7

 

Keine Spur von Shanes Dad oder den Bikern. Tatsächlich war es trotz Claires Ängsten sehr ruhig in Morganville. Travis Lowe und Joe Hess kamen früh am nächsten Morgen vorbei, um Eve und den anderen die feierliche Keine-Nachrichten-sind-guteNachrichten-Botschaft zu übermitteln. Sie waren höflich und freundlich, und dafür, dass sie Cops waren, schienen die Typen schwer in Ordnung zu sein, aber sie machten Claire trotzdem ängstlich und paranoid. Sie hatte den Eindruck, dass alle Cops so waren, wenn sie im Dienst waren. Eve schien das überhaupt nichts auszumachen. Sie war schon auf, sah ziemlich verschlafen aus und gähnte. Sie kam frisch aus der Dusche, war immer noch in einen Hello-Kitty-Bademantel gehüllt und hatte ihre Goth-Maske noch nicht aufgelegt. Shane schlief noch, wie immer. Und wer wusste schon, wo Michael steckte? Beobachtet wahrscheinlich, dachte Claire. Er beobachtet immer. Sie nahm an, dass das eigentlich gruselig sein müsste, nur dass es in Michaels Fall einfach nur... tröstlich war.

»Hey, Leute«, sagte Eve, als sie die Treppe herunter ins Wohnzimmer kam. Sie ließ sich auf die Couch plumpsen, federte leicht und gähnte erneut. »Kaffee. Ich brauche Kaffee.«

»Ich hab welchen gemacht«, sagte Claire und ging in die Küche, um ihn zu holen. Travis Lowe folgte ihr schweigend und trug die Tassen hinaus. Er und sein Partner tranken ihn schwarz. Claire konnte ihn kaum trinken, obwohl sie mehr Milch und Zucker als Kaffee in ihrer Tasse hatte. Eve nahm nur Sahne, keinen Zucker, und sie zog ihn sich rein, wie man sich Gatorade nach einem anstrengenden Work-out hineinschüttet. Dann sank sie mit einem glücklichen Seufzer in die Sofakissen.

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte sie und schloss die Augen. »Es ist einfach noch zu früh.«

»Hab gehört, du hast jetzt einen Job auf dem Campus«, sagte Hess. »Herzlichen Glückwunsch, Eve.«

»Yeah.« Sie machte eine träge Jubelgeste. »Seid ihr den ganzen Weg gekommen, um mir das zu sagen?«

»Kein Weg ist zu weit in Morganville.« Hess zuckte die Achseln. »Aber nein. Wie ich Claire schon gesagt habe, gibt es keine Spur von euren Eindringlingen. Ich glaube, ihr seid von jedem Verdacht befreit. Ich hoffe, das versüßt euch den Tag.«

Eve warf Claire einen raschen, zögerlichen Blick zu. »Klar«, sagte sie. »Ähm... wegen... der anderen Sache...?«

»Wollt ihr unter vier Augen sprechen?«, fragte Claire und stand mit der Kaffeetasse in der Hand auf. »Ich kann schon mal zur Uni gehen...«

»Setz dich«, sagte Hess. »Du gehst erst mal nirgendwohin. Und du gehst nicht allein.«

»Ich... was?«

»Wir bringen euch Mädels zur Uni«, sagte Lowe und nippte an seinem Kaffee. »Und wir bringen euch nach Hause, wenn ihr fertig seid. Betrachtet uns als euren ganz persönlichen Taxiservice.«

»Nein!«, stieß Claire entsetzt aus. »Ich meine, Sie können nicht – Sie sollen nicht –, warum?«

»Eve weiß, warum«, sagte Hess. »Nicht wahr, Eve?«

Eve stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah sehr jung aus in Rosa und Weiß und sehr verängstigt. »Jason.«

»Ja, Jason.« Hess räusperte sich, warf Claire einen Blick zu und fuhr fort: »Wir fanden gestern am späten Abend Karla Gast. Na ja, eigentlich wurde sie von einigen unserer eher nachtschwärmerischen Kollegen gefunden. Sie wurde auf einem leeren Grundstück etwa sechs Blocks von hier entfernt hinter aufgestapeltem Gerümpel zurückgelassen.«

Blitzartig erinnerte sich Claire daran, wie sie auf dem Weg zu ihrem unbeabsichtigten Besuch bei Amelie an dem leeren Grundstück vorbeigekommen war. Es hatte dort sogar nach Verwesung gerochen. Sie setzte die Kaffeetasse ab und schlug beide Hände vor den Mund, wobei sie gegen einen aufkommenden Würgereiz ankämpfte.

»Glaubt ihr...«Eve sah angespannt und blass aus. Sie leckte sich die Lippen ab, schluckte und fuhr fort: »Glaubt ihr, dass Jason darin verwickelt war?«

»Ja«, sagte Hess leise. »Das glauben wir. Wir haben jedoch keine Beweise. Keine Zeugen, keine forensischen Belege, aber sie wurde definitiv nicht von einem Vampir ermordet. Seht mal, Jason wurde in der Gegend gesehen, deshalb möchte ich nicht, dass ihr im Moment allein rausgeht. Keine von euch.«

»Er ist mein Bruder!« Eve klang jetzt zornig, ihre Stimme zitterte. »Wie konnte er das tun? Was für ein... ein...?«

»Du kannst nichts dafür«, sagte Lowe. »Du hast versucht, ihm zu helfen. Er wurde nur noch kränker.«

»Ich kann etwas dafür!«, schrie sie. »Ich bin diejenige, die ihn in den Knast gebracht hat! Ich bin diejenige, die Brandon nicht aufgehalten hat, als er...«

»Als er was?«, fragte Lowe sehr ruhig.

Eve antwortete nicht. Sie schaute auf ihre schwarz lackierten Fingernägel und zupfte nervös daran herum.

»Als er zu einem leichteren Ziel überging«, sagte sie. »Als ich erst einmal sichergestellt hatte, dass er mich nicht mehr erreichen konnte.«

»Himmel«, murmelte Lowe und in seiner Stimme lagen Abscheu und Überdruss. »Eines Tages wird dieser verdammte Vampir seine...«

»Trav«, sagte Hess. »Lass uns die schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit waschen.«

»Ja, ich weiß, aber Himmel noch mal, Joe, es ist ja nicht so, dass dies das erste Mal wäre...«

Claire brauchte einige Sekunden, bis sie dahinterkam, wovon sie eigentlich sprachen, aber dann erinnerte sie sich an Eves Gedichte, die sie auf dem Computer durchgesehen hatte... lauter romantisches Zeug wie Sind Vampire nicht großartig?, bis sie etwa fünfzehn war, und dann... keine Romantik mehr. Brandon. Brandon hatte sich an sie herangemacht, als sie fünfzehn war.

Und Jason war ihr jüngerer Bruder.

»Was hat er mit ihm gemacht?«, fragte Claire leise. »Brandon, meine ich. Hat er ihn... gebissen?«

Eve schaute nicht auf, aber ihre Wangen färbten sich so rosa wie ihr Bademantel. »Manchmal«, sagte sie. »Und manchmal Schlimmeres als das. Wir sind nur Spielzeuge für ihn, weißt du? Puppen. Wir sind nicht real. Menschen sind überhaupt nicht real.«

»Ich befürchte, das sieht Jason jetzt genauso«, sagte Hess. »Man kann dem Jungen nicht die Schuld dafür geben. Er hatte keine wirkliche Chance. Aber ich sag es noch mal, Eve, dir selbst kannst du auch nicht die Schuld geben. Du hast dich selbst in Sicherheit gebracht und das ist wichtig.«

»Ja, ich habe mich in Sicherheit gebracht und meinen Bruder dadurch in die Sch... geritten. Was für eine Heldin.«

»Geh vorsichtig um mit all der Schuld«, sagte Lowe. »Sie zermalmt dich. Deine Eltern sind diejenigen, die hätten eingreifen müssen, das weißt du genau. Jemand, der in Kauf nimmt, dass seine Kinder zu Spielzeugen werden, nur um voranzukommen...«

Claire ergriff Eves Hand. Eve schaute überrascht auf. Sie weinte nicht, was einigermaßen erstaunlich war, da Eve sehr viel weinte. Ihre Augen waren trocken, klar und hart. Zornig.

»Was glaubt ihr, warum ich abgehauen bin?«, fragte sie. »Sobald ich konnte. Zwischen meinen Eltern und dem, was Brandon aus Jason gemacht hat...«

Claire wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie saß nur da und hielt Eves Hand. Sie hatte so etwas noch nie durchgemacht. Sie war warm und behütet in einem Haus aufgewachsen, ihre Eltern liebten sie. An einem Ort, wo es so etwas wie Vampire nicht gab und wo Kindesmissbrauch nur in den Abendnachrichten vorkam, existierten mordende Brüder lediglich in Großstädten und nur bei Leuten, die sie nicht kannte.

All das war einfach... unfassbar. Und tat viel zu sehr weh.

»Alles wird gut«, sagte sie schließlich. Eve lächelte sie traurig an, aber ihre Augen waren noch immer zornig.

»Nein«, sagte sie. »Das glaube ich kaum, Claire. Aber danke.«

Sie holte tief Luft, ließ Claires Hand los und wandte sich wieder den beiden Cops zu. »Also gut. Ihr zwei könnt hier noch abhängen, bis ich mich angezogen habe.«

»Oh, klar«, sagte Hess und hob eine Augenbraue. Dadurch sah sein Gesicht schief aus, aber vielleicht lag das auch nur an seiner Nase. Claire war sich da nicht sicher. »Es ist ja nicht so, dass wir euch beschützen und dabei arbeiten oder so was.«

»Ihr seid ja nicht mal im Dienst«, sagte Eve.

»Erwischt!«, sagte Lowe und lächelte. »Wir sind in dieser Sache allein. Mach hin, Kleine. Ich möchte heute noch ein wenig schlafen, bevor ich wieder für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfen muss.«

Eve trottete die Treppe hoch, eine Hand auf dem Geländer, und Claire atmete langsam und vorsichtig aus. Eve war im Moment so was wie eine Bombe, die noch nicht hochgegangen war. Claire hatte das Bedürfnis, gegen all das etwas zu tun, aber es gab nichts, was sie tun konnte...und wie sie Eve kannte, würde sie niemals zulassen, dass sie es überhaupt versuchte.

Sie wünschte, Shane würde aufwachen. Sie brauchte...naja, etwas. Eine Umarmung vielleicht. Oder einen dieser köstlich warmen Küsse. Oder ihn nur anzusehen, wenn er zerknittert und mürrisch war, seine Haare in alle Richtungen standen, sein Gesicht Streifen von den Laken hatte, seine nackten Füße so niedlich und weich aussahen...

Sie hatte noch nie zuvor die Füße eines Typen sexy gefunden. Nicht einmal Filmstarfüße. Aber Shane...es gab nichts an ihm, das nicht zischend heiß war.

»Mehr Kaffee?«, fragte Hess und wackelte mit seiner leeren Tasse. Claire seufzte und trug seine und Lowes Tasse in die Küche, um sie wieder aufzufüllen.

Sie hatte gerade die beiden Keramiktassen auf der Theke abgestellt und nach der Kaffeekanne gegriffen, als sich eine große, dicke, schweißige Hand auf ihren Mund legte und starke Arme sie nach hinten rissen. Sie versuchte zu schreien und kickte um sich, aber wer immer sie festhielt, hielt sie wirklich fest. Sie wand sich, aber es half nicht wirklich etwas.

»Ruhe«, flüsterte ihr eine raue Männerstimme ins Ohr. »Halt ’s Maul, sonst müssen wir grob werden.«

Grob waren sie bereits, zumindest war das Claires persönliche Meinung. Sie hielt still und der Mann, der sie festhielt, ließ sie so weit herunter, dass sie mit den Spitzen ihrer Turnschuhe den Boden berühren konnte. Er ließ sie jedoch nicht los.

Sie konnte sich bereits denken, wer es war – der Sprecher, nicht der, der sie festhielt –, noch bevor Shanes Dad in ihr Blickfeld trat und sich beängstigend nah zu ihr vorbeugte. »Wo ist mein Sohn?«, fragte er. Sein Atem roch übel, er hatte eine Fahne. Kam wohl direkt vom Frühschoppen. »Nur nicken. Ist er im Haus?« Sie nickte langsam, so weit die Hand, die auf ihrem Mund lag, es zuließ. »Oben?« Sie nickte wieder. »Sind das Cops da im Wohnzimmer?« Sie nickte heftig und versuchte nachzudenken, wie sie die Aufmerksamkeit von Detective Hess erregen könnte. Schreien würde nicht helfen. Die Küchentür war sehr solide und es war sinnlos, Schall durch eine Hand schicken zu wollen, die etwa zwei Zentimeter dick war. Wenn sie sie geschnappt hätten, als sie noch die Tassen in der Hand gehalten hatte, hätte sie sie wenigstens fallen lassen können...

»Mein Junge mag dich«, sagte Shanes Dad. »Nur das erhält dich gerade am Leben, klar? Lass es also nicht darauf ankommen. Ich kann jederzeit meine Meinung ändern und du könntest da draußen bei eurem kleinen Freund Michael begraben werden. Nun, mein Kumpel hier nimmt seine Hand jetzt von deinem Mund. Besser du schreist nicht, denn wenn du das tust, müssen wir hier ein kleines Blutbad anrichten, zuerst mit dir, danach mit den Cops. Und mit deiner Möchtegern-Vampir-Freundin. Verstanden? Für mich zählt nur mein Sohn.«

Claire schluckte schwer und nickte wieder. Die Hand wurde langsam von ihrem Mund weggezogen.

Sie schrie nicht. Sie presste die Lippen zusammen, um das Bedürfnis danach zu unterdrücken.

»Braves Mädchen«, sagte Shanes Dad. »Nun sag mir, was die Cops hier verloren haben. Suchen die nach uns?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie glauben, dass Sie fort sind«, sagte sie. »Sie sind hier, um Eve und mich zum College zu bringen.«

»College.« Er legte Verachtung in seine Worte. »Das ist kein College, sondern ein Viehstall.«

Sie leckte sich die Lippen ab und schmeckte den Schweiß des Typen, der sie festhielt. Widerlich. »Sie müssen fort von hier. Jetzt sofort.«

»Sonst?«

»Sie können nicht durchführen, was Sie vorhaben, solange nach Ihnen gesucht wird«, sagte sie. Sie hatte das erfunden, aber plötzlich ergab es einen Sinn für sie. »Wenn Sie mich und alle anderen hier töten, werden sie die Stadt umkrempeln, bis sie Sie finden. Und sie werden Shane ins Gefängnis stecken oder Schlimmeres. Wenn Sie mich gehen lassen und Shane mitnehmen, werde ich ihnen sowieso alles erzählen und sie werden die Stadt umkrempeln...«

»Willst du mir etwa drohen, Kleine?«

»Nein«, flüsterte Claire. Sie brachte das Wort kaum heraus. »Ich versuche nur, Ihnen zu erklären, was passieren wird. Sie haben mehr oder weniger aufgegeben, nach Ihnen zu suchen, aber wenn Sie mich töten, haben Sie verloren. Und wenn Sie mich gehen lassen, werde ich ihnen alles sagen.«

»Warum sollte ich dich dann nicht einfach töten?«

»Weil ich die Klappe halten werde, wenn Sie mir versprechen, Shane in Ruhe zu lassen.«

Er starrte sie an, aber sie konnte sehen, dass er darüber nachdachte.

»Boss«, sagte der Mann, der sie festhielt. Er hatte eine tiefe Stimme, so rau, als hätte er Schotter in der Kehle. »Die Schlampe hat keinen Grund, ihr Wort zu halten.«

»Woher wollen Sie wissen, dass ich die Vamps mehr leiden kann als Sie?«, schoss sie zurück. »Hat Shane Ihnen von Brandon erzählt? Ich hab Sie im Common Grounds gesehen. Haben Sie ihn dort gesucht? Wenn nicht, sollten Sie das tun. Er ist ein Arschloch.«

Frank Collins hatte die Augen halb geschlossen, was sie irgendwie unangenehm an Shane erinnerte. »Willst du mir jetzt vorschreiben, welche Vamps ich zu töten habe?«

»Nein«, sie schluckte erneut. Ihr war klar, dass jeden Augenblick die Küchentür aufgehen und jemand hereingestolpert kommen könnte und sie dann alle per Express zur Hölle fahren würden. »Nur ein Vorschlag. Soweit ich das beurteilen kann, ist er nämlich so ungefähr der Schlimmste von allen. Aber ich weiß, dass Sie sowieso tun, was Sie wollen. Ich möchte nur, dass meine Freunde und ich da rausgehalten werden.«

Shanes Dad lächelte sie an. Lächelte. Und zum ersten Mal kam ihr das wie ein überwiegend aufrichtiger Gesichtsausdruck vor, nicht nur wie ein komisches Verziehen der Lippen. »Du bist taffer, als du aussiehst, Kleine. Gut so. Das musst du auch sein, wenn du hier herumhängst.« Er schaute an ihr vorbei zu dem Biker (sie nahm zumindest an, dass er es war; sie konnte spüren, wie das Leder krachte, wenn sie strampelte). »Lass sie runter, Mann. Die ist in Ordnung.«

Der Biker ließ sie frei. Sie machte einen Satz nach vorne, wirbelte herum und lehnte sich mit dem Rücken an den Kühlschrank. Sie stöberte nach einem Messer in der Schublade neben ihr, fand ein fies aussehendes Hackbeil und hielt es vor sich. »Sie müssen jetzt gehen«, sagte sie. »Sofort. Und kommen Sie nicht hierher zurück, sonst erzähle ich ihnen alles, das schwöre ich.«

Er lächelte nicht mehr. Na ja, zumindest nicht mehr so sehr. Der Biker hinter ihr grinste jedoch.

»Da kennst du meinen Sohn schlecht, Kleine, oder?«, fragte er. »Ich brauche nicht hierher zurückzukommen. Er wird zu mir kommen. Letztendlich.«

Er machte seinem ein Meter achtzig großen Bodyguard ein Los!-Gehen-wir-Zeichen und gemeinsam verließen sie die Küche durch die Seitentür. Claire zog sie hastig zu, verriegelte beide Schlösser und schob die kürzlich montierten Riegel vor.

Wobei sie sich fragte, warum sie zuvor nicht verriegelt gewesen waren...Oh. Natürlich. Die Cops waren ja durch die Küche hereingekommen.

Sie atmete ein paarmal tief durch, spülte den Geschmack dieser verschwitzten Hand von ihren Lippen und nahm die Kaffeetassen.

Ihre Hände zitterten so übel, dass sie auf keinen Fall etwas Flüssiges transportieren konnte. Sie stellte sie wieder ab, ging zur Tür und rief hinaus: »Ich koch mal eben frischen!«

Sie schüttete den Rest in der Kanne aus, füllte die Maschine neu ein, und als sie fertig war, hatte sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle.

***

Einigermaßen.

Claire hatte eine Pause zwischen den Unterrichtsstunden – man konnte nicht von einer Mittagspause sprechen, da sie auf zehn Uhr morgens fiel – und sie ging hinüber zum Uni-Center, um einen Kaffee zu trinken. Das UC war riesig und ein wenig heruntergekommen. Der Teppich war uralt und die Möbel hatten schon mindestens die Achtziger-, wenn nicht gar die Siebzigerjahre gesehen. Es bestand aus einem Atrium, in dem Sofas, Stühle und sogar, in eine Ecke gezwängt, ein großes Klavier standen. Schlecht gemalte Transparente, die studentische Aktivitäten ankündigten, flatterten über ihrem Kopf in der Brise der schwachen Klimaanlage.

Die meisten Couchgarnituren waren schon von Studenten besetzt, die sich unterhielten oder für sich allein lernten. Claire behielt einen freien Studiertisch in der Ecke im Auge, aber sie würde sich beeilen müssen; eine ganze Menge Leute hielt nach einem Plätzchen Ausschau, an dem sie sich niederlassen konnten.

Sie eilte zur Kaffeetheke hinten im Atrium und lächelte und winkte, als sie Eve hinter der Espressomaschine entdeckte. Eve winkte zurück, füllte zwei Tassen gleichzeitig mit Espresso und schüttete sie in aufgeschäumte Milch. Es waren etwa fünf Leute vor ihr, deshalb hatte Claire reichlich Zeit, darüber nachzudenken, was Shanes Vater gesagt hatte. Und was er nicht gesagt hatte.

Was wollte er heute eigentlich? In Wirklichkeit? Vielleicht war er gekommen, um Shane zu holen, aber sie war sich nicht sicher. Shanes Dad schien etwas im Schilde zu führen, aber sie hatte keine Ahnung, was. Vielleicht wusste es Shane, aber sie wollte nicht fragen.

Michael. Sie würde Michael alles erzählen, sobald er wieder erschien.

»Einen großen Mokka, bitte«, sagte Claire und kramte die benötigten zwei fünfzig aus ihrer Hosentasche. Das war eine enorme Ausgabe für sie, aber sie dachte, dass Eves erster Tag im neuen Job schließlich gefeiert werden musste. Der Kassierer – ein gelangweilt aussehender Typ, der wahrscheinlich gerade lieber woanders gewesen wäre – nahm das Geld und winkte sie weiter in die Schlange für die Getränke.

Sie stellte sich dort an und blätterte gerade in ihrem Buch über englische Literatur, als sie gedämpftes Gelächter hörte und danach ein dumpfes, nasses Geräusch, wie von einem Getränk, das auf der Theke umkippte. Sie schaute auf und sah eine Gruppe Typen, die um ein verschüttetes Getränk herumstanden, das zu beiden Seiten der Theke herunterlief.

»Hey, Zombie-Braut«, sagte einer von ihnen zu Eve, die an der Theke stand, noch immer Getränke herausließ und sie ganz offensichtlich ignorierte. »Putz das mal weg.«

Ein Muskel in Eves Kiefer zuckte, aber sie nahm schweigend eine Handvoll Papiertücher und begann, die Schweinerei aufzuwischen. Als die Theke sauber war, machte sie den aufklappbaren Teil der Theke auf und putzte den Boden auf beiden Seiten.

Die Jungs hörten nicht auf zu lachen. »Du hast da was vergessen«, sagte der, der das Getränk verschüttet hatte. »Da drüben.«

Eve musste sich bücken, um die Stelle zu erreichen, auf die er zeigte. Er trat rasch hinter sie und begann, seinen Unterleib gegen ihren Hintern zu stoßen. »Oh, Baby!«, stöhnte er und alle lachten. Lachten. »Dafür dass du tot bist, bist du verdammt scharf.«

Eve richtete sich ruhig auf, drehte sich um und starrte ihn an. Wortlos. Das Gute an Goth-Make-up war, dass man nicht sah, wenn man rot anlief, stellte Claire fest...Sie selbst wurde an Eves Stelle knallrot. Und sie zitterte.

»’tschuldigung«, sagte Eve schließlich und schob ihn beiseite, indem sie ihm die flache Hand auf die Brust legte. Sie war wieder hinter der Bar und knallte die Klappe zu. Sie nahm die beiden Espressos, schüttete sie in einen neuen Pappbecher, rührte um, setzte einen Deckel darauf und stellte sie auf die Theke. »Hier. Geht aufs Haus.«

Der widerliche Typ streckte die Hand aus, nahm den Becher und drückte ihn zusammen. Der Deckel sprang herunter. Der Kaffee ergoss sich überall. Er spritzte auf Eve, die Theke, den Boden und auf den Typen, der ihn hielt. Seine Kumpels brachen in schallendes Gelächter aus, als er »Oooops, ich wusste ja gar nicht, wie stark ich bin« sagte.

Eve warf dem Typen an der Kasse einen Blick zu, aber er zuckte nur die Achseln. Sie holte tief Luft, lächelte – keineswegs ihr normales Lächeln, wie Claire bemerkte – und sagte: »Du solltest mal zum Arzt gehen, Kleiner. Auch wegen des Ausschlags auf den Eiern. Der Nächste, bitte! Ein Mokka für Claire!« Eve knallte erneut einen Becher auf die Bar und rieb energisch über die Theke.

Claire eilte zu ihr. »Oh, mein Gott!«, flüsterte sie. »Was soll ich tun? Soll ich jemanden holen?«

»Wen?« Eve rollte mit den Augen. »Das ist mein erster Tag. Es ist ein bisschen zu früh, einen auf Girlie zu machen und petzen zu gehen. Lass gut sein, Claire. Nimm einfach deinen Kaffee und geh weiter. Ich bin okay. Ich habe ein Diplom darin, mir von irgendwelchen Deppen irgendeinen Scheiß anzuhören.«

»Aber... Shane? Soll ich Shane anrufen?«

»Nur wenn du Blut statt Kaffee aufwischen möchtest...«

»Hey, Schlampe, wo bleibt mein Kaffee?«, fragte der Typ hinter Claire laut. Sie fühlte, wie er sich gegen sie drängte, bevor sein Körper sie hart gegen die Bar knallte. »Ooops, tut mir leid, Kleine. Ich hab dich gar nicht gesehen.« Er wich nicht zurück. »Seit wann gibt es hier überhaupt Vorschulklassen?«

Ihr Becher war ihr – natürlich – aus der Hand gerutscht, er rollte über die Theke, wobei etwas verschüttet wurde. Eve fing ihn auf und stellte ihn wieder hin. »Hey!« Claire wand sich, um freizukommen. Er ließ sie immer noch nicht gehen.

»Hey! Arschloch!«, sagte Eve etwas lauter, starrte den Typen an und deutete mit dem Finger über Claires Kopf. »Zurück mit dir, Mann, oder ich hole die Campus-Cops!«

»Yeah, die werden angerannt kommen.« Allerdings wich er weit genug zurück, dass Claire sich herauswinden konnte, wobei sie ihren Mokka umklammerte. Er würdigte sie keines Blickes. Er war groß, so groß wie Shane etwa, und hatte schwarzes, gegeltes Haar in dem coolen Style, der gerade in war, und fiese blaue Augen. Ein hübsches Gesicht, schöne Lippen, hohe Wangenknochen. Alles in allem war er hübscher, als gut für ihn war, dachte Claire. »Gib mir endlich meinen verdammten Kaffee. Es gibt Leute, die Unterricht haben.«

Claire nahm Papiertücher und begann, den verschütteten Kaffee auf der Gästeseite der Theke aufzuwischen, damit Eve sich nicht darum kümmern musste. Eve warf ihr einen dankbaren Blick zu und begann, Espressos zuzubereiten. Sie füllte den Becher in Rekordzeit, schlug den Deckel darauf und reichte ihn dem Widerling.

Er grinste sie an, nahm einen Schluck und stellte ihn zurück auf die Theke. »Zum Kotzen«, sagte er. »Kannste behalten.«

Er gab seinen Freunden High five und sie gingen weg.

»Was für ein Idiot!«, sagte Claire. Eve hob nur die Augenbrauen, nahm den Latte und schüttete ihn in die Spüle.

»Nein, er hatte recht, es war zum Kotzen«, sagte sie. »Aber immerhin hat er drei Tacken dafür bezahlt, also habe ich gewonnen. Wie schmeckt der Mokka?«

Claire nahm einen Schluck und hob anerkennend die Daumen. »Es tut mir leid, ich wünschte, ich könnte etwas...«

»Wir müssen alle unsere Kämpfe ausfechten, Claire-Bär. Nun geh schon. Du hast bestimmt noch zu lernen.«

Claire ging weiter, während Eve begann, weitere Getränke fertig zu machen. Die Schlange vor der Kasse wuchs weiter.

Der Typ, der nach ihr seinen Latte abholte – ein großer, schwerfällig aussehender Junge mir rundem Gesicht und großen braunen Augen –, bedankte sich demonstrativ bei Eve, die ihm ihre Grübchen zeigte und zwinkerte. Er sah viel netter aus als die kräftig gebauten Idioten, die gerade gegangen waren, auch wenn Claire bemerkte, dass er ein Studentenverbindungshemd trug.

»Epsilon Epsilon Kappa?«, las sie laut. »EEK?«

Er lächelte entschuldigend. »Yeah, na ja, es ist eine Art Witz. Wegen der Stadt. Gruselig, du weißt schon.« Er blinzelte, sah sie an und lächelte breiter. »Ich heiße übrigens Ian. Ian Jameson. Aus Reno.«

»Du bist weit weg von zu Hause, Ian Jameson«, sagte Claire und streckte ihm die Hand hin. Er schüttelte sie. »Claire Danvers. Aus Longview.«

»Ich würde ja sagen, du bist nicht weit weg von zu Hause, aber von dieser Stadt ist alles weit entfernt«, sagte er. »Du bist wohl Erstsemester?«

»Ja.« Sie fühlte, wie ihr die gefürchtete Röte langsam wieder ins Gesicht stieg. »Vorzeitige Zulassung.«

»Ach ja? Wie früh?«

Sie versuchte, es herunterzuspielen. »Paar Semester. Keine große Sache.«

»Was ist dein Hauptfach?« Ian entfernte den Deckel von seinem Kaffee und blies hinein, damit er abkühlte, dann nahm er einen Schluck. »Übrigens danke noch mal, schmeckt echt gut.«

»Keine Ursache«, sagte Eve. Sie klang schon wieder viel fröhlicher und reichte den Verbindungsmädels ihre fett- und zuckerfreien Halbkoffein-Lattes mit einem sonnigen, leicht irren Grinsen.

Tatsächlich hatte sich noch nie jemand dafür interessiert, was Claires Hauptfach war. Natürlich war es bei Erstsemestern üblich, das Hauptfach drei oder vier Mal zu wechseln, bevor man sich auf etwas festlegte, aber Claire war schon immer ziemlich entschlossen gewesen. »Physik.«

»Echt?« Ian blinzelte. »Wow, das ist ja stark. Du musst gut in Mathe sein.«

Sie zuckte die Schultern. »Denke schon.« Bescheidenheit auf der ganzen Linie; sie hatte noch niemals schlechter als mit Eins abgeschnitten. Nie.

»Du wirst woandershin wechseln, nehme ich an. Ich meine, ein Abschluss in Physik von einer No-name-Uni nützt einem nicht viel, oder?«

»Ich würde gern auf das MIT gehen«, sagte Claire. »Wie steht es mit dir?«

Ian schüttelte den Kopf. »Bauingenieurwesen. Ich muss Physik auch belegen, aber freiwillig würde ich auf keinen Fall mehr davon machen. Und ich habe noch ein Semester, dann wechsle ich auf die UT Austin.«

Viele Studenten wechselten auf die University of Texas. Es war eine wichtige Uni, an der man fast alles studieren konnte. Claire nickte. Sie hatte das selbst auch schon überlegt, aber... MIT? Caltech? Wenn sie die Chance bekäme, würde sie sie ergreifen.

»Also, was ist EEK? Eine professionelle Studentenverbindung?« Davon gab es nämlich mehrere auf dem Campus. Man zahlte seine Gebühren, ging zu ein paar Versammlungen und schrieb es später in den Lebenslauf.

»Eigentlich ist es eine Gruppe von Typen, die gern Party machen.« Ian sah verlegen aus. »Ich bin Mitglied geworden, weil ich dort ein paar Freunde habe... Jedenfalls schmeißen sie jedes Jahr diese echt coole Party – eine Riesenfete. Sie heißt Dead Girls’ Dance. Lauter irrsinniger Zombie-Horrorfilm-Kram.« Er warf Eve einen Blick zu, die gerade Milch aufschäumte. »Deine Freundin da würde, so wie sie ist, gut dazu passen. Die meisten verkleiden sich aber.«

Wollte er etwa mit ihr ausgehen? Nein, das konnte nicht sein. Erstens hatten sie sich gerade erst kennengelernt. Zweitens... na ja, bisher hatte noch niemand mit ihr ausgehen wollen. So etwas passierte einfach nicht.

»Klingt prächtig«, sagte Claire und dachte: Ich habe gerade das Wort prächtig in einem Gespräch mit einem süßen Typen verwendet, ich sollte jetzt einfach verschwinden und mich erschießen.

»Sie findet morgen Abend im EEK-Verbindungshaus statt. Hör mal, wenn du mir deine Nummer gibst, schicke ich dir eine SMS mit allen Infos...«

»Ähm... klar.« Sie war noch nie eingeladen worden. Sie verhedderte sich mit den Zahlen. Er tippte ihre Nummer in sein Handy und lächelte sie an. Ein liebes Lächeln. Ein echt liebes Lächeln eigentlich. »Ähm, ich weiß aber noch nicht, ob ich kommen kann.«

»Na ja, wenn du kommst, rettest du mir das Leben. Wir Streber müssen zusammenhalten, wenn alle anderen ausflippen, oder? Bis morgen Abend um acht dann, okay?«

»Okay«, sagte sie. »Ähm... klar. Ich werde da sein. Danke. Ähm, Ian, oder?«

»Ian.«

»Claire«, sagte sie und deutete auf sich selbst. »Oh, hatte ich das schon gesagt?«

Er lachte und ging weg, wobei er an seinem Latte nippte.

Erst da wurde ihr klar, dass sie sich gerade verabredet hatte. Zu einem richtigen Date. Mit einem Jungen, der nicht Shane war. Wie konnte das passieren? Sie wollte doch einfach nur nett sein, weil er aussah, als wäre er okay, und dann war er so charmant, vor allem im Vergleich zu den anderen Typen...

Sie hatte ein Date.

Mit einem Jungen, der nicht Shane war.

Nicht gut.

»Hey«, sagte Eve und gab ihr ein Zeichen, näher zu kommen. »Was war das denn? Hat er dich genervt oder was?«

»Ähmmm...« Claires Kopf war leer. »Nein. Er hat nur...na, egal.«

Eves Blick veränderte sich von besorgt zu durchtrieben. »Ist er hinter dir her?«

Claire begnügte sich mit einem Achselzucken. Sie hatte irgendwie keine Ahnung, wie sie es formulieren sollte. »Ich glaube, er war einfach nur nett.«

»Typen sind nicht einfach nur nett«, sagte Eve. »Was hast du ihm versprochen?«

Okay, das war jetzt unheimlich, wie schnell sie den Finger darauf legte. Claire verlagerte ihr Gewicht und fummelte verlegen an ihrem schweren Rucksack herum. »Vielleicht habe ich gesagt, dass ich eventuell auf dieser Party aufkreuze. Aber das ist absolut kein Date oder so.«

»Oh, absolut nicht«, pflichtete Eve ihr bei. Und rollte ihre Augen. »Nächster bitte! Vanilla Latte!...Du bist so was von blauäugig, Claire.«

»Ich, ähm, bin dann mal da drüben«, sagte Claire. »Lernen.«

Vielleicht hatte Eve sie aufhalten wollen, aber weitere Getränke wurden bestellt und Claire konnte sich verdrücken und ihren Tisch zum Lernen aufsuchen. Wundersamerweise war er noch nicht besetzt. Sie ließ ihren Rucksack auf das schäbige Holz plumpsen, setzte sich und schlürfte ihren Mokka. Das UC erschien ihr sicherer als die meisten Orte in Morganville... Überall dort, wo es viele Leute gab, die lasen, war es gar nicht so übel.

Fast wie an einer richtigen Universität.

Claire las weiter in ihrem Geschichtstext, als plötzlich ein Schatten auf ihr Blatt fiel. Sie schaute auf und sah ein Mädchen, das sie flüchtig aus ihrem alten Wohnheim, Howard Hall, kannte – ein Erstsemester wie sie selbst. Lisa? Lesley? Irgend so was.

»Hey«, sagte das Mädchen. Claire deutete mit einem Kopfnicken zu dem freien Stuhl ihr gegenüber, aber Lisa-Lesley wollte sich nicht setzen. »Dieses Goth-Mädchen an der Kaffeebar, die, die früher im Common Grounds gearbeitet hat – ist sie deine Freundin?«

So was sprach sich schnell herum. Claire nickte.

»Vielleicht möchtest du dann ja was dagegen tun, dass sie sich umbringen lässt«, sagte Lisa-Lesley. »Sie ist drüben an der Theke nämlich gerade mit Monica zusammengestoßen – und es dürfte nicht mehr lange dauern, bis Monica explodiert.«

Claire zuckte zusammen und schlug ihr Buch zu. Sie sah auf die Uhr; na ja, sie hätte wahrscheinlich ohnehin gleich zum Unterricht müssen. Sie fühlte sich mies, aber sie wünschte, Lisa-Lesley hätte nicht beschlossen, ihre gute Tat für heute zu vollbringen. Es wäre schön gewesen, ohne ein weiteres Drama von hier zu verschwinden.

Claire packte ihre Büchertasche wieder ein und ging zurück zur Kaffeebar. Ich sage nur Tschüss zu ihr, dachte sie. Ich habe überhaupt nichts damit zu tun. Ich halte mich da raus.

Monica, Gina und Jennifer lehnten an der Bar und blockierten die Kaffeeausgabe. Nur die Theke trennte sie von Eve, die sie permanent ignorierte.

»Hey, wandelnde Leiche, ich rede mit dir«, sagte Monica gerade. »Stimmt es, dass dein Bruder versucht hat, dich umzubringen?«

»Yeah, war das, bevor oder nachdem er versucht hat, es mit dir zu tun?« Es folgten Gesten und ähnliches. Wow, das war sogar für Jennifer unterste Schublade.

»Versucht?«, kicherte Gina. »Ich hab was anderes gehört. Anscheinend haben sie es während der ganzen Highschool-Zeit getrieben. Kein Wunder, dass sie beide Freaks geworden sind.«

Eves Gesicht war noch immer eine weiße Maske, aber ihre Augen...Sie sah völlig durchgedreht aus. Sie hatte sich unter Kontrolle, aber nur gerade so eben. Ihre Hände zitterten nicht, als sie Espresso herausließ und Getränke mixte. Sie knallte die fertigen Getränke auf die Theke, schob drei herüber und sagte: »Wenn ihr nicht sofort abhaut, rufe ich meinen Chef.«

»Ooooooh«, sagte Monica. »Deinen Chef. Wow, jetzt bekomme ich aber Angst. Glaubst du wirklich, ich fürchte mich vor einem Organspender, der gerade mal so viel Hirn hat, um hier zu arbeiten, und knapp über dem Mindestlohn verdient? Glaubst du das echt?« Sie lehnte sich zur Seite, um Eves Blick aufzufangen. »Ich rede mit dir, Freak-Fresse.«

Gina bemerkte Claire, die nur einige Zentimeter von ihr entfernt stand, und lenkte Monicas Aufmerksamkeit auf sie, indem sie ihr die Hand auf die Schulter legte. »Zwei Freaks zum Preis von einem«, sagte sie. »Muss wohl ’ne Art Sonderaktion sein.«

»Claire.« Monicas Lächeln wurde breiter. »Klar, warum auch nicht? Bist du sauer, weil ich mit deiner kleinen Lesbenfreundin ein bisschen Spaß mache?«

»Entscheide dich endlich«, sagte Claire. Ihre Stimme klang tief und eigentlich richtig cool. Vielleicht war das hier in der Öffentlichkeit einfacher, weil sie sich sicherer fühlte. Oder sie gewöhnte sich daran, Monica in Grund und Boden zu starren. »Sind wir lesbisch oder hat sie mit ihrem Bruder geschlafen? Weißt du, das macht irgendwie keinen Sinn.«

Monica blinzelte tatsächlich. Logik gehörte jedenfalls nicht gerade zu ihren Stärken. Claire konnte regelrecht sehen, wie ein Verwirr mich jetzt bloß nicht mit Fakten durch ihr Gehirn zuckte. »Lachst du mich aus?«

»Ja«, sagte Claire. »Ein bisschen.«

Monica lächelte. Ein breites, aufrichtiges Lächeln. »Wie wär’s damit?«, sagte sie. »Claire ist jetzt mit jemandem zusammen. Ich nehme an, es ist ein Trost, wenn man einen knallharten Kerl im Schlepptau hat.« Sie warf Eve einen Blick zu. »Aber das wird nicht lange so bleiben. Meine Familie ist sehr einflussreich hier. Ihr Freaks seid nur ein vorübergehender Zustand. Und...ein trauriger.«

Sie schleuderte ihr Haar über ihre Schultern, nahm ihren Latte und ging weg. Jungs drehten sich um, als sie vorüberging, Gina und Jennifer bildeten hinter ihr eine V-Formation.

»Uh«, sagte Eve und wischte die Maschinen vielleicht mit ein wenig mehr Kraft als unbedingt nötig ab. »Normalerweise zieht sie nicht so schnell ab.«

»Vielleicht hat sie noch Unterricht.«

Eve schnaubte. »Glaub mir«, sagte sie. »Die geht in gar keinen Unterricht.«

»Wie verrückt ist es eigentlich, dass wir unseren ganz persönlichen Cop-Chauffeurservice haben?«, fragte Eve. Sie und Claire standen auf dem Gehweg vor dem UC, der Campus sah schon ziemlich verlassen aus. Es war bereits sieben und der Himmel hatte sich zu einer tiefen Dämmerung verdunkelt. Sogar ein paar frühzeitige Sterne waren schon zu sehen. Die Sonne war gerade untergegangen und der westliche Horizont war noch immer in feuriges Orange und einen gelben Schein getaucht. »Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich kein Auto hätte. Ich kann selbst fahren.«

»Ich glaube nicht, dass sie das lange machen werden«, sagte Claire. »Ich meine, es ist nur so ein extra Ding. Bis sie – Wer-immer-dieses-Mädchen-umgebracht-hat – geschnappt haben.«

Eve seufzte und gab keine Antwort. Ein blaues Auto bog ein, fuhr die bogenförmige Auffahrt entlang und machte vor ihnen Halt. Joe Hess saß am Steuer, Travis Lowe stieg aus und öffnete die hintere Wagentür mit einer dümmlich aussehenden, übertriebenen Verbeugung. Irgendwie war das aber auch süß. Claire kletterte hinein und rutschte hinüber, Eve setzte sich neben sie.

»Hallo Mädels«, sagte Hess und wandte sich um, um sie anzuschauen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und es schien, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. »Danke für den Kaffee.«

Claire und Eve schauten einander an. »Sorry«, sagte Eve. »Ich rieche immer nach Kaffee. Es ist das Parfüm des Barista. Ich habe euch keinen mitgebracht. Aber wenn ihr wollt, gehe ich zurück und...«

»Auf keinen Fall«, sagte Lowe, als er sich auf den Vordersitz setzte. »Schon dunkel. Wir fahren erst mal euch Mädels nach Hause. Joe und ich besorgen uns später noch welchen.«

»Danke«, sagte Claire. »Fürs Abholen.«

Keiner der Cops antwortete. Detective Hess fuhr die andere Hälfte des Bogens entlang und bog in die Hauptstraße des Campus ab. Zwei Blöcke weiter verließen sie den Campus und fuhren in die dunkle Nacht von Morganville hinaus. Die meisten Läden waren bereits fest verrammelt. Als sie am Common Grounds vorbeikamen, schauten Eve und Claire hinaus. Es war natürlich voll, eine Oase des Lichts in den dunklen, leeren Straßen. Keine Spur von Oliver. Auch nicht von Shanes Dad. Claire hatte plötzlich Gewissensbisse. Ich muss es Shane erzählen. Bald. Sie glaubte nicht, dass es etwas brachte, wenn sie es gegenüber Eve ausplauderte, außer dass Eve dann noch beunruhigter wäre. So nachdenklich, wie Eve gerade in die Dunkelheit hinausstarrte, hatte sie schon genug Sorgen.

Sie waren nur noch einen Block von zu Hause entfernt, als sie ein schnittiger schwarzer Wagen mit Heckflossen wie ein Hai überholte und mit beängstigender Geschwindigkeit in ihre Spur zurückwechselte. Hess stieg in die Eisen und die quietschenden Reifen klangen wie das Heulen einer Todesfee. Er fuhr nicht auf das andere Auto auf, aber viel hätte nicht gefehlt. Claire knallte nach hinten in die Vinylpolster, keuchte vor Schreck und wechselte mit aufgerissenen Augen einen Blick mit Eve.

Hess und Lowe taten vorne das Gleiche. Nur mit einer gehörigen Portion Wut und einer Dosis Anspannung.

»Was geht da vor?«, fragte Eve und beugte sich vor. »Detectives?«

»Ihr bleibt hier«, sagte Hess und machte die Tür auf. »Trav, du bleibst bei ihnen.«

»Joe...«

»Alles okay.« Er stieg aus, schlug die Tür zu und ging zu dem anderen Auto. Eine dunkel getönte Fensterscheibe wurde heruntergekurbelt und in den glänzenden Scheinwerfern sah Claire ein totenbleiches Gesicht, das sie kannte.

»Hans«, flüsterte sie. Der Vampir-Detective. Sie schaute Detective Lowe an und sah etwas Sonderbares: Er hatte seine Waffe gezogen und hielt sie im Schoß, in der linken Hand hatte er ein Kreuz. »Oder? Das ist doch Hans.«

»Ihr Mädels bleibt, wo ihr seid«, sagte Lowe. Er ließ kein Auge von der Szene, die sich vor ihm abspielte. »Nur eine Routineüberprüfung.«

Claire wusste nicht viel über die Vorgehensweise der Polizei, aber sie war sich ziemlich sicher, dass es keine Routine war, wenn ein Cop den anderen auf der Straße anhielt, oder? Nicht einmal hier.

Und für einen Detective war es auch keine Routine, die Waffe zu zücken.

Worum es auch immer in dem Gespräch ging, das Hess führte, es machte ihn nicht glücklich. Darüber hinaus war es kurz. Er schüttelte einige Male den Kopf und nickte schließlich.

Als er zum Wagen zurückkam, hatte Claire ein sehr ungutes Gefühl. Sein Gesichtsausdruck war zu ernst und zu verärgert für erfreuliche Neuigkeiten. Shane. Oh Gott, vielleicht geht es um Shane! Shane ist etwas zugestoßen...

Hess öffnete die hintere Wagentür – auf Claires Seite – und beugte sich herein. »Mädels«, sagte er. »Ihr werdet wohl mit mir kommen müssen.«

»Den Teufel werden sie!«, bellte Lowe. »Ich dachte, wir bringen sie nach Hause.«

»Der Plan hat sich geändert«, sagte Hess. Er versuchte, seinen Ärger und seine Wut nicht zu zeigen, aber Claire konnte sie trotzdem an seinen Augen ablesen. »Ihr werdet im Stadtzentrum erwartet, Mädels. Ich werde euch begleiten. Trav, du solltest das Auto zurückfahren.«

Die beiden Männer wechselten einen langen Blick, dann atmete Lowe langsam aus. »Alles klar«, sagte er. »Sicher. Aber du passt auf sie auf.«

»Das weißt du doch.«

Claire stieg aus dem Auto, wobei sie sich noch ungeschützter und verwundbarer fühlte als sonst. Hess war dicht bei ihnen, breitschultrig und vertrauenswürdig, aber trotzdem... Sie sah, wie Hans sie anschaute, und sie fror.

Seine Partnerin, Gretchen, stieg auf der Beifahrerseite aus und kam um das Auto herum, um ihnen die hintere Tür zu öffnen. »Rein mit euch«, blaffte sie. Claire schluckte schwer und bewegte sich vorwärts, aber Eve war schneller, glitt in den Wagen und rutschte auf die andere Seite.

Hess folgte Claire. Als Gretchen die Tür zuschlug, hatten die drei kaum Platz auf dem Rücksitz.

»Ihr haltet den Mund, bis ihr aufgefordert werdet zu sprechen«, sagte Hans und legte den Gang ein, als Gretchen wieder eingestiegen war. Er wendete das Auto mit quietschenden Reifen und beschleunigte so schnell, dass es die Straße hinunterschoss.

Sie kamen an 716 Lot Street vorüber. Alle Lichter waren an, die Tür stand offen und jemand stand im Eingang und sah zu, wie sie vorbeijagten. Es ging zu schnell, als dass Claire hätte sagen können, ob es Shane oder Michael war, aber sie hoffte, dass es Shane war.

Falls etwas passierte, hätte sie ihn zumindest noch einmal gesehen, bevor alles zu Ende war.

***

»Ich dachte, wir fahren zur Polizeiwache«, flüsterte Eve, als das Auto ein paarmal abbog und durch das endlose Labyrinth aus Straßen rollte.

»Tun wir das nicht?«, flüsterte Claire zurück.

»Sind gerade daran vorbeigefahren. Ich glaube, wir fahren woandershin.« Eve klang völlig verängstigt, und als Claire ihre Hand fasste, spürte sie, dass sie kalt war und zitterte. Sie hielten sich aneinander fest, als das Auto noch mehrmals abbog und dann vor einer Art Absperrung langsamer wurde. »Oh, Gott. Wir gehen zum Square.«

»Zum Square?«

»Founder’s Square, der Platz der Gründerin. Das ist die reinste Vamp-City um diese Nachtzeit.« Eve schluckte und packte Claires Hand noch fester. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das irgendwie gut ausgeht.«

»Psst«, sagte Detective Hess leise. »Alles okay. Vertraut mir.«

Claire vertraute ihm. Aber sie traute den beiden Vamp-Detectives auf den Vordersitzen nicht, die offensichtlich mehr Verantwortung trugen.

Die Absperrung öffnete sich. Hans fuhr durch, brachte den großen Wagen auf einem unbeleuchteten Parkplatz zum Stehen und wandte sich zu ihnen um. Er schaute zuerst Claire an, dann Eve. Zuletzt Hess.

Gretchen drehte sich ebenfalls um. Sie lächelte.

»Wir möchten euch etwas zeigen«, sagte Hans. Gretchen stieg aus dem Auto und öffnete die hintere Tür auf Eves Seite. »Aussteigen.«

Sie kletterten hinaus in die abgekühlte Nachtluft. Der Mond stand am Himmel und leuchtete mit einem dürftigen Schimmer, der kaum etwas erhellte. Die Dunkelheit schien sehr tief, obwohl es am Horizont noch immer dunkelblau leuchtete. Es war noch nicht einmal Nacht...

Eine kalte, starke Hand schloss sich um Claires Oberarm. Sie quiekte atemlos und hörte, wie auch Eve einen überraschten Laut von sich gab. Gretchen stand irgendwie plötzlich zwischen ihnen und hielt sie beide am Arm fest.

Hans warf einen Blick nach hinten zu Detective Hess. »Bleib beim Auto«, sagte er.

»Ich komme mit den Mädchen.«

»Du befolgst die Befehle wie ein braver kleiner Neutraler«, sagte Hans. »Es sei denn, du willst, dass dein Partner und du diesen Status verlieren. Das ist kein kleiner Zwischenfall. Dies hat die Aufmerksamkeit der Ältesten. Wenn die Mädchen keinen Ärger machen, kommen sie unversehrt wieder zurück, aber du bleibst hier.«

Gretchen sagte: »Nein, Hans. Lass ihn mitkommen. Es wird ihm guttun, dabei zu sein.«

Hans sah sie finster an, dann zuckte er die Achseln. »Also gut. Aber wenn du uns in die Quere kommst, Hess, machen wir Hackfleisch aus dir.«

Gretchen stieß die Mädchen vorwärts.

»Was passiert jetzt?«, fragte Eve. Keiner der Vampire antwortete. Claire drehte ihren Kopf und sah, dass Hess hinter ihnen war, aber irgendwie tröstete sie das nicht besonders. Gretchen schleppte sie um die Ecke eines unscheinbaren Backsteingebäudes und in...

... einen Park.

Claire blinzelte überrascht, denn es war hier eigentlich sehr... schön. Grünes Gras, große dunkle Bäume, die in der Finsternis raschelten. Es gab auch Lichter, die zwischen den Ästen gespannt waren und auf Blumen, Sträucher und Fußwege herabschienen.

Der Bereich, der an den Park angrenzte, war lebendiger als alles, was sie bisher in Morganville gesehen hatte. Während die Läden am Campus heruntergekommen und schäbig waren, strahlten und glänzten diejenigen am Square und waren schön gepflegt. Auf eine alteuropäische Art schön, überall Stein, Marmor und Säulen. Es gab sogar Wasserspeier, die an den Dächern als Ablaufkanäle dienten.

Es sah aus wie auf Bildern, die Claire von alten europäischen Städten gesehen hatte, nur... schöner.

Jedes Geschäft am Square war geöffnet. In zwei Restaurants wurde das Essen draußen serviert und der Geruch von gebratenem Fleisch und frischem Brot ließ Claire das Wasser im Mund zusammenlaufen. Alles, was sie heute zu sich genommen hatte, war Kaffee, und das war schon lange her.

Und dann dachte sie wieder daran, was Eve gesagt hatte. Wenn das Stadtzentrum nachts Vamp-City war, warum gab es dann diese Restaurants?

Sie wusste es, sobald sie direkt an einem vorbeikamen. Gemischte Gruppen aus Vampiren und Menschen aßen dort zu Abend. Die Vampire hatten Teller mit Speisen vor sich und aßen ebenso begeistert wie die Menschen. »Sie essen!«, platzte Claire überrascht heraus. Gretchen warf ihr einen Blick aus ihren kalten, fremdartigen Augen zu.

»Selbstverständlich«, sagte sie. »Es liefert uns keine Nährstoffe, aber der Geschmack ist dennoch attraktiv. Warum diese Frage? Mach dir keine Hoffnungen. Du wirst schon sehen, dass dir Gift nicht helfen wird, wenn du uns töten willst.«

Claire hatte eigentlich gar nicht so weit gedacht. Sie war einfach nur... seltsam fasziniert.

Die Läden, an denen sie vorbeikamen, waren unglaublich edel. Juweliere, die Edelsteine und Gold ausstellten. Buchläden, die sowohl uralte Bücher als auch neue Bestseller führten. Bekleidungsgeschäfte – sehr viele davon – mit geschmackvoller und teurer Mode. Es sah aus, als wäre ein reiches Viertel einer bedeutenden Stadt wie Dallas, Houston oder Austin direkt hierherverpflanzt worden.

Abgefahren.

Und alle, die hier shoppten, waren Vampire. Und es war eine ganze Menge. Claire hätte nicht gedacht, dass so viele von ihnen in Morganville lebten; je mehr Vampire sie sah, desto größer wurde ihre Angst. Sie starrten Eve und sie an, als wären sie Kühe auf dem Weg ins Schlachthaus, und sie fühlte sich schrecklich einsam. Ich möchte nach Hause. Ich schwöre, wenn ich hier wieder lebend rauskomme, ziehe ich zurück zu Mom und Dad. Ich werde nie wieder von dort weggehen...

Gretchen bugsierte sie zu einem schwarzen Marmorgebäude, auf dem sich ein goldener Schriftzug befand. ÄLTESTENRAT, stand dort.

»Macht euch keine Sorgen«, sagte Hess leise hinter ihnen.

»Alles wird gut, Mädels. Ihr müsst nur kooperieren. Wenn sie euch etwas fragen, dann sagt die Wahrheit.«

Claire fühlte kaum ihre Füße auf den glänzenden schwarzen Marmorstufen. Es war ein bisschen, als würde sie sich im Traum bewegen, hilflos und taub, aber Gretchens Griff an ihrem Arm war nur allzu real. Und schmerzhaft. Autsch. Das würde später blaue Flecken geben.

Hans öffnete die große, polierte Tür und sie gingen hinein.

Alles hätte Claire dort erwartet, doch auf einen Fernseher war sie nicht gefasst. Aber dort stand einer und es lief ein 24Stunden-Nachrichtensender, der die flackernden Bilder eines Krieges zeigte: explodierende Bomben, schießende Soldaten. Und davor stand, mit verschränkten Armen, Oliver. Er hatte heute nicht seine Hippie-dippie-Cafébetreiber-Klamotten an; er trug einen akkuraten schwarzen, maßgeschneiderten Anzug. Sein ergrauendes Haar hatte er hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und er trug eine Krawatte. Nein, nicht direkt eine Krawatte. Eine Art Schal mit einer diamantenen Nadel, die ihn an Ort und Stelle hielt. Vielleicht war das mal in Olivers Jugend Mode gewesen.

»Manche Dinge ändern sich nie«, sagte er und starrte auf den Fernseher. »Die Menschen töten weiterhin unter den dümmstmöglichen Ausreden. Und uns nennen sie Monster.«

Bei den letzten Worten schnellte sein Blick zu Claire und sie schauderte. Oliver hatte schöne Augen, aber irgendwie ängstigten sie sie mehr als die eiskalten von Gretchen. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn noch immer mögen wollte, egal, was er getan hatte. Er hat Michael getötet!, rief sie sich ins Gedächtnis. Na ja, jedenfalls größtenteils.

»Hallo«, sagte Oliver zu ihr und nickte. Dann starrte er Eve an. »Eve. Wir vermissen dich im Laden.«

»L...« Eve schluckte hinunter, was sie hatte sagen wollen, wobei sich Claire zu neunundneunzig Prozent sicher war, dass es Leck mich war.

»Danke.« Das war erstaunlich zurückhaltend für Eve. Wenn es jemanden gab, der schockiert und zornig darüber war, dass sich Oliver als Vampir entpuppt hatte, dann war es Eve.

Oliver nickte und ging durch den riesigen leeren Raum – leer bis auf den leise eingestellten Fernseher und den vornehmen dicken braunen Teppichen – und öffnete eine Doppeltür. Er war wohl nicht der Türsteher; er ging geradeaus in den nächsten Raum. Gretchen schob Claire und Eve vorwärts. Der Boden unter Claires Füßen war schwammig weich und sie roch den Duft verwelkender Blumen. Rosen. Vielen Rosen.

Der Duft traf sie mit Wucht, als sie den nächsten Raum betraten, der groß und rund war und der überall mit burgunderroten Samtvorhängen ausgestattet war, zwischen denen sich Säulen befanden. Ein unaufdringlicher Kronleuchter verbreitete gedämpftes Licht. Hier lag der gleiche Teppich wie im Eingangsbereich, aber in diesem Raum standen Möbel – Stühle, die ordentlich in drei Abschnitten aufgereiht waren, dazwischen Gänge.

Claire brauchte einen Augenblick, bis ihr bewusst wurde, dass sie in eine Leichenhalle gingen. Als sie es bemerkte, hielt sie an und stolperte, als Gretchen sie unerbittlich weiterzerrte, vorbei an den Reihen leerer Klappstühle, bis ganz nach vorne, wo Oliver in der Nähe eines weiteren Samtvorhangs stand.

»Sir«, sagte Joe Hess, als er hinter Claire und Eve hervortrat. »Ich bin Detective Hess.«

Oliver nickte. »Ich kenne Sie.«

»Sollten hierbei nicht noch andere anwesend sein?« Die Anspannung in Hess’ Stimme und in seinem Körper verrieten Claire, dass es eine schlimme Sache werden würde, wenn Oliver sie allein befragte.

»Es sind noch andere anwesend, Detective Hess«, sagte eine helle, kühle Stimme aus der anderen Ecke des Raumes, die, so hätte Claire schwören können, noch eine Sekunde zuvor leer gewesen war. Sie keuchte und schaute sich um. Dort stand Amelie, als wäre sie in Stein gemeißelt und das Gebäude wäre um sie herum errichtet worden. Und ihre Bodyguards – oder Diener – bildeten nicht weit von ihr entfernt ein Grüppchen. Sie hatte vier mitgebracht. Claire fragte sich, ob man das als Zeichen dafür werten konnte, wie groß die Schwierigkeiten waren, in denen Eve und sie steckten.

»Ein Dritter kommt noch«, sagte Amelie und nahm auf einem Stuhl Platz, als wäre er ein goldener Thron. Sie trug Schwarz, wie Oliver, aber ihre Kleidung bestand aus einem langen, eleganten Wildlederkostüm mit einer strengen weißen Bluse unter der maßgeschneiderten Jacke. Sie schlug ihre Beine übereinander, die weiß und vollkommen waren, und faltete die Hände im Schoß.

Oliver sah nicht glücklich aus. »Wen erwarten wir noch?«, fragte er.

»Du kennst die Gesetze, Oliver, auch wenn du Wege zu finden pflegst, sie zu umgehen«, sagte Amelie. »Wir warten auf Mr Morrell.«

Sie mussten nicht lange warten; weniger als eine Minute später hörte Claire Stimmen aus dem Vorraum und das Klirren von Schlüsseln. Sie hatte den Mann, der hereinkam und von zwei uniformierten Cops flankiert wurde, noch nie gesehen, aber sie kannte einen der Cops: Richard Morrell, Monicas Bruder. Also war der beleibte Mann mit beginnender Glatze und dem selbstzufriedenen Gesichtsaudruck wahrscheinlich ihr Dad.

Der Bürgermeister von Morganville.

Er hatte ebenfalls einen Anzug an, blau, mit Nadelstreifen und breiten Aufschlägen. Damit sah er irgendwie wie ein Zuhälter aus und die Hose war auch ein wenig zu lang. Er hatte zu viele goldene Ringe an den Fingern und er lächelte.

»Oliver«, sagte er fröhlich. Das Lächeln verschwand rasch, als er Amelie entdeckte, die mit ihrer Eskorte ruhig etwas abseits saß. Sein Gesicht wurde um einiges... respektvoller. »Gründerin.«

»Bürgermeister.« Sie nickte ihm zu. »Gut. Wir können anfangen.«

Gretchen ließ Claires Arm los. Sie zuckte zusammen, als das Blut wieder in ihre kribbelnde Hand schoss, und sie rieb die Stelle, an der Gretchen sie gepackt hatte. Ja, das würde einen Bluterguss geben. Ganz bestimmt. Sie riskierte einen Blick zu Eve, die dasselbe tat. Eve sah vollkommen verängstigt aus.

Oliver streckte die Hand aus und zog an einer versteckten Schnur; der burgunderfarbene Samtvorhang hinter ihm öffnete sich.

Auf der Marmorplatte lag eine Leiche, umgeben von üppigen roten Rosen, ganzen Bündeln davon, die in Bodenvasen standen. Die Leiche sah bläulich weiß aus, gummiartig und absolut, schrecklich tot. Claire fühlte, wie sich eine Wolke über sie legte, hörte ein Summen in ihren Ohren und wäre fast ohnmächtig geworden, aber irgendwie gelang es ihr, nicht umzukippen.

»Oh, mein Gott«, flüsterte Eve und schlug beide Hände vor den Mund.

»Das ist Brandon«, sagte Claire und sah Oliver an. »Das ist Brandon, oder?« Denn das kalte weiße Gesicht sah nicht mehr menschlich aus und sie konnte es nicht mehr mit der lebenden Person – dem Vampir – in Verbindung bringen, vor dem sie sich so gefürchtet hatte. Der, der sie bedroht hatte, der sie nach Hause verfolgt hatte und der Eve und sie beinahe getötet hätte...

Oliver nickte. Er schlug den Samt, der Brandon vom Hals abwärts bedeckte, zurück und enthüllte schwarze, offene Wunden. Eine von ihnen qualmte noch immer. Claire roch den Geruch von gegartem Fleisch und dieses Mal gaben ihre Knie nach. Detective Hess erwischte sie am Arm und hielt sie aufrecht.

»Er wurde gefoltert«, sagte Oliver. Er klang sachlich, wenn nicht gar desinteressiert. »Es hat lange gedauert. Jemand hatte viel Freude daran. Fast so, als wäre dieser Jemand mit...Methode an das Ganze herangegangen.«

Bürgermeister Morrell gab seinem Sohn ein Zeichen vorzutreten. Richard war längst nicht so ein Psycho wie seine Schwester. Eigentlich mochte ihn Claire, soweit sie überhaupt jemanden aus dieser Familie, die mit den Vampiren zusammenarbeitete, mögen konnte. Er kam ihr fast schon fair vor.

Richard untersuchte die Wunden in Brandons Leiche. Er berührte sie sogar. Claire übergab sich in Gedanken, wenn auch nicht tatsächlich. »Sieht aus, als wurde direkt am Herzen eine Waffe eingesetzt. Vermutlich ein Pfahl«, sagte Richard und schaute seinen Vater an. »Wer immer das getan hat, es war ihm ernst. Es erfolgte nicht ziellos; es wurde langsam durchgeführt. Ich weiß nicht, was sie aus ihm herauskriegen wollten, aber was es auch immer war, sie haben es wahrscheinlich geschafft. Ich kann die Schatten von Wunden sehen, die sich wieder geschlossen haben, bevor er starb. Das hat Stunden gedauert, wenn nicht noch länger.«

Stille. Tiefe, finstere Stille. Richard richtete sich wieder auf und schaute Claire und Eve an. Falls er sie erkannte, zeigte er es nicht. »Haben diese Mädchen etwas damit zu tun?«

»Vielleicht«, sagte Oliver. Claire hatte nicht gesehen, dass er sich bewegt hatte, aber plötzlich stand er direkt vor ihr und schaute auf sie herunter. »Vielleicht wissen sie etwas. Du mochtest Brandon nicht besonders, nicht wahr, Claire?«

»Ich...«Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr dürft nicht lügen, hatte Hess gesagt. Hatten die Vamps eine Art Lügendetektorfähigkeit? Konnten sie vielleicht sogar Gedanken lesen? »Nein, ich mochte ihn nicht. Aber ich würde nicht wollen, dass dies jemandem angetan wird.« Nicht mal dir. Das sagte sie allerdings nur zu sich selbst.

Er hatte so freundliche Augen. Das war das Schreckliche an ihm, dieses warme Gefühl, dass sie ihm vertrauen konnte, ihm vertrauen sollte, dass sie ihn irgendwie verraten würde, wenn sie nicht...

»Nicht«, sagte Eve scharf und zwickte sie in den Arm. Claire jaulte auf und schaute sie an. »Schau ihm nicht in die Augen.«

»Eve«, seufzte Oliver. »Ich bin sehr enttäuscht von dir. Verstehst du nicht, dass es als Brandons Patron in meiner Verantwortung liegt, der Sache auf den Grund zu gehen? Die Verantwortlichen zu finden? Du bist nicht so naiv, wie Claire zu sein scheint. Du kennst die Strafen für den Mord an einem von uns. Und du weißt, wie ausdauernd wir auf der Suche nach der Wahrheit sein werden. Würdest du es nicht auch besser finden, wenn ich es ohne Schmerzen aus ihr herauskriegen könnte?«

Eve antwortete nicht. Sie fokussierte mit den Augen eine Stelle etwa in der Mitte seiner Brust. »Ich glaube, du wirst sowieso tun, was du willst«, sagte sie finster. »Wie alle Vamps. Du hast mich nicht gefragt, aber ich bin froh, dass Brandon tot ist.

Und ich bin auch froh, dass er gelitten hat. Wie sehr auch immer – es war noch nicht genug.«

Das war der Punkt, an dem der nette Oliver verschwand. Er war einfach... weg. Claire bemerkte nur den Schatten einer Bewegung, mehr nicht, und dann sah sie, dass er Eves schwarz gefärbtes Haar gepackt und ihren Kopf in einem schmerzhaften Winkel nach hinten gerissen hatte.

Und in seinen Augen lag nichts Menschliches mehr. Es sei denn, reiner, glühender Zorn war menschlich.

»Oh«, schnaufte er Eve ins Ohr. »Danke, dass du das gesagt hast. Dann brauche ich jetzt nicht mehr so behutsam zu sein.«

Detective Hess trat mit geballten Fäusten vor; Richard Morrell verstellte ihm den Weg. »Langsam, Joe«, sagte er. »Alles ist unter Kontrolle.«

Für Claire sah das nicht so aus. Ihr Atem ging zu schnell, sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe und sie sah, dass Eves Knie nachgaben. Die Bedrohung, die im Raum stand, der Leichnam auf dem Tisch, es war einfach alles... grausam.

Shanes Dad hat es getan. Claire wurde übel und sie bekam noch mehr Angst, als ihr dieser Gedanke kam, denn nun musste sie ihn irgendwie für sich behalten.

Und sie wusste, dass sie fragen würden.

Oliver schnüffelte an Eves frei liegendem Hals. »Du arbeitest in einem Café«, sagte er. »Auf dem Campus, nehme ich an. Komisch. Ich wurde gar nicht nach Referenzen gefragt.«

»Lass mich los«, sagte Eve schwach.

»Oh, das kann ich nicht. Es wäre dann schwieriger, dir wehzutun.« Oliver lächelte, öffnete dann seinen Mund und seine Vampirzähne – tödlich spitze Schlangenzähne – schnellten in Position. Sie sahen eigentlich nicht wie Zähne aus, sondern eher wie poliertes Elfenbein und sie sahen wirklich stark aus.

Er leckte an Eves Hals, direkt über der Halsschlagader.

»Oh, Gott«, flüsterte Claire. »Tu es bitte nicht. Bitte lasst nicht zu, dass er das tut.«

»Stell dem Mädchen eine Frage, Oliver. Wir haben jetzt keine Zeit für deine Hobbys«, sagte Bürgermeister Morrell gelangweilt, als würde ihn das alles von wichtigeren Dingen abhalten. Er betrachtete seine manikürten Fingernägel und rieb sie an seiner Anzugsjacke. »Lass es uns zügig hinter uns bringen.«

Amelie sagte oder tat überhaupt nichts.

»Ich stehe unter Schutz«, sagte Eve. »Du kannst mir nichts anhaben.« Sie klang allerdings nicht besonders überzeugt und Claire schaute Amelie an, die in der ersten Stuhlreihe saß und die Szene aufmerksam beobachtete, als handelte es sich dabei um eine Show, die ihr zuliebe veranstaltet wurde. Ihr Gesichtsausdruck war höflich, aber kühl.

Bitte helfen Sie uns, dachte Claire. Amelies blassgoldene Augenbrauen hoben sich nur ein wenig. Können Sie mich hören?

Falls sie es konnte, gab sie es nicht weiter zu erkennen. Sie saß einfach da, gelassen wie ein Buddha.

»Sagen wir einfach mal, Amelie und ich haben ein Übereinkommen in solchen Dingen«, sagte Oliver. »Und, Eve, Herzchen, dieses Übereinkommen besteht darin, dass ich alle Methoden anwenden darf, um Menschen zu verfolgen, die den Frieden brechen. Ohne Rücksicht auf ihren Schutz. Ohne Rücksicht darauf, wer diesen Schutz gewährt. Wir sollten nun ein wenig über die Eindringlinge bei euch zu Hause plaudern.«

»Die... was?« Eve gab sich alle Mühe, Olivers Blick auszuweichen, aber er war ihr so nahe, dass das fast unmöglich war. »Ich weiß nicht, wer sie sind.«

»Du weißt es also nicht. Du bist dir da wohl ziemlich sicher«, sagte er. Seine Stimme wurde zu einem tiefen, tödlichen Flüstern und Claire dachte darüber nach, was sie sagen könnte, was sie tun könnte, um Eve zu helfen. Denn es war klar, dass Eve sich nicht selbst helfen würde, und sie konnte nicht einfach dabeistehen und zusehen, wie man ihr – wehtat. Sie konnte es einfach nicht.

»Ich weiß es«, sagte sie und fühlte, wie sich die kollektive Aufmerksamkeit ihr zuwandte. Unheimlich. Claire räusperte sich. »Es waren Biker.«

»Biker.« Oliver ließ Eves Haar los und wandte sich Claire zu. »Verstehe. Du versuchst, mich durch das Offensichtliche abzulenken, und, Claire, das ist keine so gute Idee. Gar keine gute Idee. Verstehst du, wir wissen das alles bereits. Wir wissen, wann sie in die Stadt kamen. Wir wissen sogar, wer sie gerufen hat.«

Claire fühlte, wie das Blut ihre Gehirnzellen verließ. Ihr Magen überschlug sich immer wieder und Oliver entfernte sich von Eve und riss an einer anderen Kordel.

Neben Brandons Leiche ging ein weiterer Vorhang auf.

Zwei Männer kamen zum Vorschein. Sie lagen auf den Knien, waren gefesselt und geknebelt und wurden von wirklich furchterregenden Vampiren festgehalten. Einer der Gefangenen war ein Biker.

Der andere war Shane.

Claire stieß einen gellenden Schrei aus.