12

 

Auf Founder’s Square herrschte Chaos. Richard musste den Wagen fast einen Block weit entfernt parken, außerhalb des Gürtels aus Polizeiautos mit Blaulicht. Claire stieg aus und hatte eine weitere Hustenattacke, die so schlimm war, dass Eve ihr auf den Rücken klopfte und bei der finster aussehenden Polizistin, die an der Absperrung Wache stand, das Sprechen für sie übernahm. »Wir müssen Bürgermeister Morrell sprechen«, sagte sie.

»Der Bürgermeister ist beschäftigt«, sagte die Polizistin. »Ihr müsst warten.«

»Aber...«

Monica stieg aus dem hinteren Teil des Wagens und die Augen der Polizistin weiteten sich. »Miss Morrell?« Na ja, Claire musste zugeben, dass die rußverschmierte Vogelscheuche mit dem krausen Haar der normalen Monica nicht besonders ähnlich sah. Insgeheim hoffte sie, jemand würde Fotos machen. Und sie ins Internet stellen.

Als auch noch Richard ausstieg, schluckte die Polizistin. »Große Güte. Entschuldigen Sie bitte, Sir. Einen Moment. Ich werde jemanden holen.« Die Polizistin gab über Funk eine Nachricht durch. Während sie warteten, verteilte sie Wasserflaschen aus ihrem Streifenwagen. Claire nahm zwei Flaschen und beugte sich wieder zum Rücksitz des Einsatzwagens, wo Michael mit geschlossenen Augen saß. Er bewegte sich und schaute sie an, als sie seinen Namen sagte. Er sah nicht gut aus. Er war weiß wie Papier, an manchen Stellen verbrannt und offensichtlich war ihm auch übel. Sie reichte ihm das Wasser. »Ich weiß nicht, ob das hilft, aber...«

Michael nickte und stürzte einen Teil davon hinunter. Claire öffnete ihre eigene Flasche und nahm einen Schluck, wobei sie fast gestöhnt hätte vor Glückseligkeit. Noch niemals in ihrem ganzen Leben hatte etwas so gut geschmeckt wie dieses lauwarme, geschmacklose Wasser, das ihr den Rauch aus der Kehle wusch.

»Ich dachte...« Michael leckte sich die Lippen ab und ließ seinen Kopf nach hinten gegen den Sitz sinken. »Ich dachte, ich sei stärker. Ich habe Vampire auch schon tagsüber gesehen.«

»Ältere«, sagte Claire. »Ich glaube, es braucht seine Zeit. Amelie kann sogar am helllichten Tag herumlaufen, aber sie ist auch richtig alt. Du musst nur Geduld haben, Michael.«

»Geduld?« Er schloss die Augen. »Claire. Heute ist der erste Tag seit fast einem Jahr, an dem ich außerhalb meines Hauses bin, mein bester Freund steht noch immer unter Todesstrafe und du sagst mir, ich solle Geduld haben?«

Es hörte sich bescheuert an, wenn er es so formulierte. Sie trank schweigend Wasser, wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog eine Grimasse, als sie sich die rußige Schweinerei anschaute.

Alles wird gut, sagte sie zu sich selbst. Wir kriegen Shane. Wir gehen alle nach Hause. Alles wird wunderbar.

Selbst jetzt wusste sie, dass das nicht besonders wahrscheinlich war, aber sie brauchte etwas, woran sie sich festhalten konnte.

Sie mussten nur fünf Minuten warten, bis der Bürgermeister persönlich kam, begleitet von einer besorgten Eskorte und zwei uniformierten Sanitätern, die sich auf Monica und Richard stürzten und Claire und Eve ignorierten. »Hey, uns geht es gut, vielen Dank!«, sagte Eve sarkastisch. »Nur Fleischwunden. Hören Sie mal, wir haben unseren Teil der Abmachung erfüllt. Wir wollen Shane. Und zwar sofort.«

Der Bürgermeister, der gerade seine rußverschmierte Tochter umarmte, schaute kaum in ihre Richtung. »Ihr kommt zu spät«, sagte er.

Claires Knie gaben nach. Es traf sie wie ein Blitz – das Feuer, der Rauch, das Entsetzen. Shane. Oh nein, nein, das durfte nicht sein...

Der Bürgermeister musste wohl an ihrem Gesichtsausdruck bemerkt haben, was sie dachte und was auch Eve dachte, denn er sah einen Moment lang verärgert aus. »Nein, nicht das«, sagte er. »Richard sagte schon, dass ihr unterwegs seid. Ich sagte, ich würde warten. Ich breche mein Wort nicht.«

»Ja, klar«, murmelte Eve und tat so, als müsste sie husten. »Okay, warum kommen wir dann zu spät?«

»Er ist schon weg«, sagte der Bürgermeister. »Sein Vater hat kurz vor dem Morgengrauen einen Angriff gestartet, als unsere Aufmerksamkeit vom Brand in der Lagerhalle in Anspruch genommen wurde. Er befreite Shane und den anderen aus den Käfigen, tötete fünf meiner Leute. Sie waren auf dem Weg aus der Stadt, aber wir haben sie dieses Mal in die Ecke getrieben. Alles wird bald vorbei sein.«

»Aber... Shane!« Claire sah ihn flehend an. »Wir haben unseren Teil der Abmachung eingehalten. Bitte, können Sie ihn nicht einfach laufen lassen?«

Bürgermeister Morrell schaute sie finster an. »Unsere Abmachung bestand darin, dass ich ihn freilassen würde, wenn ihr meine Tochter zurückbringt. Nun, jetzt ist er frei. Wenn er sich bei dem Versuch umbringen lässt, seinen nichtsnutzigen Vater zu retten, geht mich das nichts an«, sagte der Bürgermeister. Er legte den Arm um Monica und Richard. »Los, kommt, Kinder. Erzählt mir mal, was passiert ist.«

»Ich werde Ihnen jetzt mal erzählen, was passiert ist«, sagte Eve verärgert. »Wir haben den beiden das Leben gerettet. Sie dürfen sich übrigens jederzeit bei uns dafür bedanken.«

Dem Blick nach, den er Eve zuwarf, fand der Bürgermeister das überhaupt nicht witzig. »Wenn ihr sie nicht in Gefahr gebracht hättet, wäre das alles erst gar nicht passiert«, sagte er. »Ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ich euch nicht ins Gefängnis werfe, weil ihr einen Vampirjäger unterstützt und aufgehetzt habt. Wenn ich euch einen Rat geben darf: Geht einfach nach Hause.« Er küsste seine Tochter auf ihr versifftes Haar. »Los, komm, Prinzessin.«

»Dad«, sagte Richard. »Sie hat recht. Sie hat uns wirklich das Leben gerettet.«

Der Bürgermeister sah jetzt mehr als nur verärgert aus über diese kleine Rebellion in den eigenen Rängen. »Mein Sohn, ich verstehe, dass du vielleicht ein wenig Dankbarkeit diesen Mädchen gegenüber empfindest, aber...«

»Sagen Sie uns einfach, wo Shane ist«, sagte Claire. »Bitte. Das ist alles, was wir wollen.«

Vater und Sohn Morrell wechselten lange Blicke und dann sagte Richard: »Kennt ihr das alte Krankenhaus? Das in der Grand Street?«

Eve nickte. »Das Our-Lady-Krankenhaus? Ich dachte, sie hätten den Kasten abgerissen.«

»Planmäßig soll es Ende dieser Woche gesprengt werden«, sagte Richard. »Ich bringe euch hin.«

Claire weinte fast vor Erleichterung.

Nicht dass das Problem damit gelöst war – das war es nicht – aber wenigstens konnten sie den nächsten Schritt unternehmen.

»Richard«, sagte der Bürgermeister. »Du schuldest denen gar nichts.«

»Doch, das tue ich.« Richard schaute Eve an, dann Claire. »Und ich werde es nie vergessen.«

Eve grinste. »Haach, keine Angst, Officer. Dafür werden wir schon sorgen.«

Vampire waren unterwegs, obwohl helllichter Tag war. Claire ahnte, dass das ungewöhnlich war – wie ungewöhnlich, merkte sie erst, als Richard Morrell, der den Einsatzwagen auf Schritttempo herunterbremste, einen leisen Pfiff ausstieß. »Oliver hat die Truppen ausgesandt«, sagte er. »Nicht gut für euren Freund. Oder seinen Vater.«

Auf den Straßen um den massiven Kasten des alten Krankenhauses herum reihten sich die Autos... große Autos, dunkel getönte Fensterscheiben. Auch viele Polizeiautos, aber es waren diese anderen Wagen, die... bedrohlich aussahen.

Wie die Leute, die in den Schatten um das Gebäude herumstanden. Einige von ihnen trugen schwere Mäntel und Hüte, trotz der drückenden Hitze. Mindestens hundert hatten sich versammelt und viele von ihnen waren Vampire.

Und genau in der Mitte, dort, wo die Grenze zwischen Sonne und Schatten verlief, stand Oliver. Er trug einen langen schwarzen Ledermantel und einen Lederhut mit breiter Krempe. Seine Hände steckten in Handschuhen.

»Oh Mann. Ich glaube, ihr könnt hier nichts ausrichten, Leute«, sagte Richard. Oliver wandte ihnen den Kopf zu und trat ins Sonnenlicht hinaus. Der Vampir näherte sich ihnen langsam und gemächlich. »Vielleicht sollte ich euch nach Hause bringen.«

Noch bevor sie Nein zu Richard gesagt hatten, hatte Oliver die freie Fläche überquert und die hintere Tür des Streifenwagens aufgerissen. »Vielleicht solltet ihr stattdessen zu uns stoßen«, sagte Oliver und entblößte die Zähne zu einem Lächeln.

»Ah, Michael. Endlich doch noch aus dem Haus gekommen, wie ich sehe. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Zu deiner eigenen Sicherheit würde ich dir raten, strikt im Schatten zu bleiben heute Morgen. Nicht dass du die Kraft hättest, etwas anderes zu tun...«

Er packte Claire, die am nächsten an der Tür saß, an der Gurgel.

Claire hörte Michael und Eve schreien und fühlte, dass Eve versuchte, sie festzuhalten. Aber Eve hatte keine Chance, Olivers Kraft Widerstand zu leisten. Er zog Claire einfach wie eine Stoffpuppe aus dem Auto, wobei sich seine Finger grausam eng um ihre Kehle schlossen, und zerrte sie hinaus auf die Straße.

»Shane! Shane Collins!«, rief er. »Ich habe etwas für dich! Ich möchte, dass du jetzt sehr genau hinschaust!«

Claire umklammerte mit beiden Händen seine Hand und versuchte, sie aufzuhebeln, aber es half nichts. Er wusste genau, wie sehr er zudrücken konnte, ohne ihren Kehlkopf zu zerquetschen oder ihr die Luft ganz abzustellen. Sie unterdrückte eine weitere panische Hustenattacke und dachte darüber nach, was sie tun konnte. Irgendwas.

»Ich werde dieses Mädchen töten«, fuhr Oliver fort, »es sei denn, sie schwört mir vor all diesen Zeugen die Treue und tritt in meinen Dienst. Shane, du kannst sie retten, indem du denselben Deal machst. Du hast zwei Minuten Zeit, dich zu entscheiden.«

***

»Warum?«, flüsterte Claire. Es kam kaum hörbar, wie das Quietschen einer Maus, heraus. Oliver, der auf die verfallene Fassade des alten Krankenhauses mit den vom Wetter gezeichneten weinenden Engeln und den barocken Steinverzierungen starrte, wandte ihr kurz seine Aufmerksamkeit zu. Der Morgen war warm und wolkenlos, die Sonne stand wie eine heiße Kupfermünze am hellblauen Himmel. Es schien falsch, dass ein Vampir hier draußen war.

Er schwitzte nicht einmal.

»Warum was, Claire? Das ist eine unpräzise Frage. Du kannst das besser.«

Sie rang nach Luft, wobei sie sich hilflos in seine Finger verkrallte.

»Warum... Brandon umbringen?«

Sein Lächeln verschwand, er sah sie misstrauisch an. »Klug«, sagte er. »Klugheit ist aber vielleicht nicht immer gut für dich. Die Frage, die du stellen solltest, lautet eigentlich: Warum will ich deine Dienste?«

»Also gut«, keuchte sie. »Warum?«

»Weil Amelie Verwendung für dich hat«, sagte er. »Und ich bin es nicht gewohnt, Amelie zu geben, was sie will. Es hat nichts mit dir zu tun, sondern mit der Geschichte. Aber leider mache ich es zu deinem Problem. Kopf hoch. Wenn dein Freund mir an deiner Stelle Treue schwört, werde ich ihn am Leben lassen. Du darfst ihn von Zeit zu Zeit auch sehen. Liebende, die unter einem schlechten Stern stehen, sind ja so unterhaltsam.«

Amelie schien im Moment nicht gerade viel Verwendung für sie zu haben, überlegte Claire, aber sie wollte keinen Streit anfangen. Konnte sie auch nicht. Sie konnte eigentlich gar nichts tun, außer auf Zehenspitzen stehen, um jeden Atemzug ringen und hoffen, dass sie irgendwie einen Weg finden würde, aus dieser bescheuerten Situation herauszukommen, in die sie sich selbst gebracht hatte. Wieder einmal.

»Eine Minute!«, rief Oliver. Im Gebäude bewegte sich etwas, Schatten waren in den Fenstern zu sehen. »Nun. Mir scheint, wir haben es hier mit einer innerfamiliären Störung zu tun.«

Was er damit sagen wollte, war, dass Shanes Dad seinen Sohn windelweich prügelte. Claire bemühte sich zu sehen, was vor sich ging, aber Olivers Griff war zu fest. Sie konnte nur aus den Augenwinkeln etwas sehen, und was sie sah, war ganz und gar nicht gut. Shane war im Eingang des Krankenhauses und versuchte, sich loszumachen, aber jemand zerrte ihn zurück.

»Dreißig Sekunden!«, verkündete Oliver. »Na, das dauert ja bis zur letzten Minute. Ich bin ein wenig überrascht, Claire. Der Junge kämpft wirklich darum, dich zu retten. Das sollte dich zutiefst beeindrucken.«

»Du lässt besser die Hände von ihr, Oliver«, sagte eine Stimme hinter ihnen, die vom unmissverständlichen Geräusch eines Gewehrs, das gerade geladen wurde, begleitet wurde. »Im Ernst. Ich bin nicht in Stimmung, ich bin müde und möchte einfach nur nach Hause.«

»Richard«, sagte Oliver und wandte sich um, um ihn zu betrachten. »Du siehst ja aus wie die Hölle, mein Freund. Glaubst du nicht, du solltest jetzt besser bei deiner Familie sein, anstatt dir um diese... Außenseiter Gedanken zu machen?«

Richard trat vor und hielt Oliver das Gewehr unter das Kinn. »Yeah, das sollte ich. Aber ich schulde ihnen was. Ich sagte...«

Oliver holte aus. Richard flog in hohem Bogen auf das Pflaster, wo er schlaff liegen blieb, das Gewehr fiel klappernd zu Boden.

»Ich habe es schon beim ersten Mal gehört«, sagte Oliver sanft. »Du findest wirklich an den seltsamsten Orten neue Freunde, Claire. Du musst mir später unbedingt alles erzählen.« Er hob die Stimme. »Die Zeit ist abgelaufen! Claire Danvers, schwörst du, dass du dein Leben, dein Blut und deine Arbeit in meine Dienste stellst, jetzt und dein ganzes Leben lang, auf dass ich dir in allen Dingen befehle? Sag Ja, Schätzchen, wenn nicht, schließe ich einfach meine Hand. Das ist eine sehr unschöne Art zu gehen. Es wird Minuten dauern, bis du erstickt bist, und Shane muss sich das alles mit ansehen.«

Claire konnte nicht glauben, dass sie je angenommen hatte, Oliver sei freundlich oder vernünftig oder menschlich. Sie starrte in seine eiskalten Augen und sah, wie ein dünnes blutrotes Rinnsal Schweiß über sein Gesicht unter dem Hut lief.

Ihr fiel auf, dass sie nicht mehr auf Zehenspitzen stand. Ihre Füße standen flach auf der Erde.

Er wird schwächer!

Nicht dass ihr das etwas nützen würde.

»Warte.« Shanes Stimme. Claire atmete in einem flachen Keuchen und sah, wie er über die freie Fläche vom Krankenhausgebäude auf sie zuhinkte. Er blutete im Gesicht und etwas stimmte nicht mit seinem Knöchel, aber er hielt nicht an. »Du brauchst einen Diener? Wie wär’s mit mir?«

»Ah, der Held tritt auf den Plan.« Oliver wandte sich ihm zu, wodurch Claire Shane besser sehen konnte. Sie sah die Angst in seinen Augen und fast wäre ihr wegen ihm das Herz gebrochen. Er hatte so viel durchgemacht und das hier hatte er nicht verdient. Ganz bestimmt nicht. »Ich dachte mir, dass du das sagen würdest. Wie wäre es denn, wenn ich euch beide nähme? Ich bin ein großzügiger, fairer Boss. Da könnt ihr Eve fragen.«

»Glaub kein Wort von dem, was er sagt. Er arbeitet mit deinem Dad zusammen«, keuchte Claire. »Er arbeitet schon die ganze Zeit mit ihm zusammen. Er arrangierte den Mord an Brandon. Shane...«

»Das weiß ich alles«, sagte Shane. »Politik, nicht wahr, Oliver? Psychospielchen, zwischen dir und Amelie. Wir sind nur Bauern in einem Schachspiel für euch. Nun, sie ist kein Bauer. Lass sie gehen.«

»Also gut, mein junger Ritter«, sagte Oliver und lächelte. »Wenn du darauf bestehst.«

Er würde sie umbringen, ganz bestimmt...

Shane hatte etwas in der Hand und er warf es jetzt direkt in Olivers Augen.

Es sah aus wie Wasser, aber es musste wie Säure gebrannt haben. Oliver ließ Claire los und brüllte. Er torkelte nach hinten, riss sich den Hut vom Kopf und beugte sich vor, wobei er sich die Finger ins Gesicht krallte...

Shane packte Claire an der Hand und rannte hinkend mit ihr los.

Direkt in das alte Krankenhausgebäude.

Die Cops, die Vampire und ihre Diener stürzten brüllend über den offenen, von der Sonne beschienenen Parkplatz. Einige der Vampire gingen, von der heißen Sonne getroffen, zu Boden, aber nicht alle von ihnen. Nicht mal annähernd alle.

Shane schob Claire über die Schwelle und brüllte: »Jetzt!«

Ein großer, schwerer Holzschreibtisch fiel seitlich herunter und versperrte mit lautem Krachen die Tür. Auf ihn krachte noch ein weiterer, den jemand vom Balkon darüber fallen ließ.

Shanes Atem ging schnell, er griff nach Claire und zog sie in eine Umarmung. »Bist du okay?«, fragte er. »Keine Abdrücke von Vampirzähnen oder so?«

»Mir geht es gut«, keuchte sie. »Oh Gott, Shane!«

»Dann ist dieser verkohlte Look jetzt wohl einfach nur in Mode und du bist okay.«

Sie schmiegte sich eng an ihn. »Ein Feuer war ausgebrochen.«

»Ach nee. Dad hatte ein höllisches Ablenkungsmanöver gestartet.« Shane schluckte und schob sie nach hinten. »Habt ihr Monica da rausgeholt? Dad sagte mir...naja, er wollte sie da drin lassen.« Sie nickte. Shanes Augen glitzerten vor Erleichterung. »Ich habe versucht, das zu verhindern, Claire. Er hat nicht auf mich gehört.«

»Das tut er nie. Hast du das noch nicht gemerkt?«

Er zuckte die Achseln und sah sich um. »Komisch, ich dachte immer, er würde auf mich hören. Wo ist Eve? Im Polizeiauto?«

Zusammen mit Michael, hätte sie beinahe gesagt, aber ihr wurde bewusst, dass dies vielleicht nicht der richtige Moment war zu verkünden, dass Shanes bester Freund nun ein ausgewachsener Vampir war. Shane konnte sich ja gerade erst ein wenig für diese Geistproblematik erwärmen. »Ja, im Polizeiauto.« Sie nahm einen Zipfel seines T-Shirts und zog ihn nach oben, um ihm das Blut aus dem Gesicht zu wischen.

»Autsch.«

»Wo ist dein Dad?«

»Sie haben sich davongemacht«, sagte er. »Er versuchte, mich dazu zu bringen, auch abzuhauen. Ich sagte, das würde ich ganz bestimmt, sobald ich dich zurückhätte. Also...ich glaube, dafür wäre jetzt ein guter Zeitpunkt.«

Seitlich von ihnen klapperte Metall und Claire wandte den Blick von dem Wunder, Shane lebend zu sehen, sodass sie den Raum, in dem sie standen, zum ersten Mal wahrnahm. Es war eine große Lobby, die mit hässlich verschrammten grünen Fliesen gekachelt war. Die wenigen Möbel, die sich noch im Raum befanden, etwa die Rezeptionstheke, waren festgeschraubt. Die Wände waren schwarz und pelzig und wiesen Spuren von Schimmel auf. Über ihnen hingen Lampen in seltsamen Winkeln, die so aussahen, als würden sie bei der kleinsten Erschütterung herunterfallen. Es gab einen brüchig aussehenden ersten Stock, der über der Lobby lag und in dem eingedellte Aktenschränke die Fenster blockierten.

Es roch nach Tod – schlimmer noch, es fühlte sich auch so an, als wären hier jahrelang schreckliche Dinge getan worden. Claire dachte an das Glass House und die Energie, die darin gespeichert war... Welche Art von Energie war hier gespeichert? Und woher kam sie? Sie schauderte bei dem Gedanken.

»Sie kommen«, rief jemand von oben und Shane deutete mit erhobener Hand an, dass er es gehört hatte. »Zeit abzuhauen, Mann!«

»Wir kommen.« Er griff nach Claires Hand. »Komm, wir kennen einen Weg hier raus.«

»Wirklich?«

»Die Tunnel der Leichenhalle.«

»Was?«

»Vertrau mir.«

»Das tue ich, aber... Leichenhallentunnels?«

»Ja«, sagte Shane. »Sie wurden in den Fünfzigerjahren versiegelt, aber wir haben das eine Ende aufgemacht. Sie sind nicht auf den Karten. Niemand bewacht sie.«

»Wer ist außer dir noch hier?«

»Ein paar von Dads Typen«, sagte Shane.

»Das war’s?« Sie war entsetzt. »Du weißt, dass draußen ungefähr hundert wütende Menschen stehen, oder? Und dass sie bewaffnet sind?«

Hinter ihnen wurde das Klopfen an der Tür stärker. Die Schreibtische, die den Zugang versperrten, rutschten knirschend über den Boden, immer einen quälenden Zentimeter mehr. Sie konnte sehen, dass Tageslicht hereinfiel.

»Wir bewegen uns jetzt besser«, sagte Shane. »Los, komm!«

Claire ließ zu, dass er sie hinter sich herzog. Sie schaute über ihre Schulter zurück und sah, wie die Schreibtische unter der Erschütterung von Körpern bebten. Sie glitten mit einem Ächzen über die Fliesen und einer von ihnen brach mittendurch, wobei Schubladen unter lautem Geklapper herausfielen.

Shane winkte einem kräftigen Typen in schwarzem Leder zu, als sie an ihm vorbeikamen, und alle drei rannten sie im ersten Stock den Flur entlang. Es war dunkel, schmutzig und unheimlich, aber nicht so unheimlich wie die Geräusche, die aus der Lobby zu ihnen heraufdrangen. Shane hatte eine Taschenlampe und knipste sie an, um Hindernisse auf ihrem Weg auszumachen – umgefallene Infusionsständer, einen zurückgelassenen, staubbedeckten Rollstuhl, eine Tragbahre, die zur Seite gefallen war. »Schneller«, keuchte er, als ein endgültiges Krachen aus der Lobby kam.

Sie waren hereingekommen.

Claire glaubte nicht, dass es mehr als die Hälfte der Vampire erfolgreich über den sonnendurchfluteten Parkplatz geschafft haben konnte, aber die, die stark genug waren, waren jetzt hier drin, wo es schön dunkel für sie war. Schlechte Wettbewerbsbedingungen.

Shane kannte den Weg. An einer Ecke bog er rechts ab, danach links, er riss einen Notausgang auf und schob Claire hinein. »Nach oben!«, sagte er. »Zwei Treppen, dann nach links.«

Auf der Treppe lagen Dinge. Claire konnte sie trotz Shanes Taschenlampe nicht besonders gut sehen, aber sie rochen krank und faulig nach Tod. Sie versuchte, nicht zu atmen, mied die klebrigen Lachen von getrocknetem Was-immer-das-war – sie wollte sich nicht vorstellen, dass es sich um Blut handelte – und rannte weiter die Stufen hinauf. Der erste Absatz, dann ein weiterer Treppenabschnitt, der sauber war, abgesehen von ein paar zerbrochenen Flaschen, über die sie sprang.

Zwei Treppen weiter riss sie an der Tür des Notausgangs und hätte sich beinahe die Schulter ausgekugelt.

Sie war versperrt.

»Shane!«

Er schob sie aus dem Weg, griff nach der Klinke und zog daran. »Shit!« Er trat wütend dagegen, starrte einen Augenblick ins Leere, dann wandte er sich der nächsten Treppe zu.

»Noch eine nach oben! Los!«

Die Tür im vierten Stock war offen und Claire stürzte durch sie hindurch in die Dunkelheit.

Ihr Fuß blieb an etwas hängen und sie stolperte vorwärts, schlug auf den Boden und rollte weiter. Shanes Taschenlampe warf einen Lichtkegel auf sie und beleuchtete verschrammte Linoleumplatten, Stapel windschiefer Schachteln...

... und ein Skelett. Claire schrie auf und rutschte rasch von ihm weg, aber dann bemerkte sie, dass es nur ein Unterrichtsskelett war, dessen Einzelteile auf dem Boden verstreut lagen und über das sie gestolpert war.

Shane packte sie am Arm, zerrte sie nach oben und zog sie weiter. Claire schaute über ihre Schulter. Sie konnte den Biker-Typen, der ihnen gefolgt war, nicht sehen. Wo war er...?

Sie hörte einen Schrei.

Oh.

Shane trieb sie den langen Gang entlang, bog links ab und zog Claire hinter sich her. Sie kamen zu einer weiteren Feuertreppe. Er öffnete die Tür und sie rannten eine Treppe hinunter.

Dieser Ausgang war offen. Shane zog sie hinaus in einen weiteren langen dunklen Flur und bewegte sich rasch, wobei er leise die Türen zählte.

Vor Nummer dreizehn hielt er an.

»Da rein«, sagte er und kickte sie auf. Das Metall gab kreischend nach und schlug nach hinten gegen die Fliesen. Etwas zerbrach klirrend, als wäre ein Stapel Teller auf den Boden gefallen.

Claire fröstelte, da sie etwas betreten hatte, das wie eine Leichenhalle aussah. Edelstahlwannen, Edelstahlschubladen in der Wand; einige von ihnen standen offen und gaben den Blick auf ausfahrbare Wannen frei.

Ja, sie war sich ziemlich sicher, dass es die Leichenhalle war. Und ganz bestimmt würde sie ab jetzt eine wichtige Rolle in ihren Albträumen spielen, vorausgesetzt, dass sie je wieder zum Schlafen käme.

»Da lang«, sagte Shane und zog etwas auf, das wie ein Wäscheschacht aussah. »Claire.«

»Oh, zur Hölle, nein!« Sie hasste enge Räume und etwas Schlimmeres als das konnte es gar nicht geben. Sie hatte keine Ahnung, wie lang der Tunnel war, aber er war eng und dunkel – und hatte er nicht etwas von Leichenhallentunnel gesagt? War das ein Leichenschacht? Womöglich steckte noch immer irgendwo eine Leiche fest! Oh Gott...

Von draußen drangen Geräusche zu ihnen – der Mob bewegte sich schnell.

»Sorry, keine Zeit«, sagte Shane, hob sie hoch und ließ sie mit den Füßen voran in den Schacht plumpsen.

Sie versuchte, nicht zu schreien. Sie hatte geglaubt, sie könnte das tatsächlich schaffen, als sie hilflos durch die Dunkelheit eines kalten Metalltunnels rutschte, der nur für die Toten gedacht war.