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Das ist gar nicht passiert, sagte sich Claire. Es ist nur ein böser Traum, nur wieder einmal ein böser Traum. Du wirst aufwachen und das alles wird sich wie Nebel auflösen...

Sie hatte ihre Augen fest zugepresst. Ihr Mund fühlte sich trocken an, ausgedörrt. Sie hatte sich an Shanes warmen, festen Körper gedrückt, der zusammengerollt auf der Couch des Glass House lag.

Sie hatte Angst.

Es ist nur ein böser Traum.

Aber als sie die Augen öffnete, lag ihr Freund Michael noch immer tot vor ihr auf dem Fußboden.

»Mach, dass die Mädchen das Maul halten, Shane, oder muss ich selbst dafür sorgen?«, blaffte Shanes Vater. Er schritt auf dem Holzboden hin und her, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Er schaute Michaels Leiche nicht an, die in einen dicken, staubigen Samtvorhang gehüllt war; doch sie war das Einzige, was Claires Augen sahen, als sie sie wieder öffnete. Sie war so groß wie das Universum und sie war kein Traum, der vergehen könnte. Shanes Dad war hier und er war unheimlich und Michael...

Michael war tot. Nur, dass Michael vorher auch schon tot war, oder? Vielmehr geisterhaft. Tagsüber tot... nachts lebendig...

Claire bemerkte erst, dass sie weinte, als sich Shanes Dad ihr zuwandte und sie mit rot geränderten Augen anstarrte. Solche Angst hatte sie noch nicht einmal gehabt, als sie in Vampiraugen geblickt hatte...naja, vielleicht doch ein- oder zweimal, denn Morganville war im Allgemeinen ein unheimlicher Ort und die Vampire waren ziemlich furchterregend.

Shanes Vater, Mr Collins, war ein groß gewachsener, langbeiniger Mann mit wilden, ergrauenden Locken, die bis auf den Kragen seiner Lederjacke fielen. Er hatte dunkle Augen. Irre Augen. Einen verwahrlosten Bart. Und eine riesige Narbe zog sich quer über sein Gesicht, runzlig und leberfarben.

Eindeutig unheimlich. Kein Vampir, nur ein Mensch, und das machte ihn auf eine ganz andere Art furchterregend.

Sie schniefte, wischte sich über die Augen und hörte auf zu weinen. Etwas in ihr sagte: Erst überleben, dann weinen. Sie hatte den Eindruck, dass dieselbe Stimme auch zu Shane gesprochen hatte, denn der schaute die am Boden liegende, samtbedeckte Leiche seines besten Freundes nicht an. Er beobachtete seinen Vater. Seine Augen waren ebenfalls rot, aber ohne Tränen.

Nun wurde ihr auch Shane unheimlich.

»Eve«, sagte Shane sanft und dann lauter: »Eve! Halt die Klappe!«

Ihre vierte Mitbewohnerin, Eve, war an der gegenüberliegenden Wand bei den Bücherregalen, so weit wie möglich von Michaels Leiche entfernt, zu einem hilflosen Häufchen Elend zusammengebrochen. Den Kopf zwischen den Knien, weinte sie heftig und verzweifelt. Als Shane ihren Namen rief, schaute sie auf; schwarze Schlieren aufgelöster Mascara zogen sich über ihr Gesicht, die Hälfte ihres Goth-Make-ups war verschwunden. Claire fiel auf, dass sie ihre Mary-Jane-Schuhe mit den Totenköpfen anhatte, bemerkte Claire. Sie wusste nicht, warum ihr das so wichtig erschien.

Eve sah völlig verloren aus und Claire rutschte von der Couch, um sich neben sie zu setzen. Sie schlangen die Arme umeinander. Eve roch nach Tränen und Schweiß und nach einer Art süßlichem Vanilleparfüm und sie schien mit dem Zittern gar nicht mehr aufhören zu können. Das war der Schock. Das sagten sie jedenfalls immer im Fernsehen. Eves Haut fühlte sich kalt an.

»Schhhh«, wisperte Claire ihr zu. »Michael ist okay. Alles wird gut.« Sie hatte keine Ahnung, warum sie das sagte – es war gelogen –, sie hatten alle gesehen, was passiert war... aber etwas sagte ihr, dass das jetzt die richtigen Worte waren. Und tatsächlich ließ Eves Schluchzen nach, hörte dann ganz auf und sie bedeckte ihr Gesicht mit zitternden Händen.

Shane hatte nichts mehr gesagt. Er musterte noch immer seinen Vater mit einem intensiven, stieren Blick, den die meisten Typen für Leute reservieren, die sie zu Hackfleisch verarbeiten wollen. Seinen Dad kratzte das offenbar herzlich wenig – falls er es überhaupt bemerkt hatte. Er ging immer noch auf und ab. Die Typen, die er mitgebracht hatte – wandelnde Muskelschwarten in schwarzer Motorradlederkluft, mit rasiertem Schädel, Tattoos und allem Drum und Dran – standen mit verschränkten Armen in den Ecken herum. Derjenige, der Michael umgebracht hatte, ließ gelangweilt sein Messer durch die Finger kreisen.

»Steh auf«, sagte Shanes Dad. Er hatte aufgehört, auf und ab zu gehen, und stand nun direkt vor seinem Sohn. »Lass die Scheiße, Shane, sonst... Ich sagte, steh auf!«

»Das hättest du nicht tun sollen«, sagte Shane und stand langsam auf, die Füße leicht voneinander entfernt. Bereit, Prügel einzustecken (oder welche auszuteilen), dachte Claire. »Michael war keine Gefahr für dich.«

»Er ist einer von ihnen. Ein Untoter.«

»Ich sagte, er war keine Gefahr!«

»Und ich sage, du willst bloß nicht zugeben, dass dein Freund vor deinen Augen zum totalen Freak geworden ist.« Shanes Dad holte aus und boxte seinem Sohn unbeholfen an die Schulter. Es sollte wohl eine Geste der Zuneigung sein, vermutete Claire. Shane wich dem Schlag aus. »Jedenfalls ist es jetzt eh zu spät. Du weißt, weshalb wir gekommen sind. Oder muss ich dich erst daran erinnern?«

Als Shane nicht antwortete, griff sein Vater in seine Lederjacke und zog einen Stapel Fotos heraus. Er warf sie Shane zu. Sie prallten an dessen Brust ab und instinktiv griff er danach, um sie aufzufangen. Aber einige entglitten ihm und fielen auf den Holzboden. Ein paar schlitterten zu Eve und Claire hinüber.

»Oh Gott«, flüsterte Eve.

Wie Claire annahm, waren es Aufnahmen von Shanes Familie: – Shane als süßer kleiner Junge, den Arm um ein noch kleineres Mädchen mit schwarzem, lockigem Haar gelegt. Hinter ihnen standen eine gut aussehende Frau und ein Mann, den sie kaum als Shanes Dad wiedererkannte. Noch ohne Narbe. Kurzes Haar. Er sah... normal aus. Lächelnd und glücklich.

Es gab auch noch andere Fotos. Eve starrte eines davon an und Claire wurde nicht schlau daraus. Etwas Schwarzes und Verrenktes und...

Shane beugte sich herunter, schnappte es sich und fummelte es zurück in den Stapel.

Sein Haus brannte ab. Er entkam. Seine Schwester hatte nicht so viel Glück.

Oh Gott, dieses verrenkte Etwas war Alyssa. Das war Shanes Schwester. Claires Augen füllten sich mit Tränen und sie schlug beide Hände vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken; nicht weil das Foto so schockierend war – das war es auf jeden Fall –, sondern weil Shanes eigener Vater ihn gezwungen hatte, es anzuschauen.

Das war grausam. Echt grausam. Und sie wusste genau, dass es nicht das erste Mal war.

»Deine Mutter und deine Schwester sind beide tot wegen dieser Stadt, wegen der Vampire. Das hast du doch wohl nicht vergessen, oder, Shane?«

»Natürlich habe ich es nicht vergessen!«, schrie Shane. Er versuchte, die Fotos zu einem ordentlichen Stapel zusammenzulegen, aber er schaute sie dabei nicht an. »Ich träume jede Nacht von ihnen, Dad. Jede Nacht!«

»Gut. Wegen dir hat das Ganze angefangen. Daran erinnerst du dich am besten auch. Du kannst jetzt nicht kneifen.«

»Ich kneife nicht!«

»Was soll dann die Scheiße? Die Dinge liegen jetzt anders, Dad.« Shanes Dad äffte ihn nach und Claire wollte auf ihn einschlagen, auch wenn er ungefähr viermal so groß war wie sie und wahrscheinlich eine ganze Ecke fieser. »Du hängst wieder mit deinen alten Freunden ab und das Nächste, was ich erfahre, ist, dass du die Nerven verlierst. Das da war Michael, stimmt’s? Der Glass-Junge?«

»Ja.« Shanes Kehlkopf arbeitete hart und Claire sah Tränen in seinen Augen glitzern. »Ja, das war Michael.«

»Und die zwei?«

»Niemand.«

»Die da sieht auch wie ein Vamp aus.« Shanes Vater fixierte Eve mit seinen rot geränderten Augen und machte einen Schritt in Richtung Eve und Claire, die am Boden kauerten.

»Du lässt sie in Ruhe!« Shane ließ die Fotos in einem Haufen auf die Couch fallen und sprang seinem Vater mit geballten Fäusten in den Weg. Sein Dad hob die Augenbrauen und bedachte Shane mit einem durch die Narbe verzerrten Grinsen. »Sie ist kein Vampir. Das ist Eve Rosser, Dad. Erinnerst du dich an Eve?«

»Oh«, sagte sein Vater und starrte Eve ein paar Sekunden lang an, bevor er die Schultern zuckte. »Ein Möchtegern-Vamp also, das fällt bei mir in die gleiche Sparte. Was ist mit dem Kind da?«

Er meinte Claire.

»Ich bin kein Kind mehr, Mr Collins«, sagte Claire und rappelte sich auf. Sie fühlte sich ungeschickt, als bestünde sie nur aus Schnüren und Drähten, die nicht richtig funktionierten. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass das Atmen wehtat. »Ich wohne hier. Mein Name ist Claire Danvers. Ich studiere an der Universität.«

»So, tust du das.« Er meinte es nicht als Frage. »Du siehst mir ein bisschen jung aus.«

»Begabtenförderungsprogramm, Sir. Ich bin sechzehn.«

»Süße Sechzehn.« Mr Collins lächelte wieder oder versuchte es zumindest – die Narbe zog die rechte Seite seines Mundes nach unten.

»Noch völlig ungeküsst, würde ich wetten.«

Sie fühlte, wie sie rot wurde. Sie konnte es nicht verhindern und auch nicht, dass ihr Blick zu Shane wanderte. Der presste mit zuckenden Muskeln die Kiefer zusammen. Er starrte ins Leere.

»Oho! So ist das also. Nimm dich in Acht bei den Minderjährigen, mein Junge.« Aber Shanes Dad sah seltsam zufrieden aus. »Ich heiße Frank Collins. Bist bestimmt schon draufgekommen, dass ich der Vater von dem da bin, was? Ich hab früher in Morganville gewohnt. Bin jetzt aber schon ein paar Jährchen weg.«

»Seit dem Brand«, sagte Claire und schluckte schwer. »Seit Alyssa starb. Und... Shanes Mom?« Shane hatte nämlich nie ein Wort über sie verloren.

»Molly starb später«, sagte Mr Collins. »Als wir schon weg waren. Wurde von den Vamps umgebracht.«

Eve machte zum ersten Mal den Mund auf – mit sanfter, zögernder Stimme. »Wie kommt es, dass Sie sich erinnern? An Morganville, nachdem Sie weggegangen sind? Ich dachte, keiner erinnert sich, sobald man die Stadt verlassen hat.«

»Molly erinnerte sich«, antwortete Mr Collins. »Stück für Stück. Sie konnte Lyssa nicht vergessen und das öffnete die Tür, Zentimeter für Zentimeter, bis alles wieder da war. Da wussten wir, was wir zu tun hatten. Wir mussten es zu Ende bringen. Müssen alles zu Ende bringen. Stimmt’s Junge?«

Shane nickte. Es sah weniger nach Zustimmung aus als vielmehr nach dem Wunsch, nicht wegen Widerspruchs eine gescheuert zu bekommen.

»Also bereiteten wir uns eine Zeit lang vor und schickten dann Shane zurück nach Morganville, um die Stadt für uns auszukundschaften, Ziele zu bestimmen, all das zu erledigen, wofür wir nicht die Zeit hätten, wenn wir hier erst einmal angerollt wären. Konnte aber nicht länger warten, als sein Hilferuf einging. Rückte sofort an.«

Shane sah aus, als wäre ihm übel. Er konnte weder Eve noch Claire noch Michaels Leiche anschauen. Noch seinen Vater. Er starrte einfach vor sich hin. Auf seinen Wangen waren Tränenspuren zu sehen, aber Claire hatte ihn nicht wirklich weinen sehen.

»Was haben Sie vor?«, fragte Claire schwach.

»Ich denke, zuerst werden wir das da begraben«, sagte Mr Collins und deutete mit einem Nicken zu Michaels verhülltem Leichnam. »Shane, am besten, du gehst aus dem Weg...«

»Nein! Nein, du rührst ihn nicht an! Ich werde das tun!«

Mr Collins warf ihm einen langen, finsteren Blick zu. »Du weißt, was wir tun müssen« – er warf Eve und Claire einen Blick zu – »um sicherzugehen, dass er nicht wieder zurückkommt.«

»Das ist doch Aberglaube, Dad. Du brauchst nicht...«

»So wird das bei uns gehandhabt. Wenn, dann richtig. Ich will schließlich nicht, dass dein Freund zu mir zurückkommt, wenn die Sonne das nächste Mal untergeht.«

»Wovon redet er überhaupt?«, flüsterte Claire Eve zu. Irgendwann in den letzten paar Minuten war Eve aufgestanden und hatte sich neben sie gestellt, ihre Hände umklammerten sich. Claires Finger fühlten sich kalt an, aber Eves waren wie Eis.

»Er treibt einen Pfahl in sein Herz«, sagte Eve wie betäubt. »Stimmt’s? Und steckt ihm Knoblauch in den Mund? Und...«

»Ihr braucht all diese Details nicht«, unterbrach Mr Collins sie. »Bringen wir es hinter uns. Und wenn wir damit fertig sind, zeichnet uns Shane eine Karte, mit der wir die hochkarätigen Vampire von Morganville aufstöbern.«

»Wissen Sie nicht schon, wo man die findet?«, fragte Claire. »Sie haben doch hier gewohnt.«

»So einfach ist das nicht, Kleine. Die Vamps trauen uns nicht. Sie ziehen herum. Sie haben alle Arten von Schutz, um Vergeltungsmaßnahmen zu entgehen. Aber mein Junge hat einen Weg gefunden. Stimmt’s Shane?«

»Stimmt«, sagte Shane. Seine Stimme klang absolut ausdruckslos. »Bringen wir es hinter uns.«

»Aber Shane, du kannst nicht...«

»Eve, halt die Klappe. Kapierst du das nicht? Es gibt nichts, was wir im Moment für Michael tun können. Oder?«

»Das kannst du nicht machen!«, brüllte Eve. »Er ist nicht tot!«

»Nun«, sagte Mr Collins, »ich glaube, genau das wird sein Problem sein, wenn wir einen Pfahl in ihn rammen und ihm den Kopf abschlagen.«

Eve kreischte in ihre geballten Fäuste und ging in die Knie. Claire versuchte, sie zu halten, aber Eve war stärker, als sie gedacht hatte. Shane wirbelte sofort herum und kauerte sich neben sie, wobei er sich schützend über sie beugte und seinen Vater und die beiden Motorradtypen anstarrte, die über Michaels Leiche wachten.

»Du bist ein mieser Scheißkerl«, sagte er rundheraus. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass Michael keine Gefahr darstellte und auch jetzt keine Gefahr ist. Du hast ihn doch schon getötet. Lass gut sein.«

Als Antwort nickte Shanes Vater seinen beiden Freunden – Komplizen? – zu, die daraufhin Michaels Körper packten und ihn hinausschleppten, um die Ecke zur Küchentür. Shane sprang wieder auf die Füße.

Sein Vater trat ihm in den Weg und schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht, so heftig, dass er taumelte. Shane hob die Handflächen – zur Verteidigung, nicht zum Angriff. Claires Herz sank.

»Nicht«, keuchte Shane. »Nicht, Dad. Bitte nicht.«

Sein Vater ließ die Faust sinken, die er zu einem zweiten Schlag erhoben hatte, schaute auf seinen Sohn hinunter und wandte sich ab. Shane stand nur da, zitternd und mit gesenkten Augen, bis sich die Schritte seines Vaters Richtung Küche entfernten.

Dann wirbelte Shane herum, machte einen großen Schritt nach vorne und packte Claire und Eve an den Armen. »Kommt schon!«, zischte er und bugsierte die beiden stolpernd zur Treppe. »Bewegt euch!«

»Aber...«, protestierte Claire. Sie schaute über ihre Schulter. Shanes Vater war zum Fenster gegangen, um hinauszuschauen. Vermutlich schaute er sich an, was immer sie im Hinterhof mit Michaels Körper machten. »Shane...«

»Nach oben mit euch«, sagte er. Er ließ ihnen keine andere Wahl; Shane war ein kräftiger Typ und dieses Mal setzte er seine Muskeln ein.

Als sich Claire wieder zusammengerissen hatte, waren sie oben im Flur und Shane stieß Eves Zimmertür auf. »Rein mit euch, Mädels. Schließt die Tür ab. Ich meine es ernst. Öffnet sie nur für mich.«

»Aber... Shane!«

Er wandte sich zu Claire um und nahm ihre beiden Schultern in seine großen Hände. Er beugte sich vor und drückte ihr einen warmen Kuss auf die Stirn. »Du kennst diese Typen nicht«, sagte er. »Ihr seid nicht sicher. Bleibt einfach hier, bis ich zurückkomme.«

Eve schaute ihn verstört an und murmelte: »Du musst sie aufhalten. Lass nicht zu, dass sie Michael etwas tun.«

Shanes und Claires Blicke trafen sich und sie sah trostlose Traurigkeit. »Ja«, sagte er. »Das ist wohl schon passiert. Nur – ich muss jetzt auf euch aufpassen. Michael würde das so wollen.«

Bevor Claire noch weiter protestieren konnte, schob er sie zurück über die Türschwelle und schlug die Tür zu. Er boxte ein Mal mit der Faust dagegen. »Schließt ab!«

Sie griff nach oben und schob den Riegel vor, dann drehte sie auch noch den altmodischen Schlüssel im Schloss. Sie blieb, wo sie war, weil sie irgendwie spürte, dass Shane nicht weggegangen war.

»Shane?« Claire presste sich gegen die Tür und lauschte. Sie glaubte, seinen unregelmäßigen Atem zu hören. »Shane, lass nicht zu, dass er dich wieder verletzt. Bitte.«

Sie hörte ein atemloses Geräusch, das mehr nach einem Schluchzen klang als nach einem Lachen. »Ja«, sagte Shane schwach. »Okay.«

Dann hörte sie, wie sich seine Schritte den Flur entlang Richtung Treppe entfernten.

Eve saß auf ihrem Bett und starrte Löcher in die Luft. Das Zimmer roch wie ein Kamin, wegen des Feuers, das nebenan in Claires Zimmer getobt hatte. Aber es gab lediglich ein paar Rauchschäden, nichts Ernstes. Außerdem ließ sich das bei diesem ganzen schwarzen Goth-Krempel sowieso nicht so genau sagen.

Claire setzte sich neben Eve aufs Bett. »Alles okay bei dir?«

»Nein«, sagte Eve. »Ich will aus dem Fenster schauen, aber das sollte ich nicht, oder? Ich sollte besser nicht sehen, was sie tun.«

»Nein«, stimmte Claire zu und schluckte schwer. »Wahrscheinlich keine so gute Idee.« Sie strich sanft über Eves Rücken und dachte darüber nach, was zu tun war... viel kam dabei nicht heraus. Es war ja nicht gerade so, dass es um sie herum vor Verbündeten wimmelte... Abgesehen von Shane hatten sie niemanden. Ihre zweite Wahl war ein Vampir.

Und wie unheimlich war das denn?

Sie konnte immer noch Amelie anrufen. Aber das war ungefähr so, als wollte man einer Ameisenplage mit Atomwaffen zu Leibe rücken. Amelie war so knallhart, dass die anderen knallharten Vampire ihr gegenüber kampflos aufgaben.

Sie hatte gesagt: Ich werde verbreiten, dass ihr nicht mehr behelligt werden dürft. Ihr dürft jedoch nicht weiter Unruhe stiften. Wenn ihr das doch tut und es eure eigene Schuld ist, dann werde ich gezwungen sein, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Und das wäre sehr...

»... ungünstig«, vollendete Claire flüsternd den Satz. Yeah. Ziemlich ungünstig. Und es konnte keine Rede davon sein, dass es sich hier nicht um Unruhestiften handelte – oder bald handeln würde, wenn Shanes Dad noch länger in der Stadt unterwegs war. Er war gekommen, um Vampire zu töten, und würde sich nicht von solchen Lappalien abhalten lassen wie etwa der Sicherheit und dem Leben seines Sohnes.

Nein, keine gute Idee, Amelie zu rufen.

Wen sonst? Oliver? Oliver stand nicht gerade weit oben auf Claires Beste-Freunde-fürs-Leben-Liste, auch wenn sie ihn am Anfang für ziemlich cool gehalten hatte, obwohl er ein alter Knacker war. Aber er hatte sie ausgespielt und rangierte auf Platz zwei der knallharten Vamps der Stadt. Er würde sie und diese ganze Situation gegen Amelie ausnutzen, wenn er konnte.

Also nein. Oliver auch nicht. Die Polizei war von den Vampiren gekauft und wurde von ihnen bezahlt. Ihre Lehrer am College... nein. Keiner von ihnen hatte bei ihr den Eindruck hinterlassen, willens zu sein, sich gegen Druck aufzulehnen.

Mom und Dad? Sie schauderte, wenn sie daran dachte, was passieren würde, wenn sie sie verzweifelt um Hilfe bat...Vor allem weil die Erinnerungen ihrer Eltern bereits durch das seltsame übersinnliche Feld Morganvilles verändert waren – das nahm Claire zumindest an. Denn sie hatten ganz vergessen, dass sie ihre Tochter eigentlich heimbeordert hatten, weil sie außerhalb des Campus wohnte. Mit Jungs. Mom und Dad stellten jetzt nicht unbedingt die Unterstützung dar, die sie brauchte, nicht gegen Shanes Dad und seine Biker.

Ihr Cousin Rex... nun, das war vielleicht eine Idee. Nein, Rex war vor drei Monaten ins Gefängnis gewandert. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter das erwähnt hatte.

Sieh den Tatsachen ins Auge, Danvers. Niemand ist da. Niemand, der zu deiner Rettung geritten kommt.

Jetzt galt es: sie, Eve und Shane gegen den Rest der Welt.

Die Chancen standen also etwa drei Milliarden zu eins.