5

 

Die Cops gingen wieder, Shane spielte einige Games und Claire lernte. Alles in allem war es ein ganz normaler Tag. Shane machte den Fernseher an, um zu sehen, ob sie irgendwelche Nachrichten über seinen Dad brachten, die einen Hinweis lieferten, was er im Schilde führte, aber Morganvilles lokaler Fernsehsender war sogar in seiner Berichterstattung langweilig, inhaltslos und ohne Schnickschnack.

Die Nacht brach herein, Michael nahm wieder seine menschliche Gestalt an. Sie aßen zu Abend.

Ein für die Stadt Morganville ganz normaler Tag im Glass House.

Erst um Mitternacht, als Claire unter den süßen Klängen von Michaels Gitarre, die sie aus der Ferne hörte, in den Schlaf sank, fragte sie sich, was sie am nächsten Morgen machen sollte. Sie konnte sich nicht einfach verstecken, egal wie Michael darüber dachte. Sie hatte schließlich ein Leben – oder etwas in der Art – und sie hatte in diesem Semester wirklich schon genug Unterricht verpasst. Entweder sie ging hin oder sie zog sich zurück, aber ein Rückzug würde alles nur noch schlimmer machen. Sie würde niemals ihr akademisches Leben in den Griff kriegen und auf eine der Top-Universitäten gehen können, von denen sie träumte.

Sie schlief ein, wobei sie an Vampire, Eckzähne, hübsche Mädchen mit fiesem Lächeln und Feuerzeuge dachte. An Brände und Schreie. An Shanes Mutter, die in der Badewanne schwamm.

An Shane, der weinend in einer Ecke kauerte.

Nicht gerade eine großartige Nacht. Sie wachte beim ersten Morgenlicht auf und fragte sich, ob Michael schon wieder weg war. Gähnend kämpfte sie sich aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Natürlich war außer ihr noch niemand wach. Die Dusche tat gut, und als sie sich die Haare getrocknet, ein schlichtes weißes Shirt, ihre Jeans und Turnschuhe angezogen und ihren Rucksack mit dem Nötigsten für den Tag vollgestopft hatte, fühlte sie sich bereit, es mit der Welt da draußen aufzunehmen.

Shane schlief unten auf der Couch. Sie schlich auf Zehenspitzen an ihm vorbei, aber eine knarrende Diele vereitelte die mühsame Turnerei. Er fuhr in die Höhe und starrte sie sekundenlang mit wilden, verständnislosen Augen an, bevor er blinzelte und seufzte. »Claire.« Er schwang seine Beine von der Couch, setzte sich auf und legte den Kopf auf seine Handflächen. »Autsch, Mann, erinnere mich daran, dass es zwei Stunden Schlaf einfach nicht bringen.«

»Ich glaube, du hast dich gerade schon selbst daran erinnert. Warum warst du so lange auf?«

»Geredet«, sagte er. »Michael musste reden.«

Oh. Jungskram. Dinge, die Michael nicht mit den Mädels besprechen wollte. Na schön, toll, das war nicht ihre Angelegenheit. Claire warf sich den Rucksack über die Schulter und ging in Richtung Flur.

»Wo willst du hin?«, fragte Shane, ohne den Kopf zu heben.

»Du weißt genau, wo ich hinwill.«

»Oh nein, das wirst du nicht!«

»Shane, ich gehe. Sorry, aber du kannst mir nicht vorschreiben, was ich tun soll.« Eigentlich konnte er schon, dachte sie. Er war älter, und wenn Michael nicht da war, war er sozusagen Eigentümer und Verwalter des Hauses. Aber... nein. Nicht einmal dann. Wenn sie anfing, das zuzulassen – oder wieder zuzulassen –, dann würde sie jegliche Unabhängigkeit, die sie erlangt hatte, verlieren. »Ich muss zum Unterricht. Sieh mal, mir wird nichts passieren. Amelies Schutz wirkt noch und der Campus ist neutrales Gelände, das weißt du doch. Wenn ich es nicht vermassle, wird alles gut laufen.«

»Für Monica ist es kein neutrales Gelände«, sagte er und sah auf. »Sie hat versucht, dich zu töten, Claire.«

Stimmt. Claire schluckte eine kleine Angstblase hinunter. »Mit Monica komme ich zurecht.« Das glaubte sie zwar nicht, aber sie konnte sie zumindest meiden. Abhauen konnte man immer noch.

Shane starrte sie einige lange Sekunden aus blutunterlaufenen, müden Augen an, dann schüttelte er den Kopf und ließ sich in die Sofakissen fallen, die Arme weit ausgebreitet. »Wie auch immer«, sagte er. »Ruf mich an, wenn du in Schwierigkeiten gerätst.«

Der Ton, in dem er das sagte, weckte in Claire das Bedürfnis, den Rucksack abzustellen, zu ihm auf das Sofa zu kriechen und sich eng an ihn zu schmiegen, aber sie drückte ihre Wirbelsäule durch und sagte: »Mach ich.« Dann marschierte sie zur Tür.

Zwei heftige, kalte Luftzüge fegten über sie hinweg. Michael, der ihr ein entschiedenes Nein übermittelte.

»Du kannst mich mal«, sagte sie, öffnete die brandneuen Schlösser, die Shane eingebaut hatte, und trat hinaus in die warme, texanische Morgensonne.

Der Englischunterricht war langweilig und sie hatte sowieso schon alles gelesen, was auf dem Lehrplan stand. Deshalb vertrieb sich Claire die Zeit damit, ihre Gedanken in ihrem Heft festzuhalten. Viele davon drehten sich um Shane und um Shanes Lippen und um Shanes Hände. Und sie verwünschte die Tatsache, dass sie noch keine achtzehn war und dass das sowieso eine blödsinnige Regelung war.

Nach dem Unterricht dachte sie noch immer darüber nach, wie ungerecht das alles doch war – als sie auf Schwierigkeiten stieß.

Im wahrsten Sinne des Wortes.

Claire bog mit gesenktem Kopf um die Ecke und prallte gegen jemand Großen, Soliden, der sie sofort an den Schultern packte und heftig nach hinten schubste. Claire wäre fast aus dem Gleichgewicht geraten, kam aber schlitternd und zittrig zum Stehen, indem sie sich an der Wand abstützte. »Hey!«, brüllte sie, mehr aus Schrecken als aus Wut, aber dann holte ihr Gehirn ihre Augen ein und sie dachte Oh Shit!.

Es war Monica.

Monica sah blendend aus, perfekt, von ihrem schimmernden glatten Haar bis hin zu ihrem makellosen Make-up und dem süßen, trendigen, durchsichtigen Top, das sie über einem Babydoll-T-Shirt trug. Monica hatte keinen Rucksack dabei. Sie hatte eine Designertasche und sie musterte Claire von oben nach unten, wobei sich ihre geglossten Lippen verächtlich verzogen. Natürlich war sie nicht allein. Monica ging nirgendwohin ohne ihre Eskorte und heute war sie wie immer von zwei Mädels flankiert, Jennifer und Gina. Auch ein Rudel muskulöser Jungs, die meisten von ihnen irgendeine Art Sportler, hing mit ihnen herum.

Alle waren größer als Claire.

»Pass doch auf, Freak!«, sagte Monica und funkelte sie an. Und dann lächelte sie. Dadurch wirkten ihre hübschen Augen nicht weniger bedrohlich. »Oh, du bist das. Du solltest besser aufpassen, wo du hintrittst.« Sie wandte sich halb zu ihrer kleinen Schar von Fans um. »Arme Claire. Sie hat da irgend so ein Syndrom. Fällt Treppen runter, haut sich den Kopf an, fackelt fast ihr Haus ab...«Sie fasste Claire wieder ins Auge, als Jennifer und Gina kicherten. »Ist doch so, oder? Hat es bei euch zu Hause nicht gebrannt?«

»Ein bisschen«, sagte Claire. Tief in ihrem Inneren zitterte sie, aber sie wusste, dass sie viel Schlimmeres riskierte, wenn sie jetzt klein beigab. »Aber ich hab gehört, das kommt öfter vor, wenn du irgendwo vorbeischaust.«

Ein verhaltenes Oooooh ging durch Monicas Clique, ein Das-hat-sie-jetzt-nicht-wirklich-gesagt, das zwischen Anerkennung und gespannter Erwartung schwankte. Monicas Blick wurde kalt. Ähm.

»Komm mir jetzt nicht so, Freak. Ich kann nichts dafür, dass du mit einem Haufen Losern und Idioten zusammenwohnst. Wahrscheinlich hat diese Goth-Schlampe überall Kerzen angezündet. Sie ist eine wandelnde Feuergefahr, um nicht zu sagen ein Modedesaster.«

Claire biss sich auf die Innenseite der Lippen und schluckte ihre Antwort hinunter, mit der sie klarstellen wollte, wer die eigentliche Schlampe in diesem Gespräch war. Sie zog nur die Augenbrauen in die Höhe – wobei sie sich bewusst war, dass sie nicht gezupft oder gar perfekt oder so was Ähnliches waren – und lächelte so, als wüsste sie etwas, das Monica nicht wusste.

»Da ist sie nicht die Einzige. Ist das Top da nicht von Wal-Mart? Die Trailer Park Collection?« Sie wandte sich zum Gehen um, als Monicas Freunde erneut oooooh machten, dieses Mal mit einem Anflug von Gelächter.

Monica packte sie am Rucksack und riss sie aus dem Gleichgewicht. »Sag Shane einen Gruß von mir«, sagte sie und atmete heiß gegen Claires Ohr. »Sag ihm, es ist mir egal, wer den Waffenstillstand ausgerufen hat. Ich werde ihn kriegen, ebenso wie dich, und es wird ihm noch leidtun, dass er je was mit mir angefangen hat.«

Claire riss sich aus Monicas Hochglanzmaniküregriff und sagte: »Selbst wenn du die letzte Frau der Welt wärst und es um die Erhaltung der Spezies ginge, würde er dich nicht anrühren.«

Sie dachte schon, Monica würde ihre Augen mit diesen perfekt manikürten Krallen auskratzen, deshalb zog sie sich rasch zurück. Komischerweise ließ Monica sie gehen. Sie lächelte sogar ein wenig, aber es war ein merkwürdiges Lächeln, das Claires Magen einen kleinen Sprung machen ließ, als sie sich noch einmal umschaute.

»Tschüss dann«, sagte Monica. »Freak.«

Der Chemieunterricht hatte schon angefangen, als sich Claire atemlos auf einen freien Stuhl sinken ließ und ihren Laptop und ihre Texte auspackte. Sie hielt Ausschau nach Monica, nach Gina, Jennifer oder irgendwelchen Chemikalien, die in ihre Richtung flogen – das war schon einmal passiert –, aber sie konnte Monica nirgends entdecken, nicht hier und auch nicht auf dem Weg zu ihrer nächsten und übernächsten Stunde. Am Nachmittag tat ihr vor lauter Anspannung alles weh. Aber ihr Herz schlug wieder in einigermaßen normaler Geschwindigkeit und sie konnte sich wieder auf das Zuhören und Verstehen konzentrieren. Nicht dass sie dem Unterricht nicht schon eine Nasenlänge voraus gewesen wäre. Sie hatte die Angewohnheit, das ganze Buch zu lesen, bevor das Semester überhaupt begann. Aber es war immer schön, wenn die Professoren noch den einen oder anderen Leckerbissen fallen ließen, der nicht im Buch oder den dazugehörigen Anmerkungen stand. Selbst die Unterrichtsstunden, die sie nicht so mochte, erschienen ihr relativ interessant. In Geschichte machten sie ein Quiz, das sie in fünf Minuten gelöst und abgeben hatte, deshalb verdrückte sie sich unter den anerkennend erhobenen Daumen des Professors gleich wieder.

Es war später Nachmittag, als sie auf den viereckigen Hof vor dem Naturwissenschaftsgebäude hinausging. Die Masse der Studenten hatte sich gelichtet, da viele Leute versucht hatten, frühzeitig aus dem Unterricht zu verschwinden, um zu dem viel wichtigeren Party-Stundenplan überzugehen. Texas Prairie University war nicht gerade Harvard; die meisten Studenten saßen hier zwei Jahre lang Pflichtkurse ab, um dann auf eine richtige Universität zu wechseln. Deshalb war vor allem »Party bis zum Erbrechen« angesagt.

Es war komisch, sich jetzt umzuschauen, wo sie so viel über Morganville erfahren hatte. Ihr war nie klar gewesen, was für eine geschlossene kleine Welt das College war. Sie würde darum wetten, dass neunzig Prozent der Studenten keine Ahnung hatten, was in dieser Stadt wirklich gespielt wurde, und sie würden es auch nie erfahren. Die TPU war wie ein Tierpark und die Studenten waren die Tiere.

Und ab und zu wurde die Herde ausgemerzt.

Claire schauderte, schaute sich nach Anzeichen dafür um, dass Monica irgendwo lauerte, und machte sich auf den Nachhauseweg. Es war nicht weit, aber sie musste über das schön gepflegte (wenn auch durch die Sonne vertrocknete) Gelände und hinaus in Morganvilles eigentliches »Geschäftsviertel« – das streng genommen gar keins war. Es war ein Nebenschauplatz für die Studenten mit all seinen Cafés (sie fragte sich, wen Oliver, der armselige Idiot, aufgegabelt hatte, um Eve hinter der Theke zu ersetzen) und Buchläden und trendigen Klamottenläden. Die Gebäude waren in den Schulfarben gehalten – Grün und Weiß – und gewöhnlich prangte ein ausgeblichenes Schild im Schaufenster, auf dem STUDENTENRABATT stand. Ein schmächtiger Typ in Schwarz lungerte an der Ecke herum und beobachtete sie aus glühenden dunklen Augen. Er kam ihr bekannt vor, aber sie konnte sich nicht denken, warum... jemand aus dem Unterricht vielleicht? Unheimlich jedenfalls. Sie fragte sich, warum er gerade sie anstarrte. Es waren noch andere Mädels auf der Straße. Hübschere.

Claire beschleunigte ihren Gang. Als sie sich umsah, war er nicht mehr da. War das jetzt besser oder noch viel unheimlicher?

Plötzlich erschien es ihr eine großartige Idee, noch schneller zu gehen.

Als Claire an dem Café Common Grounds vorbeikam, warf sie einen Blick hinein und sah jemanden, der ihr bekannt vorkam... aber was um alles in der Welt sollte Shanes Dad ausgerechnet hier suchen? Am helllichten Tag? Er fügte sich nicht gerade nahtlos in die College-Meute ein und die Cops der Stadt suchten ihn wie die Nadel im Heuhaufen, oder?

Aber da war er. Zugegebenermaßen hatte sie nur einen kurzen Blick erhascht, aber wie viele Frank-Collins-Doppelgänger mochte es in Morganville denn schon geben?

Ich sollte von hier verschwinden, dachte sie, aber dann wurde sie neugierig. Wenn sie herausfinden konnte, was er machte, konnte das Michael und Shane vielleicht helfen, ihren nächsten Schritt zu planen. Außerdem war es mitten am Nachmittag, helllichter Tag also, und es war ja nicht so, dass Mr Collins nicht wusste, wo er sie finden konnte, wenn er wollte. Er wusste schließlich, wo sie wohnte.

Daher öffnete Claire die Tür und schlüpfte hinein, wobei sie sich hinter ein paar bulligen Sportlern mit sperrigen, Laptop-beladenen Rucksäcken versteckte, die ein ernsthaftes Gespräch darüber führten, ob Baseballstatistiken, die während der Jahre, in denen Steroide verwendet wurden, gültig waren oder verworfen werden sollten. Ja, es war Shanes Dad, er saß an einer Ecke der Bar und nippte an seiner Tasse. Ganz eindeutig.

Was zum Henker...?

Sie hielt den Atem an, als Oliver gegenüber von ihm Platz nahm. Oliver war ein schlaksiger Typ, groß und ein wenig vornübergebeugt, mit langem, lockigem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war. Nicht gerade bedrohlich – es sei denn, man sah seine Vampirzähne und erkannte seine wahre Persönlichkeit hinter der Fassade, die er für die Öffentlichkeit zur Schau trug. Oliver war ein unheimlicher Typ und sie hatte absolut kein Bedürfnis, in eine Situation zu geraten, in der sie wieder mit ihm zu tun hatte.

Claire wandte sich zum Gehen um und prallte gegen eine breite Brust, die in ein weiches graues T-Shirt gekleidet war. Sie blickte auf und sah einen Typen, den sie nicht kannte – etwas älter als Shane vielleicht, aber nicht viel. Er hatte weiches rotes Haar, helle Haut und Sommersprossen. Große blaue Augen, die sie an strahlenden Himmel und tiefe Ozeane denken ließen. Er war einfach... hübsch. Und irgendwie friedlich.

Er war groß und kräftig und trug in dieser spätsommerlichen texanischen Hitze ausgerechnet eine alte, abgetragene braune Lederjacke. Keinen Rucksack, aber er sah trotzdem wie ein Student aus.

Er lächelte auf sie herunter. Sie erwartete, dass er ihr aus dem Weg ging, aber das tat er nicht. Stattdessen nahm er ihre Hand und sagte: »Hallo Claire. Ich bin Sam. Kann ich dich kurz sprechen?«

Seine Finger fühlten sich kühl an, wie Lehm. Und er war unter seinen Sommersprossen ein wenig zu bleich. Außerdem lag etwas Entrücktes und Trauriges in seinem Blick.

Oh Shit. Vampir!

Claire versuchte, sich loszureißen. Er hielt sie mühelos fest. Er könnte auch Knochen brechen, das spürte sie, aber er setzte gerade so viel Kraft ein, dass sie nicht freikam. »Nicht«, sagte Sam. »Ich muss dich sprechen. Bitte, ich verspreche, dir nichts zu tun. Setzen wir uns, okay?«

»Aber...« Claire schaute sich beunruhigt um. Die beiden Sportler gingen in Richtung Bar davon, um sich was zu trinken zu holen. Es war viel los im Café und überall waren Studenten, die plauderten, lachten, Games spielten, auf ihren Laptops tippten und mit Handys telefonierten. Und natürlich schenkte ihr niemand Beachtung. Sie könnte eine Szene machen und vermutlich von ihm loskommen, aber das würde Olivers Aufmerksamkeit erregen, ganz zu schweigen von Shanes Dad, und das wollte sie nicht. »Den Ball flach halten« war das Motto des Tages.

Claire schluckte und ließ zu, dass der Vampir sie zu einem abgeschiedenen Tisch beim Fenster zog. Er nahm weit weg von dem harten weißen Sonnenstrahl Platz, der über den Holzboden kroch. Die Markise draußen schirmte das meiste ab, aber ein kleiner Gefahrenbereich war noch übrig, wie sie annahm.

Sam hielt noch immer ihre Hand fest. Sie setzte sich und versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen, als sie sagte: »Würdest du mich jetzt bitte loslassen? Ich sitze doch schon.«

»Was? Oh. Natürlich.« Er ließ sie los und schenkte ihr ein Lächeln, das sogar ihr voreingenommener, misstrauischer (fast schon paranoider) Verstand als...süß interpretierte. »Sorry. Aber du bist so warm. Das fühlt sich gut an.«

Er klang sehnsüchtig. Sie konnte es sich nicht leisten, Mitleid zu haben, auf gar keinen Fall. Das ging einfach nicht. »Woher weißt du meinen Namen?«, fragte sie.

Seine blauen Augen verschmälerten sich, als er lächelte. »Machst du Witze? Jeder kennt dich. Dich, Shane, Eve, Michael. Die Gründerin hat eine Weisung erlassen. Zum ersten Mal in, oh, ich glaube, dreißig Jahren, vielleicht auch vierzig. Hochdramatisch das alles. Wir alle legen euch gegenüber unsere besten Manieren an den Tag, mach dir keine Sorgen.« Sein Blick schweifte umher, blieb an Oliver hängen und kehrte zu ihr zurück. »Na ja, abgesehen von Menschen, die sowieso nicht die besten Manieren haben.«

»Menschen«, sagte Claire und verschränkte die Arme. Sie hoffte, dass sie dadurch taff und stark aussah, aber eigentlich tat sie es nur, weil sie fror. »Ihr seid keine Menschen.«

Sam sah ein wenig verletzt aus. »Das ist hart, Claire. Natürlich sind wir Menschen. Wir sind nur... anders.«

»Nein, ihr tötet Menschen. Ihr seid... Parasiten!« Und sie hatte keine Ahnung, warum sie sich darüber mit einem völlig Fremden in eine Diskussion verstrickte. Dazu noch mit einem Vampir. Zumindest hatte er nicht mit ihr dieses Hypnoseding gefahren wie Brandon. Oh, und eigentlich sollte sie ihm gar nicht in die Augen schauen. Das hatte sie ganz vergessen. Sam schien irgendwie, na ja, normal. Und eigentlich hatte er wunderschöne Augen.

Sam dachte darüber nach, was sie gesagt hatte, als wäre es ein ernst zu nehmendes Argument. »Nahrungskette«, bot er an.

»Was?«

»Na ja, aus der Sicht von Gemüse sind Menschen Parasiten und Massenmörder.«

Das... ergab auf sonderbare Art fast schon einen Sinn. Fast. »Ich bin doch keine Möhre. Was willst du überhaupt von mir. Abgesehen vom Offensichtlichen, meine ich.« Sie deutete Vampirzähne an, die sich in einen Hals senken.

Er sah ein wenig beschämt aus. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Kannst du Eve etwas von mir geben?«

Sie konnte sich kaum etwas vorstellen, das Eve weniger wollte als ein Geschenk von einem Vampir. »Nein«, sagte sie. »War es das? Kann ich jetzt gehen?«

»Warte! Es ist nichts Schlimmes, ich schwöre. Ich fand nur, dass es mit ihr immer lustig war. Ich vermisse sie, wenn ich hierherkomme. Sie hat das Café hier aufgeheitert.« Er fasste in seine Tasche und holte ein schwarzes Schächtelchen heraus, das er ihr reichte. Claire runzelte die Stirn, spielte einen Moment damit herum und ließ den Deckel aufschnappen. Nicht dass sie das was anginge, aber...

Es war eine Halskette. Eine schöne silberne mit einem schimmernden, sargförmigen Medaillon. Claire hob die Augen zu Sam, ermahnte sich selbst, das nicht zu tun, und konzentrierte sich auf eine Stelle auf seiner Brust. (Er hatte eine schöne Brust. Eigentlich richtig durchtrainiert). »Was ist drin?«

»Mach es auf«, sagte er und zuckte die Achseln. »Ich versuche nicht, etwas zu verbergen. Ich sagte dir doch, dass es nichts Gefährliches ist.«

Sie ließ den Deckel des Sarges aufschnappen. Darin befand sich die winzige Statue eines Mädchens mit über der Brust gekreuzten Armen. Unheimlich, aber auch irgendwie cool. Claire musste zugeben, dass Eve wahrscheinlich begeistert wäre.

»Schau mal, ich bin kein Stalker«, sagte Sam. »Wir sind einfach nur... Freunde. Sie ist dank Brandon, diesem Mistkerl, nicht gerade ein Vampir-Fan. Das habe ich auch schon mitgekriegt. Ich versuche nicht, sie anzumachen oder so. Ich dachte einfach, das könnte ihr gefallen.«

Sam passte in keine von Claires vor Kurzem eingerichteten Schubladen, die so neu waren, dass sie noch nach mentalen Sägespänen rochen. VAMPIRE, BÖSE, stand auf einer. Auf der anderen stand VAMPIRE, ABGRUNDTIEF BÖSE. Das waren so ziemlich die einzigen beiden Vampir-Schubladen, die es bei ihr gab.

Sie wusste nicht, wo sie ihn einordnen sollte. Sam sah einfach wie ein Typ mit traurigen Augen und einem süßen Lächeln aus, der ein wenig Sonne vertragen konnte. Ein ganz normaler Typ, bei dem sie wahrscheinlich Herzklopfen bekommen hätte, wenn sie ihn im Unterricht kennengelernt hätte.

Aber auf diese Weise kam er wahrscheinlich an seine Opfer, ermahnte sie sich. Sie ließ das Medaillon zuschnappen, schloss das Kästchen und schob es über den Tisch zu ihm zurück. »Sorry«, sagte sie. »Ich nehme nichts. Wenn du möchtest, dass sie es bekommt, musst du es ihr schon selber geben. Aber ich glaube nicht, dass sie jemals wieder hierherkommt.«

Sam sah bestürzt aus, aber er nahm das Kästchen und steckte es in die Tasche seiner Lederjacke. »Okay«, sagte er. »Danke, dass du mir zugehört hast. Kann ich dich um noch etwas bitten? Nicht um einen Gefallen, ich brauche nur eine Information.«

Sie war sich nicht sicher, aber sie nickte.

»Es geht um Amelie.« Sam senkte seine Stimme und sein Blick war auf einmal wütend und intensiv. Doch kein ganz normaler Typ. Das war es also, was er wirklich wollte, nicht nur das Geschenk für Eve. Das hier war persönlich. »Wie ich gehört habe, hast du mit ihr gesprochen. Wie geht es ihr? Wie hat sie auf dich gewirkt?«

»Warum?«

Er starrte sie weiterhin an. »Sie spricht nicht mehr mit mir. Niemand von ihnen tut das. Bei den anderen ist mir das gleichgültig, aber... ich mache mir Sorgen um sie.«

Claire konnte nicht fassen, was sie da hörte. Ein Vampir wollte, dass sie über seine Vampir-Queen auspackte? Das war ja wohl oberseltsam. »Ähm...es schien ihr gut zu gehen...Sie spricht nicht mehr mit dir? Warum nicht?«

»Ich weiß nicht«, sagte er und lehnte sich zurück. »Sie hat seit fünfzig Jahren plus minus ein paar Monaten nicht mit mir gesprochen. Und ganz egal, wie oft ich nachfrage, ich darf sie nicht sehen. Sie nehmen auch keine Botschaften an.« Etwas Dunkles, Verletztes flackerte in diesen unschuldig blickenden Augen auf. »Sie schuf mich und ließ mich dann fallen. Seit Langem hat sie niemand mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Jetzt spricht sie auf einmal mit dir. Warum?«

Fünfzig Jahre. Sie sprach hier mit einem mindestens siebzigjährigen Mann, der eine Haut hatte, die feiner war als ihre. Mit einem umwerfenden, faltenlosen Gesicht und Augen, die...na ja... mehr gesehen hatten, als sie wahrscheinlich je sehen würde. Fünfzig Jahre? »Wie alt bist du?«, platzte sie heraus, denn das brachte sie jetzt wirklich zum Ausflippen.

»Zweiundsiebzig, ich bin der Jüngste«, sagte er.

»In der Stadt?«

»Auf der ganzen Welt.« Er fummelte an dem Zuckerbehälter auf dem Tisch herum. »Die Vampire sterben aus, weißt du? Deshalb sind wir hier in Morganville. Wir wurden da draußen in der Welt abgeschlachtet. Aber selbst hier hat Amelie in den letzten hundertfünfzig Jahren nur zwei neue Vampire gemacht.« Er blickte langsam auf und ihre Blicke trafen sich. Und dieses Mal fühlte sie etwas Ähnliches wie das, was Brandon mit ihr gemacht hatte, diesen Zwang, an Ort und Stelle zu bleiben. »Ich weiß genau, wie sich das für dich anfühlt, weil ich auch schon in dieser Situation war. Ich bin in Morganville geboren, ich wuchs unter Schutz auf. Ich weiß, wie mies es hier für euch ist. Ihr seid Sklaven. Ihr tragt zwar keine Ketten und bekommt keine Brandzeichen, aber dadurch seid ihr nicht weniger versklavt.«

Vor ihren Augen erschien plötzlich das Bild von Shanes Mutter, wie sie tot in der Badewanne lag. »Und wenn wir fliehen, bringt ihr uns um«, flüsterte sie. Sie hätte erwartet, dass er zusammenzucken oder sonst eine Reaktion darauf zeigen würde, aber Sams Gesichtsausdruck veränderte sich überhaupt nicht.

»Manchmal«, sagte er. »Aber Claire, es ist nicht so, dass wir das möchten. Wir versuchen zu überleben, das ist alles. Verstehst du?«

Claire konnte ihn förmlich sehen, wie er dort stand und auf Shanes verblutende Mutter hinuntersah. Er hätte denselben sanften, traurigen Blick in den Augen. Molly Collins wäre für ihn wie ein Haustier, das er einschläfern musste, mehr nicht, und es wäre nicht so wichtig für ihn, als dass er darüber nachts nicht schlafen könnte. Falls Vampire überhaupt schliefen. Was sie zu bezweifeln begann.

Sie stand so schnell auf, dass der Stuhl polternd gegen die Wand stieß. Sam lehnte sich überrascht zurück, als sie ihren Rucksack ergriff. »Oh, verstehe«, sagte Claire mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich kann keinem von euch über den Weg trauen. Du möchtest wissen, wo Amelie ist? Geh doch fragen! Wahrscheinlich hat sie einen guten Grund, nicht mehr mit dir zu sprechen!«

»Claire!«

Sie stieß mit ausgestrecktem Arm die Tür auf und trat in den Tag hinaus. Sie schaute zurück und sah Sam am Rand des Streifens Sonnenlicht im Common Grounds stehen. Er starrte ihr nach und machte dabei ein Gesicht, als hätte er gerade seinen besten – seinen einzigen – Freund verloren.

Verdammt, sie war nicht mit irgendeinem Vampir befreundet. Sie konnte nicht. Und sie würde es auch niemals sein.