6

 

Auf dem Nachhauseweg beschloss Claire, dass es vielleicht keine so gute Idee war, gegenüber Shane mit Storys über Monica, seinen Dad oder den Vampir Sam herauszuplatzen. Stattdessen bereitete sie das Abendessen zu – Tacos – und wartete, bis Michael wieder unter den Lebenden weilte. Das tat er auch, als die Sonne ganz am Horizont verschwunden war, und er sah so normal und engelhaft wie immer aus.

Sie übermittelte ihm irgendwie die Botschaft, dass sie ihn unter vier Augen sprechen musste, deshalb trocknete Michael in der Küche das Geschirr ab, während sie abwusch. Sie war sich nicht sicher, wie es eigentlich dazu gekommen war – sie war eigentlich gar nicht an der Reihe –, aber das warme Wasser und der weiche Schaum hatten irgendwie eine beruhigende Wirkung.

»Hast du Shane das mit Monica erzählt?«, fragte Michael, als sie ihre Erlebnisse des Tages geschildert hatte. Er schien nicht beunruhigt, aber andererseits brauchte es eine ganze Menge, um Michael aus der Fassung zu bringen. Vielleicht trocknete er die Teller aber auch ein bisschen zu gründlich ab.

»Nein«, sagte sie. »Er wird ihretwegen doch immer gleich ein bisschen... du weißt schon.«

»Ja, allerdings. Okay, du musst vorsichtig sein, aber das weißt du ja, oder? Ich würde Shane bitten, mit dir zum Unterricht zu gehen, aber...«

»Aber das ist wahrscheinlich genau das, was sie möchte«, beendete Claire den Satz und reichte ihm noch einen Teller.

»Uns beide zu kriegen und einen gegen den anderen auszuspielen. Stimmt’s?«

Michael nickte und zog die Augenbrauen nach oben. »Sie braucht sich dich nur zu schnappen, dann hat sie ihn. Sei also vorsichtig. Ich... bin euch keine große Hilfe da draußen. Oder eigentlich gar keine Hilfe.«

Claire fühlte sich schlecht, weil seine Augen dabei böse aufblitzten – das galt nicht ihr, sondern sich selbst. Er hasste das. Hasste es, hier in der Falle zu sitzen, wenn seine Freunde ihn brauchten.

»Ich komme schon klar«, sagte sie. »Ich habe ein neues Handy. Mom und Dad haben es mir geschickt.«

»Gut. Hast du uns auf Schnellwahl eingestellt?«

»Eins, zwei und drei. Und 911 auf der Vier.«

»Gut.« Michael versetzte ihr einen Schubs mit der Hüfte. »Was macht der Unterricht?«

»Ganz okay.« Sie konnte im Moment keine rechte Begeisterung dafür aufbringen. »Was ist jetzt mit Shanes Dad?«

»Dazu gibt es nichts zu sagen«, sagte er. »Du hältst dich vom Common Grounds und von Oliver fern. Wenn Shanes Dad dort war, hat er sich vermutlich nur umgeschaut. Oliver hat ihm vielleicht etwas vormachen können. Er ist ja ganz gut darin, einen ganz normalen Typen zu spielen.« Michael musste es ja wissen, überlegte Claire. Oliver hatte schließlich gut genug den ganz normalen Typen gespielt, um sich Zutritt zu diesem Haus zu erschleichen, wo er Michael bei dem Versuch tötete, einen Vampir aus ihm zu machen. Das Haus hatte Michael – teilweise – gerettet. Eine Art übernatürliche Entschuldigung, weil das Haus es versäumt hatte, ihn von vornherein zu beschützen. Das Haus tat solche Dinge. Es war unheimlich und hin und wieder geradezu Furcht einflößend, aber immerhin war es meist loyal gegenüber seinen Bewohnern.

Oliver hingegen... Oliver war sich selbst gegenüber loyal. Und das war’s dann auch schon.

»Wir unternehmen also nichts?«, fragte Claire.

»Wir unternehmen das beste Nichts, das du je gesehen hast.« Michael räumte den letzten Teller weg und warf sich das Geschirrtuch über die Schulter, wie ein Barkeeper, der Pause macht. »Das soll heißen, dass du nichts unternimmst, Claire. Das ist ein Befehl.«

Sie salutierte ironisch. »Ja, Sir, tut mir leid, Sir.«

Er seufzte. »Ich mochte es lieber, als du noch dieses schüchterne kleine Mädchen warst. Wie konnte es so weit kommen?«

»Ich habe angefangen, mit euch Typen zusammenzuwohnen.«

»Ah, stimmt.«

Er wuschelte ihr durch die Haare und schlenderte Richtung Wohnzimmer davon. »Wir machen einen Spieleabend«, sagte er. »Shane musste mir versprechen, dass er heute Abend keine Games spielt. Ich glaube, er pustet gerade den Staub vom Monopoly. Risiko habe ich ihm verboten. Bei Risiko dreht er immer durch.«

Taten das nicht alle?

***

»Ich habe einen neuen Job«, sagte Eve strahlend, als sie um das Monopoly-Brett herum auf dem Boden saßen. Shane war super, aber Michael hatte die Bahnhöfe; Eve und Claire schauten vor allem ihren Geldstapeln beim Schrumpfen zu. Kein Wunder, dass die Leute dieses Spiel mochten, dachte Claire. Das ist wie im richtigen Leben.

»Du hast schon einen Job?«, fragte Shane, als Michael den Würfel in seiner Hand schüttelte und ihn dann auf das ausgeblichene, wellige Brett warf. »Himmel, Eve, hau mal die Bremse rein in puncto Vollbeschäftigung. Wie steh ich denn jetzt da?«

»Shane Collins, der Dauerpenner. Wenn du dich für mehr als ein Vorstellungsgespräch pro Monat bewerben würdest und dann auch tatsächlich, du weißt schon, dort aufkreuzen würdest, könntest du auch einen Job finden.«

»Oh, bist du jetzt Karriereberaterin geworden?«

»Leck mich. Wollt ihr mich nicht vielleicht mal fragen, wo?«

»Klar«, sagte Michael und rückte seine Spielfigur vier Felder weiter. »Wo?... Oh, Shit!«

»Das macht fünfhundert, Alter. Und frische Handtücher in meinem Hotel kosten extra.« Shane hielt ihm die Handfläche hin.

»Ich wurde von der Uni angestellt«, sagte Eve und beobachtete, wie Michael Scheine abzählte und sie Shane aushändigte. »In der Cafeteria des Studentenwerks. Ich werde sogar besser bezahlt.«

»Glückwunsch!«, sagte Claire. »Und du arbeitest nicht mehr für einen fiesen Vampir. Das ist doch auch ein Bonus.«

»Was den Boss betrifft, ist das definitiv ein Aufstieg. Ich meine, er ist ein Loser mit hängender Kinnlade, Mundgeruch und einem Alkoholproblem, aber diese Beschreibung passt so ungefähr auf die gesamte männliche Bevölkerung Morganvilles...«

»Hey!«, riefen Shane und Michael im Chor und Eve schenkte beiden ein strahlendes Grinsen.

»Abgesehen von den heißen Jungs hier im Zimmer natürlich. Und Kopf hoch, Jungs! – Die Beschreibung gilt auch für den Großteil der weiblichen Bevölkerung. Jedenfalls: bessere Arbeitszeiten – ich arbeite tagsüber, daher weniger Vamp-Probleme – und fettere Gehaltsschecks. Außerdem kann ich das Studentenleben auschecken. Ich habe von wilden Partys gehört.«

»Alles, was du von der anderen Seite der Theke aus sehen wirst, sind Leute, die dich dissen und über die Getränke maulen«, sagte Shane, ohne aufzublicken. »Pass auf dich auf, Eve. Einige dieser Arschlöcher auf dem Campus halten dich für ihr persönliches Spielzeug, wenn du ein Namensschildchen trägst.«

»Ja, weiß ich. Ich habe von Karla gehört.«

»Karla?«, fragte Claire.

»Sie arbeitet an der Uni«, sagte Eve. »Karla Gast. Wir gingen mit ihr zur Schule.« Michael und Shane schauten beide auf und nickten. »Sie war ein richtiges Partytier auf der Highschool, weißt du? Dazu noch ziemlich hübsch. Sie arbeitete auf dem Campus. Ich weiß nicht, als was. Aber jedenfalls ist sie verschwunden.«

»Es stand in der Zeitung«, sagte Michael. »Wurde gestern Nacht verschleppt, als sie zu ihrem Auto ging.«

Claire runzelte die Stirn. »Warum stand es in der Zeitung? Ich meine, sie bringen so etwas normalerweise nicht in den Medien, oder?« Weil Mord in Morganville irgendwie nicht ungesetzlich war, oder?

»Sie bringen es, wenn es keine Vampire waren«, sagte Eve und knabberte an einer Karotte, während sie würfelte. »Oooooh, gib mir zweihundert, Mr Banker. Wenn sie von Vampiren oder selbst wenn sie von irgendwelchen Vampir-Kumpels verschleppt worden wäre, hätte man das wie immer unter den Teppich gekehrt. Abfindung an die Familie und fertig. Aber das hier ist anders.«

»Ist das so ungewöhnlich? Verbrechen? Verbrechen, die nichts mit Vampiren zu tun haben, meine ich.«

»Kann man so sagen«, sagte Eve achselzuckend. »Aber die Menschen in Morganville werden langsam fies. Fies oder betrunken oder eingeschüchtert. Eines davon.«

»Was davon bist du?«, fragte Shane. Eve zeigte ihm die Zähne und knurrte. »Autsch. Schon gut. Hab’s kapiert.«

»Also... Eve, ich habe gehört, dein Bruder ist wieder aus dem Gefängnis raus«, sagte Michael. Claire würfelte, weil sie an der Reihe war, und als der Würfel das Brett traf, krachte er so laut, als wäre ein Stapel Teller auf den Boden gefallen. Keiner gab einen Laut von sich. Keiner atmete, soweit sie das beurteilen konnte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, überdachte Michael gerade seine Entscheidung, das Thema auf den Tisch gebracht zu haben, und Eve sah... hart und wütend aus und (tief in ihrem Inneren) auch ängstlich.

Shane schaute nur ausdruckslos zu.

Unangenehm.

»Ähm...« Claire schob vorsichtig ihre Spielfigur um die sechs Felder weiter, die sie erwürfelt hatte. »Du hast nicht viel über deinen Bruder erzählt.« Sie war gespannt, was Eve antworten würde. Denn Eve war eindeutig nicht besonders glücklich darüber, dass Michael das Thema angeschnitten hatte.

»Ich will nicht über ihn sprechen«, sagte Eve geradeheraus. »Nicht mehr. Er heißt Jason und ist ein Depp, lass uns das Thema wechseln, okay?«

»Okay«, Claire räusperte sich. »Shane?«

»Was?« Er schaute hinunter auf das Spielbrett, auf das sie deutete. »Oh. Richtig. Dreihundert.«

Sie händigte Shane schweigend ihre letzten Geldscheine aus und Shane nahm den Würfel in die Hand.

»Eve, du weißt, warum er ins Gefängnis gekommen ist. Denkst du nicht...«, begann Michael ganz langsam.

»Halt die Klappe, Michael«, sagte Eve angespannt. »Halt einfach die Klappe, okay? Ob er es gewesen sein kann? Klar. Ich würde es ihm glatt zutrauen, aber er ist erst gestern Morgen rausgekommen. Das wäre ziemlich flotte Arbeit, selbst für Jason.« Aber sie sah unter ihrer grimmigen Miene aufgewühlt aus und sogar noch blasser als sonst. »Wisst ihr was? Ich muss morgen früh raus. Nacht!«

»Eve...«

Sie sprang auf und ging Richtung Treppe. Michael war zwei Schritte hinter ihr, als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstürmte, dass die schwarzen Seidenfetzen an ihrem Rock flatterten. Claire blickte ihnen mit hochgezogenen Augenbrauen nach und Shane schüttelte weiterhin den Würfel.

»Ich nehme an, das Spiel ist aus«, sagte er und würfelte trotzdem. »Ha! Schlossallee. Ich glaube, das macht Shanes Grundstücksimperium komplett, danke fürs Mitspielen, gute Nacht.«

»Wovon hat Michael überhaupt gesprochen?«, fragte Claire. »Denkt er, Eves Bruder könnte sich dieses Mädchen geschnappt haben?«

»Nein, er denkt, Eves Bruder könnte dieses Mädchen getötet haben«, sagte Shane. »Und die Cops denken das wahrscheinlich auch. Wenn er es getan hat, werden sie ihn kriegen und dieses Mal wird er nicht mehr aus dem Knast herauskommen. Wahrscheinlich wird er es nicht einmal bis in den Knast schaffen. Einer von Karlas Brüdern ist ein Cop.«

»Oh«, sagte Claire leise. Sie hörte das Gemurmel eines Gesprächs aus dem oberen Stock. »Na ja...ich sollte dann wohl auch mal ins Bett. Ich hab morgen schon früh Unterricht.«

Shane schaute ihr in die Augen. »Vielleicht lassen wir ihnen noch eine Weile ihre Privatsphäre.«

Oh. Richtig. Sie schob ihren Fuß unter den Tisch und begann, das Spielgeld und die Karten einzusammeln. Ihre Hände streiften Shanes. Er ließ die Karten los und ergriff sie.

Und dann gelangte sie irgendwie auf seinen Schoß und er küsste sie. Das hatte sie nicht vorgehabt, aber...naja. Sie konnte es auch nicht direkt bereuen, denn er schmeckte wunderbar und seine Lippen waren so weich und seine Hände waren so stark...

Er lehnte sich mit halb geschlossenen Augen zurück und lächelte. Shane lächelte nicht besonders oft, und wenn er es tat, war sie atemlos und alles kribbelte. Es hatte etwas Geheimnisvolles an sich, als würde er nur lächeln, wenn sie da war, und es fühlte sich einfach... perfekt an. »Claire, du passt auf dich auf, nicht wahr?« Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Im Ernst. Du sagst mir Bescheid, wenn du in Schwierigkeiten gerätst.«

»Es gab keine Schwierigkeiten«, log sie und dachte an Monicas nicht gerade versteckten Drohungen und an den Blick, den sie auf Shanes Dad erhascht hatte, als er Oliver gegenüber im Café saß. »Überhaupt keine Schwierigkeiten.«

»Gut.« Er küsste sie wieder und bewegte sich zu ihrem Kinn hinunter und dann zu ihrem Hals und, wow, knabberte daran, dass es ihr erneut den Atem verschlug. Sie schloss die Augen und grub ihre Finger in sein warmes Haar, wobei sie versuchte, ihm mit jeder Berührung zu zeigen, wie sehr sie das mochte, wie sehr sie ihn mochte, ihn liebte...

Sie riss die Augen auf.

Das hatte sie jetzt nicht gerade gedacht, oder?

Shanes warme Hände wanderten an ihren Seiten hoch, seine Daumen streiften wieder seitlich ihre Brüste und er strich mit den Fingern über die dünne Haut über ihrem Schlüsselbein... nach unten, bis ihn der Kragen ihres T-Shirts stoppte. Aufreizend. Er zog ihn einen Zentimeter herunter, dann zwei. Und dann ließ er los und lehnte sich mit feuchten Lippen zurück, es war zum Verrücktwerden. Er leckte sich die Lippen ab, schaute sie an und schenkte ihr erneut dieses langsame Lächeln, das so wahnsinnig sexy war.

»Geh schlafen«, sagte er. »Bevor ich beschließe mitzukommen.« Sie war sich nicht sicher, ob sie aufstehen konnte, aber irgendwie schaffte sie es, dass ihre Knie nicht zitterten, und sie ging nach oben. Michael war in Eves Zimmer, die Tür war offen und sie saßen gemeinsam auf dem Bett. Michael war so hell mit seinem goldenen Haar und den porzellanblauen Augen und passte so gar nicht zu diesem Zimmer, das ganz in dramatischem Schwarz und Rot gehalten war. Er sah aus wie ein Engel, der einmal gründlich falsch abgebogen war.

Er hielt Eve in den Armen und wiegte sie sehr sanft hin und her. Als Claire hereinschaute, trafen sich ihre Blicke und er formte Mach die Tür zu mit den Lippen.

Sie schloss die Tür und ging in ihr eigenes Bett.

Traurigerweise allein.

***

Claire kam der Gedanke, dass es schlau wäre zu wissen, wie Jason Rosser aussah, um ihn zu meiden, aber sie hatte den starken Verdacht, dass es keine so gute Idee wäre, Eve darum zu bitten, einen Blick ins Familienalbum werfen zu dürfen. Eve reagierte gerade ziemlich empfindlich auf alles, was mit ihrem Bruder zu tun hatte... was, wenn Shanes düstere Vermutung richtig war, wenn sie nicht unbedingt die falsche Einstellung war.

Also begann Claire zu recherchieren. Nicht in der Unibibliothek, die zwar nicht allzu schlecht war, aber nicht gerade viele Infos über Morganville bot. Sie hatte das schon überprüft. Es gab einiges über Geschichte, alles sorgfältig glatt gebügelt, und einige Zeitungsarchive.

Aber es gab auch einen Historischen Verein von Morganville. Sie fand die Adresse im Telefonbuch, studierte den Stadtplan und berechnete die Zeit, die sie zu Fuß dorthin brauchen würde. Wenn sie sich ins Zeug legte, konnte sie dorthin laufen, finden, was sie suchte, und es trotzdem noch in ihren Nachmittagsunterricht schaffen.

Claire duschte, zog sich eine Jeans und ein schwarzes Strickoberteil mit einer Siebdruckblume darauf an – einer ihrer Käufe im Secondhandladen – und griff auf dem Weg zur Tür nach ihrem Rucksack. Sie legte einen Zahn zu, als sie draußen auf dem Gehweg war, und ging nicht zum College, sondern in die entgegengesetzte Richtung in die noch nicht erkundeten Eingeweide Morganvilles. Sie hatte den Stadtplan dabei, was praktisch war, denn nachdem sie das Glass House verlassen hatte, wurde es unübersichtlich. Morganville war zwar nach einem Masterplan angelegt worden, aber trotzdem war die Art und Weise, wie die Straßen verliefen, nicht gerade logisch. Es gab Sackgassen und viele unbeleuchtete, verlassene Gebiete.

Andererseits – vielleicht war das ja doch logisch, von der Planungsweise der Vampire her betrachtet. Selbst im glühenden Sonnenschein ließ Claire dieser Gedanke erschauern und sie bewegte sich schneller, vorbei an einer Straße, die in einem verlassenen Feld endete, das mit Stapeln von Gerümpel und vermischtem Müll verschmutzt war. Es roch geradezu nach Verfall, nach dem grausigen Geruch toter Dinge, die in der Hitze verrotteten. Es war manchmal hinderlich, wenn man zu viel Fantasie besaß. Wenigsten bin ich hier nicht bei Nacht unterwegs...

Keine Macht der Welt könnte sie dazu bringen.

Die Wohngebiete von Morganville waren alt, zumeist heruntergekommen, vom Sommer ausgedörrt und wie tot. Es musste bald kühler werden, aber im Moment grillte der Spätsommer die texanische Landschaft. Zikaden zirpten wie eintönige Zahnbohrer im Gras und in den Bäumen und es roch nach Staub und heißem Metall im Wind. Von allen Orten, an dem sich Vampire befinden konnten, war dies so ziemlich der letzte, von dem sie das erwartet hätte. Er war einfach nicht... Goth genug. Zu heruntergekommen. Zu... amerikanisch.

Laut Stadtplan musste sie in die nächste Seitenstraße einbiegen. Sie bog ab, hielt im Schatten einer Lebenseiche an und nahm ein paar Schlucke aus ihrer Wasserflasche, während sie sich fragte, wie weit es wohl noch sein könnte. Nicht weit, dachte sie. Was gut war, denn sie wollte nicht noch eine Unterrichtsstunde verpassen. Niemals mehr.

Die Straße war eine Sackgasse. Claire hielt an, runzelte die Stirn und schaute noch einmal nach. Nein, laut Stadtplan musste es hier eigentlich weitergehen. Claire seufzte enttäuscht und drehte sich um, um den Weg zurückzuverfolgen, dann zögerte sie, als sie einen schmalen Durchgang zwischen zwei Zäunen entdeckte. Es sah so aus, als könnte man zur nächsten Straße hindurchgehen.

Zehn Minuten verlieren oder ein Risiko eingehen. Sie war immer der Lieber-zehn-Minuten-verlieren-Typ gewesen, die Vernünftige, aber vielleicht hatte sie das Leben im Glass House verdorben. Außerdem war es höllisch heiß hier draußen.

Sie ging auf das Loch zwischen den Zäunen zu.

»Das würde ich nicht tun, mein Kind«, sagte eine Stimme. Sie kam aus dem tiefen Schatten einer Veranda vor einem Haus zu ihrer Rechten. Es sah besser und gepflegter aus als die meisten Häuser in Morganville; es war in einem hellen Meerblau frisch gestrichen, hatte Backsteinverzierungen und einen gepflegten Hof.

Claire blinzelte und schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab, bis sie schließlich eine winzige, vogelartige alte Dame sah, die auf einer Verandaschaukel saß. Sie war braun wie ein Zweig und hatte fusseliges weißes Haar, das aussah wie der Flaum von Löwenzahn, und da sie ein zartgrünes Sommerkleid trug, das wie ein Sack an ihr hing, sah sie irgendwie aus wie ein Waldgeist, wie ein Wesen aus ganz, ganz alten Märchenbüchern.

Ihre Stimme hatte jedoch einen butterweichen, reinen Südstaatenakzent. Claire trat hastig von dem Durchgang zurück. »Bitte entschuldigen Sie, Ma’am. Ich wollte nicht eindringen.«

Das winzige Weibchen gackerte. »Oh, nein, mein Kind. Du dringst nicht ein. Sonst wärst du eine Närrin. Schon mal was von Ameisenlöwen gehört? Oder Falltürspinnen? Wenn du diesen Pfad nimmst, wirst du nie auf der anderen Seite herauskommen. Nicht in dieser Welt.«

Claire durchzuckte kalte Panik, gefolgt von einem triumphierenden Aufschrei der vernünftigen Hälfte ihres Gehirns: Ich wusste es! »Aber... es ist doch helllichter Tag!«

»Das ist es wohl«, sagte die alte Frau und wiegte sich sanft in ihrer Schaukel vor und zurück. »Das ist es wohl. Der Tag schützt dich in Morganville nicht immer. Das solltest du auch wissen. Sei ein braves Mädchen und geh den Weg zurück, den du gekommen bist, und komm nicht wieder hierher.«

»Ja, Ma’am«, sagte Claire und wich zurück. »Gramma, was machst...oh, hallo!« Die Fliegengittertür vor dem Eingang öffnete sich und eine jüngere Version des Waldgeists trat heraus. Sie war jung genug, um eine Enkelin zu sein. Sie war groß und hübsch. Ihre Haut hatte eher die braune Farbe von Kakao als von Holz. Sie trug ihr Haar in vielen kleinen Zöpfchen und sie lächelte Claire an, als sie herüberkam, um die Hand auf die Schulter der alten Dame zu legen. »Meine Oma sitzt gern hier draußen und spricht mit Leuten. Es tut mir leid, wenn sie dich genervt hat.«

»Überhaupt nicht«, sagte Claire und fummelte nervös an einem der losen Einstellungsriemen ihres Rucksacks herum.

»Sie, ähm, warnte mich wegen des Durchgangs.«

Die Augen der Frau wanderten rasch von Claire zu der alten Dame und wieder zurück. »Hat sie?«, sagte sie. Sie klang überhaupt nicht mehr freundlich. »Sei nicht albern, Gramma. Du sollst die Leute nicht immer mit deinen Geschichten erschrecken.«

»Sei kein verdammter Narr, Lisa. Das sind nicht nur Geschichten, das weißt du genau.«

»Die letzten zwanzig Jahre gab es hier keinerlei Ärger, Gramma!«

»Das heißt nicht, dass es nicht passieren könnte«, sagte Gramma stur und deutete mit einem stöckchendünnen, zitternden Finger auf Claire. »Du gehst mir nicht durch diesen Durchgang. Ich habe ernst gemeint, was ich sagte.«

»Ja, Ma’am«, sagte sie schwach und nickte den beiden Frauen zu. »Ähm, danke schön.«

Claire wandte sich zum Gehen, wobei ihr etwas auffiel, das an der Wand neben der Verandaschaukel der alten Dame hing. Eine Plakette mit einem Symbol.

Dasselbe Symbol wie am Glass House. Das Symbol der Gründerin.

Und als sie sich das Haus jetzt richtig ansah, bemerkte sie auch Ähnlichkeiten; außerdem war es in etwa gleich alt.

Claire drehte sich wieder um, lächelte entschuldigend und sagte: »Entschuldigen Sie bitte, kann ich kurz Ihre Toilette benutzen? Ich hab hier draußen so viel Wasser in mich hineingeschüttet...«

Einen Moment lang erwartete sie, dass Lisa Nein sagen würde, aber die junge Frau runzelte nur die Stirn und sagte: »Ich denke schon.« Sie kam die Stufen herunter, um das Lattentor zu öffnen, damit Claire eintreten konnte. »Geh schon rein. Die zweite Tür im Flur.«

»Gib dem Kind eine Limonade, Lisa.«

»Sie bleibt nicht lang, Gramma!«

»Woher weißt du das, wenn du sie nicht gefragt hast?«

Claire ließ sie es ausdiskutieren und betrat das Haus. Sie fühlte nichts – nicht das Prickeln eines Kraftfeldes oder so etwas –, aber wenn sie das Glass House betrat oder verließ, fühlte sie schließlich auch nichts.

Dennoch bemerkte sie es sofort...Das Haus hatte etwas an sich. Es hatte die gleiche Qualität von Stille, von Gewichtigkeit, die sie zu Hause immer spürte. Nicht von der Einrichtung her, im Gegenteil: Gramma und Lisa schienen Möbel zu mögen, möglichst viele, und alles in überladenen Blumenmustern und Chintz, dazu überall Läufer und eine erstickende Menge an Vorhängen und Spitzen. Claire ging langsam den Gang aus massivem Holz entlang, wobei sie mit den Fingern leicht über die Paneele strich. Das Holz fühlte sich warm an, aber das war ja immer so bei Holz, oder?

»Irre«, murmelte sie und öffnete die Badezimmertür.

Es war kein Badezimmer.

Es war ein Arbeitszimmer, ein ziemlich großes, und es hätte sich nicht mehr von dem schwülstigen, rüschenbesetzten Wohnzimmer unterscheiden können...auf Hochglanz polierter Holzboden, ein massiver dunkler Schreibtisch, einige finster dreinblickende Porträts an den Wänden. Dunkelrote Samtvorhänge, die die Sonne aussperrten. An den Wänden reihten sich Bücher, vor allem alte Bücher, und in der Vitrine befand sich etwas, das wie ein Weinregal aussah, nur dass es... Schriftrollen enthielt?

Am Schreibtisch saß Amelie und unterschrieb mit einem goldenen Stift Papiere. Einer ihrer Assistenten, ebenfalls ein Vampir, stand aufmerksam neben ihr und nahm jedes Blatt Papier, das sie unterschrieben hatte, an sich.

Keiner von ihnen sah auf und blickte Claire an.

»Schließ die Tür«, sagte Amelie mit sanfter Stimme, die einen fast schon französischen Akzent hatte. »Ich mag keine Zugluft.«

Claire dachte daran davonzulaufen, aber sie war nicht so dumm zu glauben, sie käme weit oder wäre schnell genug. Und obwohl der Gedanke verlockend war, aufzukreischen und die Tür von der anderen Seite zuzuschlagen, schluckte sie ihre Angst hinunter und kam ganz herein, bevor sie die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich schloss.

»Ist das Ihr Haus?«, fragte Claire. Es war ehrlich gesagt die einzige Frage, die ihr einfiel; jede andere Frage war ihr regelrecht entfallen, denn das konnte schließlich überhaupt nicht wahr sein.

Amelie blickte auf und ihre Augen waren so kühl und einschüchternd, wie Claire sie im Gedächtnis behalten hatte. Es fühlte sich ein bisschen an, als würde man erfrieren. »Mein Haus?«, wiederholte sie. »Ja, natürlich. Es sind alles meine Häuser. Oh, jetzt verstehe ich deine Frage. Du fragst, ob dieses bestimmte Haus, das du betreten hast, mein Zuhause ist. Nein, kleine Claire, ich verstecke mich hier nicht vor meinen Feinden, auch wenn es sicherlich eine sinnvolle Wahl wäre. Sehr...« Amelie lächelte langsam. »Unerwartet.«

»Dann... Wie...?«

»Du wirst herausfinden, Claire, dass ich dich rufe, wenn ich dich brauche.« Amelie unterschrieb das letzte Blatt Papier und gab es ihrem Assistenten, einem großen dunklen jungen Mann mit schwarzem Anzug und Krawatte, der sich leicht verbeugte und den Raum durch eine andere Tür verließ. Amelie lehnte sich in ihrem massiven geschnitzten Stuhl zurück und sah mit ihrer goldenen Haarkrone mehr denn je wie eine Königin aus. Ihre langen Finger trommelten leicht auf die löwenköpfigen Armlehnen ihres Stuhls. »Du bist nicht mehr in dem Haus, in dem du warst, meine Liebe. Verstehst du?«

»Teleportation«, sagte Claire. »Aber das ist nicht möglich.«

»Trotzdem bist du hier.«

»Das ist Science-Fiction!«

Amelie machte eine anmutige Handbewegung. »Die heutigen literarischen Gepflogenheiten sind mir unverständlich. Eine unmögliche Sache wie Vampire ist akzeptabel, aber zwei unmögliche Dinge sind dann gleich Science-Fiction? Ah, na ja, ist ja auch gleichgültig. Ich kann nicht erklären, wie das funktioniert; das ist etwas für Philosophen und Künstler und ich bin keines von beidem. Seit vielen Jahren nicht mehr.« Ihre frostfarbenen Augen wurden um eine Winzigkeit wärmer. »Setz dein Bündel ab. Ich habe schon Kesselflicker gesehen, die leichteres Gepäck hatten.«

Was ist ein Kesselflicker?, fragte sich Claire. Sie hätte fast gefragt, wollte dann aber nicht dumm klingen. »Danke«, sagte sie und ließ vorsichtig ihren Rucksack auf den Holzboden sinken. Dann glitt sie auf einen der beiden Stühle gegenüber dem Schreibtisch. »Ma’am.«

»So höflich«, sagte Amelie. »Und das in einer Zeit, in der gute Manieren verloren gehen...Du weißt, was gute Manieren sind, nicht wahr, Claire? Ein Verhalten, das Menschen ermöglicht, nah beieinanderzuleben, ohne sich gegenseitig umzubringen. Meistens.«

»Ja, Ma’am.«

Stille. Irgendwo hinter Claire zeigte eine große Uhr durch ihr Ticken Minute für Minute an. Sie fühlte, wie ihr ein Schweißtropfen den Hals hinunterrann und vom Gewebe ihres schwarzen Strickshirts aufgefangen wurde. Amelie starrte sie an, ohne zu blinzeln oder sich zu bewegen, und das war seltsam. Falsch. Das machte man einfach nicht.

Aber Amelie war eben nicht wie alle anderen. Tatsächlich war sie unter den Vampiren in vielerlei Hinsicht am allerwenigsten wie alle anderen.

»Sam hat nach Ihnen gefragt«, platzte Claire heraus, eigentlich nur, weil es ihr gerade durch den Kopf ging und sie wollte, dass Amelie aufhörte, sie anzustarren. Es funktionierte. Amelie zwinkerte, verlagerte ihr Gewicht und lehnte sich nach vorne, sodass ihr spitzes Kinn auf ihren gefalteten Händen ruhte, wobei sie die Ellbogen noch immer auf die Armlehnen stützte.

»Sam«, sagte sie langsam und ihre Augen wanderten nach rechts und starrten ins Nichts. Sie versucht, sich zu erinnern, dachte Claire. Sie hatte schon oft beobachtet, wie Menschen – offensichtlich auch Vampire – das mit den Augen machten, wenn sie sich an etwas erinnerten. »Ah, ja, Samuel.« Ihre Augen schnellten mit nervtötender Geschwindigkeit zu Claire zurück. »Und wie kommt es, dass du mit dem lieben jungen Sam gesprochen hast?«

Claire zuckte die Achseln. »Er wollte mit mir sprechen.«

»Worüber?«

»Er fragte nach Ihnen. Ich... glaube, er ist einsam.«

Amelie lächelte. Sie versuchte nicht, Claire mit ihren Vampirzähnen zu beeindrucken. Das hatte sie nicht nötig! Ihre Zähne waren weiß und ebenmäßig, vollkommen normal. »Natürlich ist er einsam«, sagte sie. »Samuel ist der Jüngste. Keiner der Älteren traut ihm. Jemand Jüngeres gibt es nicht. Er hat keine Verbindungen zur Vampirgemeinde, außer zu mir, und keine Verbindungen mehr zur Welt der Menschen. Er ist einsamer als irgendjemand, dem du je begegnen wirst, Claire.«

»Sie sagen das, als wollten Sie... dass er so ist. Einsam, meine ich.«

»Das ist richtig«, sagte Amelie ruhig. »Ich habe meine Gründe dafür. Es ist jedoch ein interessantes Experiment zu sehen, wie jemand, der so einsam ist, reagiert. Samuel ist faszinierend. Die meisten Vampire wären einfach gewalttätig und gefühllos geworden, aber er sucht weiterhin Trost. Freundschaft. Ich finde ihn außergewöhnlich.«

»Sie experimentieren mit ihm!«, sagte Claire.

Amelies platinfarbene Augenbrauen hoben sich langsam und formten perfekte Bögen über ihren kalten, amüsierten Augen. »Wie clever von dir, das zu denken, aber bedenke: Eine Ratte, die weiß, dass sie in einem Labyrinth steckt, ist kein nützliches Versuchsobjekt mehr. Deshalb wirst du deine Meinung für dich behalten und dich vom lieben, süßen Samuel fernhalten. Nun, was führt dich heute zu mir?«

»Was mich...?« Claire räusperte sich. »Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Wissen Sie, ich habe das Badezimmer gesucht.«

Amelie starrte sie einen frostigen Augenblick lang an, dann warf sie den Kopf nach hinten und lachte. Es war ein volles, lebendiges Lachen, warm und voll unerwarteter Freude, und als es vorüber war, konnte Claire noch immer Spuren davon in ihrem Gesicht und ihren Augen erkennen. Was sie fast schon... menschlich aussehen ließ. »Ich habe schon eine Menge gehört, mein Kind, aber das hier könnte sich als das Amüsanteste von allem herausstellen. Wenn du ein Badezimmer suchst, dann geh bitte durch diese Tür. Dort findest du alles, was du benötigst.« Ihr Lächeln verblasste. »Aber ich glaube, du bist gekommen, um mich noch etwas zu fragen.«

»Ich bin überhaupt nicht hierhergekommen! Ich wollte zum Historischen Verein von Morganville...«

»Ich bin der Historische Verein von Morganville«, sagte Amelie. »Was möchtest du wissen?«

Claire mochte Bücher. Bücher hielten die Klappe. Sie saßen einem nicht in noblen, thronartigen Stühlen gegenüber und sahen aus wie imposante, Furcht einflößende Königinnen. Außerdem hatten sie keine Vampirzähne oder Bodyguards. Bücher waren schwer in Ordnung.»Ähm...ich wollte nur etwas nachschlagen...«

Amelie verlor bereits die Geduld. »Heraus damit, Mädchen. Rasch. Ich habe noch zu tun.«

Claire räusperte sich nervös, hustete und sagte: »Ich wollte etwas über Eves Bruder Jason herausfinden. Jason Rosser.«

»Schon erledigt«, sagte Amelie, und obwohl sie sich scheinbar nicht gerührt, nicht einmal den Finger gehoben hatte, öffnete sich die Seitentür und ihr hübscher, aber leichenblasser Assistent streckte den Kopf herein. »Die Familienakte der Rossers«, sagte sie zu ihm. Er nickte und verschwand. »Du hättest nur deine Zeit verschwendet«, sagte Amelie zu Claire. »Es gibt im Gebäude des Historischen Vereins keine persönlichen Akten irgendwelcher Art. Er ist nur repräsentativ und die Informationen dort sind bestenfalls ungenau. Wenn du die wahre Geschichte der Dinge erfahren willst, wende dich an jemanden, der sie erlebt hat, Kleines.«

»Aber dann erhält man nur einen Blickwinkel«, sagte Claire. »Nicht die Tatsachen.«

»Alle Tatsachen sind nur Blickwinkel. Ah, vielen Dank, Henry.« Amelie nahm eine Mappe von ihrem Assistenten entgegen, der leise wieder hinausging. Sie schlug sie auf, studierte den Inhalt und reichte sie an Claire weiter. »Eine ungewöhnliche Familie. Merkwürdig, dass sie die kleine Eve und ihren Bruder hervorgebracht hat.«

Ihr ganzes Leben war dort auf trockene, handschriftliche Einträge auf Papier reduziert. Geburtsdaten, Auszüge aus Schulzeugnissen...Es gab handschriftliche Einträge des Vampirs Brandon, der ihnen Schutz gab. Selbst diese waren trocken.

Und dann nicht mehr so trocken, denn im Alter zwischen sechzehn und achtzehn veränderte sich Eve. Aber ganz gewaltig. Als sie fünfzehn war, zeigte das Klassenfoto ein hübsches, zerbrechlich wirkendes Mädchen in biederen Klamotten, die sogar Claire getragen hätte.

Das Foto, das aufgenommen wurde, als Eve sechzehn war, war Goth City pur. Sie hatte ihr Haar matt glänzend schwarz gefärbt, ihr Gesicht weiß geschminkt, mit Augen wie ein Waschbär, und sie hatte eine bestimmte Grundhaltung eingenommen. Mit siebzehn hatte sie sich die ersten Piercings machen lassen; eines davon zeigte ein Foto, auf dem sie der Kamera ihre gepiercte Zunge herausstreckte.

Mit achtzehn sah sie nachdenklich und trotzig aus und dann hörten die Fotos auf, abgesehen von einigen, die aussahen, als stammten sie von Überwachungskameras, und die Eve im Common Grounds zeigten, wie sie Espresso zubereitete und mit Gästen plauderte.

Eve mit Oliver.

Du wolltest etwas über Jason herausfinden, rief sich Claire ins Gedächtnis und blätterte weiter.

Bei Jason war es dasselbe, außer dass er jünger war. Als Eve Goth wurde, wurde Jason es auch, außer dass es bei ihm weniger nach einer Modeentscheidung aussah, sondern eher nach einer ernsthaften Hinwendung zur dunklen Seite. In Eves Augen schimmerten immer auch Humor und Mutwillen; in Jasons Augen schimmerte nichts. Er sah mager, kräftig und gefährlich aus.

Und Claire durchfuhr ein eiskalter Schrecken, als sie feststellte, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte...Er hatte sie auf der Straße angestarrt, bevor sie ins Common Grounds gegangen war und mit Sam gesprochen hatte.

Jason Rosser wusste, wer sie war.

»Jason mag Messer, soweit ich mich erinnere«, sagte Amelie. »Er stellt sich manchmal vor, er sei ein Vampir. Ich würde mich vor ihm in Acht nehmen, wenn ich du wäre. Er ist wahrscheinlich nicht so... höflich wie meine Leute.«

Claire schauderte und blätterte weiter, wobei sie Jasons nicht allzu beeindruckendes akademisches Leben überflog und dann die Polizeiberichte.

Eve war die Zeugin, die ihn hinter Schloss und Riegel gebracht hatte. Sie hatte gesehen, wie er dieses Mädchen entführt hatte und mit ihm davongefahren war – ein Mädchen, das später mit einer blutigen Stichwunde aufgefunden wurde, als es auf der Straße umherirrte. Das Mädchen verweigerte die Aussage, aber Eve äußerte sich offiziell dazu. Und Jason kam ins Gefängnis.

Die Akte gab auch an, dass er vorgestern Morgen um neun Uhr aus dem Knast entlassen wurde. Genug Zeit, um sich Karla Gast auf dem Campus zu krallen und...

Weg mit den schlechten Gedanken, Claire. Her mit den guten.

Sie blätterte weiter und schaute sich Eves Eltern an. Sie sahen... normal aus. Vielleicht ein bisschen verbittert, aber bei einem Sohn wie Jason war das wahrscheinlich nicht weiter ungewöhnlich. Dennoch sahen sie nicht wie Eltern aus, die ihre Tochter einfach in hohem Bogen hinauswarfen und ihr niemals schrieben, sie anriefen oder bei ihr vorbeischauten.

Claire schloss die Akte und schob sie über den Tisch zurück zu Amelie, die sie in eine Ablage aus Holz legte, die an der Ecke ihres Schreibtisches stand. »Hast du gefunden, was du suchtest?«, fragte Amelie.

»Ich weiß nicht.«

»Eine weise Antwort«, sagte Amelie und nickte ihr zu wie eine Königin ihren Untertanen. »Du kannst jetzt gehen. Nimm die Tür, durch die du hereingekommen bist.«

»Ähm... danke. Tschüss.« Was ziemlich bescheuert klang, wenn man es zu jemandem sagte, der eine Milliarde Jahre alt war und die Stadt und alles, was es darin gab, beherrschte, aber Amelie schien es gut aufzunehmen. Claire griff nach ihrem Rucksack und eilte durch die Tür aus poliertem Holz...

...in ein Badezimmer mit viel geblümter Tapete und wirklich üblen, rüschenbesetzten Toilettenpapierschonern in Form von Puppenkleidchen.

Eine schonungslose Rückkehr in die Realität.

Claire ließ ihren Rucksack fallen und riss die Tür wieder auf.

Es war der Flur. Sie schaute nach rechts, dann nach links. Das Zimmer roch sogar anders, nach Talkumpuder und dem Parfüm alter Damen. Keine Spur von Amelie, ihren stummen Dienern oder dem Zimmer, in dem sie waren.

»Science-Fiction«, sagte Claire zutiefst unglücklich und spülte die Toilette, wobei sie sich seltsam schuldig fühlte. Dann stapfte sie hinaus, wie sie hereingekommen war. Das Haus war warm, aber die Hitze draußen traf sie wie ein Schlag mit einem Handtuch, das in der Mikrowelle aufgewärmt worden war.

Oh, sie würde schon noch dahinterkommen, wie dieser Trick funktionierte. Sie ertrug den Gedanken nicht, dass es sich dabei um, na ja, Magie handeln sollte. Okay, Vampire und diesen ganzen Psychokontroll-Kram konnte sie noch akzeptieren... widerstrebend. Aber nicht plötzliche Transportation. Nee, nee...

Lisa saß jetzt neben Gramma auf der Verandaschaukel und trank Limonade. Auf dem kleinen Tisch neben ihr stand noch ein weiteres Limonadenglas, an dem sich Kondenswassertropfen gebildet hatten. Lisa nickte Claire zu und deutete mit dem Kopf darauf.

»Danke«, sagte Claire und nahm einen großen, durstigen Schluck. Die Limonade war gut – vielleicht etwas süß, aber erfrischend. Sie kippte sie rasch hinunter und hielt das kühle Glas fest, wobei sie sich fragte, ob es unhöflich wäre, die Eiswürfel zu zerkauen. »Wie lange wohnen Sie schon hier?«

»Gramma wohnt schon ihr ganzes Leben lang hier«, sagte Lisa und strich sanft über Grammas Rücken. »Nicht wahr, Gramma?«

»Bin hier geboren«, sagte die alte Frau stolz. »Hier werd ich auch sterben, wenn es so weit ist.«

»So ist’s recht.« Lisa schenkte Claire noch ein Glas Limonade aus dem halb leeren Krug ein. »Wenn irgendwas in Grammas Haus fehlt, kleine College-Ratte, werde ich dich finden, wo immer du dich in Morganville versteckst. Haben wir uns verstanden?«

»Lisa«, schimpfte Gramma. »Tut mir leid, Liebes. Meiner Enkelin hat niemand Manieren beigebracht.« Sie schlug Lisa auf die Finger und bedachte sie mit einem elterlichen Blick. »Das liebe Mädchen hier würde eine alte Dame niemals bestehlen. Oder etwa doch, Liebes?«

»Nein, Ma’am«, sagte Claire und trank die Hälfte ihres zweiten Glases Limonade. Es schmeckte so herb, süß und wunderbar wie das erste. »Ich war nur erstaunt über das Symbol neben Ihrer Tür...«

Lisa und Gramma sahen sie scharf an. Keine von beiden antwortete. Sie trugen beide Armbänder, wie sie bemerkte. Sie waren aus einfachem Silber mit dem Symbol der Gründerin auf einer Metallplakette. Schließlich sagte Lisa leise: »Du solltest jetzt besser gehen.«

»Aber...«

»Geh jetzt!«, schrie Lisa, riss Claire das Glas aus der Hand und knallte es auf den Tisch. »Bring mich nicht dazu, dich vor Grammas Augen die Treppe hinunterzuwerfen!«

»Still, Lisa«, sagte Gramma und lehnte sich mit einem knarrenden Geräusch, das entweder von der Verandaschaukel oder von ihren alten Knochen stammte, nach vorne. »Das Mädchen hat nicht mehr Verstand, als Gott einem Schaf gab, aber schon gut. Es ist das Symbol der Gründerin und dies ist das Haus der Gründerin und wir sind die Leute der Gründerin. Wie du.«

Lisa schaute sie mit offenem Mund an. »Was?«, sagte sie schließlich, als sie ihre Stimme wieder unter Kontrolle hatte.

»Siehst du es nicht?« Gramma wedelte mit der Hand vor Claire herum. »Sie leuchtet, Baby. Sie sehen es, das garantiere ich dir. Sie werden sie nicht anrühren, ob mit oder ohne Symbol. Sie würden dabei ihr Leben aufs Spiel setzen.«

»Aber...« Lisa sah so frustriert und hilflos aus, wie Claire sich fühlte. »Gramma, du bildest dir wieder was ein.«

»Ich bilde mir überhaupt nichts ein, Missy, und du erinnerst dich besser daran, wer in dieser Familie am Leben geblieben ist, als alle anderen fielen.« Grammas verblasste Augen fixierten Claire, die trotz der bedrückenden, unbewegten Hitze schauderte. »Ich weiß nicht, warum sie dich gekennzeichnet hat, Kind, aber sie hat es getan. Nun musst du nur noch damit leben. Nun geh schon. Geh nach Hause. Du hast bekommen, weswegen du gekommen bist.«

»Hat sie?« Lisa schaute finster drein. »Bei Gott, wenn du irgendwas aus unserem Haus geklaut hast...«

»Sei still. Sie hat nichts gestohlen. Aber sie hat bekommen, was sie brauchte, nicht wahr, Mädchen?«

Claire nickte nervös und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sie schwitzte höllisch; ihr Haar fühlte sich klebrig und nass an. Nach Hause zu gehen, kam ihr plötzlich wie eine großartige Idee vor.

»Vielen Dank, Ma’am«, sagte sie und streckte ihre Hand aus. Gramma schaute die Hand einige Sekunden an, nahm sie dann in einen vogelartigen Griff und schüttelte sie. »Kann ich Sie mal wieder besuchen kommen?«

»Wenn du mir Schokolade mitbringst«, sagte Gramma. »Bei Schokolade werde ich schwach.«

»Gramma, du hast Diabetes!«

»Ich bin alt, Mädchen. An irgendwas muss ich ja sterben. Kann genauso gut Schokolade sein.«

Sie stritten immer noch, als Claire die Treppe hinunterging, durch den gepflegten Vorgarten und durch das weiße Lattentor schritt. Sie schaute zu dem Durchgang hin, den sie beinahe genommen hätte, und dieses Mal durchzuckte sie ein warnender Schauder. Falltürspinnen. Nein, sie hatte kein Verlangen mehr danach, Abkürzungen zu nehmen. Und sie hatte so viel über Jason Rosser herausgefunden, wie sie verdauen konnte. Zumindest wusste sie nun, nach wem sie Ausschau halten musste, falls er ihr wieder folgen sollte.

Claire rückte ihren Rucksack in eine bequemere Position und machte sich auf den Weg.