2

 

Es war ein endlos langer Tag. Claire streckte sich schließlich auf einer Seite des Bettes aus, Eve auf der anderen, jede in ihren eigenen Kokon aus Kummer und Herzschmerz eingesponnen. Sie redeten nicht viel. Es schien eh nicht viel zu geben, worüber man hätte reden können.

Es war fast dunkel, als jemand am Türknauf rüttelte und Claire fast eine Herzattacke bekommen hätte. Sie näherte sich langsam der Tür und flüsterte: »Wer ist da?«

»Shane.«

Sie schloss schnell auf und öffnete die Tür. Shane betrat mit gesenktem Kopf das Zimmer, ein Tablett mit zwei Schalen Chili in der Hand – so ziemlich das Einzige, was er zubereiten konnte. Er stellte es auf dem Bettrand neben Eve ab, die dasaß wie eine Stoffpuppe ohne Füllung, schlaff vor Trauer und Niedergeschlagenheit.

»Iss was«, sagte er. Eve schüttelte den Kopf. Shane nahm eine der Schalen und schob sie in ihre Richtung; sie nahm sie, nur um zu vermeiden, dass sie eine unfreiwillige Chili-Dusche abbekam, und starrte ihn zornig an.

Claire bemerkte, wie sich Eves Gesichtsausdruck veränderte. Zuerst wurde er ausdruckslos, dann entsetzt.

»Nichts passiert«, sagte Shane, als Claire herüberkam, um ihn anzuschauen. Es war nicht nichts passiert. Nicht wenn das Ergebnis dunkle Blutergüsse waren, die sich über Wangen und Kiefer verteilten. Shane wich ihren Blicken aus. »Meine eigene Schuld.«

»Himmel«, flüsterte Eve. »Dein Dad...«

»Meine eigene Schuld«, fuhr Shane sie an, stand auf und ging zur Tür. »Hört mal, ihr versteht das nicht. Er hat recht, okay? Ich lag falsch.«

»Nein, ich verstehe das nicht«, sagte Claire und packte ihn am Arm. Er riss sich ohne Mühe los und ging weiter. »Shane!«

In der Tür hielt er an und schaute zu ihr zurück. Er sah verletzt, resigniert und übellaunig aus, aber es war die Verzweiflung in seinen Augen, die sie erschreckte. Shane war doch immer stark. Er musste es sein. Sie brauchte das.

»Dad hat recht«, sagte er. »Diese Stadt ist krank, sie ist vergiftet und sie vergiftet auch uns. Wir können nicht zulassen, dass sie uns fertigmacht. Wir müssen sie ausschalten.«

»Die Vampire? Shane, das ist bescheuert! Das schafft ihr nicht! Du weißt, was passieren wird!«, sagte Eve. Sie stellte die Chili-Schale zurück auf das Tablett und erhob sich vom Bett. Sie sah verheult und verloren aus, war inzwischen aber wieder eher sie selbst. »Dein Dad ist verrückt. Tut mir leid, aber das ist wirklich so. Lass nicht zu, dass er dich mit runterzieht. Du wirst noch seinetwegen draufgehen und Claire und ich gleich mit dazu. Er hat schon...«Sie atmete tief durch und schluckte. »Er hat schon Michael gekriegt. Wir können ihn das nicht tun lassen. Wer weiß, wie viele Menschen dabei verletzt werden.«

»So wie Lyssa verletzt wurde?«, fragte Shane. »Wie meine Mom? Sie haben meine Mom umgebracht, Eve! Sie hätten uns gestern fast mitsamt dem Haus abgefackelt, einschließlich Michael, vergiss das nicht.«

»Aber...«

»Diese Stadt ist böse«, sagte Shane und schaute Claire dabei fast flehend an. »Du verstehst das, oder? Du weißt, dass dort draußen eine ganze Welt liegt, eine ganze Welt, die nicht so ist?«

»Ja«, sagte sie schwach. »Ich verstehe das. Aber...«

»Wir ziehen das durch. Und dann sind wir hier raus.«

»Mit deinem Vater?« Eve schaffte es, alle Nuancen von Verachtung in ihre Stimme zu legen. »Das glaube ich kaum. Schwarz steht mir gut, deshalb steh ich nicht so drauf, grün und blau geprügelt zu werden.«

Shane zuckte zusammen. »Ich habe nicht gesagt... schau mal, nur wir drei. Wir hauen aus der Stadt ab, während mein Vater und die anderen...«

»Wir hauen ab?« Eve schüttelte den Kopf. »Großartig. Und wenn die Vamps eine große Party veranstalten und deinen Dad und seine Kumpels grillen, was dann? Sie werden nämlich ganz sicher nach uns suchen. Niemand entkommt, der auch nur irgendwie am Mord an einem Vampir beteiligt war. Das weißt du genau. Es sei denn, du glaubst wirklich, dass dein Dad und seine bescheuerten Muskelmänner es mit Hunderten von Vampiren, ihren menschlichen Verbündeten, den Cops und, soweit ich weiß, auch noch mit den US-Marines aufnehmen können.«

»Iss dein verdammtes Chili«, sagte Shane.

»Nicht ohne was zu trinken. Ich kenne dein Chili.«

»Schon gut! Ich hole euch ’ne Cola!« Er knallte die Tür hinter sich zu. »Schließt ab!«

Claire schloss ab. Dieses Mal trödelte Shane nicht im Flur herum. Sie hörte das harte Stampfen seiner Stiefel, als er die Treppe hinunterging.

»Musste das sein?«, fragte sie Eve. Sie lehnte gegen die Tür und verschränkte die Arme.

»Was genau?«

»Er ist durcheinander. Er hat Michael verloren, sein Dad hat ihn...«

»Sprich es aus, Claire: Sein Dad hat ihn einer Gehirnwäsche unterzogen. Schlimmer noch. Ich glaube, sein Dad hat den Kampfgeist aus ihm herausgeprügelt. Den Verstand hat er ihm ganz sicher schon herausgeprügelt.« Eve fuhr sich ungeduldig über das Gesicht. Noch mehr Tränen strömten über ihre Wangen, aber es war eher wie Wasser, das unter Druck entwich, als wirkliche Schluchzer. »Sein Dad war nicht immer so. Er war früher... – na ja nicht gerade nett, da er ständig betrunken war, aber besser als das jetzt. Viel besser. Nachdem das mit Lyssa passierte, wurde er einfach verrückt. Ich wusste das nicht mit Shanes Mom. Ich dachte, sie hat einfach...du weißt schon, Selbstmord begangen. Shane hat nie wirklich darüber gesprochen.«

Claire hatte keine Schritte auf der Treppe gehört, aber sie hörte und fühlte ein zartes Klopfen an der Tür und dass jemand am Türknauf rüttelte. Sie schloss auf und öffnete die Tür, streckte die Hand nach der Cola aus und erwartete, dass Shane sie ihr in die Hand drücken würde...

... aber dort stand ein grinsender, übel riechender Berg von einem Mann in der Tür. Der, der Michael erstochen hatte.

Claire ließ die Tür los und stolperte zurück, wobei sie nur einen Augenblick später dachte: Dumm, das war dumm. Ich hätte sie zuschlagen sollen... Aber es war zu spät. Er war bereits im Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.

Und schloss sie ab.

Sie schaute Eve entsetzt an. Eve machte einen Schritt nach vorne, packte Claire, schubste sie auf die andere Seite des Bettes...und stellte sich vor sie. Claire schaute sich hektisch nach einer Waffe um. Nach irgendetwas. Sie griff nach einem gewichtig aussehenden Schädel, aber er war aus Plastik, ganz leicht und vollkommen nutzlos.

Eve zerrte einen Hockeyschläger unter dem Bett hervor.

»Lass es uns auf die nette Art regeln«, sagte der Mann. »Der kleine Stock da hilft euch auch nicht weiter und mich macht er nur sauer.« Seine Lippen weiteten sich zu einem Grinsen, wobei sie große, eckige gelbe Zähne entblößten. »Oder es macht mich an.«

Claire fühlte sich elend und schwach. Das war nicht wie gestern Nacht, als Shane in ihr Zimmer gekommen war, ganz und gar nicht. Das war die Kehrseite der Männer, und obwohl sie davon gehört hatte – man kam schließlich nicht umhin, davon zu hören, wenn man erwachsen wurde –, hatte sie es nie zuvor wirklich erlebt. Klar, der eine oder andere Idiot war ihr schon untergekommen, aber dieser Typ hatte etwas Abscheuliches an sich. Etwas, das sie und Eve anschaute wie Fleischstücke, die er gleich verschlingen würde.

»Du lässt die Finger von uns«, sagte Eve und hob die Stimme. »Shane! Shane, schaff deinen Hintern hier hoch, los!«

Es lag ein Hauch von Panik in ihrer Stimme, auch wenn sie die Fassade wahrte. Ihre Hände umklammerten zitternd den Hockeyschläger.

Der Mann schlich wie eine Katze um das Fußende des Bettes herum. Er war mindestens einen Meter achtzig groß und doppelt so breit wie Eve oder noch breiter. Seine nackten Arme waren muskelbepackt. Seine blauen Augen wirkten oberflächlich und hungrig.

Claire hörte das Geräusch von Schritten auf dem Flur und einen Rumms, als Shane an der verschlossenen Tür ankam. Er rüttelte an der Tür und klopfte laut: »Eve! Eve, mach auf!«

»Sie ist beschäftigt!«, rief der Biker und lachte. »Oh, und gleich wird sie noch so richtig beschäftigt sein.«

»Nein!«, brüllte Shane und die Tür erzitterte unter den gewaltigen Schlägen, mit denen er sie bearbeitete. »Lass die Finger von ihnen!«

Eve drängte Claire nach hinten zum Fenster. Sie holte zu einem Schlag gegen den Biker aus, der einfach einen Schritt rückwärts machte, sodass er außer Reichweite war, und noch immer lachte.

»Hol deinen Dad!«, rief sie Shane zu. »Mach, dass er was unternimmt!«

»Ich lasse euch nicht allein!«

»Mach schon, Shane, los!«

Schritte entfernten sich den Flur entlang. Claire schluckte und fühlte sich plötzlich noch einsamer und verletzlicher. »Glaubst du, sein Dad kommt?«, flüsterte sie. Eve antwortete nicht.

»Ich schwöre bei Gott, komm nur einen Schritt näher und...«

»So zum Beispiel?« Der Biker wich einem Hieb mit dem Hockeyschläger aus, ergriff ihn dabei und riss ihn Eve aus der Hand. Er schleuderte ihn über seine Schulter, sodass er klappernd auf dem Boden landete. »Ist das nah genug? Was willst du jetzt machen, Püppchen? Mich totweinen?«

Claire hielt sich die Augen zu, als der Biker eine tätowierte Hand nach Eve ausstreckte.

»Nein«, sagte Eve atemlos. »Mein Freund wird dich vermöbeln, bis du nicht mehr weißt, wie du heißt.«

Das dumpfe Geräusch von Holz auf Fleisch war zu hören und jemand heulte auf. Dann ein weiteres, härteres, dumpfes Geräusch und das Krachen eines Körpers, der auf dem Fußboden aufschlug.

Der Biker war zu Boden gegangen. Claire starrte ihn ungläubig an, schaute dann an ihm vorbei zu der Gestalt, die dort stand, den Hockeyschläger in beiden Händen.

Michael Glass. Wieder zurück von den Toten, ein umwerfender blonder Racheengel, der keuchend Luft holte. Rot vor Ärger, mit blitzenden blauen Augen. Er warf den beiden Mädchen einen Blick zu, um sicherzustellen, dass ihnen nichts passiert war, und legte das Schlägerblatt am Hals des Bikers an. Die Augen des Bikers flatterten, er versuchte, sie zu öffnen, schaffte es aber nicht. Er fiel in entspannte Bewusstlosigkeit.

Eve flog Michael entgegen, machte einen Satz über den Körper des Bikers und hängte sich wie eine Klette an Michael, als wollte sie sichergehen, dass er auch wirklich da war. Musste er wohl, denn er zuckte unter der Wucht ihres Aufpralls zusammen und küsste sie dann auf den Scheitel, ohne den Mann, der schlaff zu ihren Füßen lag, aus den Augen zu lassen.

»Eve«, sagte er, dann schaute er sie an und schlug einen sanfteren Ton an. »Eve, mein Liebling, geh und mach die Tür auf.«

Sie nickte, trat beiseite und folgte seinen Anweisungen. Michael übergab ihr den Hockeyschläger, packte den Biker an den Schultern und zerrte ihn rasch in den Flur hinaus. Er machte die Tür wieder zu, schloss ab und sagte: »Okay, und hier ist die Geschichte dazu: Eve, du hast ihn mit dem Hockeyschläger ausgeknockt und...«

Er sprach nicht zu Ende, weil Eve ihn packte und gegen die Tür drückte, wobei sie sich um ihn herumwickelte wie ein Gothic-Mantel. Sie weinte wieder, aber leise. Claire sah, wie ihre Schultern bebten. Michael seufzte, legte seine Arme um sie und beugte seinen blonden Schopf, sodass er an ihrem schwarzen ruhte.

»Es ist okay«, murmelte er. »Du bist okay, Eve. Wir sind alle okay.«

»Du warst tot!«, heulte sie auf, was dadurch gedämpft wurde, dass ihr Gesicht noch immer an seine Brust gepresst war. »Verdammt, Michael, du warst tot, ich hab gesehen, wie sie dich umgebracht haben und... sie...«

»Ja, das war nicht gerade angenehm.« Etwas flackerte schnell und heiß in Michaels Augen auf, der Schatten eines Schreckens, an den er, so kam es Claire vor, nicht mehr denken und von dem er niemandem erzählen wollte. »Aber ich bin kein Vampir und sie können mich nicht töten wie einen Vampir. Nicht, solange das Haus meine Seele besitzt. Sie können so gut wie alles mit meinem Körper machen, er wird einfach wieder... repariert.«

Der Gedanke daran ließ in Claire Übelkeit aufsteigen, als würde sie am Rand eines tiefen und unerwarteten Abgrunds stehen. Sie starrte Michael mit geweiteten Augen an und sah, dass ihm, ebenso wie ihr, klar war: Wenn Shanes Vater und seine heitere Bande von Schlägertypen das herausfanden, würden sie das vielleicht testen wollen. Nur so zum Spaß.

»Deshalb habt ihr mich nicht gesehen«, sagte Michael. »Du kannst es ihnen nicht sagen. Oder Shane.«

»Shane nicht sagen?« Eve zog sich zurück. »Warum nicht?«

»Ich habe zugeschaut«, sagte er. »Zugehört. Ich kann das, wenn ich, du weißt schon...«

»Wenn du ein Geist bist?«, half Claire weiter.

»Genau. Ich hab gesehen...« Michael sprach nicht weiter, aber Claire wusste, was er sagen wollte.

»Du hast gesehen, wie Shane von seinem Dad geschlagen wurde«, sagte sie. »Stimmt’s?«

»Ich möchte nicht, dass er Geheimnisse vor seinem Dad hat. Nicht jetzt.«

Schritte trappelten die Treppe herauf und wurden langsamer, als sie den Flur erreichten. Michael berührte seine Lippen mit dem Finger und lockerte Eves krampfhaften Griff. Er presste stumm seine Lippen auf ihre.

»Versteck dich!«, flüsterte Claire. Er nickte und öffnete den Schrank, rollte seine Augen wegen der Unordnung darin und zwängte sich hinein. Claire hoffte, dass er sich unter den Klamottenbergen begrub. Miranda hatte in diesem Schrank festgesessen, nachdem sie versucht hatte, Eve zu erstechen, bevor das Haus Feuer fing. Sie hatte ganze Arbeit geleistet, alles durcheinanderzubringen. Eve war außer sich gewesen.

Beide Mädchen fuhren zusammen, als jemand hart an die Tür schlug. Eve schloss hastig auf und trat zurück, als sie aufflog und Shane hereinstürmte.

»Wie...?« Er atmete schwer und hielt eine Brechstange in der Hand. Claire wurde bewusst, dass er die Schlösser aufgebrochen hätte, wenn es nötig gewesen wäre. Sie ging langsam auf ihn zu und versuchte herauszufinden, was er gerade fühlte, und er ließ die Brechstange fallen, schlang seine Arme um sie und hob sie hoch. Er grub sein Gesicht in die Kuhle ihres Halses und das warme, schnelle Pumpen seines Atems auf ihrer Haut ließ sie in ungestümer Freude erschauern. »Große Güte, Claire. Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

»Du kannst nichts dafür«, sagte Eve. Sie hielt ihm den Hockeyschläger hin. »Sieh mal! Ich habe ihm eine reingehauen. Ähm, zweimal.«

»Gut.« Shane küsste Claire auf die Wange und ließ sie zurück auf den Boden gleiten, aber er ließ ihre Arme noch nicht los. Seine Augen, die unter den Blutergüssen hell und geschwollen waren, musterten sie eingehend. »Er hat dir nicht wehgetan? Euch beiden nicht?«

»Ich habe ihm eine reingehauen!«, wiederholte Eve fröhlich und fuchtelte wieder mit dem Schläger, um das zu betonen. »Also, nein, er hat uns nicht wehgetan, sondern wir ihm. Ganz allein, weißt du. Ohne fremde Hilfe. Ähm, also...wo ist dein Dad? Er lässt sich ziemlich Zeit, uns zu Hilfe zu kommen.«

Shane machte die Tür zu und schloss ab, als der Biker im Flur stöhnte und zur Seite rollte. Er schwieg, was jedoch Antwort genug war. Shanes Dad brauchte seine Biker dringender, als er Eve oder Claire brauchte. Sie waren entbehrlich. Schlimmer noch, sie waren wahrscheinlich einfach zu Belohnungen geworden.

»Wir können hier nicht bleiben«, sagte Eve. »Es ist nicht sicher. Das weißt du.«

Shane nickte, aber er sah niedergeschlagen aus. »Ich kann nicht mit euch kommen.«

»Doch, das kannst du! Shane...«

»Er ist mein Dad, Eve. Er ist alles, was ich habe.«

Eve schnaubte. »Klar, na ja, dann gib einfach zurück, was du hast.«

»Klar, du bist ja einfach von zu Hause abgehauen...«

»Hey!«

»Hat dich ja nicht gekümmert, was mit ihnen passiert...«

»Sie hat es nicht gekümmert, was mit mir passierte!« Eve schrie beinahe. Plötzlich wirkte es nicht mehr so, als würde sie den Hockeyschläger nur vorführen. »Lass meine Familie da raus, Shane! Du hast ja keinen blassen Schimmer. Keinen Schimmer!«

»Ich habe deinen Bruder kennengelernt«, schoss Shane zurück.

Sie wurden beide still. Gefährlich still. Claire räusperte sich. »Bruder?«

»Halt dich da raus, Claire«, sagte Eve. Sie klang absolut ruhig, überhaupt nicht wie sie selbst. »Du möchtest da wirklich nicht hineingeraten.«

»Jede Familie in Morganville hat ihre Leiche im Keller«, sagte Shane. »Ihre Knochen rasseln ziemlich laut bei euch zu Hause, Eve. Urteile also nicht über mich.«

»Mir kommt da gerade so eine Idee: Warum zum Henker verschwindest du nicht einfach aus meinem Zimmer, du Arschloch!«

Shane hob seine Brechstange auf, öffnete die Tür und ging hinaus. Er griff nach unten, zerrte den Biker auf die Füße und schob ihn in Richtung Treppe. Der Biker taumelte stöhnend vorwärts.

Claire linste durch den Türspalt, bis sie sicher war, dass sie weg waren, dann nickte sie Eve zu, die den Hockeyschläger fallen ließ und die Schranktür öffnete. »Oh Mist«, seufzte sie. »Ich hoffe, da drin ist nichts kaputtgegangen. Es ist nicht einfach, in dieser Stadt an Klamotten zu kommen. Michael?«

Claire schaute über ihre Schulter. Ein Haufen von rotem und schwarzem Netzstoff bewegte sich und Michaels Blondschopf tauchte darunter hervor. Er setzte sich auf, pflückte Goth-Klamotten von sich ab und hielt schweigend ein schwarzes Spitzenhöschen hoch. Stringtanga.

»Hey!«, kreischte Eve und riss es ihm aus der Hand. »Privat! Und... Schmutzwäsche!«

Michael lächelte nur. Für einen Typen, der vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden erstochen, zerstückelt und begraben worden war, sah er bemerkenswert aufgeräumt aus. »Ich frage lieber nicht, womit du das getragen hast«, sagte er. »Es macht mehr Spaß, sich das auszumalen.«

Eve schnaubte und half ihm auf. »Shane hat unseren neuen Lover nach unten begleitet. Was jetzt? Wir können schließlich nicht durch das Abflussrohr abhauen.«

»Nein, zumindest nicht in Netzstrümpfen«, stimmte er zu und verzog dabei keine Miene. »Zieh dich um. Je weniger Aufmerksamkeit dir diese Typen schenken, desto besser.«

Eve griff sich ein Paar Jeans vom Fußboden und ein Babydoll-T-Shirt, das ihr jemand geschenkt haben musste; es war wasserblau und hatte einen schillernden Regenbogen über der Brust. Es sah so was von überhaupt nicht nach Eve aus. Sie funkelte Michael an und trommelte mit einem Fuß.

»Was?«, fragte er.

»Ein Gentleman dreht sich um. So habe ich das zumindest gehört.«

Er drehte sich zur Ecke. Eve zog ihr Shirt aus Spiderweb-Spitze und das rote Top darunter aus und schlüpfte aus dem rotschwarzen Schottenrock. Die Netzstrümpfe hatten Strapse – total sexy. »Kein Wort«, warnte sie Claire und rollte sie herunter. Sie ließ Michael nicht aus den Augen. Ihre Wangen glühten rot.

Es dauerte dreißig Sekunden, bis sie angezogen war, dann raffte Eve die verstreuten Kleidungsstücke zusammen und stopfte sie in den Schrank, bevor sie sagte: »Okay, du kannst dich umdrehen.«

Das tat Michael auch und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Er lächelte leicht mit halb geschlossenen Augen.

»Was?«, fragte Eve. Sie war noch immer rot. »Sehe ich noch nicht bescheuert genug aus?«

»Du siehst großartig aus«, sagte er und kam herüber, um sie leicht auf die Lippen zu küssen. »Geh dir das Gesicht waschen.«

Eve ging ins Bad und machte die Tür zu. Claire sagte: »Du hast doch bestimmt so was wie einen Plan, oder? Wir haben nämlich keinen. Na ja, Shane denkt, wir sollten seinen Dad tun lassen, was immer er vorhat, und abhauen. Aber Eve hält das für keine so gute Idee...«

»Es wäre Selbstmord«, sagte Michael rundheraus. »Shanes Dad ist ein Vollidiot und das wird Shane noch umbringen. Und euch auch.«

»Aber du hast einen Plan.«

»Ja«, sagte Michael. »Ich habe einen Plan.«

Als Eve aus dem Bad zurückkam, legte Michael wieder den Finger auf die Lippen, schloss die Tür auf und ging mit ihnen den Flur entlang. Er fasste hinter den Bilderrahmen und drückte auf den versteckten Knopf; die Täfelung öffnete sich knarrend und gab eines der geheimen Zimmer im Glass House preis. Amelies Zimmer, wie sich Claire erinnerte. Das Zimmer, das die Vampirin am liebsten mochte, wahrscheinlich weil es keine Fenster hatte und man es erst wieder verlassen konnte, wenn man auf einen verborgenen Knopf drückte. Wie merkwürdig es doch war, wenn man in einem Haus lebte, das ein Vampir gebaut hatte, dem es im Grunde auch noch gehörte.

»Rein mit euch«, flüsterte Michael. »Eve. Dein Handy?«

Sie klopfte ihre Taschen ab, hob einen Finger und stürzte zurück in ihr Zimmer. Sie kam wieder und hielt es hoch. Michael bugsierte sie die schmale Stiege hinauf und die Tür fiel mit einem Fauchen hinter ihnen zu. Auch auf dieser Seite befand sich kein Knauf.

Das Zimmer oben war noch genauso, wie es gewesen war, als Claire es zum letzten Mal gesehen hatte – eleganter viktorianischer Prunk, leicht angestaubt. Dieser Raum hatte wie alle anderen Zimmer in diesem Haus eine Art Präsenz, etwas, das man nicht sehen konnte. Geister, wie sie annahm. Aber Michael schien der einzige Geist zu sein und er war einigermaßen normal.

Trotzdem war das Haus irgendwie am Leben und hielt auch Michael am Leben. Also vielleicht doch nicht so normal.

»Handy«, sagte Michael und streckte seine Hand aus, als er sich auf das Sofa setzte. Eve gab es ihm und runzelte die Stirn.

»Wen willst du anrufen?«, fragte sie. »Ghostbusters? Sieht nicht so aus, als hätten wir eine große Auswahl...«

Michael grinste sie an, drückte auf drei Tasten und aktivierte dann das Gespräch. Die Reaktion erfolgte fast sofort. »Hallo 911? Hier ist Michael Glass, 716 Lot Street. Ich habe Eindringlinge in meinem Haus. Nein, ich kenne sie nicht, aber es sind mindestens drei.«

Eves Kinnlade klappte überrascht nach unten und auch Claire blinzelte. Die Polizei anzurufen, erschien so... normal. Und doch so falsch.

»Vielleicht teilen Sie den Beamten mit, dass dieses Haus und seine Bewohner unter dem Schutz der Gründerin stehen«, sagte er. »Ich nehme an, das lässt sich überprüfen.«

Er lächelte und legte einen Moment später auf, gab das Handy zurück und sah sehr selbstzufrieden aus.

»Und Shane?«, fragte Claire. »Was ist mit Shane?«

Michaels Selbstsicherheit geriet ins Wanken. »Er trifft seine eigenen Entscheidungen«, sagte er. »Er würde wollen, dass ich mich zunächst um euch kümmere. Und die einzige Möglichkeit, das zu tun, ist, diese Typen aus meinem Haus zu entfernen. Ich kann euch nicht rund um die Uhr beschützen – tagsüber seid ihr verwundbar. Und ich schwebe hier nicht herum und sehe zu, wie ihr...«Er sprach nicht zu Ende, aber Claire – und auch Eve – wussten, worauf er hinauswollte. Beide nickten. »Wenn sie aus dem Haus sind, kann ich sie davon abhalten zurückzukommen. Es sei denn, Shane lässt sie herein. Oder eine von euch, auch wenn ich mir das nicht vorstellen kann.«

Mehr Kopfnicken, dieses Mal heftiger. Michael küsste Eve mit offensichtlicher Zuneigung auf die Stirn und strich Claire über das Haar. »Dann ist das die beste Lösung«, sagte er. »Zumindest wird es sie abschütteln.«

»Es tut mir leid«, sagte Eve kleinlaut. »Ich dachte nicht...ich bin so daran gewöhnt zu glauben, dass die Cops Feinde sind, und außerdem haben sie erst neulich versucht, uns umzubringen, nicht wahr?«

»Die Dinge ändern sich. Wir müssen uns anpassen.«

Und darin war Michael ja wohl ein Meister, dachte Claire. Er hatte sich von einem ernsthaften Musiker, der sich darauf konzentrierte, sich einen Namen zu machen, in einen Teilzeit-Geist verwandelt, der in seinem eigenen Haus festsaß und gezwungen war, Mitbewohner aufzunehmen, damit er die Rechnungen bezahlen konnte. Und nun versuchte er, ihnen das Leben zu retten, obwohl er selbst nicht entkommen konnte.

Michael war so... verantwortungsbewusst. Claire konnte sich nicht einmal vorstellen, wie jemand so werden konnte. Reife, nahm sie an, aber das kam ihr wie eine Straße vor, die durch den Nebel führte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie dorthin gelangen konnte. Aber sie glaubte, dass das keiner so richtig wusste und dass man einfach hindurchstolperte.

Sie warteten.

Nach etwa fünf Minuten heulten in der Ferne Sirenen auf – ganz leise, da der Raum gut schallisoliert war. Das bedeutete, dass die Sirenen nah waren. Vielleicht schon vor dem Haus. Claire erhob sich und drückte auf den Knopf, der in der löwenkopfförmigen Armlehne versteckt war, und die Sirenen wurden sofort lauter, als sich die Tür öffnete. Sie eilte die Treppe hinunter und spähte hinaus. Im Flur war niemand, aber von unten hörte sie ärgerliche Rufe und dann das Geräusch einer Tür, die aufgeschlagen wurde. Röhrende Motorräder, quietschende Reifen.

»Sie ziehen ab«, rief sie nach oben und schoss hinaus in den Flur und die Treppe hinunter, atemlos, auf der Suche nach Shane.

Shane stand mit dem Rücken zur Wand und sein Vater hatte ihn am Kragen gepackt. Draußen verstummten plötzlich die Polizeisirenen.

»Verräter«, sagte Shanes Dad. Er hielt ein Messer in der Hand. »Du bist ein Verräter. Für mich bist du gestorben.«

Claire kam schlitternd zum Stehen, fand ihre Stimme wieder und sagte: »Sir, Sie gehen jetzt besser, wenn Sie nicht mit den Vampiren sprechen wollen.«

Shanes Vater wandte ihr das Gesicht zu, das vor Wut verzerrt war. »Du kleine Schlampe«, sagte er. »Wiegelst meinen Sohn gegen mich auf.«

»Nein...« Shane ergriff die Hand seines Vaters und versuchte, sie aufzustemmen. »Nicht...«

Claire wich zurück. Einen Augenblick lang bewegten sich weder Shane noch sein Vater. Dann ließ Shanes Vater ihn los und rannte zur Küchentür. Shane fiel würgend auf die Knie und Claire ging zu ihm...

... gerade als ein Schloss splitterte, die Haustür krachend aufging und Polizisten hereinstürmten.

»Oh Mann«, flüsterte Shane, »das kotzt mich echt an. Wir hatten die Tür gerade erst repariert.«

Claire klammerte sich verstört an ihm fest, während die Polizisten im Haus ausschwärmten.