Sie sahen sich erst Anfang November wieder. Nach den langen Monaten der Trennung kam wie aus heiterem Himmel ein Anruf. Ambrose, aus Liverpool. Er habe ein paar Tage Urlaub, werde den nächsten Zug nehmen und das Wochenende über nach Porthkerris kommen.
Er kam, blieb und fuhr wieder ab. Eine Reihe von Umständen führte dazu, daß der Besuch eine einzige Katastrophe wurde. Zum einen regnete es die ganzen drei Tage ununterbrochen. Ein anderer Grund war, daß Tante Ethel, noch nie der taktvollste oder zurückhaltendste Hausbesuch, zur selben Zeit in Cam Cottage war. Die anderen Dinge waren zu zahlreich und deprimierend, um aufgezählt oder näher analysiert zu werden.
Als es vorbei war und er wieder zu seinem Zerstörer zurückgekehrt war, kam Penelope zu dem Schluß, daß es einfach zu bedrückend gewesen sei, um noch länger darüber nachzudenken, und mit der Unbekümmertheit der Jugend verdrängte sie die leidige Episode einstweilen. Hinzu kam natürlich, daß sie voll und ganz von der Schwangerschaft beansprucht wurde und somit wichtigere Dinge um die Ohren hatte.
Das Baby kam Ende November, praktisch auf den Tag pünktlich. Es wurde nicht in Cam Cottage geboren, wie seine
Mutter, sondern in dem kleinen Kreiskrankenhaus in Porthkerris. Alles geschah so rasch, daß der Arzt nicht rechtzeitig zur Stelle sein konnte und Penelope und Schwester Rogers sich selbst überlassen blieben. Sie meisterten die Situation ohne weiteres. Als Penelope mehr oder weniger versorgt war, nahm Schwester Rogers das Baby mit, wie es üblich war, wusch es, richtete es ein wenig her, zog ihm ein Hemdchen und eine winzige Jacke an und legte ihm den Schal aus Shetlandwolle um, alles Sachen, die Sophie - überflüssig zu sagen - in irgendeiner Schublade aufgestöbert hatte und die stark nach Mottenkugeln rochen.
Penelope hatte immer ihre eigenen Theorien über Babys gehabt. Sie war nie mit kleinen Kindern zusammen gewesen, hatte nie eines auf den Arm genommen und gehalten, aber sie war überzeugt, daß man sein eigenes Kind sofort erkennen würde, wenn man es zum erstenmal sah. Ja, natürlich, würde sie sagen, wenn sie den großen Schal behutsam mit dem Zeigefinger zur Seite schieben und auf das kleine Gesicht hinuntersehen würde, ja, natürlich. Du bist es. Aber es war nicht so. Als Schwester Rogers endlich zurückkam und das winzige Geschöpf, das sie so stolz trug, als hätte sie es eben selbst zur Welt gebracht, zärtlich in Penelopes ausgestreckte Arme legte, starrte Penelope mit wachsendem Unglauben auf das Kind hinunter. Es war dick, hellblond und hatte kornblumenblaue, ziemlich dicht beieinander stehende Augen und pralle rote Wangen, es sah alles in allem aus wie ein junger Kohlkopf und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit irgend jemandem, den sie je gekannt hatte. Weder mit ihr noch mit Ambrose und auch nicht mit Dolly Keeling, und was ihren Vater und Sophie betraf, sah es ganz so aus, als flösse kein einziger Tropfen ihres Blutes in seinen erst eine Stunde alten Adern. »Ist sie nicht süß?« gurrte Schwester Rogers und beugte sich über das Bett, um sich am Anblick der Kleinen zu weiden. »Ja«, bestätigte Penelope schwach. Wenn andere Mütter im Krankenhaus gewesen wären, hätte sie steif und fest behauptet, es müsse eine Verwechslung vorliegen, und sie halte das Kind einer anderen, doch weil sie der einzige Entbindungsfall war, war dies sehr unwahrscheinlich.
»Sehen Sie sich nur diese schönen blauen Augen an! Wie eine kleine Blume, ja, wirklich. Ich lasse Sie einen Moment allein und rufe Ihre Mutter an.«
Aber Penelope wollte nicht mit dem Baby allein gelassen werden. Sie wußte einfach nicht, was sie zu ihm sagen sollte. »Nein, Schwester, nehmen Sie sie bitte mit. Ich könnte sie fallen lassen oder etwas anderes Schreckliches tun.«
Die Schwester erhob taktvollerweise keine Einwände. Manche jungen Mütter waren sonderbar, und sie hatte in ihrer langjährigen Praxis weiß Gott genug kennengelernt. »Meinetwegen«, antwortete sie und nahm das kleine Bündel wieder an sich. »Wie geht es meinem kleinen Liebling?« fragte sie es. »Wer ist meine Beste?« Und verließ unter mißbilligendem Kittelrascheln das Zimmer. Dankbar, die beiden los zu sein, legte Penelope sich aufs Kissen zurück. Lag da und starrte zur Decke. Sie hatte ein Kind. Sie war Mutter. Sie war die Mutter von Ambrose Keelings Kind. Ambrose.
Sie wurde sich zu ihrem Ärger bewußt, daß es nicht mehr möglich war, all das zu ignorieren und aus ihren Gedanken zu drängen, was während jenes schrecklichen Wochenendes passiert war, das von vornherein unter einem schlechten Stern gestanden hatte, weil der angekündigte Besuch ihres Mannes die Ursache für den einzigen richtigen Streit gewesen war, den sie jemals mit ihrer Mutter gehabt hatte. Penelope und Tante Ethel waren den Nachmittag über in Penzance gewesen, um bei einer hinfälligen alten Bekannten von Tante Ethel Tee zu trinken. Bei der Rückkehr nach Cam Cottage teilte eine strahlende Sophie ihrer Tochter mit, daß oben eine wunderbare Überraschung auf sie warte. Penelope war ihrer Mutter pflichtschuldigst in ihr Zimmer gefolgt, und dort sah sie anstelle ihres geliebten alten Betts ein brandneues und gewaltiges Doppelbett, das fast den ganzen Raum einnahm. Sie hatten sich noch nie gestritten, aber nun verlor Penelope in einer seltenen Aufwallung von Zorn die Beherrschung und sagte Sophie, sie habe kein Recht dazu gehabt, es sei ihr Zimmer, und es sei ihr Bett gewesen. Und es sei keineswegs eine wunderbare Überraschung, sondern eine sehr unangenehme. Sie wolle kein Doppelbett haben, es sei scheußlich, sie würde auf gar keinen Fall darin schlafen.
Sophies gallisches Temperament flammte auf und zeigte sich dem ihren gewachsen. Man könne einem Mann, der tapfer im Krieg gekämpft habe, einfach nicht zumuten, seine Frau in einem schmalen Jungmädchenbett zu lieben. Was sie eigentlich erwarte? Sie sei nun eine verheiratete Frau und kein kleines Mädchen mehr. Dies sei nicht mehr ihr Zimmer, sondern ihrer beider Zimmer. Wie könne sie bloß so kindisch sein? Penelope war in Tränen der Wut ausgebrochen und hatte geschrien, sie sei schwanger, und sie wolle gar nicht mit ihm schlafen, und zuletzt schrien sie sich an wie zwei Fischweiber.
Sie hatten noch nie eine solche Szene gehabt. Sie nahm alle Hausbewohner schwer mit. Papa war zornig auf sie beide, und die anderen schlichen auf Zehenspitzen herum, als hätte eine Explosion stattgefunden. Zuletzt vertrugen sie sich natürlich wieder, entschuldigten sich gegenseitig, fielen sich in die Arme, und die Sache wurde nicht wieder erwähnt. Aber es war kein gutes Vorzeichen für Ambroses Besuch. Rückblickend war Penelope sogar sicher, daß sie einen großen Teil zu dem Unglück beigetragen hatte. Ambrose. Sie war Ambroses Frau.
Ihre Lippen bebten. Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete und immer größer wurde. Tränen sammelten sich, stiegen ihr in die Augen, liefen über, rannen ungehindert über ihre Wangen und tropften aufs Kissen. Einmal angefangen, hörten sie nicht mehr auf. Es war, als hätten all die Tränen, die jahrelang unvergossen geblieben waren, urplötzlich beschlossen, sich Bahn zu brechen. Als ihre Mutter freudig ins Zimmer geeilt kam, weinte sie immer noch. Sophie trug noch das Fischerhemd und die rostroten Segeltuchhosen, die sie angehabt hatte, als Schwester Rogers anrief, und sie hatte einen gewaltigen Strauß Heidekrautastern im Arm, die sie auf dem Weg durch den Garten schnell auf ihren Rabatten gepflückt hatte.
»O Liebling, du bist so ein tapferes Mädchen, ohne Arzt und.« Sie legte die Blumen auf einen Stuhl und eilte zum Bett, um ihr Kind zu umarmen. »Schwester Rogers sagt.« Sie hielt inne. Die Freude schwand aus ihrem Gesicht und wurde von einem Ausdruck akuter Besorgnis abgelöst. »Penelope.« Sie setzte sich auf den Bettrand und griff nach Penelopes Hand. »Mein Liebling, was ist denn? Warum weinst du? War es so schlimm, so schwer?«
Penelope schüttelte schluchzend den Kopf. Sie konnte kein Wort hervorbringen. Ihre Nase lief, und ihr Gesicht war fleckig und geschwollen.
»Da, nimm.« Sophie zog, praktisch wie immer, ein sauberes, frisch duftendes Taschentuch hervor. »Putz dir die Nase und wisch die Tränen ab.«
Penelope nahm das Taschentuch und tat es. Sie fühlte sich bereits ein klein wenig besser. Sophies bloße Anwesenheit, die Tatsache, daß sie neben ihr saß, ließ alles in einem anderen Licht erscheinen. Als sie sich geschneuzt, die Tränen abgetupft und noch ein wenig geschnieft hatte, fühlte sie sich stark genug, um sich aufzusetzen, und Sophie schüttelte rasch das Kissen auf und drehte es um, so daß die tränenbenetzte Seite nach unten zu liegen kam. »So. Und jetzt sag mir, was los ist? Ist mit dem Baby etwas nicht in Ordnung?«
»Nein. Nein, das Baby ist es nicht.«
»Was ist es dann?«
»O Sophie. Es ist Ambrose. Ich liebe ihn nicht. Ich hätte ihn nicht heiraten dürfen.«
Es war heraus. Es war gesagt. Sie empfand eine unendliche Erleichterung, es laut und deutlich zugegeben zu haben. Sie begegnete dem Blick ihrer Mutter, sie sah den ernsten und erschrockenen Ausdruck in ihren Augen, aber Sophie war wie üblich weder überrascht noch entsetzt. Sie saß nur einen Moment stumm da, und dann sagte sie leise seinen Namen, »Ambrose«, als wäre er die Antwort auf ein ungelöstes Rätsel.
»Ja. Jetzt weiß ich es. Es war alles ein furchtbarer Fehler.«
»Wann hast du es gemerkt?«
»An jenem Wochenende. Schon als er aus dem Zug stieg und mir auf dem Bahnsteig entgegenkam, schwante mir nichts Gutes. Es war, als wenn ein Fremder käme, und noch dazu einer, den ich nicht sehr gern sehen wollte. Ich hatte nicht gedacht, daß es so sein würde. Ich war ein bißchen schüchtern und verlegen, ihn nach all den Monaten wiederzusehen, aber ich hatte mir nicht vorgestellt, daß es so sein würde. Als ich dann mit ihm nach Cam Cottage zurückfuhr und der Regen aufs Wagendach prasselte, versuchte ich, so zu tun, als ob es nichts weiter wäre - nur eine gewisse Befangenheit, die ganz natürlich sei nach einer solchen Trennung. Aber sobald wir das Haus betreten hatten, wußte ich, daß es hoffnungslos war. Er war nicht richtig. Er stimmte einfach nicht. Das Haus lehnte ihn ab, und er paßte nicht zu mir und zu uns. Und danach ist es immer schlimmer geworden.«
Sophie sagte: »Ich hoffe, es hat nichts mit Papa und mir zu tun.«
»O nein, nein«, versicherte Penelope ihr hastig. »Ihr wart furchtbar nett zu ihm, alle beide. Ich war es, die ihn schlecht behandelt hat. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Er langweilte mich. Er ödete mich an. Es war, als wäre der unerträglichste Fremde zu Besuch da. Du weißt ja, wie es ist, wenn irgend jemand sagt, der und der kommt in die Stadt, er ist sehr nett, seid freundlich zu ihm, und man ist freundlich und lädt ihn übers Wochenende ein, und dann ist es ein einziger Alptraum, und man hält es kaum aus. Ich weiß, es hat die ganze Zeit geregnet, aber das hätte keine Rolle spielen dürfen. Es lag an ihm. Er war so uninteressant, so nutzlos. Weißt du, daß er nicht mal seine Schuhe putzen konnte? Er hat seine Schuhe noch nie selbst geputzt. Und er war gemein zu Doris und Ernie, und die Jungs waren für ihn nichts weiter als zwei Rotznasen. Er ist ein Snob. Er konnte nicht verstehen, warum wir die Mahlzeiten immer alle zusammen einnehmen. Er konnte nicht begreifen, warum wir Doris und Clark und Ronald nicht dazu zwingen, in der Küche zu wohnen. Ich glaube, das hat mich mehr aufgebracht als alles andere. Ich hatte nicht gewußt, daß er oder irgend jemand solche Dinge denken und sie sagen kann. So unmenschlich sein kann.«
»Ich finde, du solltest gerecht zu ihm sein und ihm keinen Vorwurf daraus machen, Liebling. Er ist so erzogen worden. Vielleicht sind wir es, die sich merkwürdig benehmen. Wir haben immer anders gelebt als andere Leute.«
Aber Penelope war nicht zu beruhigen. »Es war nicht nur er. Wie ich eben gesagt habe, lag es auch an mir. Ich war abscheulich zu ihm. Ich habe nicht gewußt, daß ich so abscheulich sein kann. Ich wollte ihn nicht im Haus haben. Ich wollte mich nicht von ihm anfassen lassen. Ich wollte nicht mit ihm schlafen.«
»In Anbetracht der Umstände, in denen du warst, wundert mich das nicht.«
»Er hat sich aber gewundert. Er war wütend und nahm es mir übel.« Sie sah Sophie verzagt an. »Es ist alles meine Schuld. Du hast damals gesagt, ich sollte ihn nur heiraten, wenn ich ihn wirklich liebte, und ich habe nicht auf dich gehört. Aber ich weiß, daß ich ihn niemals geheiratet hätte, wenn ich eine Gelegenheit gehabt hätte, ihn nach Cam Cottage zu bringen, um euch kennenzulernen.« Sophie seufzte. »Ja. Es ist ein Jammer, daß dafür keine Zeit war. Und es ist ein Jammer, daß Papa und ich nicht zu eurer Hochzeit kommen konnten. Vielleicht hättest du es dir noch im letzten Augenblick anders überlegen und alles absagen können. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Wir können es nicht rückgängig machen.«
»Du hast ihn nicht gemocht, nicht wahr, Sophie? Und Papa auch nicht? Habt ihr gedacht, ich hätte den Verstand verloren?«
»Nein, das haben wir nicht gedacht.«
»Was soll ich tun?«
»Liebling, im Augenblick kannst du gar nichts tun. Außer ein bißchen erwachsen zu werden, glaube ich. Du bist kein Kind mehr. Du hast ein Baby, du hast eine große Verantwortung. Wir sind mitten in diesem furchtbaren Krieg, und dein Mann ist auf seinem Schiff und schützt die Atlantikkonvois. Du kannst nichts anderes tun, als dich einstweilen mit der Situation abzufinden und so weiterzumachen, als ob nichts wäre. Außerdem.« Sie lächelte, als sie daran zurückdachte. »Außerdem hat er uns zu einem schlechten Zeitpunkt besucht. Dieser ununterbrochene Regen, und Tante Ethel mit ihren Zigaretten und ihrem Gin und ihren skandalösen und unmißverständlichen Bemerkungen. Und was dich betrifft, so ist man nie ganz so wie sonst, wenn man schwanger ist. Vielleicht wird es anders sein, wenn du ihn das nächste Mal siehst. Vielleicht fühlst du dann anders.«
»Aber ich habe mich benommen wie ein dummes Ding.«
»Nein. Du warst einfach jung, und du warst den Umständen nicht gewachsen. Und jetzt tu mir einen Gefallen und mach wieder ein fröhliches Gesicht. Lächle und läute nach Schwester Rogers, damit sie das Baby bringt und ich mein erstes Enkelkind endlich zu sehen bekomme. Und wir werden vergessen, daß dieses Gespräch jemals stattgefunden hat.«
»Wirst du es Papa sagen?«
»Nein. Es würde ihn beunruhigen, und ich möchte nicht, daß er sich Sorgen macht.«
»Aber du hast doch nie Geheimnisse vor ihm.«
»Diesmal mache ich eben eine Ausnahme.«
Nicht nur Penelope war ratlos über das Aussehen des Babys. Als Lawrence am nächsten Tag kam, um die Kleine in Augenschein zu nehmen, war er ebenso verwirrt. »Sag mal, wem sieht sie eigentlich ähnlich?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Sie ist sehr süß, aber sie scheint nichts mit dir oder mit ihrem Vater zu tun zu haben. Vielleicht hat sie Ähnlichkeit mit Ambroses Mutter?«
»Kein bißchen. Ich glaube jetzt, sie ist ein Atavismus aus einer früheren Generation. Wahrscheinlich das Ebenbild einer längst vermoderten Ahnfrau. Aber wie dem auch sei, es ist mir ein Rätsel.«
»Sei’s drum. Ihr scheint jedenfalls nichts Wichtiges zu fehlen, und nur das zählt.«
»Wissen die Keelings schon Bescheid?«
»Ja, ich habe Ambrose aufs Schiff telegrafiert, und Sophie hat seine Mutter im Hotel angerufen.«
Penelope verzog das Gesicht. »Die gute Sophie. Und was hat Dolly Keeling gesagt?«
»Sie war anscheinend überglücklich. Hat immer gehofft, daß es ein Mädchen werden wird.«
»Ich wette, sie erzählt all ihren Leuten und dieser blöden Lady Beamish, es sei ein Siebenmonatskind.«
»Oh, na ja, warum nicht, wenn es für sie so wichtig ist?« Lawrence zögerte kurz und fuhr dann fort. »Und sie hat gesagt, daß es sehr schön wäre, wenn das Baby Nancy heißen könnte.«
»Nancy? Wie kommt sie denn darauf?«
»Ihre Mutter hieß so. Vielleicht ist es keine schlechte Idee. Du weißt ja, um die Wogen ein bißchen zu glätten«, erläuterte er mit einer ausdrucksvollen Handbewegung.
»Meinetwegen, nennen wir sie Nancy.« Penelope richtete sich auf und blickte auf das Gesicht des Babys hinunter. »Nancy. Irgendwie paßt der Name ganz gut zu ihr.«
Der Name des Kindes bereitete Lawrence nicht so viele Sorgen wie sein künftiges Verhalten.
»Es wird doch nicht von morgens bis abends schreien, nicht wahr? Ich kann plärrende Kinder nicht ausstehen.«
»O Papa, natürlich nicht. Sie ist sehr friedlich. Sie trinkt, und dann schläft sie, und dann wacht sie auf und saugt ihre Mutter wieder leer.«
»Kleine Kannibalin.«
»Glaubst du, sie wird hübsch werden, Papa? Du hast doch immer einen guten Blick für hübsche Gesichter gehabt.«
»Sie wird niedlich aussehen. Ein Renoir-Gesicht. Rosig und blühend. Eine Rose!«
Und dann Doris. Die meisten Evakuierten waren, des langen Zwangsexils müde, in ihrer abgetragenen Kleidung nach London zurückgekehrt, aber Doris und Ronald und Clark waren geblieben, wohnten nun auf Dauer in Cam Cottage und gehörten zur Familie. Bert, Doris’ Mann, war im Juni, während des Rückzugs der britischen Expeditionstruppen von der französischen Küste, gefallen. Der Telegrammjunge kam vom Postamt Porthkerris den Hügel heraufgeradelt und überbrachte die Nachricht. Er machte die Pforte auf und lief, vor sich hinpfeifend, durch den Garten, wo Sophie und Penelope damit beschäftigt waren, das Unkraut in den Rabatten zu jäten.
»Telegramm für Mrs. Potter.«
Sophie, die auf dem Boden kniete und die Hände voll Erde hatte, hob ihren zerzausten Kopf, und ihr Gesicht bekam einen Ausdruck, den Penelope noch nie gesehen hatte. »Oh, mon Dieu«, flüsterte sie rauh.
Sie nahm den orangefarbenen Umschlag, und der Junge ging wieder. Die Pforte knallte hinter ihm zu.
»Sophie?«
»Bestimmt ihr Mann.«
Nach einer Weile flüsterte Penelope: »Was sollen wir tun?« Sophie antwortete nicht. Sie wischte sich einfach die Hand am Hosenboden ab und schlitzte den Umschlag mit ihrem schmutzigen Daumen auf. Sie nahm das Telegramm heraus und las es, und faltete es dann wieder zusammen und steckte es in den Umschlag zurück.
»Ja«, sagte sie. »Er ist gefallen.« Sie stand auf. »Wo ist Doris?«
»Hinten auf der Wiese. Sie hängt Wäsche auf.«
» Und die Jungen?«
»Sie müssen jeden Augenblick von der Schule kommen.«
»Ich muß es ihr sagen, bevor sie da sind. Halt sie hier fest und gib ihnen irgendwas zu tun, wenn ich bis dann nicht zurück bin. Sie muß Zeit haben. Sie braucht Zeit, ehe sie es ihnen sagen kann.«
»Arme Doris.« Es klang entsetzlich unzulänglich, banal, sogar einfältig. Aber was fiel einem sonst zu sagen ein? »Ja. Arme Doris.«
»Was wird sie tun?«
Doris benahm sich ungeheuer tapfer. Sie weinte natürlich und ließ ihrem Kummer und Zorn in einer heftigen Tirade gegen ihren jungen Ehemann, der so verdammt idiotisch gewesen sei, in den Krieg zu gehen und sich umbringen zu lassen, freien Lauf. Doch als das vorbei war und sie sich zusammengerissen hatte, mit Sophie am Küchentisch saß und eine Tasse starken schwarzen Tee trank, drehten sich alle ihre Gedanken um ihre beiden Söhne. »Die armen kleinen Teufel, was für ein Leben werden sie ohne einen Dad haben?«
»Kinder verkraften eine Menge.«
»Wie zum Teufel soll ich es schaffen?«
»Sie werden es schaffen. Irgendwie.«
»Angenommen, ich gehe wieder zurück nach Hackney. Berts Mam... na ja, sie kann mich vielleicht brauchen. Sie wird die Jungs sehen wollen.«
»Ich finde, Sie sollten gehen. Helfen Sie ihr, das Schlimmste zu überstehen. Und wenn es ihr wieder einigermaßen geht, kommen Sie wieder zu uns. Die Jungen fühlen sich hier wohl, sie haben Freunde gefunden, und es wäre grausam, sie wieder zu verpflanzen. Lassen Sie ihnen das bißchen an Sicherheit und Geborgenheit, was sie haben.«
Doris starrte Sophie an. Sie schniefte ein wenig. Sie hatte eben erst aufgehört zu weinen, und ihr Gesicht war noch ganz rot und geschwollen. »Aber ich kann nicht einfach hier bleiben, ich meine, in alle Ewigkeit.«
»Warum nicht? Sie fühlen sich doch wohl bei uns, nicht wahr?«
»Sie sagen es nicht nur aus Mitleid?«
»Oh, meine liebe Doris, ich weiß nicht, was wir ohne Sie tun sollten. Und die Jungs sind wie unsere eigenen Kinder.
Wir würden Sie so vermissen, wenn Sie nicht mehr da wären.«
Doris dachte darüber nach. »Ich würde am liebsten hier bleiben. Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie hier. Und jetzt, wo Bertie nicht mehr da ist.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Nicht weinen, Doris. Die Jungen dürfen Sie nicht weinen sehen. Sie müssen Ihnen zeigen, daß man tapfer sein muß. Ihnen sagen, daß sie stolz auf ihren Vater sein müssen, der für eine so große Sache gestorben ist, für all die armen Menschen in Europa. Sie zu guten Menschen machen, wie er es war.«
»So gut war er nun auch wieder nicht. Er hat mich manchmal verdammt in Rage gebracht.« Die Tränen versiegten, ehe sie wieder geflossen waren, und ein ganz schwaches Lächeln trat in ihr Gesicht. »Wenn er betrunken vom Fußball nach Haus kam und mit Schuhen und allem ins Bett plumpste.«
»Vergessen Sie diese Dinge nicht«, sagte Sophie eindringlich. »Sie alle haben den Menschen ausgemacht, der er war. Es ist gut, nicht nur die schönen Zeiten im Gedächtnis zu behalten, sondern auch die schlechten. Das Leben besteht nämlich aus beiden.« Und so blieb Doris. Und als Penelopes Baby zur Welt gekommen war, konnte sie es nicht abwarten, das kleine Ding zu sehen. Ein Mädchen. Doris hatte sich immer eine Tochter gewünscht, und nun, wo Bert tot war, sah es nicht so aus, als würde sie je eine bekommen. Aber dieses Baby. Sie war die einzige, die vom ersten Augenblick an in die Kleine vernarrt war.
»Oooh, sie ist so wunderschön.«
»Findest du?«
»Penelope, sie ist wunderschön. Darf ich sie auf den Arm nehmen?«
»Natürlich.«
Doris beugte sich nach unten, nahm das Baby in ihre starken und geübten Arme und betrachtete sie mit einem Ausdruck mütterlicher Liebe, der Penelope beschämt machte, weil sie wußte, daß sie nicht imstande war, eine so grenzenlose und offensichtliche Hingabe zu zeigen.
»Keiner von uns weiß, wem sie ähnlich sieht.« Aber Doris wußte es. Doris wußte ohne den Schatten eines Zweifels, wem sie ähnelte. »Sie sieht genauso aus wie Betty Grable.« Und sobald Penelope mit ihrem Kind nach Cam Cottage zurückgekehrt war, nahm Doris sich der kleinen Nancy an, und Penelope ließ sie gern gewähren und beruhigte ihr schlechtes Gewissen mit dem Argument, sie tue Doris damit einen Gefallen und mache sie glücklich. Es war Doris, die Nancy badete und ihre Windeln wusch und ihr, als Penelope keine Lust mehr hatte, sie zu stillen, die Flasche machte und sie auf einem niedrigen Stuhl in der warmen Küche oder im Wohnzimmer am Kamin fütterte. Ronald und Clark beteten sie ebenfalls an und brachten ihre Schulfreunde mit, um den Neuankömmling zu bewundern. Der Winter ging dahin, und Nancy gedieh, bekam richtiges Haar und Zähne und wurde immer dicker. Sophie holte Penelopes alten hochrädrigen, mit Lederriemen gefederten Kinderwagen aus dem Geräteschuppen, Doris putzte und wienerte ihn und schob ihn stolz die Hügel von Porthkerris hinauf und hinunter und blieb zwischendurch oft stehen, um Nancy allen Vorbeikommenden zu zeigen, die sich für sie interessierten, und vielen, die es nicht taten.
Nancy blieb ein friedfertiges und folgsames Kind. Sie lag im Garten in ihrer Wiege und schlief oder schaute stillzufrieden zu den Wolken hoch, die über den Himmel zogen, oder beobachtete die zarten Zweige des Kirschbaums. Als der Frühling kam und die Blüten fielen, war ihre Decke mit weißen Blütenblättern besät. Bald lag sie auf einem Vorleger und tastete nach ihrer Kinderrassel. Dann konnte sie sitzen und schlug zwei Wäscheklammern aneinander.
Jenseits dieser winzigen häuslichen Welt tobte der Krieg inzwischen immer heftiger, und alle zitterten vor dem, was noch kommen mochte. Europa war besetzt, Lawrences geliebtes Frankreich überrannt, und es verging kein Tag, an dem er sich nicht um seine zweite Heimat sorgte und Angst um seine alten Freunde ausstand. Im Atlantik lauerten U-Boote und machten Jagd auf die langsamen Konvois von Handelsschiffen, die im Geleitschutz von Zerstörern fuhren. Die Englandschlacht war gewonnen, doch zu einem entsetzlichen Preis an Piloten, Flugzeugen und Flugplätzen, und die Armee, die nach Frankreich und Dünkirchen neu organisiert worden war, bezog in Erwartung des nächsten Ansturms der deutschen Kriegsmaschinerie Stellungen in Gibraltar und Alexandria.
Die Bombardierungen hatten begonnen. Die endlosen Luftangriffe auf London. Nacht für Nacht heulten die Sirenen, und Nacht für Nacht flogen Heinkel-Geschwader todbringenden Ungeheuern gleich von Frankreich über den Kanal, um ihre schaurige Last über der Hauptstadt abzuladen.
Sie hörten in Cam Cottage jeden Morgen die Nachrichten, und ihre Herzen bluteten für London. Sophie sorgte sich insbesondere um das Haus in der Oakley Street und die Menschen, die dort wohnten. Die Friedmanns waren auf ihre Anweisung vom Dachgeschoß in das Souterrain gezogen, aber die Cliffords waren in ihren alten Zimmern geblieben, im ersten Stock, und jedesmal, wenn ein Luftangriff gemeldet wurde (was fast jeden Morgen geschah), malte Sophie sich aus, sie seien tot, verwundet, verbrannt oder unter Trümmern begraben.
»Sie sind zu alt, um all das Schreckliche zu verkraften«, sagte sie zu ihrem Mann. »Warum bitten wir sie nicht, hierher zu kommen und bei uns zu wohnen?«
»O Liebling, wir haben keinen Platz. Und selbst wenn wir welchen hätten, würden sie nicht kommen. Das weißt du doch. Sie sind Londoner. Sie würden nie gehen.«
»Ich wäre ruhiger, wenn ich sie sehen könnte. Mit ihnen reden. Mich vergewissern, daß es ihnen gut geht.«
Lawrence beobachtete seine junge Frau verstohlen und spürte ihre innere Unruhe. Sie saß nun schon seit zwei Jahren hier in Porthkerris fest, seine Sophie, die während ihrer ganzen Ehe nie länger als drei Monate hintereinander an einem Ort gewesen war. Und Porthkerris war jetzt, im Krieg, grau und trist und leer, ganz anders als der betriebsame kleine Ort, zu dem sie vor dem Krieg jeden Sommer dankbar geflohen waren. Sie langweilte sich nicht, weil sie sich nie langweilte, aber der Alltag wurde immer schwieriger, da Lebensmittel knapp wurden, die Zuteilungen kleiner und jeden Tag irgendeine Ware oder ein Artikel - Haarshampoo, Zigaretten, Zündhölzer, Kamerafilme, Whisky, Gin - , eine jener kleinen Annehmlichkeiten, die das Leben ein wenig leichter machten, aus den Regalen verschwand. Man mußte für alles Schlange stehen, und dann mußte man es den weiten Weg den Hügel hinaufschleppen, weil die Geschäftsleute alle nicht mehr genug Benzin hatten, um ihre Kunden zu beliefern. Benzin war vielleicht die größte Mangelware. Sie hatten immer noch den alten Bentley, aber er stand die meiste Zeit in dem dunklen Gewölbe von Grabneys Autowerkstatt, weil sie einfach nicht genug Benzin zugeteilt bekamen, um mehr als ein paar Kilometer zu fahren.
Deshalb verstand er ihre Unruhe. Da er viele Frauen gekannt hatte, konnte er sich in sie hineinversetzen und hatte Verständnis. Er wußte, daß sie, obgleich es ihr vielleicht nur unterschwellig bewußt war, für einige Tage von ihnen allen fortgehen sollte. Er ließ sich Zeit, wartete auf eine Gelegenheit, das Thema zur Sprache zu bringen, aber sie schienen neuerdings keine Minute mehr allein zu sein, da es in dem kleinen Haus zuging wie in einem Taubenschlag. Doris und die Jungen und nun Penelope und das Baby waren überall, in jedem Zimmer, von morgens früh bis in den Abend hinein, und wenn sie dann endlich schlafen gingen, war Sophie so erschöpft, daß sie, wenn er sich ausgezogen hatte und zu ihr kam, gewöhnlich schon in einen tiefen und traumlosen Schlaf gefallen war. Eines Tages konnte er dann endlich unter vier Augen mit ihr sprechen. Er hatte Kartoffeln geerntet, was ihm große Mühe bereitete, da seine verkrüppelten Hände Schwierigkeiten hatten, den Spaten zu führen und die Knollen aus der Erde herauszusuchen, aber er hatte endlich einen Korb voll und brachte ihn durch die Hintertür in die Küche, wo seine Frau am Tisch saß und mit resignierter Miene einen Weißkohl kleinschnitt. »Kartoffeln.« Er stellte den Korb neben den Herd. Sie lächelte. Selbst wenn sie in einem Tief steckte, hatte sie für ihn immer jenes Lächeln. Er zog sich einen Stuhl heran, setzte sich und betrachtete sie. Sie war zu dünn. Um ihren Mund waren scharfe Linien, um die schönen dunklen Augen feine Runzeln. Er sagte: »Endlich sind wir mal allein. Wo sind die anderen?«
»Penelope und Doris sind mit den Kindern zum Strand gegangen. Sie werden gleich wieder da sein. Sie wollten zum Essen zurückkommen.« Sie bearbeitete den Kohlkopf weiter. »Und ich setze ihnen das hier vor, und die Jungen werden bestimmt sagen, daß sie keinen Kohl mehr sehen können.«
»Nur Kohl? Sonst nichts?«
»Makkaroniauflauf.«
»Du machst den besten Makkaroniauflauf, den es gibt.«
»Er ist langweilig. Es ist langweilig, ihn zu machen und er schmeckt langweilig. Ich kann verstehen, wenn sie nörgeln.« Er sagte: »Du arbeitest zuviel.«
»Nein.«
»Doch. Du bist erschöpft und hast es satt.«
Sie sah auf und erwiderte seinen Blick. Nach einer Weile sagte sie. »Sieht man das so sehr?«
»Nur ich sehe es. Weil ich dich so gut kenne.«
»Entschuldige. Ich schäme mich. Ich hasse mich. Warum sollte ich unzufrieden sein? Aber ich komme mir so nutzlos vor. Was tue ich eigentlich? Ich arbeite im Garten und koche. Ich denke an all die armen Frauen in Europa, und ich hasse mich, aber ich kann nichts dagegen tun. Und wenn ich losgehe und für ein paar Stücke Ochsenschwanz anstehe, die dann jemand anders kauft, denke ich, daß ich gleich einen hysterischen Anfall bekommen werde.«
»Du solltest für ein oder zwei Tage fort.«
»Fort?«
»Fahr nach London. Sieh nach dem Haus. Du kannst oben bei den Cliffords wohnen. Finde wieder zu dir selbst.« Er legte seine Hand auf die ihre, machte sie mit Erde vom Kartoffelbeet schmutzig. »Wir hören in den Nachrichten von den Bomben und sind entsetzt, aber das Grauen aus zweiter Hand ist oft schlimmer als in Wirklichkeit. Die Phantasie spielt verrückt, und man gerät in Panik. Aber in der Realität ist fast nie etwas so schlimm, wie wir es uns ausmalen. Warum fährst du nicht nach London und stellst es selbst fest?« Sophie, die schon nicht mehr ganz so mutlos dreinblickte wie eben, dachte über den Vorschlag nach. »Kommst du mit?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Liebes. Ich bin zu alt für nichtige kleine Zerstreuungen, und nichtige kleine Zerstreuungen sind genau das, was du jetzt brauchst. Wohn bei den Cliffords, trink Tee mit Elizabeth. Laß dich von Peter zum Lunch ins Berkeley oder ins L ’Ecu de France führen. Soweit ich weiß, ist das Essen dort immer noch sehr gut, trotz der Rationierung. Ruf deine Freunde an. Geh in ein Konzert oder ins Theater. Das Leben geht weiter. Sogar im Krieg in London. Vielleicht besonders im Krieg in London.«
»Aber wird es dir auch bestimmt nichts ausmachen, wenn ich ohne dich fahre?«
»Mehr, als ich sagen kann. Es wird kein Augenblick vergehen, wo ich dich nicht vermissen werde.«
»Und dann drei ganze Tage. Könntest du es drei Tage aushalten?«
»Ja, ich kann. Und wenn du wieder da bist, kannst du mir drei Wochen lang erzählen, was du alles gemacht hast.«
»Lawrence, ich liebe dich so sehr.«
Er schüttelte den Kopf, nicht um abzuwehren oder es zu verneinen, sondern um sie wissen zu lassen, daß es nicht notwendig sei, ihm das zu versichern. Er beugte sich vor und küßte sie auf den Mund, und dann stand er auf und ging zum Spülbecken, um sich die Hände zu waschen.
Am Abend vor ihrer Abreise ging Sophie früh zu Bett. Doris war bei einer Tanzerei im Bürgersaal des Rathauses, und die Kinder schliefen schon. Penelope und Lawrence blieben noch auf und hörten ein Konzert im Radio, aber dann fing Penelope an zu gähnen, legte ihr Strickzeug beiseite, gab ihrem Vater einen Gutenachtkuß und ging nach oben. Die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern stand offen, und drinnen brannte noch Licht. Penelope steckte den Kopf durch die Tür. Sophie lag im Bett und las.
»Ich dachte, du wolltest einen Schönheitsschlaf halten.«
»Ja, aber ich bin zu aufgeregt und kann nicht einschlafen.« Sie legte das Buch auf die Daunendecke. Penelope ging ins Zimmer und setzte sich neben sie. »Ich wünschte, du kämest mit.«
»Nein. Papa hat recht. Du wirst allein viel mehr Spaß haben.«
»Was soll ich dir mitbringen?«
»Mir fällt nichts ein.«
»Ich werde sehen, ob ich etwas Besonderes finde. Etwas, worauf du nie gekommen wärst.«
»Das wäre schön. Was liest du da?« Sie nahm das Buch hoch. »Elisabeth und ihr deutscher Garten. O Sophie, das mußt du doch schon hundertmal gelesen haben.«
»Mindestens. Aber ich greife immer wieder danach. Es beruhigt mich. Und tröstet mich. Es erinnert mich an die Welt, die es einmal gab und die es nie wieder geben wird, wenn der Krieg zu Ende ist.«
Penelope schlug es aufs Geratewohl auf und las laut: »Ich bin wahrlich eine glückliche Frau, ich lebe mit Büchern, Kindern, Vögeln und Blumen in einem Garten und habe viel Muße, all das zu genießen.« Sie lachte und legte das Buch wieder hin. »Du hast das alles auch. Nur die Muße fehlt dir. Gute Nacht.« Sie gaben sich einen Kuß. »Gute Nacht, Liebling.«
Sie rief aus London an, und ihre Stimme klang fröhlich, und trotz des Rauschens und Knisterns in der Leitung konnte er die freudige Erregung darin sehr gut hören. »Lawrence? Ich bin’s, Sophie. Wie geht es dir, Liebling? Ja, es ist großartig. Du hast recht gehabt, es ist nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe. Ja, natürlich gibt es Bombenschäden, in manchen Straßen fehlen ganze Häuser, es sieht aus wie scheußliche Zahnlücken, aber alle sind sehr tapfer und optimistisch und machen so weiter, als ob nichts geschehen wäre. Und es ist jede Menge los. Wir waren zu zwei Konzerten, eins davon war eine Matinee mit Myra Heß, es hätte dir bestimmt sehr gefallen! Und ich habe die Ellingtons besucht und diesen netten Jungen, Ralph, der damals studiert hat, er ist jetzt bei der Royal Air Force. Das Haus steht noch und hat allen Druckwellen getrotzt, es ist herrlich, wieder daheim zu sein, und Willi Friedmann baut im Garten Gemüse an!«
Als sie kurz innehielt, so daß er etwas einwerfen konnte, fragte er: »Was machst du heute abend?«
»Wir sind bei den Dickins zum Essen eingeladen - Peter und Elizabeth und ich. Du erinnerst dich sicher an sie, er ist Arzt und hat früher mit Peter zusammengearbeitet. sie wohnen draußen bei Hurlingham.«
»Wie kommt ihr dorthin?«
»Oh, mit dem Taxi oder mit der U-Bahn. Du solltest die U-Bahnstationen sehen, nachts schlafen Hunderte und Tausende von Menschen darin. O Liebling, es piepst schon, ich muß Schluß machen. Grüß bitte alle und bis übermorgen.«
In jener Nacht fuhr Penelope erschrocken aus dem Schlaf hoch. Da war etwas gewesen - ein Geräusch, ein Schrei. Vielleicht das Baby. Hatte Nancy geschrien? Sie horchte angestrengt, doch alles, was sie hörte, war das beängstigende Pochen ihres eigenen Herzens. Es ließ langsam nach. Dann hörte sie Schritte auf dem Flur, ein Knarren auf der Treppe, das Klicken eines Lichtschalters. Sie stieg aus dem Bett, ging hinaus und beugte sich über das Geländer. In der Diele brannte Licht. »Papa?«
Keine Antwort. Sie wandte sich um und sah in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Das Bett war zerwühlt, aber leer. Sie kehrte zur Treppe zurück und zögerte. Was tat er? War er krank? Sie horchte und hörte, wie er im Wohnzimmer hin und her ging. Dann war alles still. Er war wach, das war alles. Wenn er nachts nicht schlafen konnte, tat er das manchmal: Er ging nach unten, legte ein paar Scheite nach, suchte sich ein Buch zum Lesen.
Sie ging ins Bett zurück, aber sie konnte nicht wieder einschlafen. Sie lag im dunklen Zimmer und betrachtete den grauschwarzen Himmel hinter dem Fensterviereck. Unten am Strand murmelte das auflaufende Wasser, und die langen Wellen brachen sich mit einem eindringlichen Raunen. Sie horchte auf die Geräusche des Meeres und wartete mit offenen Augen auf das Morgengrauen. Um sieben Uhr stand sie auf und ging nach unten. Er hatte das Radio angeschaltet. Es gab Musik. Er wartete auf die Frühnachrichten. »Papa.«
Er hob die Hand und gab ihr ein Zeichen, nicht weiterzureden. Die Musik verklang. Das Zeitzeichen ertönte. »Hier London. Sie hören die Siebenuhrnachrichten, gesprochen von Alvar Liddell.« Die gleichmütige und nüchterne Stimme berichtete, was geschehen war. Berichtete von dem nächtlichen Luftangriff auf London. Die Stadt war mit Brandbomben, Landminen, Sprengbomben belegt worden. In manchen Straßen brannte es noch, aber die Feuer waren unter Kontrolle. Die Hafenanlagen waren getroffen worden.
Penelope streckte die Hand aus und schaltete das Radio aus. Lawrence blickte zu ihr hoch. Er hatte seinen alten Morgenmantel von Jaeger an, und die Bartstoppeln auf seinem Kinn schimmerten weiß.
Er sagte: »Ich konnte nicht schlafen.«
»Ich weiß. Ich habe gehört, wie du hinuntergegangen bist.«
»Ich habe hier gesessen und auf den Morgen gewartet.«
»Es hat schon viele Bombenangriffe gegeben. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wir trinken jetzt eine Tasse Tee, und dann rufen wir in der Oakley Street an. Es ist bestimmt nichts passiert, Papa.«
Sie versuchten, ein Gespräch anzumelden, aber die Vermittlung sagte, nach dem Luftangriff von gestern nacht seien alle Leitungen nach London unterbrochen. Sie versuchten es den ganzen Morgen jede Stunde. Ohne Erfolg.
»Sophie versucht bestimmt, uns anzurufen, Papa, genauso wie wir versuchen, sie zu erreichen. Sie wird genauso nervös und unruhig sein wie wir, weil sie weiß, daß wir uns Sorgen machen.« Es war Mittag, als das Telefon endlich klingelte. Penelope, die gerade am Spülbecken stand und Gemüse für eine Suppe putzte, hörte es, ließ das Messer fallen und rannte, sich unterwegs die Hände an der Schürze abwischend, ins Wohnzimmer. Lawrence, der neben dem Apparat saß, hatte jedoch schon abgenommen. Sie kniete sich neben ihn hin, und beugte sich, um kein Wort zu verpassen, dicht zu ihm.
»Hallo? Hier Cam Cottage. Hallo?«
Ein Summen, ein hoher schriller Ton, ein merkwürdiges schnarrendes Geräusch, und dann endlich: »Hallo.« Aber es war nicht Sophies Stimme. »Hier Lawrence Stern.«
»Oh, Lawrence, ich bin’s, Lalla Friedmann. Ja, Lalla aus der Oakley Street. Ich habe erst jetzt Anschluß bekommen. Ich habe es seit zwei Stunden versucht. Ich.« Ihre Stimme brach, und sie verstummte. »Was ist, Lalla?«
»Sie sind nicht allein?«
»Nein, Penelope ist bei mir. Es. es ist Sophie, nicht wahr?«
»ja. O Lawrence. Und die Cliffords. Alle. Sie sind alle tot. Das Haus der Dickins ist von einer Landmine getroffen worden. Es ist nichts geblieben. Willi und ich sind da gewesen. Als sie heute morgen immer noch nicht wieder da waren, hat Willi versucht, bei den Dickins anzurufen, aber er bekam natürlich keinen Anschluß. Also sind wir hingefahren, um zu sehen, was geschehen ist. Wir sind einmal Weihnachten da gewesen und wußten den Weg. Wir nahmen ein Taxi, aber dann mußten wir zu Fuß gehen...« Es ist nichts geblieben.
»...und als wir das Ende der Straße erreichten, war alles abgesperrt, niemand durfte hingehen, und die Feuerwehrmänner waren noch an der Arbeit. Aber wir konnten es sehen. Das Haus war nicht mehr da. Man sah nur noch einen großen Trichter. In der Nähe stand ein Polizist, und ich redete mit ihm. Er war sehr freundlich, aber er sagte, es gebe keine Hoffnung. Keine Hoffnung, Lawrence.« Sie fing an zu weinen. »Alle. Tot. Es tut mir so leid. Es tut mir so schrecklich leid, daß ich es Ihnen sagen muß.« Es ist nichts geblieben. Lawrence sagte: »Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie selbst hingefahren sind und nachgesehen haben. Und es war sehr freundlich, daß Sie mich angerufen haben.«
»Mir ist in meinem ganzen Leben noch nie etwas so schwer gefallen.«
»Ja«, sagte Lawrence. »Ja.« Er saß da und starrte vor sich hin. Dann ließ er den Hörer sinken, und seine knotigen Finger zitterten heftig, als er ihn auf die Gabel legte. Penelope wandte den Kopf und legte ihn an seinen dicken Wollpullover. Die Stille, die nun folgte, war grenzenlos leer. Ein Vakuum. »Papa.«
Er hob die Hand und streichelte ihr Haar. »Papa.«
Sie blickte zu ihm hoch, und er schüttelte den Kopf. Sie wußte, daß er allein sein wollte. Und in diesem Augenblick sah sie, daß er alt war. Er war ihr noch nie alt vorgekommen, und sie wußte auf einmal, daß er nie wieder so sein würde wie früher. Sie stand auf, ging aus dem Zimmer und machte die Tür zu. Es ist nichts geblieben.
Sie ging nach oben, in das Schlafzimmer ihrer Eltern. Niemand hatte an diesem furchtbaren Morgen daran gedacht, das Bett zu machen. Das Laken war noch zerknittert, das Kissen eingebuchtet vom Kopf ihres schlaflosen Vaters. Er hatte es gewußt. Sie hatte es gewußt. Sie hatten gehofft und sich gezwungen, nicht den Mut zu verlieren, trotz der tödlichen Gewißheit. Sie hatten es beide gewußt.
Es ist nichts geblieben.
Auf Sophies Nachttisch lag das Buch, das sie an dem Abend, ehe sie nach London gefahren war, gelesen hatte. Penelope ging hin, setzte sich aufs Bett und nahm das Buch. Es klappte an jener oft gelesenen Seite von selbst auf.
»Ich bin wahrlich eine glückliche Frau, ich lebe mit Büchern, Kindern, Vögeln und Blumen in einem Garten und habe viel Muße, all das zu genießen. Manchmal ist mir, als wäre ich gesegnet vor allen meinen Mitmenschen, weil ich das Glück so leicht finden kann.«
Die Worte verschwammen und waren fort wie Gestalten, die man durch ein regengepeitschtes Fenster sieht. Das Glück so leicht zu finden. Sophie hatte es nicht nur gefunden, sie hatte es auch ausgestrahlt. Und nun war nichts geblieben. Das Buch glitt aus ihren Fingern. Sie legte sich hin, vergrub ihr tränenüberströmtes Gesicht in Sophies Kissen, und das Leinen war so kühl wie die Haut ihrer Mutter und noch erfüllt von ihrem süßen Duft, als hätte sie den Raum eben erst, vor einem Augenblick, verlassen.
