holen.«

Tränen glitzerten in Monicas Augen. »Danke«, sagte sie leise. »Sag Dad...«Sie sprach nicht zu Ende, sondern holte tief Luft. Die Tränen versiegten und sie schenkte Claire ein halb irres Lächeln. »Sag Dad, wenn mir irgendetwas passiert, kann er dich persönlich dafür verantwortlich machen.«

Die Tür zwischen ihnen schlug zu und der Lieferwagen brauste in der Dunkelheit davon. Claire war froh, dass sie die Hand auf der Leiter hatte, denn die Lichter verschwanden rasch und sie wurde in einer Finsternis zurückgelassen, die so dicht und heiß und versifft war, dass sie sich am liebsten zu einer Kugel zusammengerollt hätte.

Stattdessen begann sie zu klettern, wobei sie nach den schleimigen Sprossen tastete und jeden Augenblick darauf gefasst war, dass sich etwas – etwas mit Zähnen – auf ihren Rücken stürzen könnte. Hier unten lebten Vampire, ganz bestimmt. Zumindest benutzten sie diese Tunnel als Verkehrswege. Sie hatte sich immer gefragt, wie sie sich tagsüber fortbewegten. Das waren keine Abwasserkanäle, nur extra große Regenkanäle. Und da Morganville nicht gerade auf Schwemmland gebaut war, hatte das Wasser in diesen Dingern bestimmt noch nie höher als bis zum Knöchel gestanden.

Claire kletterte weiter, und als sie nach rechts spähte, sah sie etwas flackern, das wie Tageslicht aussah. Über ihr befand sich ein Gitter, das mit einer Art Schutzmaterial bedeckt war, das verhinderte, dass Sonnenlicht in den Tunnel sickerte. Sie stützte sich auf den Sprossen ab, hakte sich mit dem linken Arm an einer der Eisenstangen ein und wuchtete mit ihrem rechten das Gitter hoch.

Die heiße texanische Sonne schickte ihr warme und stickige Luft entgegen, Claire atmete tief durch und wandte ihr dankbar das Gesicht zu. Nach ein paar Atemzügen zog sie sich noch eine Sprosse nach oben, drehte das Gitter um seine Angeln und kletterte heraus.

Wie Shanes Dad gesagt hatte, stand sie vor dem Rathaus von Morganville – das leider nicht auf dem Founder’s Square stand. Es handelte sich um ein großes Gebäude, das wie eine gotische Festung aussah und vollständig aus roten, grob behauenen Sandsteinblöcken bestand. Leute waren auf dem Weg zur Arbeit oder kamen von dort oder sie erledigten Papierkram. Sie gingen ihrem Alltag nach, was immer das in Morganville bedeutete.

Claire wälzte sich hinaus und plumpste keuchend ins Gras. Ein paar Gesichter erschienen in ihrem Blickfeld und blockierten die Sonne. Eines davon trug eine Polizeiuniformmütze.

»Hallo«, sagte Claire und schirmte ihre Augen mit der Hand ab. »Ich muss den Bürgermeister sprechen. Sagen Sie ihm, ich habe Informationen über seine Tochter und Frank Collins.«

***

Der Bürgermeister hatte nicht mehr den Anzug an, den er getragen hatte, als Shane die Nacht zuvor in den Käfig gesteckt wurde. Er trug ein grünes Poloshirt, eine schwarze Hose und Slippers. Sehr adrett. Er stand im Flur, sprach in sein Handy und sah angespannt und verärgert aus. Claire wurde von zwei hochrangigen Polizeibeamten an ihm vorbei in sein Büro geführt, wo sie in einem roten Ledersessel Platz nahm. Sie kannte die beiden nicht. Als sie nach den Detectives Hess und Lowe fragte, erhielt sie keine Antwort. Sie gaben noch nicht einmal zu erkennen, ob sie die Namen der beiden kannten.

Claire fühlte sich inzwischen mehr als nur ein bisschen schwach auf den Beinen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatte, aber sie nahm alles um sich herum mit surreal verschwommenen Kanten wahr, und das war überhaupt kein gutes Zeichen. Der Stress und der Mangel an Schlaf und Essen würden sie bald weich in der Birne machen.

Reiß dich zusammen, Claire. Tu so, als würdest du für eine Prüfung büffeln. Sie war schon einmal drei Tage ohne Schlaf ausgekommen, als sie für eine wichtige Prüfung gelernt hatte, und sie hatte außer Cola und Käsechips nicht viel zu sich genommen. Sie würde das schaffen.

»Hier«, sagte eine Stimme neben ihr und eine große männliche Hand reichte ihr eine rote Coladose. »Du siehst aus, als könntest du etwas zu trinken gebrauchen.«

Claire sah auf. Es war Richard, Monicas Bruder, der Polizist. Der gut aussehende. Er sah erschöpft und besorgt aus. Er zog einen weiteren Stuhl nahe an ihren heran und lehnte sich darauf nach vorne, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Claire war mit ihrer Cola beschäftigt, entfernte den Verschluss und nahm rasch einen langen Schluck von dem eiskalten, süßen Getränk.

»Meine Schwester wurde in ihrem Auto entführt«, sagte er. »Das weißt du, oder?«

Claire nickte und schluckte. »Ich war dabei. Ich war im Lieferwagen.«

»Genau deswegen möchte ich mit dir sprechen, bevor ich dich mit meinem Dad sprechen lasse«, sagte Richard. »Du warst im Wagen mit Jennifer, Gina und Monica.«

Claire nickte wieder.

»Was ich gern wissen würde: Wie hast du ihnen Bescheid gesagt?«

Sie blinzelte. »Wie ich was?«

»Wie hattet ihr die Falle geplant? Wie funktionierte euer System? Hast du ihnen eine SMS geschickt? Du weißt, wir können das Nachverfolgen, Claire. Oder habt ihr meine Schwester irgendwie in die Falle gelockt?«

»Ich weiß nicht, was Sie...«

Richard schaute zu ihr auf und sie schwieg, denn er sah jetzt nicht mehr so nett aus. Überhaupt nicht nett. »Meine Schwester ist ein durchgeknallter Psycho. Das weiß ich. Aber sie ist immer noch meine Schwester. Niemand wird in dieser Stadt eine Morrell anrühren, sonst wird jemand oder eine ganze Truppe von Jemands dafür bezahlen. Verstehst du, was ich meine? Also, was immer du weißt, in welcher Beziehung du auch immer zu diesen Eindringlingen stehst, kommst du am besten gleich zur Sache oder wir fangen schon mal an zu graben. Und, Claire, das würde ein ziemlich schneller und blutiger Prozess.«

Sie umfasste mit beiden Händen die Coladose, setzte sie an den Mund und nahm einen weiteren, zittrigen Schluck, dann sagte sie: »Ich habe sie nicht zu Ihrer Schwester geführt. Ihre Schwester hat mich gekidnappt. Direkt aus dem Parkplatz des Express Foto. Sie können Eve fragen. Oh Gott, Eve! Gina hat auf sie eingestochen. Ist sie okay?«

Richard schaute sie finster an. »Eve ist okay.«

Das löste einen schrecklichen Knoten in ihrem Magen. »Was ist mit Gina und Jennifer?«

»Denen geht es auch gut. Sie haben die Entführung gemeldet. Gina sagte...«

Etwas schoss ihm durch den Kopf und dann sagte er etwas langsamer: »Gina sagte eine ganze Menge. Aber ich hätte daran denken sollen, mit wem ich es zu tun habe. Wenn irgendjemand in Morganville noch durchgeknallter ist als meine Schwester, dann ist es Gina.«

Dem konnte sie nicht widersprechen. »Die Typen, die sich den Lieferwagen geschnappt haben...«

»Shanes Vater«, unterbrach sie Richard. »Wir wissen das bereits. Wo ist er jetzt?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich schwöre! Er ließ mich im Regenkanal aussteigen und befahl mir, die Leiter hochzuklettern und mit Ihrem Vater zu sprechen. Deshalb bin ich hier.«

»Lass sie in Ruhe, Richard.« Bürgermeister Morrell stelzte herein, schlug die Tür seines Büros hinter sich zu und hielt inne, um die beiden zusätzlichen Polizeibeamten anzustarren, die Wache standen. »Ihr zwei. Raus hier. Wenn mein Sohn nicht mit einer schmächtigen Sechzehnjährigen klarkommt, wird er schon noch bekommen, was er verdient.«

Sie verließen ziemlich schnell den Raum. Claire stellte ihre Coladose auf einem Tisch ab, als der Bürgermeister in seinen großen vornehmen Ledersessel sank. Er sah nicht mehr ganz so selbstgerecht aus wie am Tag zuvor am Founder’s Square und er sah definitiv wütend aus.

»Du«, fuhr er sie an. »Rede. Aber sofort!«

Sie gehorchte ihm und ein Strom von Worten schoss aus ihrem Mund. Shanes Vater, wie er den Lieferwagen entführt und Gina und Jennifer hinausgeworfen hatte. Wie er die Handys zerstört hatte. Wie er Monica bedroht und Claire als Überbringerin der schlechten Nachricht losgeschickt hatte.

»Es ist ihm ernst«, schloss sie. »Ich meine, ich habe schon gesehen, wozu er fähig ist. Er schreckt nicht davor zurück, jemanden zu verletzen, und er mag Monica definitiv nicht.«

»Oh, und plötzlich bist du ihre liebste beste Freundin? Also bitte. Du hasst sie bis aufs Blut und wahrscheinlich hast du allen Grund dazu«, sagte Richard. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. »Dad, hör mal, überlass das mir. Ich kann diese Typen finden. Wenn wir jeden verfügbaren Mann und Vampir auf die Straße schicken...«

»Das haben wir letzte Nacht schon getan, Richard. Wo immer sich diese Typen verstecken, sie gehen irgendwohin, wo wir ihnen nicht folgen können.« Die rot geränderten Augen des Bürgermeisters richteten sich wieder auf sie. Er ließ seine Knöchel knacken. Er hatte so große Hände wie sein Sohn. Harte Hände. »Oliver möchte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er möchte den Plan vorziehen und den Jungen heute Abend verbrennen, um sie herauszulocken. Der Plan ist nicht schlecht. Gute Antwort auf ihren Bluff.«

»Glaubst du, Frank Collins blufft?«, fragte Richard.

»Nein«, sagte der Bürgermeister. »Ich glaube, er wird genau das tun, was er gesagt hat, nur noch um einiges schlimmer, als wir uns vorstellen können. Aber Oliver möchte...«

»Du lässt das einfach zu? Was ist mit Monica?«

»Oliver weiß nicht, dass sie sie haben. Wenn ich es ihm sage...«

»Dad«, sagte Richard. »Wir sprechen von Oliver. Er gibt einen Dreck darauf und das weißt du genau. Akzeptable Verluste. Aber für mich ist das nicht akzeptabel und für dich sollte es das auch nicht sein.«

Vater und Sohn wechselten Blicke, dann schüttelte Richard den Kopf und ging weiter auf und ab. »Wir müssen einen Weg finden, sie zurückzuholen. Irgendwie.«

»Du.« Der Bürgermeister zeigte mit seinem dicken Finger auf Claire. »Erzähl mir die ganze Geschichte noch einmal. Alles. Jede Kleinigkeit, ganz gleich, wie unbedeutend sie ist. Fang da an, wo du die Männer zum ersten Mal gesehen hast.«

Claire öffnete den Mund, um zu antworten, und hielt sich im letzten Moment zurück. Nein, du Idiotin! Du kannst ihnen nicht die Wahrheit sagen! Wenn du die Wahrheit sagst, wird Shane auf alle Fälle gegrillt... Sie wusste, dass sie keine gute Lügnerin war, und sie brauchte zu viel Zeit, um in ihrem Kopf aufzuräumen und die Fäden zu erwischen, an denen sie mit der Geschichte beginnen sollte...

»Ich glaube, ich sah einige von ihnen, als sie ins Haus eingebrochen sind«, sagte sie zögernd. »Wissen Sie, als wir die Cops wegen des Einbruchs riefen? Und dann sah ich...«

Sie erstarrte und schloss die Augen. Sie hatte etwas Wichtiges gesehen. Etwas sehr Wichtiges. Was war es? Es hatte etwas mit Shanes Dad zu tun...

»Fang mit dem Lieferwagen an«, sagte Richard und vereitelte ihren Versuch, sich zu erinnern. Pflichtbewusst erzählte sie es wieder und wieder und beantwortete konkrete Fragen, so schnell sie konnte. Der Kopf tat ihr weh und trotz der kalten Cola auch der Hals. Sie brauchte Schlaf und sie wollte sich gern unter einer Decke zusammenrollen und sich ins Koma weinen. Oliver möchte den Plan vorziehen und den Jungen heute Abend verbrennen. Nein. Nein, das konnten sie nicht zulassen, sie konnten nicht...

Doch, das konnten sie. Zweifellos.

»Noch mal«, sagte Richard. »Noch mal ganz von vorne.«

Sie brach verzweifelt in Tränen aus.

***

Es dauerte Stunden, bis sie mit ihr fertig waren. Niemand bot an, sie nach Hause zu bringen.

Claire ging zu Fuß und fühlte sich dabei, als würde sie halb aus ihrem Körper herausdriften; aber sie schaffte es ohne einen einzigen Zwischenfall nach Hause. Was auch daran lag, dass es immer noch hell war, aber die Straßen schienen unnatürlich still und verlassen. Es hatte sich herumgesprochen, schätzte sie. Die Menschen steckten die Köpfe in den Sand, in der Hoffnung, dass der Sturm vorüberziehen würde. Als Claire die Tür zuschlug, schoss Eve die Treppe herunter, rannte zu ihr und umarmte sie volle Breitseite. »Miststück!«, sagte sie. »Ich kann es gar nicht fassen, dass ich so viel Schiss um dich hatte. Oh, mein Gott, Claire. Kannst du dir vorstellen, dass diese Deppen auf der Polizeiwache meine Aussage nicht aufgenommen haben? Ich hatte sogar einen Wunde! Eine echte Wunde mit Blut und allem! Wie bist du entkommen? Hat Monica dir etwas angetan?«

Eve wusste es nicht. Niemand hatte es ihr auf der Polizeiwache gesagt.

»Shanes Dad hielt den Wagen an«, sagte Claire. »Er hat Monica als Geisel genommen.«

Eine Sekunde lang rührte sich keine von ihnen, dann jubelte Eve und hielt die Hand hoch zu einer High five. Claire starrte sie nur an und Eve klatschte stattdessen über ihrem Kopf in die Hände. »Yesssss!«, sagte sie und vollführte einen absolut schrägen Freudentanz. »Konnte keinem besseren Psycho passieren.«

»Hey!«, schrie Claire und Eve erstarrte mitten in ihrem Freudenfest. Es war dumm, aber Claire war wütend. Sie wusste, dass Eve recht hatte, wusste, dass Monica nie jemand anderes sein würde als ein gigantischer Quälgeist, aber... »Shanes Dad will sie verbrennen, wenn sie die Hinrichtung durchziehen. Er hat einen Schneidbrenner.«

Die Schadenfreude wich aus Eves Gesicht. »Oh«, sagte sie. »Na ja... trotzdem. Es ist ja nicht so, dass sie nicht geradezu danach geschrien hätte. Das Schicksal ist eine Schlampe. Und ich auch.«

»Oliver versucht, sie dazu zu bringen, Shane heute Abend umzubringen. Die Zeit rennt uns davon, Eve. Ich weiß nicht mehr, was ich tun kann.«

Das killte auch noch den letzten Rest von Eves Selbstgefälligkeit. Sie schien es auch nicht zu wissen. Sie leckte sich die Lippen ab und sagte: »Noch haben wir Zeit. Lass mich ein paar Anrufe erledigen. Und du musst etwas essen. Und schlafen.«

»Ich kann nicht schlafen.«

»Na gut, aber du kannst essen, oder?«

Sie konnte, wie sich herausstellte, und sie brauchte es auch. Ihre Umgebung hatte schon eine ganz graue Farbe angenommen und ihr Kopf tat ihr weh. Ein Hotdog – nur mit Senf – und Chips sowie eine Flasche Wasser brachten das meiste davon wieder in Ordnung. Den Schmerz in ihrem Herzen jedoch nicht oder das Gefühl der Übelkeit, das nichts mit Hunger zu tun hatte.

Was werden wir jetzt tun?

Eve war am Telefon und rief Leute an. Claire ließ sich auf die Couch plumpsen, zur Seite sinken und rollte sich unter einer Decke zusammen. Sie roch nach Shanes Rasierwasser.

Sie musste eine Weile geschlafen haben, und als sie erwachte, war es, als hätte jemand einen Schalter umgelegt oder ihr Wach auf! zugeflüstert. Sie war nämlich innerhalb von Sekunden hellwach, ihr Herz raste und ihr Gehirn versuchte, genauso schnell zu sein. Das Haus war still, abgesehen vom üblichen Klicken, Knarren und Ächzen alter Häuser. Eine Brise raschelte draußen im vertrockneten Laub.

Und Claire brauchte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, dass sie den Baum vor dem Fenster nicht sehen konnte, weil es dunkel war.

»Nein«, sie schoss von der Couch herunter und suchte hastig nach einer Uhr. Es war genau, wie sie befürchtet hatte. Keine Sonnenfinsternis oder ein plötzlicher, unerwarteter Zusammenbruch der Tag-Nacht-Abfolge; nein, es war einfach dunkel, weil es schon Nacht war.

Sie hatte Stunden geschlafen. Stunden! Und Eve hatte sie nicht aufgeweckt. Eigentlich war sie gar nicht sicher, ob Eve überhaupt noch im Haus war.

»Michael!« Claire ging von Zimmer zu Zimmer, aber sie konnte ihn nirgends finden. »Michael! Eve! Wo seid ihr?«

Sie waren in Michaels Zimmer. Er öffnete halb angezogen die Tür. Die Jeans hing weit unten um seine Hüften, sein Hemd war offen und entblößte seine Brust und seinen Bauch, was Claire selbst jetzt einfach auffallen musste. Eve lag zusammengerollt unter der Bettdecke.

Michael kam schnell heraus und knöpfte sein Hemd zu. »Du bist ja wach.«

»Ja.« Claire unterdrückte einen Anflug puren Zorns. »Wenn ihr mit Poppen fertig seid, könnten wir vielleicht mal darüber sprechen, dass Shane heute Abend stirbt.«

Michael senkte sein Kinn ein wenig und starrte ihr direkt in die Augen. »Du möchtest ganz bestimmt nicht dort sein, Claire«, sagte er ausdruckslos. »Das möchtest du wirklich nicht. Denkst du, dass ich das nicht weiß? Dass es mir nichts ausmacht? Fuck! Was glaubst du, was Eve den ganzen Tag gemacht hat, während du...«

»... geschlafen hast? Ja, ich bin eingeschlafen! Aber ihr hättet mich ja wohl aufwecken können!«

Er trat einen Schritt vor. Sie ging einen Schritt zurück und dann noch einen, weil seine Augen... nicht Michaels üblicher Gesichtsausdruck. Ganz und gar nicht.

»Damit du auch hier gesessen und dich selbst zerfleischt hättest?«, fragte er leise. »Genug herumgerannt, Claire. Du brauchtest Schlaf. Ich ließ dich schlafen. Komm darüber hinweg.«

»Und wie lautet der brillante Plan, den ihr zwei ausgeheckt habt, während ich ein Nickerchen gemacht habe? Wie lautet er, Michael? Was tun wir jetzt, verdammt noch mal?«

»Ich weiß nicht«, sagte er, und was immer er noch an eiserner Kontrolle hatte, wurde an ihren Wurzeln brüchig. »Ich weiß nicht!« Es war ein Schrei, der von ganz tief innen kam. Claire wich noch einen weiteren Schritt zurück und fühlte, wie ein eisiger Hauch über ihre Haut strich. »Was zum Teufel soll ich deiner Meinung nach unternehmen, Claire? Was?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Irgendwas«, flüsterte sie. »Gott, bitte. Irgendwas.«

Er packte sie und zog sie in eine Umarmung. Sie sank ihm zitternd entgegen, wobei sie nicht direkt weinte... aber irgendwie doch. Es war ein Gefühl der Hilflosigkeit, als würden sie lose umhertreiben, ohne dass Land in Sicht wäre.

Als wären sie verloren. Völlig verloren.

***

Claire schniefte und trat zurück; da sah sie, dass Eve im Türrahmen stand und sie beobachtete. Was immer Eve dachte, es war nicht gut und Claire wollte so etwas nie wieder sehen.

»Eve...«

»Schon gut«, sage Eve ausdruckslos. »Es gibt noch einen Vampir, der uns helfen könnte. Wenn wir ihn finden und er einverstanden ist. Er könnte ohne Probleme zum Founder’s Square gehen. Er könnte sich sogar bereit erklären, Shanes Käfig zu öffnen, wenn wir eine kleine Ablenkung inszenieren.«

Michael wandte sich zu ihr um. »Eve.« Wenigstens hörte er sich nicht schuldbewusst an. Aber er klang besorgt. »Nein. Wir haben bereits darüber gesprochen.«

»Michael, es ist unsere letzte Chance. Ich weiß. Aber wir müssen sie jetzt ergreifen, wenn wir sie überhaupt ergreifen wollen.«

»Welcher Vampir?«, fragte Claire.

»Er heißt Sam«, sagte Michael, »und das klingt jetzt vielleicht komisch, aber er ist mein Großvater.«

»Sam? Er ist dein... dein...«

»Großvater. Ja, ich weiß. Das bringt mich auch zum Ausflippen. Schon mein ganzes Leben lang.«

Claire musste sich setzen. Ganz schnell.

***

Als sie wieder zu Atem kam, erzählte sie Eve und Michael, wie sie auf Sam im Common Grounds gestoßen war. Sie erzählte von dem Geschenk, das Sam ihr für Eve geben wollte. »Ich habe es nicht angenommen«, sagte sie. »Ich wusste nicht...naja, es schien nicht... richtig zu sein.«

»Verdammt gut reagiert«, sagte Michael.

Eve schaute ihn nicht an. »Sam ist okay«, sagte sie.

»Ich dachte, du hasst Vampire.«

»Tu ich auch. Aber...ich glaube, auf einer Liste der meistgehassten Vampire würde er ganz unten stehen. Er wirkt immer so einsam«, sagte Eve. »Er kam so ziemlich jede Nacht ins Common Grounds und redete einfach nur stundenlang. Redete nur. Oliver beobachtete ihn immer wie ein Falke, aber er hat nie was getan, hat nie jemanden bedroht – nicht wie Brandon. Tatsächlich fragte ich mich manchmal...«

»Was fragtest du dich?«

»Ob Sam Brandon im Auge behielt. Vielleicht auch Oliver, auch wenn ich das damals nicht wusste. Er hat aufgepasst...«

»Auf uns andere?« Michael nickte langsam. »Ich weiß nicht, inwiefern das wahr ist, ich habe ihn immer gemieden, aber in der Familie sagte man immer, dass Sam ein netter Typ war, bevor man ihn zum Vampir machte. Und er ist der jüngste von allen. Der am ehesten... nun ja, am ehesten wie wir ist.«

Eve war zu dem dunklen Fenster hinübergegangen und schaute hinaus, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Weißt du sonst noch etwas über ihn? Familiengeheimnisse, meine ich.«

»Nur dass man annimmt, dass er gegen die Vampire angetreten ist und gewonnen hat.«

»Gewonnen? Er ist doch einer von ihnen! Inwiefern ist das gewinnen?«

Michael schüttelte den Kopf, trat hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. Er küsste sanft ihren Nacken. »Ich weiß nicht, Eve. Ich sage dir nur, was ich gehört habe. Er konnte eine Art Vereinbarung mit den Vampiren treffen. Und es lag daran, dass Amelie ihn liebte.«

»Yeah, sie liebte ihn so sehr, dass sie ihn tötete und in einen blutsaugenden Teufel verwandelte«, sagte Eve finster. »Wie süß. Die Romantik ist noch nicht tot. Oh warte, doch, ist sie.«

Sie machte sich von Michael los und ging in die Küche. Michael schaute Claire stumm an. Sie zuckte die Achseln.

Als sie nach unten gingen, sahen sie, dass Eve Wurst- und Käsebrote zubereitete. Claire schlang eines davon in ungefähr sechs Bissen hinunter, dann nahm sie ein zweites. Die anderen beiden sahen sie an. »Was?«, fragte sie. »Ich bin am Verhungern. Ehrlich.«

»Nur zu«, sagte Michael. »Ich hasse Wurst. Außerdem kann ich ja eh nicht verhungern.«

Eve schnaubte. »Ich habe dir welche mit Roastbeef gemacht, Schlaumeier.« Sie reichte ihm eines. »Erzähl weiter. Das ist das erste Mal, dass ich von dir etwas über Sams Geschichte erfahre. Was machte ihn so besonders, dass er der allerletzte Vampir wurde?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, sagte Michael. »Das Einzige, was mir Mom darüber erzählte, habe ich euch gerade gesagt. Der Punkt ist, dass Sam nie richtig zu den Vampiren passte. Amelie möchte nicht an ihre Schwäche erinnert werden, deshalb war er für sie ein ständiges rotes Tuch. Ihr lag wirklich an ihm. Deshalb trennte sie sich von ihm. Das Letzte, was ich hörte, war, dass sie ihn nicht einmal mehr empfängt oder mit ihm redet. Er hängt mehr mit Menschen herum als mit anderen Vampiren.«

»Und deshalb sagte ich, er könnte uns helfen«, sagte Eve. »Oder zumindest wäre er bereit, uns anzuhören. Umso besser, wenn er zur Familie gehört.«

»Wo finden wir ihn?« Claire schaute von Michael zu Eve und wieder zurück. »Im Common Grounds?«

»Tabu für dich«, sagte Eve. »Hess hat mir erzählt, was mit dir und Oliver war.«

»War was?« Michael sprach undeutlich durch sein Roastbeef. »Warum weiß ich davon nichts? Gott, das habe ich jetzt gebraucht. Das schmeckt großartig.«

Eve rollte mit den Augen. »Yeah, Sandwichs erfordern eine ganz besondere Begabung. Ich überlege mir, Unterricht zu geben. Bis dahin zurück zum Thema. Claire geht nicht auch nur in die Nähe des Common Grounds. Wie ich schon sagte. Wenn jemand geht, dann bin ich das.«

»Nein«, sagte Michael. Eve starrte ihn an.

»Wir haben darüber schon gesprochen«, sagte sie. »Du bist zwar totsexy und damit meine ich wirklich tot und wirklich sexy, aber du wirst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe. Klar? Und auch nicht wieder diese Psychotour, sonst schwöre ich bei Gott, dass ich meinen Krempel zusammenpacke und ausziehe!«

Claire rückte ihren Stuhl nach hinten, ging zum schnurlosen Telefon auf der Küchentheke und wählte die Nummer auf der Visitenkarte, die noch immer mit einem Magneten am Kühlschrank befestigt war. Nach dem vierten Klingeln antwortete eine fröhliche Stimme am anderen Ende der Leitung und verkündete, dass sie mit dem Common Grounds verbunden sei. »Hi«, sagte Claire. »Kann ich bitte mit Sam sprechen?«

»Sam? Moment mal.« Das Telefon klapperte und Claire konnte im Hintergrund das Geräusch der Aktivitäten im Hintergrund hören – Milch wurde aufgeschäumt, Leute unterhielten sich, der übliche Trubel in einem geschäftigen Café. Sie wartete, wobei sie ungeduldig mit dem Fuß wippte, bis die Stimme wieder in der Leitung war. »Sorry«, sagte sie. »Er ist heute nicht da. Ich glaube, er ist auf der Party.«

»Auf der Party?«

»Die Zombie-Party der Studentenverbindung, weißt du? Epsilon Epsilon Kappa? Dead Girls’ Dance?«

»Danke«, sagte Claire. Sie legte auf und wandte sich Michael und Eve zu, die sie überrascht anschauten. Sie hielt das Telefon hoch. »Die Macht der Technologie. Macht sie euch zu eigen.«

»Du hast ihn gefunden.«

»Ohne ins Common Grounds zu gehen«, betonte Claire. »Er ist auf einer Party auf dem Campus. Dieses große Verbindungsdings. Die, die...«Sie hielt inne, fröstelte, dann stieg Hitze in ihr auf. »Die, zu der ich eingeladen wurde. Es war eine Art Date. Ich sollte diesen Jungen da treffen. Ian Jameson.«

»Weißt du was?«, sagte Eve. »Wir gehen beide hin. Zeit, sich den Todeslook zu verpassen, Claire.«

»Den... was?«

Eve schaute sie kritisch an, während sie ihr Sandwich mampfte. »Größe vierunddreißig, vielleicht sechsunddreißig, stimmt’s? Ich habe ein paar Sachen, die dir passen könnten.«

»Ich werde mich nicht verkleiden!«

»Ich hab die Regeln nicht aufgestellt, aber jeder weiß, dass du bei Dead Girls’ Dance nicht reinkommst, ohne ein bisschen Aufwand zu betreiben. Außerdem wirst du höllisch süß aussehen als winziges Goth-Girl.«

Michael schaute sie jetzt beide finster an. »Nein«, sagte er. »Es ist zu gefährlich für euch, ohne Begleitung nachts draußen zu sein.«

»Na ja, die Begleitungen sind uns gerade ausgegangen. Ich glaube, Claire hat Detective Hess gestern fertiggemacht. Und ich werde nicht einfach hier herumsitzen und warten, Michael. Das weißt du.« Ihre Augen trafen sich und Eves Blick wurde sanfter, als er über den Tisch griff und ihre Hand nahm. »Keine Psychospielchen. Du hast es versprochen.«

»Versprochen«, stimmte er zu. »Wird nicht wieder vorkommen.«

»Du bist so süß, wenn du dir Sorgen machst, aber es ist eine Party. Hunderte von Menschen werden dort sein. Das ist sicher genug.« Eve hielt seinem Blick stand. »Sicherer, als Shane in diesem Käfig ist, wo er auf seinen Tod wartet. Es sei denn, du hast ihn aufgegeben.«

Michael ließ ihre Hand los und ging weg. Er stieß mit der Schulter die Küchentür auf.

»Wohl nicht«, sagte Eve leise. »Gut, Claire. Wir müssen herausfinden, wie viel Zeit wir noch haben. Ob sie es verschoben haben.«

»Ich mach das«, sagte Claire und wählte die Nummer einer anderen Visitenkarte. Es war Detective Hess’ Privatnummer, die handschriftlich auf der Rückseite stand. Es klingelte vier Mal, bevor er abnahm. Er klang verschlafen und erschöpft. »Sir? Hier ist Claire. Claire Danvers. Entschuldigen Sie bitte, falls ich Sie geweckt habe...«

»Ich habe nicht geschlafen«, sagte er und gähnte. »Claire, was immer du vorhast, tu es nicht. Bleib zu Hause, schließ die Tür zu und zieh den Kopf ein. Das meine ich ernst.«

»Ja, Sir«, log sie. »Ich wollte nur wissen – ich habe gehört, dass die – die Hinrichtung verschoben werden soll.«

»Der Bürgermeister hat Nein gesagt«, sagte Hess. »Er sagte, er wolle einen angemessenen Prozess, und appellierte an Shanes Dad, sich zu ergeben. Sieht für mich wie ein mexikanisches Unentschieden aus: Er hat Shane, Shanes Dad hat Monica. Niemand möchte zuerst zwinkern.«

»Wie lang...«

»Vor Sonnenaufgang. Um fünf«, sagte Hess. »Bevor es dämmert, wird alles vorbei sein. Für Monica auch, wenn Shanes Dad nicht nur blufft.«

»Er blufft nicht«, sagte Claire wie betäubt. »Oh Gott. Das ist nicht viel Zeit.«

»Besser als das, was Oliver vorgeschlagen hatte. Er wollte es bei Sonnenuntergang heute Abend tun. Der Bürgermeister drängte ihn zurück, aber nur bis zur gesetzlichen Deadline. Bei einer Hinrichtung gibt es nicht in letzter Minute noch einen Aufschub.« Hess bewegte sich, sein Stuhl knarrte. »Claire, du musst darauf vorbereitet sein. Es wird kein Wunder geben. Niemand wird seine Meinung ändern. Er wird sterben. Es tut mir leid, aber es ist so.«

Sie hatte nicht den Mut, mit ihm zu streiten, weil sie tief in ihrem Inneren wusste, dass er recht hatte. »Danke«, flüsterte sie. »Ich muss jetzt weg.«

»Claire. Versuch es nicht. Sie werden dich umbringen.«

»Auf Wiederhören, Detective.«

Sie legte auf, brachte das Telefon wieder zurück zur Theke und stützte sich mit steifen Armen auf. Als sie aufsah, beobachtete Eve sie mit glänzenden, seltsamen Augen. »Also gut«, sagte Claire. »Wenn ich ein Zombie sein muss, werde ich ein Zombie sein.«

Eve lächelte. »Der süßeste Zombie aller Zeiten.«

Claire hatte noch nie in ihrem Leben so viel Make-up im Gesicht gehabt, nicht mal an Halloween. »Das machst du jeden Tag?«, fragte sie, als Eve einen Schritt zurücktrat, um sie kritisch zu mustern, das Make-up-Schwämmchen noch in der Hand. »Es fühlt sich merkwürdig an.«

»Man gewöhnt sich daran. Mach die Augen zu. Jetzt kommt der Puder.«

Claire gehorchte und fühlte die federleichte Berührung des Puderpinsels auf ihrem Gesicht. Sie unterdrückte das Bedürfnis zu niesen.

»Okay. Jetzt die Augen«, sagte Eve. »Halt still.«

So ging es noch eine Weile weiter, Claire saß passiv da, während Eve, mit welchem schwarzen Hokuspokus auch immer, weiterarbeitete. Claire wusste es nicht. Sie hatte keinen Spiegel, aber sie war sowieso nicht in der Stimmung zu sehen, was da mit ihr passierte. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde sie sich selbst verlieren, auch wenn das natürlich Unsinn war, oder? Wie man aussah, entsprach nicht dem, was man eigentlich war. Zumindest hatte sie das immer geglaubt.

Schließlich trat Eve zurück, musterte sie und nickte. »Klamotten«, sagte sie. Eve selbst hatte sich ein schwarzes Etwas angezogen, das aussah wie ein Korsett, dazu einen zerfetzten schwarzen Rock, eine Halskette aus Totenköpfen und passende Ohrringe. Schwarzer Lippenstift. »Bitte schön.«

Claire zog widerwillig ihre Jeans und ihr T-Shirt aus, dann setzte sie sich hin, um die schwarzen Strümpfe anzuziehen. Sie waren mit Reihen weißer Totenkopfsymbole bedruckt und sie wusste nicht, ob sie nach hinten oder vorne gehörten. »Woher hast du dieses Zeug?«, fragte sie.

»Internet. Die Schädel gehören nach hinten.«

Nach dem Abenteuer mit den Strümpfen war der schwarze Lederrock beinahe einfach anzuziehen. Er war knielang und Reißverschlüsse und Ketten klimperten daran. Claires Beine fühlten sich kalt und nackt an. Sie hatte seit... wann?...keinen Rock mehr angehabt. Nicht seit sie zwölf war, so ungefähr. Sie hatte Röcke noch nie gemocht.

Das Oberteil bestand aus einem schwarzen netzartigen Stück Stoff, das dehnbar und eng war. Es war durchsichtig und mit einem schwarzen Totenkopf mit überkreuzten Knochen bedruckt. »Keine Chance«, sagte sie. »Das ist durchsichtig!«

»Du trägst es über einem Hemdchen, Schlaumeier«, sagte Eve und warf ihr ein seidenes schwarzes Teil zu. Claire zog es sich über den Kopf und kämpfte sich dann in das eng anliegende Totenkopf-Shirt. »Vorsicht, das Make-up!«, warnte Eve. »Okay, so siehst du gut aus. Hervorragend. Bereit für einen Blick in den Spiegel?«

Sie war nicht bereit, aber Eve schien es gar nicht zu merken. Sie schob sie ins Badezimmer, machte das Licht an und legte den Arm um Claire. »Ta-da!«, sagte Eve.

Oh mein Gott!, dachte Claire. Ich kann nicht glauben, dass ich das tue.

Sie sah aus wie Eves magere kleine Schwester. Ein Nachwuchs-Freak in der Ausbildung.

Na ja, zumindest würde sie nicht auffallen, und wenn irgendjemand nach ihr suchte, würde er sie niemals erkennen. Sie würde sich ja nicht einmal selbst erkennen. Außerdem war ihr irgendwie klar, dass später Bilder im Internet auftauchen würden.

Claire seufzte. »Also los.«

***

Eve fuhr den schwarzen Cadillac zum Campus und parkte auf dem Fakultätsparkplatz – ein grober Verstoß, aber Eve kümmerte sich ja auch einen Dreck um Parkscheine. Es war der Parkplatz, der dem Verbindungshaus am nächsten war. So nah nämlich, dass Claire aus allen Fenstern Lichter zucken sah und das tiefe Dröhnen der Bässe hörte, das das Auto erschütterte.

»Wow!«, sagte Eve. »Die haben sich dieses Jahr aber ins Zeug gelegt. Die gute alte EEK.«

Um das Haus herum war ein Friedhof angelegt: schiefe Grabsteine, große, gruselig aussehende Mausoleen, einige verfallende Statuen. Es gab auch Zombies – oder, wie Claire annahm, Partygäste –, die herumtorkelten und für die Kameras ihrer Freunde die beste Parodie des Kultfilms Die Nacht der lebenden Toten abgaben.

Das dumpfe Dröhnen der Party war selbst durch die geschlossenen Autofenster zu hören.

»Bleib dicht bei mir«, sagte Eve. »Lass uns Sam finden, ja? Rein und gleich wieder raus.«

»Rein und gleich wieder raus.« Claire nickte.

Sie stiegen aus und rannten die kurze Strecke zum Friedhof.

Aus der Nähe sah man, dass die Grabsteine entweder aus Schaumgummi oder Styropor bestanden, und das Mausoleum war ein verkleidetes Lagerhaus, aber es sah großartig aus. Zombie-Hände ragten aus der Erde. Netter Ansatz, dachte Claire. Sie kam einer der Hände zu nahe und sie drehte sich und packte Claire am Knöchel. Claire kreischte, sprang zurück und prallte auf Eve, die sie auffing. »Himmel noch mal, Leute, werdet endlich erwachsen«, sagte Eve und kniete nieder, um sich den Boden anzuschauen. »Wo bist du?«

»Hier!« Eine grasbedeckte Falltür ging auf und ein dämlich aussehender Verbindungstyp mit einem Schildchen, das ihn als Neuling auswies, streckte den Kopf heraus. »Oh, sorry. Nur Spaß. Ich muss...«

»... Mädels angrabschen und unter ihre Röcke schauen. Yeah. Harte Arbeit, Frischling.« Eve stand auf und rieb sich Schmutz von den Knien. »Weiter so.«

Er grinste und schlug die Falltür wieder zu. Er streckte seine Hand wieder durch ein Loch in der Erde.

»Wow!«, sagte Claire. »Wie viele gibt es davon? Im Boden?«

»Nur die Neulinge der Verbindung«, sagte Eve. »Komm weiter. Wenn Sam da ist, unterhält er sich mit den Leuten. Er unterhält sich gern.«

Wenn Sam sprechen und ihn irgendjemand hören konnte, überstieg das Claires Vorstellungskraft. Die Musik dröhnte so laut, dass sie sich wie physikalische Wellen anfühlte, die durch ihren Körper zuckten, und sie musste das Bedürfnis unterdrücken, sich die Ohren zuzuhalten. Eve hatte Claires Haar zu kleinen Rattenschwänzen frisiert, aber jetzt wäre es Claire lieber gewesen, es würde noch ihre Ohren bedecken, um den Lärm zu dämpfen.

»Ich brauche Ohrstöpsel«, brüllte sie in Eves Ohr. Eve bewegte ihre Lippen zu einem Was hast du gesagt?. »Schon gut!«

Das Verbindungshaus von Epsilon Epsilon Kappa war völlig zugemüllt. Claire hatte zwar den Verdacht, dass es immer so versifft aussah, aber das hier war Chaos der Extraklasse: Überall Plastikbecher, Getränke versickerten im Teppich, ein kaputter Stuhl lag in der Ecke und Betrunkene schliefen auf dem Sofa. Und das war erst das Foyer. Zwei Typen verstellten ihnen den Weg und hoben die Hände zum universellen Zeichen für Denkt noch nicht mal daran; sie waren kräftig und muskulös und hatten weiß bemalte Gesichter und schwarze T-Shirts mit der Aufschrift UNTOTEN-SECURITY. »Einladungen?«, brüllte einer von ihnen. Claire wechselte einen Blick mit Eve.

»Ian Jameson hat mich eingeladen!«, schrie sie zurück. »Ian Jameson!«

Die Security-Typen hatten eine Liste. Sie überprüften sie und nickten. »Oben!«, schrie er. »Letzte Tür links!«

Sie hatte nicht vor, Ian zu suchen, aber sie nickte trotzdem. Sie und Eve drängten sich zwischen den zwei Security-Typen durch – die ihnen vielleicht ein bisschen zu nah kamen – und traten über die Schwelle der wildesten Party, die Claire in ihrem ganzen Leben gesehen hatte.

Nicht dass sie große Erfahrungen gehabt hätte, aber trotzdem...sie war sich ziemlich sicher, dass Paris Hilton sie als wild eingestuft hätte. Trotz der Tatsache, dass Alkohol auf dem Campus verboten war, war sie sich ziemlich sicher, dass die Bowle, die aus gigantischen Kühlbehältern geschöpft wurde, Alkohol enthielt (außerdem schwammen in dem blutroten Getränk abgetrennte Hände, Augäpfel und andere Scheußlichkeiten herum). Bei vielen Leuten auf der Party konnte man schon verräterische Zeichen dafür erkennen, dass sie stockbesoffen waren – sie torkelten, lachten zu laut und gestikulierten wild. Sie verschütteten Getränke über sich selbst und andere, was keinem wirklich etwas auszumachen schien, denn, hey, schließlich waren sie Zombies! Keine adretten Streber. Alle trugen weißes Make-up oder hatten irgendwelche widerlichen Gummimasken auf (vor allem die Typen).

Der Hauptpartyraum stellte eine Art Tanzfläche dar, auf der sich eng aneinandergepresste Menschen hin und her wiegten. Claire stand in der Tür und eine plötzliche Angst überkam sie. Es sah aus wie ein Zimmer voller Toter. Schlimmer noch – wie ein Zimmer voller toter, betrunkener Menschen, deren Hormone verrückt spielten.

»Komm schon«, schrie Eve ungeduldig und packte sie an der Hand. Sie tauchte, ohne zu zögern, in die Menge ein und reckte den Hals, um sich umzuschauen. »Wenigstens ist er rothaarig!«

Die meisten Partygäste hatten nämlich schwarze Perücken auf oder hatten sich die Haare schwarz gefärbt wie Eve. Claires waren vorübergehend schwarz von irgendeinem Zeug zum Aufsprühen, von dem Eve versichert hatte, dass es sich ohne Weiteres auswaschen ließ. Claire versuchte, unnötigen Körperkontakt zu vermeiden, aber es half nichts; sie war noch nie in ihrem Leben einem Rudel Typen so nah gekommen.

Eine Hand versuchte, unter ihren Rock zu wandern, als sie sich durch die Menge drängte. Sie kreischte, machte einen Satz und bewegte sich dann schneller. Jemand anderes klatschte ihr auf den Hintern.

»Schneller!«, brüllte sie Eve zu, die langsamer geworden war, um sich zurechtzufinden. »Himmel, ich bekomme keine Luft hier drin!«

»Hier lang!«

Claire fühlte sich schmutzig – nicht nur, weil sie ständig betatscht wurde, sondern auch, weil sie inzwischen vom Schweiß anderer Menschen triefte. Eve und sie schlängelten sich zu einer kleinen freien Stelle durch, die sich auf der anderen Seite des Raumes in der Nähe der Treppe befand. Das musste wohl die Mauerblümchenecke sein; einige schüchtern aussehende Mädels, alle in Pseudo-Goth-Aufmachung, hatten sich hier zusammengerottet, um, wie Claire vermutete, Schutz zu suchen. Sie empfand sofort Mitleid mit ihnen. »Geniale Party!«, brüllte Eve über den trommelnden Rhythmus der Musik. »Ich wünschte, ich könnte sie genießen!«

»Irgendeine Spur von Sam?«

»Nein! Hier drin nicht! Lass es uns in den anderen Zimmern versuchen!«

Nach dem Chaos auf der Tanzfläche wirkte die Küche wie ein Studierzimmer, auch wenn sie ebenfalls mit Leuten vollgestopft war, die sich zu laut unterhielten und zu heftig gestikulierten. Hier standen auch noch mehr Kühlgefäße mit Bowle, was Claire fast in den Wahnsinn trieb; sie hatte Durst, wollte aber neben all ihren momentanen Problemen auf keinen Fall obendrein auch noch betrunken sein. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Es summte noch immer in ihren Ohren. Aber wenigstens gab es hier Platz zum Atmen. Claire suchte instinktiv nach ihrem Handy, erinnerte sich daran, dass es unter den Rädern des weißen Lieferwagens zermahlen worden war, und fluchte verhalten. »Wie spät ist es?«, fragte sie Eve, die auf ihr eigenes schwarzes Handy schaute (das natürlich mit Totenköpfen verziert war).

»Zehn«, sagte sie. »Ich weiß. Wir müssen uns beeilen.«

Jemand packte Claire am Arm und sie fuhr erschrocken zurück, aber dann erkannte sie Ian unter dem Make-up – den Typen, der ihr von der Party erzählt hatte. Der, dessen Namen sie benutzt hatten, um reinzukommen. »Claire?«, fragte er. »Wow. Du siehst toll aus!«

Er sah heute weniger streberhaft und etwas markanter aus mit seinen zu Stoppeln aufgerichteten schwarzen Haaren und seinem Vampir-Make-up. Claire fragte sich unbehaglich, wie viele echte Vampire sich heute Abend wohl auf der Party eingeschlichen hatten. Kein angenehmer Gedanke. »Oh...hi, Ian!« Eve suchte den Raum ab, und als Claire sie anschaute, schüttelte Eve den Kopf und bedeutete ihr, dass sie in den nächsten Raum ginge. Claire bat sie – zumindest mit den Augen – nicht zu gehen, aber ihr dickes Make-up vertuschte vermutlich ihre Verzweiflung.

»Ich bin so froh, dass du gekommen bist!«, sagte Ian. Er brauchte über dem Lärm kaum seine Stimme zu erheben; er hatte einfach diese Art von Stimme, die alles übertönte, und außerdem war das Dröhnen hier drin zum Glück gedämpfter. »Soll ich dir ein Glas Bowle holen?«

»Ähm... gibt es etwas, das nicht, du weißt schon...?«

»Klar, ja. Wie wäre es mit Wasser?«

»Wasser wäre wunderbar.« Wo zum Teufel steckte Eve? Sie war hinter zwei großen Typen verschwunden und Claire konnte sie nun nicht mehr sehen; sie fühlte sich einsam und ungeschützt, wie sie dort in ihrer nachgemachten Goth-Aufmachung herumstand, und, mein Gott, dieses Make-up juckte! Wie hielt Eve das bloß aus? Claire wollte duschen, ihr Gesicht schrubben, eine einfache Jeans und ein schlichtes T-Shirt anziehen und nie wieder abenteuerlustig sein.

Shane. Denk an Shane. Sie verspürte unangenehme Gewissensbisse, weil sie nicht an ihn gedacht hatte, wenn auch nur eine Minute lang.

Ian kam mit einer bereits geöffneten Wasserflasche zurück. »Bitte schön«, sagte er und reichte sie ihr. Er trank ebenfalls Wasser, keine Bowle. »Verrückt, was?«

»Verrückt«, stimmte sie zu. In einer Stadt voller Vampire war das die verrückteste Idee, die sie sich vorstellen konnte – eine Horde betrunkener, wild gewordener College-Kids an einem Ort, an dem sich ohne Weiteres Vampire daruntermischen konnten. »Hast du gesehen, wo meine Freundin hingegangen ist?«

»Mädels«, seufzte Ian. »Immer im Rudel unterwegs. Ja, sie ist in die Bibliothek gegangen. Komm mit.«

Claire stürzte ihr Wasser hinunter, während sie ihm folgte, und stieg über die Beine einiger Leute, die beschlossen hatten, dass der Küchenboden ein guter Platz war, um sich zum Plaudern niederzulassen. Und – oh, mein Gott – was trieb denn das Pärchen da in der Ecke? Sie wurde rot unter ihrem Make-up, schaute schnell weg und heftete ihren Blick auf Ians Hals. Er hatte beim Make-up eine Stelle vergessen. Sie war rosa.

Im nächsten Zimmer waren auch Leute, aber nicht so viele wie in der Küche, und im Vergleich zur Tanzfläche wirkte er geradezu ausgestorben. Bibliothek war ein hochtrabender Begriff. Es gab dort Bücher, aber nicht so viele, wie Claire erwartet hatte, die meisten davon waren alte Lehrbücher. Einige davon wurden gerade von Leuten verunstaltet, die schwarze Textmarker und Stifte gezückt hatten und gemeinsam über die Ergebnisse kicherten.

Keine Spur von Eve.

»Ähm«, sagte Ian. »Warte mal.« Er ging zu einem anderen, größeren Typen und fragte ihn etwas; er trug ein seidig aussehendes schwarzes Hemd, das halb aufgeknöpft war und den Blick auf eine starke, muskulöse Brust freigab. Es dauerte eine Weile. Claire kippte weiterhin Wasser in sich hinein und war dankbar für die Flüssigkeit, denn selbst in der Bibliothek dampfte die Hitze; beinahe hätte sie sich über das Gesicht gewischt, bevor sie sich an ihr sorgfältig aufgelegtes Make-up erinnerte.

Auch in diesem Zimmer keine Spur von Sam. Während Ian sich unterhielt, ging Claire zu einem der Mädels hinüber, die die Bücher verunstalteten. Sie kam ihr irgendwie bekannt vor. Vielleicht kannte sie sie aus Chemie? Anna Irgendwas?

»Hi – Anna?« Sie lag wohl richtig, denn das Mädchen schaute auf. »Hast du Sam gesehen? Rote Haare... trägt vielleicht eine braune Lederjacke...?« Obwohl er sie bei dieser Hitze wohl ausgezogen haben musste. »Blaue Augen?«

»Oh, klar. Sam. Er ist irgendwo oben.« Anna machte sich wieder daran, Bücher zu sabotieren, wozu wohl auch das Zeichnen von Teufeln und Mistgabeln gehörte. Oben. Claire musste nach oben, aber vor allem musste sie Eve schnell finden.

Ian kam zurück. »Sie ist nach oben gegangen«, sagte er. »Sie sucht einen Typen, der Sam heißt, nicht wahr?«

»Yeah«, sagte Claire. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn...?«

»Nee, klar, ich komme mit.« Er schaute auf die leere Flasche in Claires Hand. »Möchtest du noch eine?«

Sie nickte. Er nahm eine Flasche aus einem eisgefüllten Gefäß und reichte sie ihr. Sie löste den Verschluss und nahm einen Leben spendenden Schluck, während Ian sie zur Treppe führte.

Durch die Hitze fühlte sie sich langsam und wie abwesend. Sie wollte sich das kalte Wasser über das Gesicht schütten, dachte aber dann – wieder einmal – gerade noch rechtzeitig an das Make-up. Blödes Make-up.

Die Treppe schien endlos zu sein und es war, als würde man um Landminen herumtanzen; auf fast allen Stufen saßen Leute, manche unterhielten sich, andere murmelten vor sich hin, wieder andere reichten Joints weiter. Oh Mann! Sie musste wirklich schnellstens hier raus.

Der obere Treppenabsatz erschien ihr wie ein Paradies, weil es so viel freien Platz gab. Claire klammerte sich an das Geländer und atmete einige Sekunden durch. Ian kam zu ihr zurück. »Bist du okay?«, fragte er. Sie nickte. »Ich weiß nicht, in welchem Zimmer sie ist. Wir schauen einfach mal nach.«

Sie folgte ihm. Er machte die erste Tür auf dem Flur auf; hinter ihm sah sie etwa zehn Leute, die in ein intensives Gespräch vertieft waren. Alle schauten Ian an und in ihren Blicken schwang definitiv ein Raus hier mit. Als er die Tür wieder schloss, wurde Claire bewusst, dass alle zehn von ihnen Vampire waren.

Sam war nicht dabei gewesen, aber nach allem, was er ihr erzählt und was sie von Eve und Michael gehört hatte, wäre das auch unlogisch gewesen. Er würde mit den Menschen herumhängen, oder? Die Vampire hatten nichts mit ihm am Hut.

»Falsches Zimmer«, sagte Ian überflüssigerweise und ging zum nächsten. Sie konnte nicht über seine Schulter sehen, aber er schloss eilig wieder die Tür. »Ganz falsches Zimmer. Sorry.«

Es gab etwa zehn Türen auf diesem Flur, aber sie gelangten nicht bis zur zehnten. Claire fühlte sich ein wenig benommen. Eigentlich war ihr schwindelig. Vielleicht lag es an der Hitze. Sie nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Flasche, aber dadurch wurde ihr, wie es schien, auch noch übel. Als Ian die vierte Tür öffnete, sagte sie: »Ich fühle mich nicht so besonders.«

Ian lächelte und sagte: »Nun, das ging ja schnell.« Dann schob er sie in das Zimmer. »Ich dachte, ich müsste mich mehr anstrengen, aber du bist ziemlich leicht zu kriegen.«

Drei weitere Typen waren noch im Zimmer. Sie kannte keinen von ihnen... Moment, oder doch, einer kam ihr bekannt vor.

Der Idiot aus der UC-Cafeteria, der so fies zu Eve gewesen war. Er war einer von ihnen. Sie schaute sich verwirrt zu Ian um, aber er schloss die Tür ab.

Ihre Knie fühlten sich wie Wackelpudding an, ihr Gehirn ebenso. Irgendetwas stimmte nicht. Stimmte ganz und gar nicht... aber sie hatte doch gar nichts getrunken. Sie war vorsichtig gewesen...

Nicht vorsichtig genug. Die erste Flasche Wasser, die er ihr gebracht hatte, war schon geöffnet.

Wie dumm, Claire. Dumm, dumm, dumm. Aber er hatte einen so... netten Eindruck gemacht.

»Das wollt ihr jetzt nicht wirklich tun«, sagte sie und wich zurück, als einer der Typen nach ihr griff. Es gab nicht viel Platz. Es war das Schlafzimmer von irgendjemandem, den meisten Platz nahmen ein Bett und eine Kommode mit halb offenen Schubladen ein. In einer Ecke stapelte sich schmutzige Wäsche. Oh Gott. Schlagartig dachte sie daran, dass Eve keine Ahnung hatte, wo sie steckte, sie hatte kein Handy, und selbst wenn sie schreien würde, würde sie wegen der Musik niemand hören. Oder sich Sorgen machen.

Sie erinnerte sich daran, was Eve an jenem schrecklichen Abend tat, als sich der Biker hereingedrängt hatte. Du brauchst eine Waffe. Yeah, aber Eve war älter und kräftiger, außerdem stand sie damals nicht unter Drogen...

Sie wäre beinahe über einen Baseballschläger gestolpert, der unter dem Bett hervorragte. Sie packte ihn und ging torkelnd und benommen in Schlagposition. »Rührt mich nicht an!«, sagte sie und schrie aus vollem Hals: »Eve! Eve! Ich brauche Hilfe!«

Sie schwang den Baseballschläger heftig in Richtung Ian, der auf sie zukam, dem Schlag jedoch mühelos auswich. Sie drehte den Schläger um und schlug mit dem Kolbenende nach ihm und dieses Mal konnte er sich nicht ducken. Sie schlug ihm geradewegs auf den Mund, er blutete und taumelte nach hinten.

»Du Schlampe!«, sagte er und spuckte Blut aus. »Das werde ich dir heimzahlen!«

»Mach langsam«, sagte der Idiot aus der Cafeteria, der mit verschränkten Armen an der Tür lehnte. »Du hast die ganze Dosis in die Flasche getan, oder? Und sie hat es ausgetrunken?«

Ian nickte. Er fischte eine Socke aus dem Wäschestapel und presste sie sich gegen Mund und Nase. Gut. Sie hoffte, dass die Socke schmutzig war. Dass sie nach Sportlerfüßen roch.

»Dann brauchen wir nur ein paar Minuten zu warten, das ist alles«, sagte der Idiot. »Die geht überhaupt nirgendwo mehr hin, außer ins Lala-Land.« Er gab seinen Kumpels High five. Ian stierte sie weiterhin an. Sie standen alle zwischen ihr und der Tür. Es gab zwar ein Fenster, aber sie waren im ersten Stock und sie war noch nicht mal sicher genug auf den Füßen, viel weniger konnte sie jetzt klettern. Claire packte den Schläger mit ihren schweißigen, betäubten Händen und sah Sternchen an den Rändern ihres Blickfelds. Alles sah verschwommen aus. Hitzewellen durchfluteten sie, danach fröstelte sie. Michael? War Michael hier? Nein, Michael konnte das Haus nicht verlassen...

Irgendwie rutschte sie in sitzende Position auf den Boden hinunter. Sie hatte noch immer den Schläger umklammert, aber sie war müde, sehr müde und ihr war übel und heiß...

Jemand rüttelte am Türknauf. Claire raffte alles, was sie noch an Kraft besaß, zusammen und schrie: »Hilfe! Hol Hilfe! Eve!«

Ian grinste Claire mit blutigen Zähnen an und sagte: »Da sucht nur jemand einen Platz zum Poppen. Keine Sorge, Baby. Wir tun dir nicht weh. Du würdest dich sowieso nicht mehr daran erinnern.«

Sie tat, als ginge es ihr schlechter, als es ihr tatsächlich ging (auch wenn es ihr, ehrlich gesagt, ziemlich mies ging). Sie murmelte vor sich hin und machte ihre Augenlider halb zu.

»Das war’s«, sagte der Cafeteria-Idiot. »Die ist hinüber. Schafft sie aufs Bett.«

Sie hatte so etwas noch nie zuvor gemacht, aber sie versuchte, sich vorzustellen, wie Eve mit dieser Situation umgegangen wäre. Sie ließ den Schläger ein wenig schwanken und dann herunterfallen, sodass er in ihrem Schoß lag, direkt an ihrem Bein, so als wäre er zu schwer zum Festhalten geworden (war er nicht, nur fast).

Und als sich Ian näherte, um sie zu packen, brachte sie den Schläger mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, nach oben. Sie versetzte ihm einen Schlag auf die Stelle, an der es am meisten wehtat, und Ian krümmte sich mit einem schrillen, atemlosen Schrei und sank in sich zusammen.

Claire zwang ihre Beine dazu, sie zu tragen, und rutschte wieder in stehende Position. Sie musste sich anlehnen und hatte Glück, in einer Ecke zu stehen, wo ihr die beiden rechtwinklig zueinanderstehenden Wände den Anschein verliehen, als würde sie nicht gleich umkippen. Ihre Arme zitterten und die Typen hätten das bemerkt, wenn sie versucht hätte, den Schläger zu heben, deshalb klopfte sie lässig damit gegen ihr Bein. »Noch jemand?«, fragte sie. »Ich tu euch nicht weh. Zumindest nicht sehr.«

Es war alles Show, sie brauchten nur abzuwarten. Der Cafeteria-Idiot wusste das genau und sie fühlte, wie ihr die Droge – was zum Henker war das bloß? – die Konzentration und die Kraft raubte, sie langsam und dumm und zur allzu leichten Beute machte.

Shane, dachte sie und zwang sich, noch ein bisschen länger aufrecht stehen zu bleiben. Shane braucht mich. Ich lasse das nicht zu.

»Du bluffst«, sagte der Cafeteria-Idiot und kam ums Bett herum. Claire holte aus, verfehlte ihn und schlug mit dem Schläger so heftig gegen das Holz, dass ihr die Zähne klapperten.

Beim Zurückschwingen packte er den Schläger und entwand ihn ihr mühelos. Er warf ihn einem der anderen Typen zu, der ihn mit einer Hand auffing. »Das«, sagte er, »war echt bescheuert. Es hätte alles so einfach und nett sein können, das weißt du doch, oder?«

»Ich stehe unter Amelies Schutz«, sagte Claire.

Er packte sie am Kragen ihres durchsichtigen schwarzen Totenkopf-Shirts und zerrte sie vorwärts. Ihre Beine gaben nach, als sie versuchte, sich loszureißen.

»Das ist mir egal«, sagte er. »Ich bin nicht aus dieser bescheuerten Stadt. Wir alle nicht. Monica sagte, dass wir es so machen sollten, um die dämlichen Regeln zu umgehen, wie auch immer die aussehen. Wer auch immer diese Amelie ist, sie kann mich mal am Arsch lecken. Sobald du damit fertig bist.«

Die Tür zum Flur gab ein metallisches Klicken von sich und ging langsam auf. Claire blinzelte und versuchte zu fokussieren, denn dort stand jemand. Nein, zwei Jemands. Einer davon hatte rote Haare. War da nicht was mit roten Haaren...? Oh, klar. Sam hatte rotes Haar. Sam, der Vampir. Sam war hier. Michaels Opa, war das nicht absolut komisch?

Die Tür hatte an der Außenseite keinen Knauf mehr. Der an der Innenseite fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Teppich und rollte unter das Bett.

»Claire!« Oh, das war Eve. »Oh mein Gott...«

»Entschuldige«, sagte Sam, »aber was sagtest du eben über Amelie?«

Der Cafeteria-Idiot ließ Claires Oberteil los und sie rutschte wieder an der Wand herunter. Sie tastete nach etwas, was sie als Waffe verwenden konnte, aber alles, was sie fand, war ein weiteres Paar schmutziger Socken, die es nicht bis zum Wäscheberg geschafft hatten. Aus irgendwelchen Gründen fand sie das witzig. Sie kicherte und lehnte ihren Kopf gegen die Wand, damit sich ihr Hals ausruhen konnte. Ihr Hals war ganz erschöpft von dem schweren Kopf, den er zu tragen hatte.

»Ich sagte, dass mich Amelie am Arsch lecken kann, Feuermelder. Und was willst du jetzt dagegen tun? Mich zu Tode starren?«

Sam stand einfach nur da. Claire konnte nicht sehen, dass sich etwas an ihm veränderte, aber es war, als würde das Zimmer plötzlich... kalt werden. »Das möchtest du nicht wirklich«, sagte Sam. »Eve, geh deine Freundin holen.«

»Oh ja, Eve, komm schon, wir haben ein schönes großes Bett!« Ian kicherte. »Ich habe gehört, du weißt, wie man so richtig Spaß haben kann.« Er warf die blutige Socke, die er sich an die Nase gehalten hatte, auf den Boden und machte sich bereit, Eve zu schnappen, wenn sie hereinkam. Sam schaute einen Moment lang die weggeworfene Socke an, dann hob er sie auf und presste sie zusammen, sodass Blut in seine Handfläche tropfte.

Und dann leckte er es ab. Ganz langsam. Dabei schaute er jedem einzelnen Typen in die Augen.

»Ich sagte«, flüsterte er, »das möchtest du nicht wirklich tun.«

Claire hörte ein lautes Summen in ihrem Kopf, wie in einem Bienenstock. Oh, gleich kippe ich um, das war ja wirklich eklig.

»Shit«, flüsterte Ian und wich schnell zurück. »Du bist doch krank, Mann!«

»Manchmal«, stimmte Sam zu. »Eve, geh sie holen. Niemand wird dich anrühren.«

Eve ging vorsichtig um ihn herum, eilte zu Claire und umarmte sie rasch, bevor sie sie hochzerrte. »Kannst du gehen?«

»Nicht so gut«, sagte Claire und schluckte ihre Übelkeit hinunter. Die Welt kam in heißen und kalten Blitzen auf sie zu und sie fühlte sich, als müsste sie sich übergeben, aber irgendwie sah sie alles unscharf und fand alles witzig, selbst den Schrecken in Eves Augen.

Aber nicht mehr so witzig, als sich der Cafeteria-Idiot auch noch Eve grabschte.

Er stürzte sich auf das Bett und fasste Eve am Handgelenk. Claire war zu weggetreten, um zu kapieren, warum. Vielleicht wollte er sie als eine Art Schild gegen Sam verwenden. Aber was immer er vorhatte, es war eine schlechte Entscheidung.

Sam bewegte sich wie der Blitz, und als Claire blinzelte, stand der Cafeteria-Idiot mit geweiteten Augen an der Wand und starrte in einem Abstand von etwa sieben Zentimetern auf Sams Gesicht.

»Ich habe gesagt«, flüsterte Sam, »niemand rührt sie an. Bist du taub?«

Claire sah es nicht, aber sie stellte sich vor, dass er in diesem Augenblick seine Vampirzähne aufblitzen ließ, denn der Cafeteria-Idiot winselte wie ein kranker Hund.

Die anderen Jungs gingen Eve aus dem Weg und versuchten nicht, sie aufzuhalten.

»Monica«, sagte Claire. »Ich glaube, es war Monica. Sie hat Ian dazu gebracht, mich zu fragen.«

»Was?«

»Monica brachte ihn dazu, mich zu fragen. Sagte ihnen, dass sie das tun sollen.«

»Schlampe! Okay, ich nehme alles zurück. Sie hat eine Behandlung mit dem Schneidbrenner wirklich mal nötig.«

»Nein«, sagte Claire schwach. »Niemand hat das verdient. Niemand.«

»Großartig. Die heilige Claire, die Schutzpatronin der Trittmich-Schilder. Hör mal, reiß dich zusammen. Wir müssen hier raus. Sam! Komm schon! Lass sie in Ruhe!«

Sam schien nicht geneigt, auf sie zu hören. »Manieren, Jungs«, sagte er. »Es sieht so aus, als hätte euch nie jemand welche beigebracht. Zeit, dass ihr eine Lektion erhaltet, bevor noch jemand zu Schaden kommt.«

»Hey, Mann...«Ian hielt seine Hände hoch zum Zeichen der Kapitulation. »Im Ernst. Wir haben nur Spaß gemacht. Wir wollten ihr nicht wehtun. Nicht nötig, hier einen auf James Bond zu machen. Wir haben sie ja nicht mal angefasst. Schau mal. Alle Klamotten noch an!«

»Denkt nicht mal daran.« Sam hörte nicht auf, den Cafeteria-Idioten anzustarren, der immer weniger wie ein Raubtier aussah und immer mehr wie ein verängstigtes Kind, das den großen, bösen Wolf vor sich hat. »Ich mag diese Mädels. Dich mag ich nicht. Nun kannst du drei minus eins rechnen und dich subtrahiert fühlen.«

»Sam!« Eves Stimme war laut und ausdruckslos. »Genug mit dem Macho-Helden-Kram. Wir sind gekommen, um dich zu finden. Gehen wir raus hier und reden.«

»Ich gehe nicht«, sagte Sam, seine Augen waren immer noch auf den Jungen fixiert, den er festhielt. »Nicht, bevor sich die Disney-Prinzessin hier nicht entschuldigt hat, sonst reiß ich ihr den Kopf ab – entweder oder.«

»Sam! Was wir mit dir besprechen müssen, ist wichtig und die Disney-Prinzessin ist es nicht!«

Einen Augenblick lang dachte Claire, dass Eves Worte gar nicht zu ihm durchdrangen, aber dann sah sie Sam lächeln – es war kein nettes Lächeln – und er ließ den Cafeteria-Idioten zu Boden gleiten. »Na schön«, sagte er. »Betrachte dich als grässlich gefoltert. Sorg dafür, dass du an alle Methoden denkst, mit denen ich dir hätte wehtun können, denn wenn ich mitbekomme, dass so etwas noch einmal passiert ist, möchte ich, dass du weißt, was auf dich zukommt.«

Der Cafeteria-Idiot nickte zitternd und blieb mit dem Rücken zur Wand, als er zu seiner Truppe hinüberrutschte.

Sam wandte sich den Mädels zu und trat nach vorne, um Claire leicht an der Schulter zu berühren. »Ist alles in Ordnung?«

Claire nickte oder besser gesagt, sie ließ den Kopf einfach runterfallen. Das war ein Fehler; sie wäre fast umgefallen und Eves ganze Kraft war erforderlich, sie auf den Füßen zu halten.

Als sie die Augen wieder öffnen und ihre Umwelt einigermaßen wahrnehmen konnte, stand Sam in der Tür.

»Was ist?«, fragte Eve. »Du blockierst den Fluchtweg.«

»Psst«, sagte Sam leise, kaum laut genug, als dass sie ihn über dem stampfenden, unbarmherzigen Rhythmus der Musik hören konnten.

Und dann hörte Claire die Schreie.

Blitzschnell war Sam aus dem Türrahmen verschwunden. Eve ging hinaus in den Flur, verrenkte den Kopf, um über das Geländer zu sehen; Claire schaute auch.

Dort unten herrschte Chaos, aber nicht das glückliche Chaos der Tanzfläche. Knäuel schreiender, schiebender Menschen, die verzweifelt an den Ausgängen des großen offenen Raumes feststeckten, alle in schwarzen Kleidern und mit weißen Gesichtern, hie und da ein paar Spritzer Rot...

Blut. Das war Blut.

Sam packte Eve und sie an den Schultern, schwang sie herum und schob sie zurück in das Zimmer. Er schaute Ian an, der noch immer an der Wand kauerte. »Du da, Null positiv! Wie viele Ausgänge gibt es?«

»Was?...Oh, Shit, hast du mich gerade mit meiner Blutgruppe angesprochen?«

»Wie viele Ausgänge?«

»Die Treppe! Ihr müsst die Treppe nehmen!«

Sam fluchte verhalten, ging zum Schrank und riss ihn auf. Er war begehbar, ziemlich groß und voller Klamotten. Er schob Claire und Eve hinein und hielt die Tür auf. »Ihr«, sagte er zu den vier Jungs. »Wenn ihr am Leben hängt, dann hier rein. Rührt diese Mädels an und ich mach euch höchstpersönlich kalt. Ihr wisst, dass ich es ernst meine, oder?«

»Ja«, sagte Ian schwach. »Wir werden keinen Finger rühren. Was geht da vor? Ist es so was wie eine von diesen Schießereien?«

»Ja«, sagte Sam. »Etwas in der Art. Rein mit dir.«

Die Jungs drängten sich in den Schrank. Eve zog Claire in die hinterste Ecke, wobei sie Stapel widerlich riechender Leichtathletikschuhe aus dem Weg schob, und setzte sie hin. Eve kauerte sich gefechtsbereit neben sie und funkelte die Jungs an. Sie hielten Abstand.

Sam schlug die Tür zu.

Dunkelheit.

»Was zum Teufel geht da vor sich?«, fragte der Cafeteria-Idiot. Seine Stimme zitterte.

»Leute werden verletzt«, sagte Eve kurz angebunden. »Du könntest auch dazugehören, wenn du nicht die Klappe hältst.«

»Aber...«

»Halt einfach mal die Fresse!«

Stille. Unten dröhnte noch immer die Musik, aber Claire konnte trotzdem die Schreie hören. Sie begann, in ein lustiges graues Land abzudriften, riss sich aber selbst unter großer Mühe zurück und drückte Eves verkrampfte Hand. »Alles wird gut«, flüsterte Eve ihr zu. »Du bist okay. Es tut mir so leid.«

»Ich hab mich ganz gut geschlagen«, sagte Claire, überrascht, dass das tatsächlich auch stimmte. »Danke, dass du mich gerettet hast.«

»Ich habe nichts getan, außer Sam zu finden. Er hat dann dich gefunden.« Eve hielt inne. »Also gut, wer fasst mich da gerade an?«

Eine fiepende Männerstimme drang aus der Dunkelheit zu ihnen. »Oh, Shit! Tut mir leid!«

»Gut so.«

Es herrschte gespannte Stille in der Dunkelheit.

Und dann hörte Claire schwere Schritte, die den Gang entlangkamen.

»Still«, wisperte Eve. Sie hätte es nicht zu sagen brauchen. Claire fühlte es und sie wusste, dass alle anderen es auch fühlten. Etwas Böses war da draußen, etwas Schlimmeres als vier notgeile, dumme, grausame Jungs.

Sie fühlte, wie etwas sie streifte. Eine Hand. Einer der Jungs, sie wusste nicht welcher. War es Ian, der neben ihr an die Wand geplumpst war?

Sie nahm die Hand und drückte sie. Er drückte sie ebenfalls und schwieg. Und Claire wartete ab, ob sie sterben würden.