3

 

Shane sprach nicht mit den Cops. Nicht über seinen Dad und nicht über irgendetwas anderes. Er saß nur da wie ein Klotz, mit gesenktem Blick, und weigerte sich, irgendwelche Fragen der menschlichen Streifenbeamten zu beantworten. Claire wusste nicht, was sie sagen sollte oder – was noch wichtiger war – was sie nicht sagen sollte, und stammelte eine Menge Antworten wie »Ich weiß nicht« und »Ich war in meinem Zimmer«. Eve hatte sich besser im Griff, als Claire sie je erlebt hatte. Sie sprang ein und sagte, dass sie gehört hätte, wie die Eindringlinge unten Sachen zerbrachen, und dass sie Claire in ihr Zimmer gezogen und die Tür sicherheitshalber verriegelt hätte. Das klang gut. Claire unterstützte das mit viel Kopfnicken.

»Ist das so?« Eine neue Stimme erklang hinter den Cops, die beiseitetraten, um zwei Fremde vorzulassen. Detectives, wie es aussah, in Sportjacken und Freizeithosen: eine Frau, bleich wie der Mond, mit harten, kalten Augen, und ein hochgewachsener Mann mit kurz geschorenem grauem Haar.

Sie trugen goldfarbene Dienstabzeichen an ihren Gürteln. Detectives also.

Vamp-Detectives.

Eve war sehr still geworden und hatte die Hände im Schoß gefaltet. Sie sah verhalten freundlich aus. »Ja, Ma’am«, sagte sie. »Genauso war es.«

»Und du hast natürlich keine Ahnung, wer diese mysteriösen Eindringlinge gewesen sein könnten«, sagte der männliche Vampir. Er sah Furcht einflößend aus. Kalt, hart und unheimlich. »Hast sie nie zuvor gesehen.«

»Wir haben sie überhaupt nicht gesehen, Sir.«

»Weil ihr – ihr wart in deinem Zimmer eingeschlossen.« Er lächelte und ließ seine Eckzähne aufblitzen. Eine eindeutige Warnung. »Ich rieche Angst. Ihr sondert ihren Geruch ab wie Schweiß. Köstlich.«

Claire unterdrückte ein Wimmern. Die menschlichen Cops waren einen Schritt zurückgetreten. Einer oder zwei von ihnen schauten unbehaglich drein, doch sie würden sich nicht einmischen, was auch passierte. Aber es würde nichts passieren, oder? Es gab ja Regeln und so. Und sie waren schließlich die Opfer!

Aber dann fiel ihr ein, dass sich Vamps im Allgemeinen eher keine Sorgen um irgendwelche Opfer machten.

»Lasst sie in Ruhe«, sagte Shane.

»Es spricht!«, sagte die Frau und lachte. Sie ging elegant und perfekt ausbalanciert in die Hocke und versuchte, Shane ins Gesicht zu starren. »Der fahrende Ritter, der die Hilflosen verteidigt. Entzückend.« Sie hatte einen europäischen Akzent, eine Art verwaschenes Deutsch. »Hast du kein Vertrauen zu uns, kleiner Ritter? Sind wir nicht deine Freunde?«

»Das kommt darauf an«, sagte Shane und schaute ihr direkt ins Gesicht. »Kommen Ihre Anweisungen von Oliver oder von der Gründerin? Denn wenn Sie uns auch nur anrühren – irgendeinen von uns –, dann müssen Sie das mit ihr aushandeln. Sie wissen schon, wen ich meine.«

Ihr amüsierter Gesichtsausdruck verschwand.

Ihr Partner gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem bellenden Lachen und einem Knurren anzusiedeln war. »Vorsicht, Gretchen, er beißt. Wie ein Welpe, der noch nicht ganz ausgewachsen ist. Du weißt nicht, was du da sagst, Junge. Das Zeichen der Gründerin ist auf diesem Haus, na schön, aber ich sehe keine Bänder an euren Handgelenken. Sei nicht so dumm, kühne Ansprüche zu erheben, die unhaltbar sind.«

»Du kannst mich mal, Dracula«, blaffte Shane.

Gretchen lachte. »Ein Wölfchen«, sagte sie. »Oh, er ist so süß, Hans. Darf ich ihn haben? Schließlich ist er doch ein Streuner.«

Einer der uniformierten Cops räusperte sich. »Ma’am? Tut mir leid, aber ich kann das nicht genehmigen. Sie können die Papiere einreichen, ich werde sehen, was sich machen lässt, aber...«

Gretchen gab einen enttäuschten Laut von sich und kam wieder auf die Beine. »Papiere. Pfffh. Früher hätten wir ihn wegen Anmaßung erlegt wie einen Hirsch.«

»Früher wären wir fast verhungert, Gretchen«, sagte Hans. »Erinnerst du dich noch? Die Winter in Bayern? Lass ihn weiterjaulen.« Er zuckte die Achseln und schenkte Eve und Claire ein Lächeln, das etwas weniger furchterregend war als zuvor. »Tut mir leid. Gretchen hat sich da ein wenig hinreißen lassen. Nun, ihr seid also sicher, dass keiner von euch die Eindringlinge kennt? Morganville ist keine besonders große Stadt. Das schweißt zusammen, vor allem die menschliche Gemeinde.«

»Fremde«, sagte Eve. »Es könnten Fremde gewesen sein. Vielleicht waren sie... auf der Durchreise.«

»Durchreise«, wiederholte Hans. »Nicht viele Leute reisen zufällig hier durch. Nicht einmal Biker-Gangs.« Er studierte abwechselnd ihre Gesichter, und als sein Blick auf Claire fiel, hatte sie das Gefühl, als würde er sie röntgen. Bestimmt konnte er nicht wirklich ihre Gedanken lesen, oder doch? Zuletzt richtete er seinen unbeweglichen dunklen Blick auf Shane. »Name?«

»Shane«, sagte er. »Shane Collins.«

»Du hast Morganville vor ein paar Jahren zusammen mit deiner Familie verlassen, richtig? Warum bist du zurückgekommen?«

»Mein Freund Michael brauchte einen Mitbewohner.« Shanes Blick flatterte und Claire bemerkte, dass er gerade einen Fehler gemacht hatte. Einen Riesenfehler.

»Michael Glass. Ah, ja, der mysteriöse Michael. Ist nie da, wenn man tagsüber vorbeischaut, nachts aber immer. Sag mir, ist Michael ein Vampir?«

»Wüssten Sie das dann nicht?«, schoss Shane zurück. »Wie ich vor Kurzem gehört habe, wurde in den letzten fünfzig Jahren oder noch länger niemand mehr zum Vampir gemacht.«

»Stimmt.« Hans nickte. »Trotzdem ist das merkwürdig, oder? Dass sich euer Freund so rar macht?«

Sie wussten es. Jedenfalls wussten sie etwas. Claire nahm an, dass Oliver keinen Grund hatte, Geheimnisse für sich zu behalten, insbesondere Michaels Geheimnisse. Er hatte wahrscheinlich schon bei all seinen Speichelleckern ausgeplaudert, dass Michael ein Geist war, ein Gefangener zwischen den Welten – kein richtiger Vampir, kein richtiger Mensch, kein richtiges Irgendwas.

»Es ist Nacht«, bemerkte Gretchen. »Wo ist er also? Euer Freund?«

Shane schluckte und die Welle der Trauer, die über ihn hinwegschwappte, war kaum zu übersehen. »Er ist ganz in der Nähe.«

»Was genau bedeutet ›ganz in der Nähe‹?«

Claire und Eve tauschten einen furchtsamen Blick aus. Shane dachte noch immer, Michael sei tot, im Hinterhof begraben... und Michael war sehr bestimmt gewesen in Bezug darauf, dass Shane nichts wissen durfte...

»Ich weiß nicht«, sagte Shane. Seine Ohrläppchen wurden rot.

Hans, der Detective, lächelte langsam. »Du weißt nicht gerade viel, mein Sohn. Und doch siehst du mir nicht völlig verblödet aus. Wie kann das gehen? Hattest du dich im Zimmer versteckt, mit den Mädchen?« Er betonte das letzte Wort so, dass seine Vampir-Partnerin lachte.

Shane stand auf. Etwas Irres lag in seinen Augen und Claire fühlte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte, denn das war übel, ziemlich übel, da Shane bestimmt etwas schrecklich Unvernünftiges tun würde. Und es gab keine Möglichkeit für sie, ihn aufzuhalten...

»Suchen Sie mich?«

Alle drehten sich um.

Michael stand oben an der Treppe. Er zog gerade ein schlichtes schwarzes T-Shirt zu seinen Jeans an und sah aus, als sei er soeben aus dem Bett gekrochen. Claire sah, dass seine Füße wie immer nackt waren.

Shane setzte sich hin. Schnell und hart. Michael ließ sich Zeit, die Treppe herunterzukommen, wobei er sicherstellte, dass sich alle auf ihn konzentrierten und nicht auf Shane, sodass Shane Zeit hatte, seine Gefühle in den Griff zu kriegen – und das waren, wie Claire sich denken konnte, eine ganze Menge, die er da in weniger als dreißig Sekunden verarbeiten musste. Erleichterung natürlich, was einen Tränenschimmer in seine Augen zauberte. Und dann wurde er, wie zu erwarten war, sauer, weil, na ja, weil er ein Typ war, weil er Shane war, der auf diese Art mit seiner Angst umging.

Als Michael die letzten Stufen bis zum Holzboden heruntergetapst und durch den Kreis von Polizisten zur Couch hinübergegangen war, hatte sich eigentlich nichts verändert, außer dass Shane nicht mehr kurz davor war, vor Wut zu explodieren.

»Hey«, sagte Michael zu ihm. Shane machte ihm Platz auf der Couch. Platz, wie ihn nur Typen machen, mit einer Menge Abstand dazwischen. »Was geht?«

Shane sah ihn an, als wäre er ein Verrückter, nicht nur ein Teilzeit-Beinahe-Toter. »Cops, Mann.«

»Ja, Mann, das seh ich. Wie kommt’s?«

»Soll das heißen, du hast das Ganze verpennt? Alter, du brauchst wirklich einen Arzt oder so. Vielleicht ist das eine Krankheit.«

»Hey, ich brauche den Schlaf. Lisa...du weißt schon.« Michael grinste. Das konnten sie gut, stellte Claire fest – so tun, als wäre alles normal, auch wenn an ihrer Situation überhaupt nichts normal war. »Was war denn los?«

»Dir ist nichts darüber bekannt, dass Eindringlinge in deinem Haus waren?«, fragte Gretchen enttäuscht, die den Austausch beobachtet hatte und dementsprechend ihre Chance auf ein Blutbad schwinden sah. »Die anderen haben das als sehr geräuschvoll beschrieben.«

»Der würde auch den Dritten Weltkrieg verschlafen«, sagte Shane. »Ich sagte doch schon, dass das eine Art Krankheit oder so sein muss.«

»Du sagtest aber, du wüsstest nicht, wo er ist, oder?«, sagte Hans. »War er nicht in seinem Zimmer?«

Shane zuckte die Achseln. »Ich bin schließlich nicht sein Hüter.«

»Ah«, sagte Gretchen und lächelte. »Genau da liegst du falsch, kleiner Ritter. In Morganville seid ihr alle eures Bruders Hüter und auch seine Verbrechen werdet ihr sühnen. Das solltest du wissen und daran solltest du immer denken.«

Hans sah inzwischen gelangweilt aus. »Sergeant«, sagte er und der ranghöchste uniformierte Cop trat vor. »Ich überlasse das jetzt Ihnen. Wenn Sie auf etwas Ungewöhnliches stoßen, lassen Sie es uns wissen.«

Und dann waren die Vamps einfach weg. Sie bewegten sich schnell und leise; sie schienen sich nicht gerne an ihre Umgebung anpassen zu wollen, dachte Claire und versuchte, nicht zu zittern. Sie sank neben Shane auf die Couch und wäre ihm fast auf den Schoß gekrochen. Eve drängte sich zwischen die beiden Jungs.

»Gut.« Der Sergeant schien nicht besonders glücklich darüber zu sein, dass ihm das Ganze wieder übertragen wurde, aber er sah auch resigniert aus. Es war bestimmt nicht einfach, Vamps als Boss zu haben, dachte Claire. Deren Einsatzbereitschaft hielt sich zumindest in Grenzen. »Glass, richtig? Beruf?«

»Musiker, Sir«, sagte Michael.

»Du trittst in der Stadt auf, oder?«

»Ich probe für ein paar bevorstehende Gigs.«

Der Cop nickte und blätterte in einem Buch mit schwarzem Ledereinband. Er fuhr mit seinem dicken Zeigefinger auf einer Liste herunter, runzelte die Stirn und sagte: »Du bist mit deinen Spenden im Hintertreffen, Glass. Über einen Monat.«

Michael warf Shane einen blitzschnellen Blick zu. »Tut mir leid, Sir. Ich gehe gleich morgen hin.«

»Du tust gut daran. Du weißt, was sonst passiert.« Der Cop fuhr weiter die Liste herunter. »Du. Collins. Immer noch arbeitslos?« Er starrte ihn an. Ziemlich lange. Shane zuckte die Schultern und schaute, wie Claire feststellte, so dümmlich wie möglich aus der Wäsche. »Streng dich mehr an.«

»Common Grounds«, sagte Eve von sich aus, noch bevor er zu ihr kam. »Eve Rosser, Sir, vielen Dank.« Sie zitterte am ganzen Körper, so nervös war sie, was seltsam war. Wenn sie allein gewesen wäre, wäre sie cool und gelassen gewesen. Sie hatte sowohl Michaels als auch Shanes Hand ergriffen. »Aber, ähm, ich denke darüber nach, den Arbeitsplatz zu wechseln.«

Der Cop sah inzwischen gelangweilt aus. »Ja, okay. Du, Kleine. Name?«

»Claire«, sagte sie schwach. »Ähm... Danvers. Ich bin Studentin.«

Er schaute auf und ließ seinen Blick auf ihr ruhen: »Solltest du nicht im Wohnheim sein?«

»Ich habe die Genehmigung, außerhalb des Campus zu wohnen.« Sie sagte nicht, wer ihr die erteilt hatte, da sie es in erster Linie selbst war.

Er schaute sie ein paar weitere Sekunden lang an, dann zuckte er die Achseln. »Du lebst außerhalb des Campus, also gelten für dich die Stadtregeln. Deine Freunde hier werden dir erklären, worum es geht. Pass auf, was du davon auf dem Campus weitertratschst. Wir haben genug Probleme, auch ohne Studenten, die Panik schieben. Und wir sind wirklich gut darin, Plaudertaschen ausfindig zu machen.«

Sie nickte.

Sie waren noch nicht fertig, aber die Diskussion war beendet; die Polizisten stöberten noch ein wenig herum, machten ein paar Fotos und verließen einige Minuten später das Haus, ohne noch ein weiteres Wort an sie zu richten.

Gut zehn Sekunden lang, nachdem die Polizei die Haustür zugemacht hatte – so gut dies eben möglich war mit einem kaputten Schloss –, herrschte Stille. Dann wandte sich Shane Michael zu und sagte: »Du blöder Scheißkerl.« Claire schluckte schwer, als sie die gespannte Wut in seiner Stimme vernahm.

»Sollen wir es draußen austragen?«, fragte Michael. Er klang neutral, fast ruhig. Seine Augen sagten etwas ganz anderes.

»Was, kannst du jetzt das Haus verlassen?«

»Nein, ich meinte ein anderes Zimmer, Shane.«

»Hey«, sagte Eve, »nicht...«

»Halt die Klappe, Eve!«, fuhr Shane sie an.

Michael erhob sich von der Couch, als hätte ihn jemand geschoben; er packte Shane am T-Shirt und zog ihn hoch. »Hör auf damit«, sagte er und schüttelte ihn ein Mal heftig. »Dein Vater ist ein Arschloch. Das ist keine Krankheit. Du kannst dich nicht anstecken.«

Shane packte ihn in einer Umarmung. Michael schwankte ein wenig, wegen des Aufpralls, aber er schloss die Augen und wartete einen Moment ab, dann klopfte er Shane auf den Rücken. Und natürlich klopfte Shane dann auch ihm auf den Rücken und beide machten einen großen Schritt zurück. Männlich. Claire rollte die Augen.

»Ich dachte, du wärst tot«, sagte Shane. Seine Augen sahen verdächtig feucht und glänzend aus. »Ich hab gesehen, wie du gestorben bist, Mann.«

»Ich sterbe die ganze Zeit. Das zieht irgendwie nicht mehr.« Michael schenkte ihm ein halbes Lächeln, das eher verärgert als belustigt aussah. »Ich hielt es für besser, deinen Dad in dem Glauben zu lassen, er hätte mich getötet, damit er vielleicht nicht ganz so hart mit euch Übrigen umspringt.« Sein Blick schweifte über die Blutergüsse auf Shanes Gesicht. »Brillanter Plan. Tut mir leid, Mann. Als ich erst mal tot war, konnte ich nicht mehr viel machen, bevor es wieder dunkel wurde.«

Das sagte er so nüchtern, dass Claire ein Schauder überlief. »Erinnerst du dich an...du weißt schon – was sie mit dir gemacht haben?«

Michael warf ihr einen Blick zu. »Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich.«

»Ach du Sch...« Shane ließ sich auf das Sofa fallen und legte seinen Kopf in die Hände. »Gott, Mann, tut mir leid. Das tut mir echt leid!«

»Du kannst nichts dafür.«

»Ich habe ihn angerufen.«

»Du hast ihn angerufen, weil es so aussah, als würde das für uns alle in einem Waterloo enden. Du konntest nicht wissen...«

»Ich kenne meinen Dad«, sagte Shane grimmig. »Michael, ich möchte, dass du weißt, ich war nicht...ich bin nicht hierhergekommen, um die Drecksarbeit für ihn zu erledigen. Nicht... nach der ersten Woche oder so nicht mehr.«

Michael antwortete ihm nicht. Vielleicht gab es darauf keine Antwort, dachte Claire. Sie rutschte näher an Shane heran und strich ihm über sein feines, zotteliges schulterlanges Haar. »Hey«, sagte sie. »Ist schon okay. Wir sind doch alle okay.«

»Nein, sind wir nicht.« Shanes Stimme klang gedämpft durch seine Hände. »Wir sind total am Arsch. Stimmt’s Mike?«

»So ziemlich«, seufzte Michael. »Yeah.«

***

»Die Cops werden sie finden«, sagte Eve leise zu Claire, als die beiden Mädchen in der Küche standen und Pasta kochten. Pasta war offensichtlich etwas Neues, das Eve ausprobieren wollte. Sie schaute stirnrunzelnd auf die Spaghettipackung und dann auf den Topf mit dem noch nicht sprudelnden Wasser. »Shanes Dad und seinen lustigen Haufen Arschlöcher, meine ich.«

»Ja«, stimmte Claire zu, nicht weil sie glaubte, dass sie sie finden, sondern, na ja, weil sie dachte, dass das jetzt die richtigen Worte waren.

»Soll ich die Soße aufwärmen?«

»Sollen wir? Ich meine, sie ist in einem Glas, oder? Können wir sie nicht einfach über die Pasta schütten?«

»Na ja, kann man schon, aber es schmeckt besser, wenn man sie aufwärmt.«

»Oh«, seufzte Eve. »Das ist ja kompliziert. Kein Wunder, ich bin keine Köchin.«

»Du machst doch Frühstück!«

»Ich mache zwei Sachen: Speck und Eier. Und manchmal Sandwichs. Ich hasse kochen. Kochen erinnert mich an meine Mutter.« Eve nahm noch einen Topf vom Regal und knallte ihn auf den klobigen Herd. »Hier.«

Claire kämpfte mit dem Deckel des Spaghettisoßenglases und konnte ihn schließlich mit einem Plopp lösen. »Glaubst du, sie werden weiterhin böse aufeinander sein?«, fragte sie.

»Michael und Shane?«

»Mmm-hmmm.« Die Soße platschte in den Topf, dick und glitschig und leicht übelkeiterregend. Claire betrachtete das zweite Glas und beschloss, dass mehr besser war, wenn zwei der vier Leute Jungs waren. Sie bekam es auf, schüttete den Inhalt ebenfalls in den Topf, entzündete die Flamme und ließ es köcheln.

»Wer weiß?« Eve zuckte mit den Schultern. »Jungs sind Idioten. Man sollte annehmen, Shane sagt einfach ›Oh, Mann, bin ich froh, dass du noch am Leben bist‹, aber nein. Entweder es läuft ›Schuld und Sühne‹ oder es ist Amateurnacht im Drama-Queen-Theater.« Sie seufzte frustriert. »Jungs. Wenn sie nicht so sexy wären, würde ich Lesbe werden.«

Claire versuchte, nicht zu lachen, schaffte es aber nicht, und ein wenig später lächelte Eve und begann ebenfalls zu glucksen. Das Wasser kochte und sie gaben die Pasta hinein.

»Ähm... Eve... kann ich dich etwas fragen?«

»Zu welchem Thema?« Eve schaute noch immer mit finsterem Blick in die Pasta, als hätte sie den Verdacht, dass die Spaghetti gleich etwas total Cleveres machen würden, zum Beispiel versuchen, aus dem Topf zu entwischen.

»Du und Michael.«

»Oh.« Eves Wangen wurden ein wenig pink. Dies und die Tatsache, dass sie Farben trug, die außerhalb der rot-schwarzen Goth-Farbpalette lagen, ließ sie jung und ziemlich süß aussehen. »Na ja, ich weiß nicht, ob es... Gott, er ist so...«

»Heiß?«, fragte Claire.

»Heiß«, gab Eve zu. »Atomwaffenheiß. Sonnenoberflächenmäßig heiß. Und...«

Sie hielt inne, die Röte in ihrem Gesicht wurde noch intensiver. Claire nahm einen Holzlöffel und stocherte in der Pasta, die allmählich weich wurde. »Und?«

»Und ich hatte vor, mich an ihn heranzumachen, bevor all das passierte. Deshalb hatte ich auch die Strapse an und so. Vorausschauend gedacht.«

»Oh, wow.«

»Yeah, peinlich. Hat er geguckt?«

»Als du dich umgezogen hast?«, fragte Claire. »Ich glaube nicht. Aber ich glaube, er hätte es gern getan.«

»Dann ist ja okay.« Eve blinzelte auf die Pasta hinunter, auf der sich dichter weißer Schaum gebildet hatte. »Muss das so sein?«

Claire hatte das zu Hause bei ihren Eltern noch nie gesehen. Allerdings gab es da nicht gerade oft Spaghetti.

»Ich weiß nicht.«

»Oh, Shit!« Der weiße Schaum wurde immer mehr, wie in einem dieser schlechten Science-Fiction-Filme. Der Schaum, der das Glass House fraß...Er quoll wie ein Pilz über den Rand und an den Seiten des Topfes herunter und beide Mädchen kreischten auf, als er auf die Flamme traf und anfing, zu zischen und zu knallen. Claire packte den Topf und schob ihn beiseite. Eve löschte die Flamme. »Also, Pasta macht Schaum, gut zu wissen. Zu heiß. Viel zu heiß.«

»Wer? Michael?«, fragte Claire und beide brachen in Gekicher aus.

Was nur noch schlimmer wurde, als Michael in die Küche kam, zum Kühlschrank ging und die letzten beiden Bierflaschen aus dem Geburtstags-Sixpack nahm. »Ladys?«, sagte er. »Habe ich etwas verpasst?«

»Pasta ist übergekocht.« Claire schluckte und versuchte dabei, nicht noch heftiger zu kichern. Michael sah sie einen Augenblick sonderbar an, zuckte die Schultern und ging wieder hinaus. »Glaubst du, er erzählt Shane gerade, dass wir irre sind?«

»Wahrscheinlich.« Eve schaffte es, sich in den Griff zu kriegen, und stellte die Pasta zurück auf die Flamme. »Ist das der Schock? Stehen wir gerade unter Schock?«

»Ich weiß nicht«, sagte Claire. »Lass mich überlegen – wir wurden im Haus eingesperrt, angegriffen und beinahe verbrannt. Michael wurde vor unseren Augen getötet, kam dann zurück und wir wurden von großen, schrecklichen Vampir-Cops verhört? Yeah, vielleicht ist es der Schock.«

Eve verschluckte sich an einem weiteren Prusten. »Vielleicht habe ich deshalb beschlossen zu kochen.«

Schweigend beobachteten sie, wie die Pasta blubberte. Die ganze Küche roch allmählich warm nach Gewürzen und Tomatensoße, ein tröstlicher und heimeliger Duft. Claire rührte in der Spaghettisoße, die jetzt auch lecker aussah, wie sie so vor sich hin köchelte.

Die Küchentür flog erneut auf. Dieses Mal war es Shane mit einem Bier in der Hand. »Wo brennt’s?«

»In deinem Gehirn. Na, ihr Süßen, vertragt ihr euch wieder? Friede, Freude, Eierkuchen?«, fragte Eve, während sie in der Pasta rührte.

Er funkelte sie an und wandte sich dann an Claire. »Was zum Henker macht sie da?«

»Spaghetti.« Eigentlich machte Claire das meiste, aber sie beschloss, das nicht zu erwähnen. »Ähm, wegen deinem Dad – glaubst du, sie kriegen ihn?«

»Nein«, sagte Shane und stieß Eve, die am Herd stand, mit einem Hüftschwung aus dem Weg, um nach den Spaghetti zu sehen. »Morganville bietet viele Verstecke. Das ist vor allem für die Vamps von Vorteil, aber für ihn auch. Er wird untertauchen. Ich habe ihm Karten geschickt. Er wird wissen, wohin er gehen muss.«

»Vielleicht geht er einfach weg?« Eve klang hoffnungsvoll.

Shane zog eine Nudel aus dem Gewirr im Topf und drückte sie mit dem Löffel gegen das Metall. Sie wurde sauber durchtrennt.

»Nein«, sagte Shane noch einmal. »Er wird bestimmt nicht weggehen. Er kann sonst nirgendwohin. Er sagte immer, wenn er einmal die Grenze nach Morganville überschritten hätte, würde er nicht wieder gehen, bevor er es nicht erledigt hätte.«

»Du meinst, bevor die ihn nicht erledigt hätten.« Eve verschränkte die Arme, nicht als ob sie wütend wäre, sondern als würde sie frieren. »Shane, wenn er sich auch nur an einem Vampir vergreift, sind wir tot. Das ist dir klar, oder?«

Er nahm die Bierflasche und trank, wodurch er eine Antwort vermied. Er löschte die Gasflamme unter den Spagetti, nahm den Topf mit zur Spüle und goss die Spaghetti mithilfe des Topfdeckels ab. Wie ein richtiger Chefkoch oder so ähnlich.

Das war, wie Claire zugeben musste, so ziemlich absolut heiß – die Art und Weise, wie er sich so selbstbewusst bewegte. Sie kochte gern, aber er war so richtig professionell. Tatsache war, dass sie heute viel aufmerksamer beobachtet hatte, was Shane tat, wie er sich bewegte, wie seine Kleidung saß bzw. in diesem Fall nicht saß, da Shane seine Jeans locker und schlabberig trug, sodass sie in ihren Fantasien herunterrutschte. Was sie erröten ließ.

Sie konzentrierte sich darauf, die Schalen vom Schrank herunterzuholen. Vier nicht zusammenpassende Schalen, von denen zwei angeschlagen waren. Sie stellte sie auf die Theke, als Shane mit den Spaghetti zurückkehrte und sie verteilte. Eve schöpfte die Soße darauf.

Es sah tatsächlich ziemlich lecker aus. Claire nahm zwei der Schalen und trug sie ins Wohnzimmer, wo Michael seine Gitarre stimmte, als sei nichts passiert, als wäre ihm kein Messer ins Herz gerammt worden, als wäre er nicht hinausgeschleppt worden und – oh Gott, sie wollte diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken.

Sie reichte ihm die Schale. Er legte seine Gitarre vorsichtig in den Koffer zurück. Irgendwie hatte das Instrument das ganze Chaos, das die letzten beiden Tage hier getobt hatte, unbeschadet überstanden. Er begann, Essen in sich hineinzuschaufeln, als Eve und Shane ebenfalls mit ihrem Abendessen hereinkamen. Eve hatte sich zwei gekühlte Wasserflaschen unter den Arm geklemmt. Sie warf eine davon Claire zu, während sie sich im Schneidersitz auf den Fußboden neben Michaels Knie setzte.

Shane ließ sich auf der Couch nieder und Claire nahm ebenfalls dort Platz. Ein paar Minuten lang sagte niemand etwas. Claire hatte eigentlich gar nicht bemerkt, dass sie hungrig war, aber in dem Moment, als die Soße ein Geschmacksfeuerwerk auf ihrer Zunge explodieren ließ, merkte sie, dass sie am Verhungern war. Sie konnte ihr Essen gar nicht schnell genug hinunterschlingen.

»In der Hölle schneit es heute«, sagte Shane. »Das ist ja tatsächlich essbar, Eve.«

Wieder verspürte Claire den Impuls, das Lob für sich einzufordern...und ließ es bleiben, da sie sonst hätte aufhören müssen, sich Pasta in den Mund zu stopfen.

»Claire«, sagte Eve. »Claire ist die Köchin, nicht ich. Ich habe nur, ihr wisst schon, die Aufsicht geführt.« Eine angenehme Welle aus Dankbarkeit und Überraschung durchflutete Claire.

»Siehst du? Ich hab’s doch gleich gewusst.«

Eve gab ihm einen Klaps und sog geräuschvoll einige Spaghetti ein.

Claire erreichte den Boden ihrer Schale als Erste – noch vor Michael und Shane – und lehnte sich mit einem Seufzer äußerster Zufriedenheit zurück. Nickerchen, dachte sie. Ich könnte jetzt ein Nickerchen vertragen.

»Leute«, sagte Michael. »Wir stecken noch immer in Schwierigkeiten. Das ist euch klar, oder?«

»Ja«, sagte Eve. »Aber jetzt stecken wir wenigstens satt in Schwierigkeiten.« Er ignorierte sie, abgesehen von einem winzigen, kurzen Lächeln, das um seinen Mund zuckte, dann fasste er Shane ins Auge. »Du musst mir alles erzählen«, sagte Michael. »Kein Bullshit, Mann. Jede kleinste Kleinigkeit aus der Zeit, in der du nicht in Morganville warst.«

Shane schien keinen Appetit mehr zu haben.

Was ganz und gar kein gutes Zeichen war.

***

Die Vampire hatten ihnen Geld angeboten. Barabfindung. Das war die Morganville-Version eines Versicherungsunternehmens, nur dass es keine Versicherungsleistung war, sondern Blutgeld für ein totes Kind.

Die Familie Collins – Mom, Dad und Shane – hatte alles zusammengepackt, was das Feuer verschont hatte, in dem Alyssa umgekommen war. Dann hatten sie die Stadt bei Nacht und Nebel verlassen. Flucht. Das hätte das Ende der Geschichte sein können, erklärte Shane. Es verließen ja immer mal wieder irgendwelche Leute die Stadt und selten gab es dabei Schwierigkeiten. Schließlich hatten sich auch Michaels Eltern abgesetzt. Aber... etwas lief anders mit Molly Collins.

»Zuerst war da diese Leere«, sagte Shane. Er hatte sein Bier ausgetrunken und rollte nun die Flasche zwischen den Handflächen. »Sie starrte Dinge an, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern. Dad hat nichts gemerkt. Er trank viel. Wir landeten in Odessa und Dad fand einen Job in einer Wiederaufbereitungsanlage. Er war nicht viel zu Hause.«

»Muss eine echte Verbesserung gewesen sein«, murmelte Eve.

»Hey, lass es mich hinter mich bringen, okay?«

»Sorry.«

Shane holte erneut tief Luft. »Mom...sie hörte nicht auf, über Alyssa zu reden. Ihr müsst wissen, wir konnten...ich konnte mich an nichts mehr erinnern, außer dass sie gestorben war. Es war alles irgendwie verschwommen, aber nicht so, dass man sich darüber Sorgen machte, wenn ihr versteht, was ich meine...?«

Claire war sich ziemlich sicher, dass das niemand verstand, aber sie erinnerte sich an ihr Gespräch mit ihren Eltern. Sie hatten Dinge vergessen, als ob sie ihnen nicht wirklich wichtig waren. Vielleicht konnte sie es also ein wenig nachfühlen.

»Ich fing auch an zu arbeiten. Mom...sie blieb einfach im Motel. Tat nichts, außer essen, schlafen und ab und zu ein Bad nehmen, wenn man sie lange genug anschrie. Wisst ihr, ich dachte mir, es seien Depressionen... aber es war mehr. Eines Tages packt sie mich völlig ohne Zusammenhang am Arm und sagt: ›Shane, erinnerst du dich an deine Schwester?‹ Und ich sag: ›Klar, doch, Mom, natürlich.‹ Und sie sagt etwas ganz Komisches: ›Erinnerst du dich an die Vampire?‹ Ich erinnerte mich nicht, aber ich spürte, dass irgendetwas in mir versuchte, sich zu erinnern. Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen und mir war übel. Und Mom...sie sprach einfach weiter darüber, dass irgendetwas mit uns nicht stimmte, dass etwas mit unseren Köpfen nicht in Ordnung war. Über die Vampire. Über Lyssa, die im Feuer umgekommen war.«

Er verfiel in Schweigen und rollte seine Bierflasche wie einen magischen Talisman hin und her. Niemand rührte sich.

»Und da erinnerte ich mich.«

Shanes Flüstern klang rau, irgendwie verletzlich und schwach. Michael sah ihn nicht an. Er schaute hinunter auf seine eigene Bierflasche und das Etikett, das er in Streifen abzog.

»Es war, als würde eine Mauer einstürzen, und dann flutete alles zurück. Ich meine, schlimm genug, wenn man das erleben muss und irgendwie damit fertig wird, aber wenn es auf diese Art zurückkommt...« Shane schauderte sichtlich. »Es war, als würde ich Lyss noch einmal sterben sehen.«

»Oh«, sagte Eve schwach. »Oh Gott.«

»Mom...«Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte nicht damit umgehen. Ich verließ sie. Ich musste weg, ich konnte nicht einfach...ich musste gehen. Versteht ihr? Also ging ich. Ich floh.« Ein hohles, rasselndes Lachen. »Rettete mein Leben.«

»Shane...« Michael räusperte sich. »Ich habe einen Fehler gemacht. Du brauchst nicht...«

»Halt die Klappe, Mann. Halt einfach die Klappe.« Shane setzte die Flasche an seinen Mund, um die letzten Tropfen zu trinken, und schluckte schwer. Claire wusste nicht, was jetzt kommen würde, aber sie konnte an Michaels Gesichtsausdruck erkennen, dass er es wusste, und ihr Magen zog sich zu einem Knoten zusammen. »Jedenfalls kam ich ein paar Stunden später zurück und sie lag in der Badewanne, schwamm dort einfach und das Wasser war rot, Rasierklingen auf dem Boden...«

»Hey...«Eve stand auf und blieb stehen, hing neben ihm in der Luft, streckte ihre Hand aus, um ihn zu berühren, und zog sie dann mit ruckartigen Bewegungen wieder zurück, ohne mit ihm in Kontakt zu kommen, als würde ihn ein Kraftfeld der Trauer schützen. »Es war nicht deine Schuld. Du sagtest doch, dass sie depressiv war.«

»Begreifst du das nicht?« Er starrte finster zu ihr auf, dann zu Michael. »Sie hat es nicht getan. Sie waren es. Ihr wisst, wie sie vorgehen: Sie kreisen ein. Sie töten. Sie vertuschen. Sie müssen gekommen sein, kurz nachdem ich gegangen bin. Ich weiß nicht...«

»Shane.«

»... ich weiß nicht, wie sie sie in die Badewanne gekriegt haben. Da waren keine blauen Flecken, aber die Schnitte waren...«

»Shane! Um Gottes willen!« Michael sah jetzt völlig entsetzt aus und Shane verstummte. Die beiden sahen sich einen Moment lang schweigend an und dann lehnte sich Michael sichtlich angespannt in seinen Stuhl zurück. »Shit, ich weiß nicht mal, was ich sagen soll.«

Shane schüttelte den Kopf und schaute weg. »Es gibt nichts zu sagen. Es ist, wie es ist. Ich konnte nicht... Shit. Lass es mich nur zu Ende bringen, okay?«

Als ob sie ihn davon abhalten könnten. Claire fror. Sie spürte, wie Shanes Körper neben ihr zitterte, und wenn ihr schon kalt war, wie musste er sich dann fühlen? Gefroren. Taub. Sie streckte ihre Hand aus, um ihn zu berühren und... hielt inne, genau wie Eve. Shane hatte in diesem Moment etwas an sich, das nicht berührt werden wollte.

»Jedenfalls kam schließlich mein Dad nach Hause. Die Cops sagten, es sei Selbstmord gewesen, aber als sie weg waren, erzählte ich es ihm. Er wollte es eigentlich gar nicht hören. Es war... grausam.« Claire konnte sich gar nicht ausmalen, wie grausam das gewesen war, wenn Shane das schon zugab. »Aber ich sorgte dafür, dass er sich erinnert.«

Eve saß auf dem Fußboden und hatte die Arme um die Knie vor ihrer Brust geschlungen. Sie sah ihn mit Augen an, die so groß waren wie die einer Anime-Figur. »Und?«

»Er betrank sich. So richtig.« Wieder lag Bitterkeit in Shanes Stimme und plötzlich schien die Bierflasche in seiner Hand an Bedeutung zu gewinnen und war nicht mehr nur etwas, womit er seine nervösen Hände beschäftigte. Er stellte sie auf dem Boden ab und wischte die Handflächen an seiner Jeans ab. »Er schloss sich diesen Bikern an und so weiter. Ich...ich war nicht unbedingt an einem guten Ort. Einiges habe ich vergessen. Ein paar Wochen später bekamen wir Besuch von diesen Typen in Anzügen. Keine Vampire, sondern Rechtsanwälte. Sie gaben uns Geld, eine ganze Menge. Versicherung. Aber wir beide wussten, von wem es kam, und der Punkt war, dass sie versuchten herauszufinden, was wir wussten und woran wir uns erinnerten. Ich war zu sehr auf Drogen, um zu wissen, was gespielt wurde, und Dad war betrunken, das rettete uns vermutlich das Leben. Sie beschlossen, dass wir keine Gefahr darstellten.« Er wischte sich die Stirn mit dem Handballen ab und lachte – ein bitteres, gebrochenes Geräusch wie Glas in einem Mixer.

Shane und Drogen. Claire sah, dass Michael das auch mitbekommen hatte. Sie fragte sich, ob er etwas dazu sagen würde, aber wahrscheinlich war jetzt nicht der beste Zeitpunkt zu sagen Hey, Mann, nimmst du immer noch was? oder etwas in der Art.

Er brauchte nicht zu fragen, wie sich herausstellte. Shane lieferte ohnehin die Antwort: »Ich machte Schluss mit den Drogen und Dad nüchterte aus. Dann machten wir uns an die Planung. Das Ding ist, obwohl wir uns an vieles erinnerten – an viel persönliches Zeug –, hatten wir keine Ahnung, wie wir die Vamps finden konnten oder wie die Stadt angelegt war. Wir wussten nicht einmal mehr, wen wir überhaupt suchten. Also wurde das mein Job. Zurückkommen, auskundschaften, herausfinden, wo sich die Vamps tagsüber verstecken. Bericht erstatten. Es war nicht vorgesehen, dass es so lange dauern würde oder dass ich mich in etwas verstricken würde.«

»In uns«, half Eve leise weiter. »Stimmt’s? Er wollte nicht, dass du Freunde hast.«

»Freunde sind tödlich in Morganville.«

»Nein.« Eve legte ihre blasse Hand auf sein Knie. »Shane, Süßer, Freunde sind das Einzige, was dich in Morganville am Leben hält.«