Im letzten Moment, als alles für das Dinner mit Hank Spotswood bereitstand, fiel Olivia ein, daß sie vergessen hatte, ihre Mutter anzurufen und ihr zu sagen, daß sie morgen gern nach Gloucestershire kommen und den Tag mit ihr verbringen würde. Das weiße Telefon stand neben dem Sofa, und sie setzte sich hin und fing an, die Nummer zu wählen, aber da hörte sie, wie ein Wagen langsam die Straße herunterkam und vor dem Haus hielt. Sie wußte instinktiv, daß es Hank war. Sie zögerte. Ihre Mutter liebte es, am Telefon von sich zu erzählen und nach Neuigkeiten zu fragen, und sie konnte ihr schlecht in drei Sekunden sagen, daß sie kommen würde, und dann Schluß machen. Sie hörte, wie die Pforte geöffnet wurde, und legte auf. Sie würde später anrufen. Penelope ging nie vor Mitternacht zu Bett.

Sie stand auf, strich das Kissen glatt, auf dem sie gesessen hatte, und blickte sich prüfend um. Alles war perfekt. Gedämpfte Beleuchtung, Gläser auf dem Bartisch, Eiswürfel im Kristallbehälter, leise, kaum hörbare Musik von der Hifi-Anlage. Sie drehte sich zu dem Spiegel über dem Kaminsims, fuhr sich über das Haar und schob den Kragen ihrer cremefarbenen, seidenen Chanel-Bluse zurecht. Sie hatte Ohrstecker mit Perlen gewählt, und auch ihr Make-up hatte einen matten Perlmuttschimmer, während sie tagsüber einen leuchtenden Ton und Kontraste bevorzugte. Schritte auf den Eingangsstufen. Es läutete. Sie ging ohne Eile zur Tür und machte auf.

»Guten Abend.«

Er stand im Regen an der Schwelle. Ein attraktiver Mann mit markanten Zügen, Ende vierzig, mit einem Blumenstrauß in der Hand. Wahrscheinlich langstielige Rosen. »Hi.«

»Kommen Sie herein. Ein schreckliches Wetter. Aber der Fahrer hat den Weg gefunden?«

»Ja, auf Anhieb.« Er trat in die Diele, sie machte die Tür zu, und er überreichte ihr die Blumen.

»Hoffentlich gefallen sie Ihnen.« Er lächelte. Sie hatte ganz vergessen, wie anziehend sein Lächeln war und was für ebenmäßige, wunderbar weiße Zähne er hatte.

»Oh, sie sind sehr schön.« Sie nahm sie und roch unwillkürlich daran, aber sie waren in irgendeinem Treibhaus gezogen worden, ohne Sonne, ohne natürliches Licht, und dufteten überhaupt nicht. »Vielen Dank, das ist sehr aufmerksam von Ihnen. Legen Sie ab und schenken Sie sich einen Drink ein, ich stelle sie inzwischen ins Wasser. «

Sie ging in die offene Küche, nahm eine Vase aus dem Schrank, füllte sie mit Wasser und stellte die Rosen einfach hinein, ohne sich die Mühe zu machen, sie zu arrangieren. Sie sahen trotzdem ausgezeichnet aus, sehr elegant, wie langstielige Rosen es an sich haben. Sie kehrte mit den Blumen ins Wohnzimmer zurück und gab ihnen den Ehrenplatz auf ihrem Nußbaumsekretär. Die tiefroten Blüten hoben sich wie große Blutstropfen von der weißen Wand ab. Sie drehte sich zu ihm um. »Wirklich sehr aufmerksam. Haben Sie das richtige gefunden?«

Er hatte. »Ich habe mir einen Scotch eingeschenkt. Ich hoffe, das ist okay.« Er stellte sein Glas hin. »Was möchten Sie?«

»Das gleiche. Mit Wasser und Eis, bitte.«

Sie setzte sich in die Sofaecke, zog die Beine hoch und sah zu, wie er mit Flaschen und Gläsern hantierte. Als er ihr den Drink brachte, streckte sie die Hand aus und nahm ihn, und dann holte er sein Glas und setzte sich in den Sessel rechts vom Kamin. Er hob das Glas. »Cheers.«

»Prost«, sagte Olivia.

Sie tranken. Sie fingen an, sich zu unterhalten. Es war alles ganz locker und zwanglos. Er bewunderte ihr Haus, interessierte sich für die Bilder, fragte nach ihrer Arbeit und wollte wissen, woher sie die Ridgeways kannte, auf deren Party sie sich vorgestern abend kennengelernt hatten. Und dann brauchte sie nicht lange zu fragen, um etwas über ihn zu erfahren. Er arbeitete in der Teppichindustrie und besuchte gerade die Internationale Bodenbelagsmesse. Er wohnte im Ritz. Er war New Yorker, arbeitete und wohnte jetzt aber in den Südstaaten, in Dalton, Georgia.

»Das muß eine große Umstellung gewesen sein. Von New York nach Georgia.«

»O ja.« Er blickte zu Boden und drehte sein Glas in der Hand. »Aber es kam genau zur rechten Zeit. Meine Frau und ich hatten uns kürzlich getrennt, und es machte all die Dinge viel einfacher.«

»Entschuldigung.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. So was kommt vor.«

»Haben Sie Kinder?«

»Ja. Zwei Teenager. Einen Jungen und ein Mädchen.«

»Sehen Sie sie dann und wann?«

»Selbstverständlich. Sie kommen in den Sommerferien immer zu mir. Der Süden ist schön für Kinder. Sie können praktisch das ganze Jahr über Tennis spielen und reiten und schwimmen. Wir sind im Country-Club, und sie treffen dort eine Menge Gleichaltrige.«

»Das klingt verlockend.«

Es entstand eine kleine Pause, die Olivia nicht beendete, weil sie ihm Gelegenheit geben wollte, seine Brieftasche herauszuholen und Fotos von seinen Kindern zu zeigen, was er zum Glück nicht tat. Sie mochte ihn immer mehr. Sie sagte: »Ihr Glas ist leer. Möchten Sie noch einen Drink?«

Sie redeten weiter. Das Gespräch drehte sich nun um gewichtigere Themen, um amerikanische Politik und das Handelsbilanzdefizit zwischen ihren beiden Ländern. Er hatte liberale und sehr nüchterne Ansichten, und obgleich er sagte, daß er die Republikaner wähle, schien er sich aufrichtig um die Probleme der Dritten Welt zu sorgen. Nach einer Weile blickte sie auf ihre Uhr und sah überrascht, daß es schon neun war.

Sie sagte: »Ich glaube, wir sollten langsam etwas essen.« Er stand auf, nahm die leeren Gläser und folgte ihr zur Eßecke. Sie knipste die Lampe an, und er sah den stilvoll mit einem weißen Leinentuch, Kristall und Silber gedeckten Tisch mit dem Liliengesteck in der Mitte. Die Beleuchtung war hell genug, um die kobaltblaue, von oben bis unten mit gerahmten Fotografien bedeckte Wand zu erkennen, und seine Aufmerksamkeit war sofort abgelenkt.

»He, seht euch das an. Tolle Idee.«

»Familienfotos sind immer ein Problem für mich. Ich weiß nicht, wo ich sie hinstellen soll, und deshalb habe ich mich einfach entschlossen, die Wand damit zu tapezieren.«

Sie trat hinter die Arbeitstheke und holte die Gänseleberpastete und braunes Brot, während er ihr den Rücken wandte und die Fotos mit dem aufmerksamen Interesse eines Galeriebesuchers betrachtete.

»Wer ist das hübsche Mädchen hier?«

»Das ist meine Schwester, Nancy.«

»Sie sieht toll aus.«

»Sie sah toll aus«, verbesserte Olivia. »Sie hat nicht auf sich geachtet, wie man so sagt. Sie wissen schon, sie hat zugenommen und kein bißchen auf ihr Äußeres aufgepaßt. Aber als junges Mädchen war sie wirklich wunderhübsch. Das Bild ist kurz vor ihrer Hochzeit gemacht worden.«

»Wo lebt sie?«

»In Gloucestershire. Sie hat zwei unausstehliche Kinder und einen Mann, den ich schrecklich langweilig finde, und ihr größtes Vergnügen besteht darin, mit zwei Labradors an der Leine an einer Schnitzeljagd teilzunehmen und ihre Freunde über die Felder hinweg zu begrüßen.« Er drehte sich zu ihr um, sah sie stirnrunzelnd an, und sie lachte. »Sie wissen nicht einmal, wovon ich rede, stimmt’s?«

»Ja, aber ich kann es mir ungefähr vorstellen.« Er wandte sich wieder den Fotografien zu. »Und wer ist diese attraktive Dame?«

»Das ist meine Mutter.«

»Haben Sie kein Bild von Ihrem Vater?«

»Nein, er ist tot. Aber das da ist mein Bruder Noel. Der gutaussehende junge Mann mit den blauen Augen.«

»Er sieht tatsächlich gut aus. Ist er verheiratet?«

»Nein. Er ist jetzt fast dreißig und immer noch Junggeselle.«

»Hat er keine Freundin?«

»Ja, aber sie wohnen nicht zusammen. Er hat noch nie mit einem Mädchen zusammen gewohnt. Er hat eine panische Angst davor, sich zu binden. In jeder Hinsicht. Sie wissen schon, er gehört zu denen, die am liebsten keine Einladung annehmen würden, weil sich bis dahin ja etwas noch Besseres bieten könnte.« Hank lachte leise und seine Schultern zuckten. »Sie reden nicht sehr nett über Ihre Familie.«

»Ich weiß. Aber was für einen Sinn hat es, sich etwas vorzumachen, besonders in meinem Alter?«

Sie trat hinter der Theke hervor und stellte die Pastete und Brot und Butter auf den Tisch. Sie holte Streichhölzer und zündete die Kerzen an.

»Und wer ist das?«

»Wen meinen Sie?«

»Dieser Herr, mit dem kleinen Mädchen.«

»Oh.« Sie trat zu ihm und betrachtete das Foto. »Das ist Cosmo Hamilton. Und das Mädchen ist seine Tochter Antonia.«

»Ein niedliches Ding.«

»Ich habe es vor fünf Jahren aufgenommen. Sie muß jetzt achtzehn sein.«

»Verwandte von Ihnen?«

»Nein. Er ist ein Freund. Er war ein Freund. Genauer gesagt ein Liebhaber. Er hat ein Haus auf Ibiza, und vor fünf Jahren habe ich ein Jahr lang nicht gearbeitet. Ich habe mir ein Sabbatical genommen und dort mit ihm gelebt.«

Hank zog die Augenbrauen hoch. »Ein Jahr. Das ist eine lange Zeit, um mit einem, hm, einem Liebhaber zusammenzuleben.«

»Es verging sehr schnell.«

Sie spürte seinen Blick. »Haben Sie ihn sehr gemocht?« fragte er. »Ja. Mehr als irgend jemanden.«

»Warum haben Sie ihn nicht geheiratet? Oder war er vielleicht schon verheiratet?«

»Nein, er war geschieden. Ich wollte ihn nicht heiraten, weil ich niemanden heiraten wollte. Auch jetzt noch nicht.«

»Sehen Sie ihn noch?«

»Nein. Ich habe ihm Lebewohl gesagt, und das war das Ende der Geschichte.«

»Und die Tochter, Antonia?«

»Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist.«

»Schreiben Sie?«

Olivia zuckte mit den Schultern. »Ich schicke ihm zu Weihnachten eine Karte. Wir hatten es damals so vereinbart. Jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte mit verschneiten Tannen.«

»Das klingt nicht sehr großzügig.«

»Sie haben recht, das tut es nicht. Aber Sie können es wahrscheinlich nicht verstehen. Das wichtige ist, daß Cosmo es versteht.« Sie lächelte. »Wenn Sie nun keine Fragen mehr über meine Familie und meine Freunde haben, könnten Sie vielleicht den Wein einschenken, und dann essen wir. Ich habe allmählich Hunger.«

Er sagte: »Morgen ist Sonnabend. Was machen Sie normalerweise am Sonnabend?«

»Manchmal fahre ich übers Wochenende fort. Manchmal bleibe ich hier, schlafe aus, relaxe, lade abends ein paar Freunde auf einen Drink ein.«

»Haben Sie sich für morgen etwas vorgenommen?«

»Warum?«

»Ich habe morgen keine Termine. Ich dachte, wir könnten vielleicht einen Leihwagen nehmen und irgendwohin fahren. Sie könnten mir ein paar von den berühmten Landsitzen zeigen, von denen man immerfort erzählt und die ich noch nie gesehen habe, weil die Zeit nicht gereicht hat. Oder weil ich nicht allein hinfahren wollte.«

Sie hatten zu Ende gegessen, das Geschirr auf dem Tisch stehen gelassen, die Lampen in der Eßecke gelöscht. Sie waren mit Cognac und Kaffee zum Kamin zurückgegangen, aber nun saßen sie beide auf dem Sofa, jeder in einer Ecke, einander zugewandt. Olivias dunkles Haar ruhte auf einem rosa Kissen, und sie hatte die Beine wieder hochgezogen. Ein Lackpumps war ihr vom Fuß gerutscht und lag vor dem Sofa auf dem Teppich.

Sie sagte: »Eigentlich wollte ich morgen zu meiner Mutter nach Gloucestershire.«

»Sie erwartet Sie?«

»Nein. Aber ich wollte sie anrufen, ehe ich zu Bett gehe.«

»Müssen Sie hin?«

Olivia dachte darüber nach. Sie hatte fahren wollen, hatte beschlossen zu fahren und hatte sich, nachdem sie den Entschluß gefaßt hatte, besser gefühlt. Aber jetzt.

»Nein, ich muß nicht«, antwortete sie. »Aber sie ist krank gewesen, und ich habe sie lange nicht mehr besucht, und ich sollte zu ihr fahren.«

»Wieviel gutes Zureden würde es kosten, damit Sie es sich anders überlegen?«

Olivia lächelte. Sie trank noch einen Schluck von dem starken Kaffee und stellte die Mokkatasse sorgsam genau auf die Mitte der Untertasse zurück.

»Wie stellen Sie sich dieses gute Zureden vor?«

»Ich könnte Sie mit einem Viersterne-Essen locken. Oder mit einer Bootsfahrt. Oder einem Spaziergang auf dem Land.

Was Sie am liebsten möchten.«

Olivia dachte über die reizvollen Vorschläge nach. »Ich denke, ich könnte den Besuch bei meiner Mutter eine Woche verschieben. Da sie mich nicht erwartet, wird sie auch nicht enttäuscht sein.«

»Dann machen wir es?«

Sie faßte ihren Entschluß. »Ja, ich komme mit.«

»Soll ich einen Wagen leihen?«

»Ich habe ein Auto, das vollauf genügen wird.«

»Wohin fahren wir?«

Olivia zuckte die Achseln und stellte die Tasse samt Untertasse zurück. »Wohin Sie wollen. Zum New Forest oder die Themse hoch nach Henley. Wir könnten auch nach Kent fahren und uns den Park von Sissinghurst ansehen.«

»Können wir es morgen entscheiden?«

»Wenn Sie möchten.«

»Wann sollen wir losfahren?«

»Möglichst früh, denke ich. Dann werden wir vor dem schlimmsten Verkehr aus London raus sein.«

»In diesem Fall sollte ich mich jetzt vielleicht beeilen, daß ich ins Hotel zurückkomme.«

»Ja«, sagte Olivia. »Vielleicht.«

Aber keiner von ihnen traf Anstalten aufzustehen. Sie saßen in ihren Sofaecken und sahen sich unverwandt an. Es war sehr still. Die Hifi-Anlage war stumm, da die Kassette schon lange abgespielt war, und draußen prasselte der Regen an die Scheiben. Ein Auto fuhr die Straße entlang, und die kleine Kutschenuhr auf dem Kaminsims tickte leise und monoton. Es war kurz vor eins. Er rückte zu ihr, was sie gewußt hatte, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich, so daß ihr Kopf nicht mehr auf dem rosa Kissen ruhte, sondern an seiner breiten und warmen Brust. Mit der anderen Hand strich er ihr das Haar von der Wange, legte dann die Finger unter ihr Kinn, um ihr Gesicht zu heben, und küßte sie auf den Mund. Seine Hand glitt ihren Hals hinunter und streichelte ihre kleinen Brüste. Zuletzt sagte er: »Das wollte ich den ganzen Abend über tun.«

»Ich glaube, ich habe mir gewünscht, daß du es tust.«

»Wenn wir morgen früh los wollen, wäre es doch dumm, wenn ich jetzt den ganzen Weg zum Ritz zurückfahre, um ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, und dann wieder hierher käme?«

»Furchtbar dumm.«

»Darf ich bleiben?«

»Warum nicht?«

Er rutschte ein kleines Stück weiter und blickte mit einer sonderbaren Mischung von Verlangen und Ironie auf sie hinunter. »Es gibt nur einen Haken«, erklärte er. »Ich habe keinen Rasierapparat und keine Zahnbürste dabei.«

»Ich habe beides. Ganz neu. Für Notfälle.« Er fing an zu lachen. »Du bist eine erstaunliche Frau«, sagte er. »Das habe ich schon mal irgendwo gehört.«

Olivia wachte wie immer früh auf. Halb acht. Die Vorhänge waren zugezogen, aber nicht ganz, und durch den Spalt drang frische und kalte Luft ins Zimmer. Es war eben erst hell geworden, und der Himmel war wolkenlos. Vielleicht würde es ein schöner Tag werden.

Sie blieb noch eine Weile schläfrig liegen, entspannte sich und lächelte zufrieden vor sich hin, als sie an die Nacht zurückdachte, und freute sich dann auf den bevorstehenden Ausflug. Sie wandte den Kopf und betrachtete liebevoll den Mann, der die andere Seite des großen Bettes einnahm. Er hatte einen Arm unter den Kopf gelegt, und der andere lag auf der dicken weißen Decke. Der Arm war wie der Rest seines gesunden und muskulösen Körpers sonnengebräunt, und ein weicher goldener Flaum überzog ihn. Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Unterarm, wie sie einen Gegenstand aus Porzellan oder eine Skulptur berührt hätte, einfach aus dem Verlangen heraus, die Form und Krümmung mit den Fingerspitzen zu erfühlen. Die leichte Berührung störte ihn nicht, und als sie die Hand fortzog, schlief er immer noch.

Inzwischen hatte ihre gewohnte Energie sie wieder in Besitz genommen, und sie war hellwach. Sie setzte sich behutsam auf, schlüpfte unter der Decke hervor und schwang die Beine über den Bettrand. Sie zog ihre Hausschuhe an, stand auf und griff nach ihrem blaßrosa Morgenmantel, zog ihn an und knotete den breiten Gürtel um ihre schmale Taille zu. Sie verließ das Zimmer, schloß leise die Tür hinter sich und ging nach unten.

Sie zog die Vorhänge zurück und stellte fest, daß es wirklich ganz nach einem schönen Tag aussah. Es hatte nachts ein wenig gefroren, aber die ersten Strahlen der tief stehenden Wintersonne fielen auf die Straße. Sie machte die Haustür auf, holte die Milch herein, brachte die beiden Flaschen in die Küche und stellte sie in den Kühlschrank. Sie räumte das Geschirr von gestern abend ab, stellte es in die Spülmaschine und deckte den Tisch zum Frühstück. Dann stellte sie die Kaffeemaschine an, holte Eier und Speck aus dem Kühlschrank und Cornflakes vom Regal. Sie ging in den Wohnbereich, um Gläser und Tassen abzuräumen, Kissen glattzustreichen, den Kamin anzustellen. Die Rosen, die er mitgebracht hatte, hatten angefangen, sich zu öffnen, und die äußeren Blütenblätter bogen sich wie flehende Hände von der noch fest geschlossenen inneren Blüte fort. Sie blieb stehen, um an ihnen zu riechen, aber die armen Dinger verströmten immer noch keinen Duft. Macht nichts, sagte sie zu ihnen, ihr seid trotzdem wunderschön. Ihr müßt euch eben damit begnügen, daß ihr gut ausseht.

Der Briefkastendeckel klapperte, und die Post fiel auf den Vorleger an der Haustür. Sie hatte sich schon umgedreht und war durch den halben Raum gegangen, um sie zu holen, als das Telefon klingelte, und sie hielt inne und nahm rasch ab, da sie nicht wollte, daß der Mann, der oben schlief, von dem Läuten geweckt wurde. »Hallo.«

Sie stand vor dem Spiegel, der über dem Kamin hing, und sah in ihr morgendlich nacktes Gesicht mit der dicken Haarsträhne über der Wange. Sie strich sie zurück, und sagte dann, da sich niemand gemeldet hatte, noch einmal: »Hallo?«

Es klickte und summte, und dann sagte eine weibliche Stimme: »Olivia?«

»Ja.«

»Olivia, ich bin's. Antonia.«

»Antonia?«

»Antonia Hamilton. Die Tochter von Cosmo.«

»Antonia!« Olivia setzte sich in die Sofaecke, zog die Beine hoch, drückte den Hörer fester ans Ohr. »Von wo sprichst du?«

»Von Ibiza.«

»Es hört sich an, als wärst du nebenan.«

»Ich weiß. Es ist Gott sei Dank eine gute Leitung.« Irgend etwas in der jungen Stimme ließ Olivia aufhorchen. Sie spürte, wie das Lächeln aus ihrem Gesicht schwand und ihre Finger sich um den glatten weißen Hörer krampften. »Ist etwas passiert?«

»Olivia. Ich hatte das Gefühl, daß ich es dir persönlich sagen muß. Ich fürchte, es ist eine traurige Nachricht. Mein Vater ist tot.«

Tot. Cosmo tot. »Tot.« Sie sagte das Wort, flüsterte es, aber sie wußte nicht, daß sie es sagte.

»Er ist Donnerstag am späten Abend gestorben. Im Krankenhaus. Die Beerdigung war gestern.«

»Aber.« Cosmo, tot. Es war unfaßlich. »Aber. wie? Warum?«

»Ich. ich kann es dir nicht sagen - nicht am Telefon.« Antonia ohne Cosmo in Ibiza. »Von wo rufst du an?«

»Von Pedros Café.«

»Wo wohnst du?«

»InCa’nD’alt.«

»Bist du allein dort?«

»Nein. Tomeu und Maria sind für ein paar Tage hergezogen, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie waren so gut zu mir.«

»Aber. «

»Olivia, ich muß nach London kommen. Ich kann nicht hier bleiben, weil mir das Haus nicht gehört, und. Oh, aus vielen anderen Gründen. Ich muß mich nach irgendeiner Arbeit umsehen. Wenn ich da bin. könnte ich dann vielleicht ein paar Tage bei dir wohnen, bis ich etwas anderes gefunden habe? Ich würde dich nicht um einen solchen Gefallen bitten, aber ich kenne sonst niemanden.« Olivia zögerte und haßte sich für ihr Zögern, aber sie war sich nur zu sehr bewußt, wie sich alles in ihr dagegen sträubte, daß sich jemand, und sei es Antonia, in ihre geheiligte Privatsphäre drängte. In ihr Haus und ihr Leben. »Was. Was ist mit deiner Mutter?«

»Sie hat wieder geheiratet. Sie lebt jetzt im Norden, in der Nähe von Huddersfield. Und dorthin möchte ich nicht. Ich werde dir später erklären, warum nicht.«

»Wann willst du kommen?«

»Nächste Woche. Vielleicht Dienstag, wenn ich einen Flug bekomme. Olivia, es wäre nur für ein paar Tage, nur bis ich mich. zurechtgefunden habe.«

Ihre bittende Stimme, die so viele Meilen fort war, klang jung und verletzlich wie die eines Kindes. Olivia hatte sie plötzlich vor Augen, wie sie sie zum erstenmal gesehen hatte, als sie über den blank gescheuerten Boden der Ankunftshalle des Flughafens von Ibiza rannte und sich in Cosmos Arme warf. Und sie war auf einmal voller Selbstekel. Es ist Antonia, du egoistisches Biest, und sie bittet dich um Hilfe! Es ist Cosmos Antonia, und Cosmo ist tot, und die Tatsache, daß sie sich an dich wendet, ist das größte Kompliment, das sie dir machen kann. Hör wenigstens dieses eine Mal auf, immer nur an dich selbst zu denken.

Und als ob Antonia es sehen könnte, lächelte sie beruhigend und tröstend. Sie ließ ihre Stimme warm und fest klingen: »Selbstverständlich kannst du hier wohnen. Sag bitte Bescheid, wann deine Maschine ankommt, ich hol dich in Heathrow ab. Dann kannst du mir alles erzählen.«

»Oh, du bist ein Engel. Ich mach dir auch ganz bestimmt keine Umstände.«

»Natürlich nicht.« Ihr nüchterner und praktischer Verstand wandte sich anderen möglichen Schwierigkeiten zu. »Wie steht es finanziell? Ich meine, hast du genug Geld?«

»Oh.« Es klang überrascht, als ob Antonia noch gar nicht an solche Details gedacht hatte. Was wahrscheinlich der Fall war. »Ja. Ich glaube.«

»Du hast genug für das Ticket?«

»Ja. Ja, es wird gerade reichen.«

»Dann sag mir Bescheid, und ich hole dich ab.«

»Vielen Dank. Danke. Und. es tut mir so leid, daß ich dir das mit Daddy sagen mußte.«

»Es tut mir auch leid.« Es war die Untertreibung ihres Lebens. Sie schloß die Augen, wie um den Schmerz über einen Verlust, den sie noch nicht ganz begriffen hatte, in sich zu verschließen. »Er war. etwas Besonderes.«

»Ja.« Antonia weinte. Sie konnte es hören, sehen, sie meinte, die Tränen spüren zu können. »Ja. Auf Wiedersehen, Antonia.«

»Auf Wiedersehen.« Antonia legte auf.

Nach einer Weile ließ Olivia langsam den Hörer sinken und legte ihn ungeschickt auf die Gabel zurück. Ihr war auf einmal entsetzlich kalt. Sie kuschelte sich in die Sofaecke, schlang die Arme um sich und starrte auf das saubere und ordentliche Wohnzimmer, in dem sich nichts geändert hatte, wo nichts umgestellt worden war, und doch alles anders aussah als vorhin. Cosmo war nicht mehr da. Cosmo war tot. Sie würde den Rest ihres Lebens in einer Welt leben müssen, in der es keinen Cosmo mehr gab. Sie dachte an jenen lauen Abend vor Pedros Cafe, wo der Junge mit der Gitarre das Konzert von Rodrigo gespielt und die Nacht mit der Musik Spaniens erfüllt hatte. Warum gerade an diesen Abend, wo es doch so viele andere Erinnerungen an die Zeit mit Cosmo gab?

Das Geräusch eines Schrittes auf der Treppe ließ sie aufblicken. Sie sah Hank Spotswood nach unten kommen. Er hatte ihren weißen Bademantel an und sah gar nicht lächerlich darin aus, weil es ein Herrenbademantel war, der mehr oder weniger seine Größe hatte. Sie war froh, daß er nicht lächerlich aussah. Sie hätte es nicht ertragen können, wenn er in diesem Moment lächerlich ausgesehen hätte. Das war natürlich verrückt, denn was für eine Rolle spielte es jetzt, wo Cosmo tot war, wie er aussah? Er sagte: »Ich habe das Telefon klingeln gehört.«

»Ich hatte gehofft, es würde dich nicht wecken.« Sie wußte nicht, daß ihr Gesicht aschfahl war und ihre dunklen Augen wie zwei schwarze Löcher wirkten. Er sagte: »Was ist passiert?«

Er hatte Bartstoppeln, und sein Haar war zerzaust. Sie dachte an die Nacht und war froh, daß er es war.

»Cosmo ist gestorben. Der Mann, von dem ich dir gestern abend erzählt habe. Der Mann in Ibiza.«

»O mein Gott.«

Er eilte durch den Raum, setzte sich neben sie und schloß sie wortlos in die Arme, als wäre sie ein verwundetes Kind, das Hilfe brauchte. Sie preßte ihr Gesicht an den weißen Frotteestoff ihres eigenen Bademantels und wünschte sich inbrünstig, sie könnte weinen. Sehnte sich danach, daß Tränen kamen, daß der Kummer sich physisch Bahn brechen und die eisige Klammer, die sich um ihr Herz gelegt hatte, lösen würde. Aber es geschah nichts. Sie war, was das Weinen betraf, noch nie sehr gut gewesen. »Wer hat angerufen?« fragte er.

»Seine Tochter, Antonia. Das arme Kind. Er ist Donnerstag abend gestorben. Die Beerdigung war gestern. Mehr weiß ich nicht.«

»Wie alt war er?«

»Ich glaube. an die sechzig. Aber so jung.«

»Wie ist es passiert?«

»Ich weiß nicht. Sie wollte am Telefon nicht darüber reden. Sie sagte nur, er sei im Krankenhaus gestorben. Sie. sie möchte nach London kommen. Sie kommt nächste Woche. Sie wird ein paar Tage hier wohnen.«

Er sagte nichts dazu, aber er nahm sie noch fester in die Arme und streichelte zärtlich ihre Schulter, als beruhige er ein Tier in grenzenloser Angst. Nach einer Weile wurde sie ruhiger. Sie fror nicht mehr. Sie machte ihre Arme frei, legte die Hände an seine Brust und zog sie dann zurück, nun wieder gefaßt und sie selbst. »Entschuldige«, sagte sie. »Ich bin normalerweise nicht so emotional.«

»Kann ich etwas tun?«

»Niemand kann etwas tun. Es ist alles vorbei.«

»Was ist mit heute? Möchtest du lieber nicht fortfahren? Ich werde einfach gehen, damit ich dir nicht im Weg bin, wenn du möchtest. Du willst vielleicht allein sein.«

»Nein, ich will nicht allein sein. Allein sein ist das letzte, was ich jetzt möchte.« Sie konzentrierte sich, damit der Aufruhr in ihrem Kopf nachließ, und versuchte, an das zu denken, was jetzt zu tun war. Ihr wurde klar. Ja, als erstes mußte sie ihrer Mutter Bescheid sagen, daß Cosmo gestorben war. Sie sagte: »Aber ich fürchte, Sissinghurst oder Henley kommt nicht mehr in Frage. Ich werde doch nach Gloucester fahren und meine Mutter besuchen müssen. Ich habe dir gesagt, daß sie krank gewesen ist, aber ich habe nicht gesagt, daß sie einen leichten Herzanfall gehabt hat. Sie hatte Cosmo so gern. Als ich in Ibiza war, hat sie uns besucht und ist vier Wochen geblieben. Es war eine unglaublich glückliche Zeit. Eine der glücklichsten in meinem Leben. Deshalb muß ich ihr sagen, daß er tot ist, und ich kann es nicht am Telefon sagen. Ich möchte dabei sein, wenn sie es hört.« Sie sah ihn an. »Würde es dir etwas ausmachen mitzukommen? Ich fürchte, es ist eine sehr lange Fahrt, aber sie wird uns zum Essen einladen, und wir können einen friedlichen Nachmittag bei ihr verbringen.«

»Ich würde mich freuen mitzufahren. Und ich werde am Steuer sitzen.«

Er war wie ein Fels. Sie brachte ein Lächeln zustande und fühlte, wie eine zärtliche Dankbarkeit in ihr aufwallte. »Ich ruf sie gleich an.« Sie griff zum Hörer. »Damit sie rechtzeitig weiß, daß wir zum Lunch da sind.«

»Könnten wir sie nicht irgendwohin zum Essen einladen?«

Olivia wählte bereits die Nummer. »Du kennst meine Mutter nicht.«

Er gab sich damit zufrieden und stand auf. »Ich rieche Kaffee«, bemerkte er. »Wie wäre es, wenn ich die Spiegeleier mache?« Sie waren um neun Uhr auf dem Weg. Olivia saß auf dem Beifahrersitz ihres dunkelgrünen Alfasud, und Hank fuhr. Er fuhr zuerst sehr vorsichtig und konzentrierte sich darauf, auf der Straßenseite zu bleiben, die für ihn eigentlich die falsche war, doch nachdem sie gehalten hatten, um zu tanken, wuchs sein Selbstvertrauen, und er fuhr schneller, und dann erreichten sie die Schnellstraße nach Oxford, und er ging auf Hundertzehn und behielt dieses Tempo bei. Sie redeten nicht. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt dem Verkehr und der breiten Straße, die in einer steten Biegung vor ihnen zu verschwimmen schien. Olivia war froh, daß sie sich nicht unterhalten mußte, und gab sich, das Kinn im Pelzkragen ihres Mantels vergraben, ihren Gedanken hin, ohne die eintönige Landschaft, die an den Fenstern vorbeisauste, wahrzunehmen. Hinter Oxford wurde es dann besser. Es war ein strahlender Wintertag, und während die Sonne kaum merklich höher stieg, schmolz der Reif auf den Feldern und Weiden, und schwarze Baumgerippe warfen lange Schatten, die über das Bankett bis auf die Fahrbahn reichten. Einige Farmer pflügten bereits, und Schwärme von Möwen folgten den Traktoren und den Reihen der frisch aufgeworfenen schwarzen Erdschollen. Sie kamen durch kleine Orte, in denen reges Samstagstreiben herrschte. Schmale Straßen waren mit den Autos von Familien gesäumt, die aus umliegenden Dörfern gekommen waren, um einzukaufen, und es wimmelte von Müttern mit Kindern und von fliegenden Händlern, und auf einigen Märkten waren Stände mit bunten Kleidungsstücken, Plastikspielzeug, Luftballons, Blumen und Obst und Gemüse. Dann kamen sie durch ein Dorf, vor dessen Pub sich Fuchs Jäger und ihre Meute zur Jagd sammelten. Hufe klapperten auf dem alten Kopfsteinpflaster, und sie hörten die fröhlichen Stimmen der rotberockten Männer. Hank konnte sein Glück kaum fassen.

»Sieh dir das an!« sagte er ein über das andere Mal, und er hätte am liebsten gehalten und zugeschaut, aber ein junger Polizist winkte sie streng weiter. Er folgte der Anweisung widerwillig und blickte sich noch einmal zu der typisch englischen Szene um, um sich alles einzuprägen. »Es ist wie im Film, mit diesem alten Wirtshaus und dem gepflasterten Hof. Ich wünschte, ich hätte meinen Fotoapparat dabei.« Olivia freute sich mit ihm. »Du kannst nicht sagen, daß ich dir nichts zeige. Wenn wir nach Kent oder Sissinghurst gefahren wären, hätten wir so etwas bestimmt nicht gesehen.«

»Heute scheint mein Glückstag zu sein.«

Vor ihnen lagen nun die Cotswold Hills. Die Straße wurde schmaler, führte über kleine Steinbrücken und wand sich zwischen sumpfigen Wiesen hindurch. Häuser und Farmen aus honiggelbem Cotswoldstein leuchteten im Sonnenlicht wie Gold, und Olivia dachte daran, daß die Gärten in wenigen Monaten eine einzige Farbenpracht sein würden und daß die Pflaumen- und Apfelbäume auf den Obstwiesen bald ihre leuchtenden weißrosa Blüten entfalten würden.

»Ich kann verstehen, warum deine Mutter sich diese Gegend ausgesucht hat. Ich habe noch nie eine so schöne Landschaft gesehen. Und alles ist so wunderbar grün.«

»Eigentlich ist sie gar nicht wegen der Landschaft hierher gezogen. Als sie das Haus in London verkaufte, wollte sie unbedingt wieder nach Cornwall gehen. Sie ist dort aufgewachsen, und ich glaube, sie sehnte sich nach ihrer Heimat. Aber meine Schwester fand, daß es zu weit fort sein würde, zu weit fort von ihren Kindern. Sie sah sich nach einem Haus für sie um und fand eines, das genau richtig war. Wie sich inzwischen gezeigt hat, war es vielleicht besser so, aber damals war ich böse, daß Nancy sich einmischte.«

»Lebt deine Mutter allein?«

»Ja. Das scheint aber ein Problem zu werden. Ihr Arzt sagt, sie sollte jemanden ins Haus nehmen, eine Haushälterin oder Gesellschafterin, aber ich weiß, daß sie es nicht ertragen würde. Sie ist unglaublich selbständig, und außerdem ist sie noch relativ jung. Erst vierundsechzig. Ich finde, es wäre eine Beleidigung für ihre Intelligenz, wenn wir auf einmal anfingen, sie wie eine hilflose Greisin zu behandeln. Sie ist nämlich alles andere als das. Sie beschäftigt sich von morgens bis abends, sie kocht und macht den Garten und lädt Leute ein und liest alles, was sie in die Hände bekommt, und hört Musik und ruft Freunde an und führt lange Gespräche mit ihnen, die ihr viel geben. Manchmal reist sie auch ins Ausland, um alte Freunde zu besuchen. Meist nach Frankreich. Ihr Vater war Maler, und sie hat als kleines Mädchen ein paar Jahre in Paris gelebt.« Sie wandte den Kopf und lächelte Hank an. »Warum erzähle ich dir bloß soviel über meine Mutter? Es dauert nicht mehr lange, bis du sie siehst und selbst alles herausfinden kannst.«

»Hat Ibiza ihr gefallen?«

»Sie fand es himmlisch. Cosmos Haus war ein altes Bauernhaus, ein paar Kilometer von der Küste entfernt in den Hügeln. Sehr ländlich. Genau das, was meine Mutter mag. Sie verschwand in jedem freien Augenblick mit einer Baumschere oder was auch immer in den Garten, genau wie bei sich zu Haus.«

»Kennt sie Antonia?«

»Ja. Sie und Antonia waren gleichzeitig da. Sie sind sehr gute Freundinnen geworden. Der Altersunterschied spielte überhaupt keine Rolle. Sie kommt wunderbar mit jungen Leuten zurecht. Viel besser, als ich es jemals könnte.« Sie hielt einen Moment inne, um dann in einer impulsiven Anwandlung von Ehrlichkeit fortzufahren: »Sogar jetzt bin ich mir nicht sehr sicher. Ich meine, ich möchte Cosmos Tochter helfen, aber ich freue mich nicht unbedingt darauf, mein Haus mit jemandem teilen zu müssen, und sei es nur für kurze Zeit. Ich weiß, ich sollte mich schämen.«

»Nein, das solltest du nicht. Es ist ganz natürlich. Wie lange wird sie bleiben?«

»Ich nehme an, bis sie eine Arbeit und eine eigene Wohnung oder wenigstens ein Zimmer gefunden hat.«

»Hat sie eine Ausbildung?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Wahrscheinlich nicht. Olivia seufzte tief. Die Ereignisse des Morgens hatten sie emotional betäubt und fühlbar an ihren Kräften gezehrt. Es war nicht nur, daß sie den Schock und Kummer über Cosmos Tod irgendwie verkraften und verarbeiten mußte, nein. Dazu kam, daß sie sich von den Problemen anderer Leute bedrängt und umzingelt fühlte. Antonia würde kommen und bei ihr wohnen, und sie würde sie trösten müssen. Sie würde sie aufrichten und ihr helfen müssen, und es würde wahrscheinlich darauf hinauslaufen, daß sie ihr bei der Suche nach einem Job behilflich sein mußte. Nancy würde sie anrufen und wieder das Haushälterinnenthema aufs Tapet bringen, und ihre Mutter würde sich mit Händen und Füßen dagegen sträuben, eine fremde Frau ins Haus zu nehmen. Und zu alldem kam hinzu.

Sie hielt abrupt inne. Und dachte den Gedanken Schritt für Schritt rückwärts. Nancy. Mutter. Antonia. Natürlich! Das war die Lösung. Auf diese Weise würden die Probleme einander aufheben, fast wie bei den verflixten Bruchrechnungen in der Schule, bei denen völlig unerwartet eine schöne runde Zahl herausgekommen war. Sie sagte: »Ich habe eben eine fabelhafte Idee gehabt.«

»Und die wäre?«

»Antonia kommt hierher und zieht fürs erste zu meiner Mutter.« Wenn sie eine begeisterte Reaktion erwartet hatte, enttäuschte er sie. Er überlegte eine Weile, ehe er langsam fragte: »Wird sie es denn wollen?«

»Bestimmt. Ich hab dir doch gesagt, sie war ganz vernarrt in Mama. Als sie abreiste, wollte sie sie partout nicht gehen lassen. Und es wäre viel besser für sie, wenn sie für ein paar Wochen bei jemandem wie meiner Mutter wohnen könnte, um den Tod ihres Vaters ein wenig zu verarbeiten und mit sich zu Rande zu kommen, ehe sie anfängt, in London Klinken putzen zu gehen, um einen Job zu finden.«

»Das macht Sinn.«

»Und für Mama wäre es nicht so, als hätte sie eine Haushälterin. Es wäre wie Besuch von einer Freundin. Ich werde es ihr nachher vorschlagen. Vielleicht findet sie auch, daß es eine gute Idee ist. Ich bin fast sicher, daß sie nicht nein sagen wird. So gut wie sicher.«

Wie jedesmal, wenn sie ein Problem gelöst oder eine wichtige Entscheidung getroffen hatte, erwachte sie zu neuem Leben. Sie fühlte sich auf einmal viel besser. Sie richtete sich auf, klappte die Sonnenblende herunter und musterte sich in dem kleinen Spiegel, der darin eingelassen war. Sie sah ihr Gesicht, das immer noch sehr blaß war, und die dunklen Flecke unter den Augen, die wie Male von Schlägen waren. Der dunkle Pelzkragen unterstrich ihre Blässe, und sie hoffte, daß ihre Mutter keine Bemerkung darüber machen würde. Sie zog die Lippen nach und kämmte sich, um die Sonnenblende dann wieder hochzuklappen und ihre Aufmerksamkeit auf die Straße zu konzentrieren.

Sie hatten nun Burford hinter sich und waren nur noch rund fünf Kilometer von ihrem Ziel entfernt, und alles ringsum war ihr vertraut. »Hier müssen wir rechts ab«, sagte sie zu Hank, und er bog an der Gabelung mit dem Wegweiser nach Temple Pudley auf die schmale Landstraße ab, die sich den Hügel hinaufwand, und fuhr ganz langsam. Von oben konnten sie das Dorf im Tal sehen, wie ein Kinderspielzeug am silbrigen Wasserband des Windrush, der sich daran vorbeischlängelte. Die ersten Häuser begrüßten sie, alte, sehr schöne Häuser aus gelbem Stein. Sie sahen die Holzkirche hinter den Eiben. Ein Mann trieb eine Schafherde durch das Dorf, und vor dem Pub, der Sudeley Arms hieß, parkten Autos. Dort hielt Hank und stellte den Motor ab.

Olivia sah ihn überrascht an. »Ist dir zufällig nach einem Drink?« fragte sie höflich.

Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich könnte mir vorstellen, daß du gern ein paar Augenblicke mit deiner Mutter allein wärst. Ich steige hier aus und komme später nach, wenn du mir erklärst, wie ich das Haus finden kann.«

»Es ist das dritte Haus unten an der Straße. Rechts, mit einem weißen Tor. Aber es ist wirklich nicht nötig.«

»Ich weiß.« Er tätschelte ihre Hand. »Aber ich denke, dann habt ihr es beide leichter.«

»Du bist sehr lieb«, sagte sie, und sie meinte es. »Ich würde deiner Mutter gern eine Kleinigkeit mitbringen. Ob der Wirt mir ein paar Flaschen Wein verkaufen wird?«

»Ganz bestimmt, vor allem, wenn du ihm sagst, daß sie für Mrs. Keeling sein sollen. Er wird dir wahrscheinlich seinen teuersten Bordeaux andrehen.«

Er grinste, öffnete die Tür und stieg aus. Sie sah ihm nach, wie er über den gepflasterten Hof ging, instinktiv den Kopf einzog, weil der Türsturz so niedrig war, und im Pub verschwand. Als er nicht mehr zu sehen war, schnallte sie sich los, rutschte ans Steuer und ließ den Motor an. Es war kurz vor zwölf Uhr.

Penelope Keeling stand in ihrer warmen und beängstigend vollen Küche und versuchte zu überlegen, was sie als nächstes tun sollte, und kam zu dem Schluß, daß es nichts mehr zu tun gab, weil sie schon alles gemacht hatte. Sie hatte sogar Zeit gefunden, nach oben zu gehen, aus ihren Arbeitssachen zu schlüpfen und etwas anzuziehen, in dem sie ihre Gäste empfangen konnte. Olivia war immer so elegant, und einigermaßen passabel auszusehen, war das mindeste, was sie tun konnte. Sie hatte also einen Winterrock aus Baumwollbrokat gewählt (heiß geliebt und sehr alt; der Stoff hatte sein Leben als Vorhang begonnen), ein gestreiftes Herrenwollhemd und eine karmesinrote Strickweste. Ihre Strümpfe waren dunkel und dick, und sie trug solide Schnürschuhe. Sie hatte zwei goldene Ketten umgebunden und war nun, frisch gekämmt und von einem Hauch Parfüm umgeben, in festlicher Stimmung. Olivias Besuche waren recht selten, die Zeiträume dazwischen sehr lang, was sie um so wichtiger machten, und sie hatte seit dem Anruf heute früh keine Minute still gesessen, um mit allem fertig zu werden.

Aber nun war alles bereit. Im Wohnzimmer und im Eßzimmer brannte ein Feuer, Gläser und Getränke standen auf dem Bartisch, und sie hatte den Rotwein entkorkt, damit er sein Aroma entfalten konnte. In der Küche duftete es nach dem Lendenbraten, der langsam vor sich hin schmorte, nach ausgelassenen Zwiebeln und nach den Kartoffeln, die sie auf den Rost gelegt hatte. Sie hatte einen Kuchen gebacken; Äpfel geschält, Bohnen (aus der Tiefkühltruhe) geschnipselt und Karotten geraspelt. Später würde sie verschiedene Sorten Käse auf einem Brett servieren, Kaffee mahlen, die dicke Sahne abgießen, die sie noch rasch aus dem Molkereiladen geholt hatte. Sie band eine Schürze um, damit der Rock keine Flecken bekam, spülte die paar Utensilien ab, die noch herumlagen, und stellte sie zum Trocknen in das Gestell auf dem Abtropfbrett. Sie stellte zwei oder drei Töpfe in den Schrank, wischte den Tisch mit einem feuchten Lappen ab, ließ einen Krug mit Wasser vollaufen und goß die Geranien. Dann band sie die Schürze ab und hängte sie wieder an den Haken.

Die Waschmaschine war durchgelaufen. Sie wusch nur, wenn das Wetter gut genug war, um die Wäsche draußen zu trocknen, denn erstens hatte sie keinen Trockner und zweitens roch im Freien getrocknete Wäsche wunderbar und ließ sich unendlich viel besser bügeln. Olivia und ihr Bekannter konnten jeden Moment kommen, aber sie nahm den großen Weidenkorb, tat das feuchte Bündel aus der Trommel hinein und ging, den Korb an die Hüfte gestemmt, durch den Wintergarten hinaus. Sie überquerte den Rasen und schritt durch die Lücke in der Ligusterhecke zur Obstwiese. Die Hälfte davon war allerdings keine Obstwiese mehr. Sie hatte einen sehr einträglichen Gemüsegarten angelegt, aber die andere Hälfte war noch genauso wie früher, mit den knorrigen alten Apfelbäumen und der Weißdornhecke, hinter der der Windrush still dahinfloß.

Zwischen drei Apfelbäumen war eine lange Wäscheleine gespannt, an der Penelope nun die Laken und Tücher aufhängte. Jedesmal, wenn sie das machte, und vor allem, wenn sie es an einem schönen frischen Morgen machte, empfand sie eine tiefe Freude. Eine Drossel zwitscherte, und zwischen den feuchten Grasbüscheln zu ihren Füßen lugten die ersten Triebe hervor. Sie setzte oder pflanzte alle Blumen selbst. Hunderte von Narzissen und Krokusse und Szilla und Schneeglöckchen. Wenn sie verblüht waren und das Gras zu einem hohen, sattgrünen Teppich wuchs, fingen wilde Blumen an zu blühen. Schlüsselblumen und Kornblumen und roter Mohn, die sie alle selbst gesät hatte.

Laken, Hemden, Kissenbezüge, Unterwäsche und Nachthemden flatterten und tanzten in der Brise. Als der Korb leer war, nahm sie ihn und ging zum Haus zurück, aber sie schritt langsam, ohne jede Eile, und inspizierte unterwegs den Gemüsegarten, um sich zu vergewissern, daß die Wildkaninchen sich nicht an ihrem ersten Frühlingskohl gütlich getan hatten, und dann blieb sie neben dem Schneeballstrauch stehen, dessen sperrige Zweige mit tiefrosa, herrlich nach Sommer duftenden Blüten besetzt waren. Sie würde die Gartenschere holen und ein oder zwei Zweige abschneiden, um sie ins Wohnzimmer zu stellen und die beiden Besucher mit dem Duft zu überraschen. Mit der festen Absicht, jetzt wieder ins Haus zu gehen, setzte sie sich in Bewegung, aber sie wurde noch einmal abgelenkt. Diesmal war es der wunderschöne Anblick, den Podmore’s Thatch von hier aus, hinter dem breiten grünen Rasen, bot. Dort stand ihr Haus, in Sonnenschein getaucht, vor einem Hintergrund noch kahler Eichen und einem wolkenlosen, intensiv-hellblauen Himmel, weißgetüncht und zur Hälfte mit Holz verschalt, lang und niedrig, mit Dachgauben, über denen sich das Strohdach, buschigen Augenbrauen gleich, wölbte.

Podmore’s Thatch. Olivia fand den Namen lächerlich und behauptete, sie würde jedesmal verlegen, wenn sie ihn aussprechen müsse, und sie hatte sogar vorgeschlagen, Penelope solle sich einen anderen Namen für das alte Haus einfallen lassen. Aber Penelope wußte, daß man den Namen eines Hauses ebensowenig ändern konnte wie den eines Menschen, wenn man seine Identität nicht zerstören wollte. »Podmores Strohdach«. Sie hatte vom Pfarrer erfahren, daß William Podmore, der es vor zweihundert Jahren gebaut hatte, der Dachdecker des Dorfs gewesen war, und es hatte seinen Namen all die Generationen hindurch behalten. Seit sie das wußte, kam es noch viel weniger in Frage, ihm einen anderen Namen zu geben.

Es war ursprünglich ein Doppelhaus gewesen, aber irgendein Vorbesitzer hatte es in ein Einfamilienhaus verwandelt, indem er einfach Türöffnungen in die Trennmauer brechen ließ. Es hatte also zwei Eingänge, zwei Bäder und zwei uralte Holztreppen behalten. Eine weitere Folge war, daß alle Zimmer ineinander gingen, was lästig sein konnte, wenn man zu mehreren darin wohnte und dann und wann ungestört sein wollte. Im Erdgeschoß waren die Küche, das Eßzimmer, das Wohnzimmer und die alte Küche des zweiten Hauses, die Penelope als Lagerraum für ihre kleineren Gartengerätschaften benutzte und wo sie neben ihren leeren Blumentöpfen, ihren Schaufeln und Hacken auch ihre Strohhüte, ihre Gummistiefel, ihre dicke Segeltuchschürze und dergleichen mehr aufbewahrte. In dem Zimmer über der Küche lagerten Noels Sachen, und dahinter waren drei größere Schlafzimmer. Sie schlief in dem Raum über ihrer Küche.

Unter dem Strohdach gab es noch einen niedrigen, dunklen und muffig riechenden Speicher, in dem all die Dinge lagen und standen, von denen sie sich nicht hatte trennen können, als sie die Oakley Street verlassen hatte. All die Sachen, für die sie keinen anderen Platz gefunden hatte. Sie hatte sich seit fünf Jahren geschworen, diesen Winter endlich alles zu sichten, aufzuräumen und zu entrümpeln, doch jedesmal, wenn sie die steile und wackelige Treppenleiter hinaufging und sich umschaute, verlor sie angesichts der gewaltigen Aufgabe den Mut und verschob es.

Als sie eingezogen war, war der Garten ein Dschungel von Gras und Büschen und Unkraut und wuchernden Rosen gewesen, aber das hatte einen Teil des Zaubers ausgemacht. Sie war eine leidenschaftliche Gärtnerin und brachte jede freie Minute damit zu, Unkraut zu jäten, Beete zu graben, endlose Schubkarrenladungen voll Mist vom Hof heranzukarren, abgestorbene Äste und wilde Triebe abzuschneiden, zu säen, zu pflanzen und zu pfropfen. Nun, nach fünf Jahren, konnte sie hier stehen und stolz sein auf die Früchte ihrer Mühen. Sie tat es jetzt und vergaß darüber Olivia, vergaß die Zeit. Sie tat das oft. Die Zeit hatte ihre frühere Bedeutung verloren. Das war eines der guten Dinge, wenn man alt wurde: Man hatte es nicht mehr eilig und fühlte sich nicht mehr in einem fort gehetzt. Penelope hatte ihr Leben lang für andere gesorgt, und jetzt brauchte sie nur noch an sich selbst zu denken. Man hatte Zeit, stehenzubleiben und zu schauen und sich dabei seinen Erinnerungen hinzugeben. Das Blickfeld erweiterte sich, als schaute man von den Hängen eines mühsam erkletterten Berges in die Ferne, und wenn man so weit gekommen war, schien es unsinnig, nicht zu verweilen, um den Ausblick zu genießen.

Dafür hatte das Alter natürlich seine bedrohlichen Seiten: Einsamkeit und Krankheit. Die Leute redeten immerzu davon, daß man im Alter allein sei, doch mit ihren vierundsechzig Jahren - was bestimmt nicht sehr alt war - genoß Penelope ihr Alleinsein. Sie hatte früher nie allein gelebt, und sie hatte es zuerst merkwürdig und sogar ein bißchen beängstigend gefunden, aber dann hatte sie langsam gelernt, es als einen Segen zu betrachten und Dinge zu tun, die sie früher nie gewagt hätte. Sie blieb morgens so lange im Bett, wie sie wollte, sie konnte sich kratzen, wenn es irgendwo juckte, und sie konnte bis nachts um zwei im Wohnzimmer sitzen, um Musik zu hören. Essen fiel auch in diese Kategorie. Sie hatte praktisch ihr Leben lang für ihre Familie und Freunde gekocht, und sie war eine ausgezeichnete Köchin, aber sie entwickelte im Lauf der Zeit eine Neigung zu kleinen Zwischenmahlzeiten, über die andere pikiert die Nase gerümpft oder zumindest gelächelt hätten. Sie naschte für ihr Leben gern kalte Bohnen aus der Büchse, sie liebte vorfabrizierte Salatsoßen und ganz ordinäre saure Gurken, die sie in den alten Tagen in der Oakley Street niemals auf den Tisch gebracht hätte. Selbst eine Krankheit hatte ihre guten Seiten. Seit jenem kleinen Schluckauf vor einem Monat, den die dummen Ärzte als Herzanfall gedeutet hatten, war sie sich zum erstenmal in ihrem Leben ihrer Sterblichkeit bewußt geworden. Es war nicht furchterregend, weil sie noch nie Angst vor dem Tod gehabt hatte, aber es schärfte ihr Wahrnehmungsvermögen und erinnerte sie sehr deutlich an das, was die Kirche die Sünden der Unterlassung nennt. Sie war nicht religiös, und sie grübelte nicht über vergangene Missetaten nach, die in den Augen der Kirche sicherlich sehr zahlreich gewesen waren, aber sie fing an, sich all das vor Augen zu führen, was sie nicht gemacht hatte. Sie hatte viele verrückte Dinge tun wollen, sie hatte davon geträumt, durch die Berge von Bhutan zu trecken oder die syrische Wüste zu durchqueren, um die Ruinen von Palmyra zu sehen, und sie hatte sich damit abgefunden, daß solche Träume unerfüllbar waren, aber sie hatte sich auch danach gesehnt, Porthkerris wiederzusehen, und diese Sehnsucht war zu einem fast übermächtigen Verlangen geworden.

Vierzig Jahre waren zu lang. Damals, gleich nach dem Krieg, war sie mit Nancy in den Zug gestiegen, hatte sich von ihrem Vater verabschiedet und war nach London gefahren. Im nächsten Jahr war er gestorben, und sie hatte Nancy bei ihrer Schwiegermutter gelassen, um zu seiner Beerdigung nach Cornwall zu fahren. Nach der Beerdigung waren sie und Doris noch einige Tage in Cam Cottage geblieben und hatten aufgeräumt und gepackt, aber dann mußte sie nach London zurückkehren, weil ihr Mann und ihre Familie sie brauchten. Seitdem war sie nie mehr in Cornwall gewesen. Sie hatte hinfahren wollen. Ich fahre mit den Kindern in den Ferien hin, hatte sie sich gesagt. Sie sollen an dem Strand spielen, wo ich gespielt habe, sie sollen ins Hochmoor klettern und die Heide sehen und wilde Blumen suchen. Aber sie hatte es nie getan.

Warum nicht? Die Jahre waren dahingeströmt wie ein schnell fließender Bach unter einer Brücke, und sie hatte die wenigen Gelegenheiten, die sich boten, nicht ergriffen, weil sie keine Zeit zu haben glaubte oder nicht genug Geld für die Eisenbahnfahrt. Sie war immer viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, das große Haus zu führen, sich um die Untermieter zu kümmern, die Kinder großziehen, sich um Ambrose zu kümmern.

Sie hatte Cam Cottage jahrelang behalten und sich geweigert, es zu verkaufen, sich nicht eingestehen wollen, daß sie niemals dorthin zurückkehren würde. Ein Makler hatte es an verschiedene Leute vermietet, und sie hatte sich die ganze Zeit eingeredet, sie würde eines Tages, irgendwann, dorthin zurückkehren. Sie würde die Kinder mitnehmen und ihnen das schlichte weiße Haus auf dem Hügel zeigen, das Haus mit dem verzauberten, von einer hohen Hecke umgebenen Garten, den Ausblick auf die Bucht und den Leuchtturm.

Sie sagte es sich viele Jahre, und als es ihr eine Zeitlang nicht gut gegangen war und sie in einem psychischen Tief steckte, hatte der Makler sie angerufen und gesagt, ein älteres Ehepaar habe das Haus besichtigt und würde es gern als Alterssitz kaufen. Die Interessenten waren sehr wohlhabende Leute. Penelope, die kaum wußte, wie sie über die Runden kommen sollte, und an die Ausbildung ihrer drei Kinder denken mußte, an die ihr schwacher und verantwortungsloser Mann keinen Gedanken zu verschwenden schien, hatte keine andere Möglichkeit gesehen, als das großzügige Angebot anzunehmen, und so wurde Cam Cottage schließlich verkauft.

Danach hatte sie nicht mehr daran gedacht, nach Cornwall zurückzukehren. Als sie das Haus in der Oakley Street verkaufte, sprach sie ein paarmal beiläufig davon, dorthin zu ziehen, und sah sich schon in einem Haus aus Granitstein mit einer Palme im Garten, aber Nancy hatte energisch und wortreich dagegen protestiert, und vielleicht war es letzten Endes besser so. Und sie mußte Nancy Gerechtigkeit widerfahren lassen, denn als sie Podmore’s Thatch zum erstenmal gesehen hatte, wußte sie, daß sie hier und nirgendwo anders leben wollte.

Aber trotzdem. Es wäre schön, noch einmal nach Porthkerris zurückzukehren, ehe sie für immer die Augen schließen würde. Sie könnte bei Doris wohnen. Vielleicht würde Olivia mitkommen.

Olivia lenkte den Wagen durch das offene Tor, fuhr auf dem knirschenden Kies an dem windschiefen Holzschuppen vorbei, der als Garage und Geräteschuppen diente, und hielt an der Rückseite des Hauses. Die zur Hälfte verglaste Tür führte in einen gefliesten Windfang. Hier hingen Jacken und Regenmäntel, diverse Hüte zierten die Geweihenden eines von Motten heimgesuchten ausgestopften Hirschkopfs, und in einem blauweißen Schirmständer aus Keramik standen Regenschirme, Spazierstöcke und zwei oder drei alte Golfschläger. Der Windfang ging direkt in die warme Küche, wo es verlockend nach Braten duftete. »Mama?«

Keine Antwort. Olivia durchquerte die Küche und ging in den Wintergarten, wo sie Penelope sofort am anderen Ende des Rasens erblickte. Sie hatte einen leeren Wäschekorb in der Hand, die frische Brise zauste an ihren Haaren, und sie stand da wie in Trance. Sie öffnete die Tür zum Garten und trat in den hellen und kalten Sonnenschein hinaus. »Hallo!«

Penelope fuhr ein wenig zusammen, sah ihre Tochter und ging mit raschen Schritten auf sie zu, um sie zu begrüßen. »Liebling.«

Olivia hatte sie seit der Krankheit nicht gesehen und betrachtete sie aufmerksam, um zu sehen, ob sie sich irgendwie verändert hatte. Sie fürchtete sich davor, doch abgesehen von der Tatsache, daß sie ein bißchen schmaler wirkte, schien sie bei bester Gesundheit zu sein, mit frischer Farbe auf den Wangen und ihrem normalen elastischen Gang. Sie wünschte, das Glück nicht aus ihrem Gesicht vertreiben zu müssen, indem sie ihr sagte, daß Cosmo tot war. Sie mußte auf einmal daran denken, daß Freunde für einen selbst so lange weiterleben, bis irgend jemand einem berichtet, daß sie gestorben sind. Vielleicht sollte man es besser verschweigen. »Olivia, wie schön, dich zu sehen!«

»Was tust du denn da mit deinem leeren Wäschekorb?«

»Nichts. Ich habe nur dagestanden und geschaut. Was für ein herrlicher Tag. Wie war die Fahrt?« Sie blickte über Olivias Schulter hinweg. »Wo ist dein Bekannter?«

»Er ist beim Pub ausgestiegen, um eine Kleinigkeit für dich zu kaufen.«

»Das wäre nicht nötig gewesen.«

Sie ging an ihrer Tochter vorbei, und nachdem sie ihre Schuhe rasch auf der Matte gesäubert hatte, betrat sie den Wintergarten. Olivia folgte ihr und machte die Tür zu. Der Wintergarten hatte einen Plattenboden und war mit Rohrsesseln und Schemeln möbliert, auf denen Kissen mit verblichenen Kretonnebezügen zum Sitzen einluden. Er war ebenfalls gut geheizt und roch nach Topfpflanzen und den vielen Freesien, Penelopes Lieblingsblumen, die ringsum blühten.

»Er war sehr rücksichtsvoll.« Sie stellte ihre Tasche auf den Holztisch. »Ich habe dir nämlich etwas zu sagen.« Penelope stellte den Wäschekorb neben die Tasche und drehte sich zu ihrer Tochter um. Das Lächeln schwand langsam aus ihrem Gesicht, und ihre schönen dunklen Augen blickten wachsam, doch ihre Stimme war fest und sonor wie immer, als sie sagte: »Olivia, du bist weiß wie ein Gespenst.«

Das machte Olivia ein wenig Mut. Sie sagte: »Ich weiß. Ich habe es erst heute morgen erfahren. Es ist eine sehr traurige Nachricht. Cosmo ist tot.«

»Cosmo. Cosmo Hamilton? Tot?«

»Antonia hat mich aus Ibiza angerufen.«

»Cosmo«, sagte sie noch einmal fassungslos, und jeder Glanz war aus ihren Augen gewichen. »Ich kann es nicht glauben. der liebe Mann.« Wie Olivia gewußt hatte, weinte sie nicht. Sie weinte nie. Olivia hatte ihre Mutter noch nie weinen gesehen. Aber ihre Wangen waren fahl geworden, und sie preßte instinktiv, wie um ein heftig pochendes Herz zu beruhigen, eine Hand auf die Brust. »Dieser liebe, liebe Mann. O Liebling, es tut mir so leid. Ihr habt euch soviel bedeutet. Wie fühlst du dich?«

»Wie fühlst du dich? Ich hatte schreckliche Angst davor, es dir zu erzählen.«

»Nur fassungslos. Es ist so plötzlich.« Sie streckte die Hand aus, tastete nach einem Stuhl und bekam einen zu fassen. Sie setzte sich langsam hin. Olivia erschrak. »Mama?«

»Entschuldige. Ich habe so ein komisches Gefühl.«

»Wie wär’s mit einem Cognac?«

Penelope lächelte schwach und schloß die Augen. »Großartige Idee.«

»Ich hol dir einen.«

»Er steht in -.«

»Ich weiß, wo er steht.« Sie zog einen Schemel heran. »Da, es ist besser, wenn du deine Beine hochlegst. Bleib so, ich bin sofort wieder da.«

Der Cognac stand in der Anrichte im Eßzimmer. Sie nahm ihn heraus und ging damit in die Küche, holte zwei Gläser aus dem Schrank und schenkte großzügig ein. Ihre Hand zitterte, und die Flasche stieß an das eine Glas. Sie verschüttete ein bißchen auf der Tischplatte, aber das war nicht weiter wichtig. Wichtig waren jetzt nur Mama und ihr angegriffenes Herz. Daß sie bloß keinen zweiten Anfall bekommt. O lieber Gott, laß sie nicht noch einen Herzanfall haben. Sie nahm die Gläser und ging damit in den Wintergarten zurück. » Hier.«

Sie drückte ihrer Mutter ein Glas in die Hand. Sie tranken schweigend, in kleinen Schlucken. Das starke Getränk erwärmte und beruhigte. Als Penelope ein paarmal genippt hatte, brachte sie ein schwaches Lächeln zustande.

»Glaubst du, es ist ein Zeichen von Altersschwäche, wenn man so dringend einen Schnaps braucht?«

»Bestimmt nicht. Ich habe ihn ebenso dringend nötig.«

»Mein armer Liebling.« Sie trank noch ein wenig. Die Farbe kehrte langsam in ihre Wangen zurück. »So«, sagte sie.

»Erzähl bitte noch mal, von Anfang an.«

Olivia tat es. Aber es gab nicht viel zu erzählen. Als sie ausgeredet hatte, sagte Penelope: »Du hast ihn geliebt, nicht wahr.« Sie sagte es nicht als Frage, sondern wie eine Feststellung.

»Ja. Er ist in jenem Jahr wie ein Teil von mir geworden. Er hat mich geändert, wie mich noch niemand geändert hat.«

»Du hättest ihn heiraten sollen.«

»Er wollte es. Aber ich konnte nicht, Mama. Ich konnte nicht.«

»Ich wünschte, du hättest es getan.«

»Wünsch das bitte nicht. Ich wäre alles in allem nie so zufrieden gewesen, wie ich es jetzt bin.«

Penelope nickte. Sie verstand. Und sie akzeptierte. »Und Antonia?

Was ist mit ihr? Das arme Kind. War sie da, als es passiert ist?«

»Ja.«

»Was wird aus ihr werden? Wird sie in Ibiza bleiben?«

»Nein. Sie kann nicht. Das Haus hat Cosmo nicht gehört. Sie hat keinen Platz, wohin sie gehen kann. Und ihre Mutter hat wieder geheiratet und lebt im Norden. Und viel Geld ist nicht da.«

»Aber was will sie tun?«

»Sie kommt nach England zurück. Nächste Woche. Nach London.

Sie wird ein paar Tage bei mir wohnen. Sie sagt, sie muß sich eine Arbeitsuchen.«

»Aber sie ist noch so jung. Wie alt ist sie jetzt?«

»Achtzehn. Sie ist kein Kind mehr.«

»Sie war ein so liebes kleines Mädchen.«

»Würdest du sie gern wiedersehen?«

»O ja, unbedingt.«

»Würdest du.« Olivia nahm noch einen Schluck Cognac. Er brannte in ihrer Kehle, erwärmte ihren Magen, füllte sie mit Kraft und Mut. »Möchtest du sie vielleicht eine Zeitlang hier haben?

Vielleicht ein paar Monate?«

»Warum fragst du das?«

»Aus verschiedenen Gründen. Weil ich glaube, daß sie Zeit brauchen wird, um alles zu verarbeiten und zu überlegen, was sie mit ihrem Leben machen soll. Und auch, weil Nancy mir dauernd erzählt, daß der Arzt gesagt hat, du solltest nach dem Herzanfall nicht mehr allein hier wohnen.«

»Der Arzt redet Unsinn«, widersprach Penelope energisch. Der Cognac hatte auch sie erwärmt.

»Das glaube ich auch, aber Nancy gibt keine Ruhe, und sie wird den Hörer erst dann wieder aus der Hand legen, wenn jemand bei dir ist. Also, wenn du Antonia aufnimmst, tust du auch mir einen Gefallen. Und es würde dir Spaß machen. Oder nicht? Ihr habt damals in Ibiza ständig die Köpfe zusammengesteckt und gelacht. Sie wäre eine angenehme Gesellschaft für dich, und du könntest ihr helfen, über die schwierige Zeit hinwegzukommen.« Aber Penelope war noch nicht überzeugt.

»Wäre es nicht furchtbar langweilig für sie? Ich führe kein sehr aufregendes Leben, und sie ist jetzt, mit achtzehn Jahren, vielleicht schon eine mondäne oder anspruchsvolle junge Dame.«

»Den Eindruck hat sie am Telefon ganz und gar nicht gemacht. Sie klang genauso wie früher. Und wenn sie sich nach Trubel und Discos und jungen Männern sehnt, bringen wir sie einfach mit Noel zusammen.«

Gott bewahre. Aber Penelope sagte nichts. »Wann wird sie kommen?«

»Sie will Dienstag nach London kommen. Ich könnte sie nächstes Wochenende herbringen.«

Sie betrachtete ihre Mutter besorgt und hoffte inständig, daß sie zustimmen würde, aber Penelope sagte nichts und schien an etwas ganz anderes zu denken, denn ihr Gesicht nahm einen belustigten Ausdruck an, und ihre Augen blitzten auf einmal fröhlich. »Habe ich etwas Komisches gesagt?«

»Wie bitte? Nein. Ich muß nur an die Tage am Strand denken, als Antonia Surfen lernte. All die Leute, die ringsum in der Sonne brieten, und die alten Frauen mit ihren schlaffen und runzeligen Brüsten. Weißt du noch, wie wir gelacht haben?«

»Ich werde es nie vergessen.«

»Was für eine glückliche Zeit das war.«

»Ja. Es war himmlisch. Kann sie kommen?«

»Ob sie kommen kann? Natürlich kann sie kommen, wenn sie möchte. Solange sie will. Es wird mir guttun. Es wird mich wieder jung machen.«

Als Hank eintraf, war die Krise überstanden, Penelope hatte den Vorschlag ihrer Tochter angenommen und verdrängte ihren Kummer, die Trauer und den Schock einstweilen. Das Leben ging weiter, und, angeregt von dem Cognac und der Gesellschaft ihrer Mutter, hatte Olivia das Gefühl, daß sie langsam alles wieder in den Griff bekam. Als es läutete, sprang sie auf und lief durch die Küche, um Hank hereinzulassen. Er hatte eine große braune Tragetüte dabei, die er Penelope pflichtschuldigst überreichte, als Olivia ihn vorstellte. Penelope stellte sie auf den Tisch, und da sie neugierig war, packte sie die Tüte sofort aus, aber das war Gästen, die etwas mitbrachten, ohnehin viel lieber, als ihr Geschenk unbeachtet in einer Ecke landen zu sehen. Sie holte die beiden Flaschen aus der Tüte, entfernte das Seidenpapier und stieß einen Freudenschrei aus. »Chateau Latour, Premier grand cru classé! Das kann ich doch überhaupt nicht annehmen. Sagen Sie nicht, Sie hätten Mr. Hodkins von Sudeley Arms überredet, sich davon zu trennen!«

»Nun, wie Olivia sagte. Als er hörte, für wen sie bestimmt waren, konnte er es kaum abwarten, sie aus dem Keller zu holen.«

»Ich wußte gar nicht, daß er da solche Schätze aufbewahrt. Aber es geschehen noch Wunder. Vielen, vielen Dank. Wir könnten sie zum Lunch trinken, aber ich habe schon einen anderen Wein aufgemacht. «

»Sie bewahren sie auf, bis Sie etwas zu feiern haben«, schlug er vor.

»Das werde ich tun.« Sie stellte sie auf die Kommode, und Hank zog seinen Mantel aus. Olivia hängte ihn zu den alten Trenchcoats im Windfang, und dann gingen sie alle im Gänsemarsch ins Wohnzimmer.

Es war nicht groß, und Olivia wunderte sich immer wieder, wie ihre Mutter es bloß geschafft hatte, hier Platz für all die vielen Dinge zu finden, an denen sie hing. Alte Sofas und Sessel mit losen Matratzenbezügen, die sie mit bunten indischen Tagesdecken bedeckt hatte. Überall Kissen mit Gobelinbezügen. Ihr Sekretär war wie immer aufgeklappt, und auf der Schreibtischplatte lagen Stöße von Briefen und Rechnungen. Ihr Nähtisch, ihre Lampen. Die wertvollen alten Brücken bedeckten fast die ganze Auslegeware aus Nadelfilz. Bücher und Bilder und farbig gemusterte Keramikkrüge mit getrockneten Blumen. Fotos, Nippes und kleine Silbergegenstände bedeckten so gut wie alle waagerechten Flächen, die nicht von Zeitschriften, Zeitungen, Pflanzenkatalogen und Strickzeug eingenommen wurden. Diese vier Wände bargen die Freuden und Hobbys eines tätigen Lebens, doch wie alle Leute, die das Zimmer zum erstenmal betraten, sah Hank als erstes das Gemälde über dem breiten offenen Kamin. Er starrte wie gebannt darauf. Es war ungefähr anderthalb mal einen Meter groß und beherrschte den Raum. Die Muschelsucher. Olivia wußte, daß ihre Mutter nie müde wurde, es zu betrachten, obgleich sie mehr als ihr halbes Leben mit dem Bild verbracht hatte. Es traf einen wie eine kalte, salzhaltige Bö. Der bewegte Himmel, an dem die Wolken schnell dahinzogen; das von Schaumkronen bedeckte Meer, die Wellen, die sich gischtend am Ufer brachen. Die feinen Abstufungen von Rosa und Grau, aus denen der Sand bestand, die seichten Tümpel, die von der Ebbe übriggeblieben waren und die das reflektierende Sonnenlicht ganz durchscheinend machte. Und die rührenden Gestalten der drei Kinder an der rechten Seite des Bildes, zwei Mädchen mit Strohhüten und hochgeschürzten Röcken und ein Knabe. Alle drei waren braungebrannt und barfuß und betrachteten aufmerksam den Inhalt eines kleinen roten Eimers.

»He.« Er schien ausnahmsweise um Worte verlegen. »Was für ein großartiges Bild.«

»Nicht wahr.« Penelope lächelte voll Stolz, wie immer, wenn ein Gast das Gemälde bewunderte. »Mein kostbarster Besitz.«

»Bei Gott.« Er suchte nach der Signatur. »Von wem ist es?«

»Von meinem Vater. Lawrence Stern.«

»Lawrence Stern war Ihr Vater? Olivia, das hast du mir gar nicht erzählt.«

»Ich dachte, es ist besser, wenn meine Mutter es dir sagt. Sie weiß viel mehr über seine Arbeit.«

»Gehörte er nicht zu. zu den Präraffaeliten?« Penelope nickte. »So ist es.«

»Aber dieses Bild wirkt irgendwie impressionistisch.«

»Ich weiß. Interessant, nicht wahr?«

»Wann ist es gemalt worden?«

»Ungefähr 1927. Er hatte damals ein Atelier am Nordstrand von Porthkerris, und dies war das Panorama vor seinem großen Fenster. Das Bild heißt Die Muschelsucher - und das kleine Mädchen links bin ich.«

»Aber warum ist der Stil so anders?«

Penelope zuckte mit den Schultern. »Das hat wohl verschiedene Gründe. Jeder Maler muß sich weiterentwickeln, neue Ausdrucksmittel suchen. Sonst wäre er kein richtiger Künstler. Außerdem hatte er inzwischen Arthritis in den Händen bekommen und war physisch einfach nicht mehr imstande, die Details mit derselben liebevollen Sorgfalt und Genauigkeit zu malen wie vorher.«

»Wie alt ist er damals gewesen?«

»1927? Lassen Sie mich nachdenken. Ja, zweiundsechzig. Er ist sehr spät Vater geworden. Er hat erst mit fünfundfünfzig geheiratet.«

»Haben Sie noch andere Bilder von ihm?« Er blickte auf die Wände ringsum, die wie in einer Galerie mit Bildern vollgehängt waren. »Nein, jedenfalls nicht hier im Wohnzimmer«, entgegnete Penelope. »Die meisten Bilder, die hier hängen, sind von Freunden und Kollegen von ihm. Aber ich habe noch zwei unvollendete Tafelbilder, sie sind oben im Flur. Es sind seine letzten Werke, und als er sie malte, war seine Arthritis so schlimm geworden, daß er kaum noch den Pinsel halten konnte. Deshalb hat er sie nie fertiggestellt.«

»Arthritis? Ein grausames Schicksal für einen Maler.«

»Ja. Es war sehr traurig. Aber er hat es recht gut verkraftet, weil er es philosophisch gesehen hat. Er sagte immer: ›Ich habe etwas für mein Geld gehabt‹, mehr nicht. Aber es muß trotzdem schrecklich frustrierend für ihn gewesen sein. Er behielt das Atelier noch lange, nachdem er aufgehört hatte zu malen, und wenn er deprimiert war oder einen schwarzen Hund auf der Schulter hatte, wie er sich ausdrückte, ging er hin und setzte sich ans Fenster und sah auf das Meer und den Strand hinaus.«

»Kannst du dich an ihn erinnern?« fragte er Olivia. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Als ich geboren wurde, war er schon tot. Nancy, meine Schwester, ist in Porthkerris zur Welt gekommen. Sie hat ihn noch gekannt.«

»Haben Sie das Haus noch?«

»Nein«, sagte Penelope bekümmert. »Wir mußten es zuletzt verkaufen. «

»Fahren Sie noch manchmal dorthin?«

»Ich bin seit vierzig Jahren nicht mehr da gewesen. Aber. Sonderbar, daß sie das fragen, ich habe erst heute morgen gedacht, ich müßte wirklich wieder hin und mir alles noch einmal ansehen.« Sie blickte auf Olivia. »Warum kommst du nicht mit? Nur für eine Woche. Wir könnten bei Doris wohnen.«

»Oh.« Olivia zögerte. »Ich. ich weiß nicht.«

»Wir könnten fahren, wann es dir paßt.« Penelope biß sich auf die Lippe. »Aber es ist dumm von mir. Ich weiß ja,

daß du kaum über deine Zeit verfügen kannst.«

»O Mama, es tut mir leid, aber es ist ein bißchen schwierig. Ich kann erst im Sommer Urlaub machen, und ich habe mit einigen Freunden vereinbart, nach Griechenland zu fahren. Sie haben eine Villa und eine Jacht.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Sie hatten erst ein- oder zweimal beiläufig darüber gesprochen und noch nichts Festes vereinbart, aber Urlaub war so wichtig für sie, und sie sehnte sich nach der Sonne. Sobald die Worte heraus waren, kam sie sich jedoch schuldig vor, weil sie den enttäuschten Ausdruck im Gesicht ihrer Mutter sah, aber er wurde rasch von einem verständnisvollen Lächeln abgelöst.

»Natürlich. Ich hätte daran denken sollen. Es war nur eine Idee. Und ich kann auch alleine fahren.«

»Es ist sehr weit, ich meine, allein im Auto.«

»Ich könnte gut mit dem Zug fahren.«

»Warum fragst du nicht Lalla Friedmann, ob sie mitkommen will. Ich glaube, sie würde Cornwall gern einmal sehen.«

»Lalla. Ich habe gar nicht an sie gedacht. Hm, wir werden sehen.« Damit ließ Penelope das Thema fallen und wandte sich wieder zu Hank. »Aber wir reden und reden, und ich habe Ihnen noch nicht einmal etwas zu trinken angeboten. Was möchten Sie?« Das Essen dauerte lange und war köstlich. Während sie sich den leckeren Lendenbraten schmecken ließen, den Hank geschnitten und vorgelegt hatte, nicht ohne seine Bewunderung dafür auszudrücken, daß er innen genau den richtigen Rosaton aufwies, und Penelope zu dem knackigen Gemüse, der Meerrettichsoße, dem Bratensaft und dem Yorkshire-Pudding gratulierte, bombardierte diese ihren männlichen Gast mit Fragen. Über Amerika, über sein Heim und seine Frau und seine Kinder. Olivia sorgte derweil dafür, daß die Gläser nicht leer wurden. Sie wußte, daß ihre Mutter nicht fragte, weil sie höflich sein und Konversation machen wollte, sondern aus aufrichtigem Interesse. Menschen waren ihre ganze Leidenschaft, vor allem Menschen aus fernen Ländern, die so einnehmend und charmant waren wie Hank.

»Sie leben also in Dalton. In Georgia? Ich kann mir nicht vorstellen, wie Dalton ist. Haben Sie eine Wohnung oder ein Haus mit einem Garten?«

»Ich habe ein Haus mit einem schönen großen Garten.«

»Ich nehme an, in dem Klima kann man praktisch alles pflanzen und anbauen.«

»Ich fürchte, ich weiß nicht sehr viel darüber. Ich lasse all das von einem Gärtner machen. Ich muß gestehen, daß ich nicht mal das Gras selbst mähe.«

»Das ist vernünftig. Nichts, dessen man sich schämen müßte.«

»Und Sie, Mrs. Keeling?«

»Mama hat nie fremde Hilfe gehabt«, antwortete Olivia an Penelopes Stelle. »Alles, was du da draußen siehst, ist ihre eigene Schöpfung. «

Hank schaute zweifelnd. » Das kann ich nicht glauben. Erstens ist es einfach zuviel.«

Penelope lachte. »Sie brauchen nicht so entsetzt auszusehen. Es ist für mich keine lästige Arbeit, sondern ein Vergnügen. Da man aber leider nicht immer so weitermachen kann, habe ich mich um einen Gärtner gekümmert, und übermorgen kommt er zum erstenmal. Ich werde den Tag im Kalender rot anstreichen.« Olivia machte große Augen. »Wirklich? Ist das dein Ernst?«

»Ich habe dir doch gesagt, daß ich mich nach jemandem unsehen will.«

»Ja, aber ich war nicht sicher, daß du es tun würdest.«

»In Pudley gibt es eine gute Gärtnerei. Sie heißt Autogarden, was ich nicht sehr geistreich finde, aber das spielt keine Rolle. Sie werden dreimal die Woche einen jungen Mann herschicken. In dieser Zeit müßte er wenigstens das Umgraben schaffen, und wenn er nett und zugänglich ist, werde ich ihn überreden, noch ein paar andere Dinge zu machen, zum Beispiel Holz zu sägen und Kohlen zu schaufeln. Wir werden sehen, wie es läuft. Wenn sie mir einen faulen Kerl schicken, der nichts vom Gärtnern versteht, oder wenn es mir zu teuer wird, kann ich jederzeit kündigen. Oh, Hank, nehmen Sie doch noch eine Scheibe von dem Braten.«

Das üppige Mahl dauerte bis weit in den Nachmittag. Als sie sich endlich vom Tisch erhoben, war es kurz vor vier Uhr. Olivia traf Anstalten, das Geschirr zu spülen, aber ihre Mutter hinderte sie daran, und sie zogen statt dessen ihren Mantel an und gingen in den Garten, um frische Luft zu schnappen. Sie spazierten herum und ließen sich alles zeigen, und Hank half Penelope, einen Klematiszweig festzubinden, der in eine Richtung wachsen wollte, wo er keinen Halt finden würde, und Olivia fand unter einem der Apfelbäume ein Büschel Winterling und pflückte einen winzigen Strauß für ihr Haus in London.

Als es Zeit wurde, sich zu verabschieden, gab Hank Penelope einen Kuß.

»Ich kann Ihnen nicht genug danken. Es war herrlich bei Ihnen.«

»Sie müssen mich wieder besuchen.«

»Vielleicht. Eines Tages.«

»Wann fliegen sie nach Amerika zurück?«

»Morgen früh.«

»Das war ein kurzer Besuch. Wie schade. Ich habe mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen.«

»Ganz meinerseits.«

Er ging zum Auto und öffnete Olivia die Tür. »Auf Wiedersehen, Mama.«

»O Liebling.« Sie umarmten sich. »Noch einmal, es tut mir so leid wegen Cosmo. Du darfst nicht zu traurig sein. Sei dankbar dafür, daß du jene Zeit mit ihm hattest. Nicht zurückblicken. Keine verspätete Reue.«

Olivia lächelte tapfer. »Nein. Keine verspätete Reue.«

»Und wenn ich nichts anderes von dir höre, erwarte ich dich nächstes Wochenende. Mit Antonia.«

»Ich rufe vorher noch mal an.«

»Auf Wiedersehen, Liebling.«

Sie waren fort. Sie war fort. Olivia in ihrem schönen kastanienbraunen Mantel mit dem Nerzkragen, und dem Strauß Winterling fest in der Hand. Wie ein kleines Mädchen. Penelope war voll Mitgefühl für sie. Die eigenen Kinder hörten nie auf, Kinder zu sein. Auch wenn sie achtunddreißig waren und erfolgreiche Karrierefrauen. Man selbst konnte alles ertragen, aber seine Kinder leiden zu sehen, war herzzerreißend. Ihre Gedanken waren bei Olivia, begleiteten sie zurück nach London, aber ihr Körper, der von dem langen und arbeitsreichen Tag müde war, rief sie in die Wirklichkeit zurück, und sie ging wieder ins Haus.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich immer noch zerschlagen und müde. Als sie aufwachte, war sie schrecklich deprimiert und wußte nicht warum, bis ihr Cosmo einfiel. Es regnete, und ausnahmsweise erwartete sie keine Gäste zum Mittagessen, so daß sie bis halb elf im Bett blieb, und als sie endlich aufgestanden war und sich angezogen hatte, ging sie ins Dorf, um die Sonntagszeitung zu holen. Die Kirchenglocken läuteten, und einige Leute gingen zum Gottesdienst. Penelope wünschte sich nicht zum erstenmal, aufrichtig religiös zu sein. Sie glaubte an Gott und ging Weihnachten und Ostern immer in die Kirche, weil das Leben, wenn man nicht an ein höheres Wesen glaubte, unerträglich war. Doch als sie nun die Dorfbewohner sah, die den Kiesweg zwischen den alten schiefstehenden Grabsteinen zu der kleinen Holzkirche hochgingen, dachte sie, wie schön es wäre, sich ihnen in der Gewißheit anzuschließen, einen Trost zu finden. Aber sie tat es nicht. Es hatte noch nie geklappt, und es war unwahrscheinlich, daß es diesmal klappen würde. Der liebe Gott hatte nicht die Schuld, es mußte an ihrer eigenen Geisteshaltung liegen. Als sie wieder zu Hause war, zündete sie ein Feuer im Kamin an, las den Observer und zwang sich dann, eine übriggebliebene Scheibe des Bratens zu essen, der im kalten Zustand ganz gut als Roastbeef durchgehen konnte, dazu einen Apfel und ein Glas Wein. Sie aß in der Küche, ging dann wieder ins Wohnzimmer und hielt einen kleinen Mittagsschlaf. Als sie aufwachte, sah sie, daß es aufgehört hatte zu regnen, und sie stand vom Sofa auf, zog ihre Gummistiefel und ihre alte Jacke an und ging hinaus in den Garten. Sie hatte die Rosen im Herbst beschnitten und ihnen reichlich Kompost gegeben, aber es gab immer noch tote Zweige, und sie drang in das dornige Dickicht vor und nahm sie in Angriff.

Wie immer, wenn sie sich auf diese Weise betätigte, verlor sie jedes Zeitgefühl, und ihre Gedanken drehten sich einzig und allein um ihre Rosen, als sie sich aufrichtete und zwei Gestalten über den Rasen auf sich zukommen sah. Sie war überrascht, denn sie hatte kein Auto kommen hören und erwartete niemanden. Ein Mädchen und ein Mann. Ein großgewachsener Mann mit dunklem Haar und blauen Augen, offenbar sehr gut aussehend, der die Hände in den Taschen hatte. Ambrose. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, und sie schalt sich eine Närrin, denn es war natürlich nicht Ambrose, der sich ihr aus den Schatten des Jenseits näherte, sondern ihr Sohn Noel, der so viel Ähnlichkeit mit seinem toten Vater hatte, daß sie oft dieses unheimliche Gefühl hatte, wenn er unerwartet auftauchte.

Noel. Mit einem Mädchen, natürlich.

Sie riß sich zusammen, setzte ein Lächeln auf, steckte die Rosenschere in die Tasche, zog die Handschuhe aus und trat aus dem Beet.

»Hallo, Ma.« Er hatte sie erreicht und gab ihr, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, einen Kuß auf die Wange. »Was für eine Überraschung. Woher kommst du?«

»Wir waren in Wiltshire. Ich dachte, es wäre vielleicht eine gute Idee, auf dem Rückweg vorbeizukommen und zu sehen, wie es dir geht.« Wiltshire? Auf dem Rückweg von Wiltshire vorbeigekommen? Sie mußten einen meilenweiten Umweg gemacht haben. »Das ist Amabel.«

»Sehr erfreut, guten Tag.«

»Hallo«, sagte Amabel und traf keine Anstalten, die Hand auszustrecken. Sie war klein wie ein Kind, und ihre Haare sahen aus wie ein Gewirr von Seetang, und sie hatte runde, hellgrüne Augen, die wie zwei Stachelbeeren aussahen. Sie trug einen gewaltigen, knöchellangen Tweedmantel, der Penelope irgendwie bekannt vorkam, und als sie ein zweites Mal hinschaute, erkannte sie den alten Überzieher ihres Vaters, der bei ihrem Auszug aus der Oakley Street auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Sie wandte sich wieder Noel zu. »Ihr wart also in Wiltshire. Bei wem?«

»Bei einem Ehepaar namens Early, sie sind Freunde von Amabel. Aber wir sind nach dem Lunch abgefahren, und ich habe gedacht, wo ich dich seit dem Krankenhaus nicht mehr gesehen habe, sollte ich kurz reinschauen und sehen, wie du zurechtkommst.« Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln. »Ich muß sagen, du siehst großartig aus. Ich hatte befürchtet, du seist blaß und leidend und hättest die Beine auf einen Schemel gelegt.«

Penelope war jedesmal irritiert, wenn jemand das Krankenhaus erwähnte.

»Es war blinder Alarm. Mir fehlt überhaupt nichts. Nur Nancy macht wie üblich aus einer Mücke einen Elefanten, und ich kann es nicht ausstehen, bemuttert zu werden.« Dann bekam sie Gewissensbisse, denn es war wirklich sehr freundlich von ihm, daß er den ganzen Weg gekommen war, um zu sehen, wie es ihr ging. »Es ist sehr nett von dir, daß du an mich gedacht hast, aber wie du siehst, geht es mir ausgezeichnet. Ich freue mich, euch beide zu sehen. Wie spät ist es eigentlich? Du lieber Himmel, fast halb fünf. Möchtet ihr einen Tee? Gehen wir ins Haus, ich setze sofort Wasser auf. Würdest du Amabel bitte den Weg zeigen, Noel? Ihr geht am besten ins Wohnzimmer. Der Kamin ist an. Ich muß mir nur schnell die Stiefel ausziehen und komme dann nach.«

Er wandte sich ab und ging mit Amabel zum Wintergarten. Sie sah, wie sie eintraten, und nahm dann die Tür zum Gartenzimmer, wo sie saubere Schuhe anzog und die Jacke an den Haken hängte, um dann nach oben zu gehen, durch die unbenutzten Zimmer in ihr Schlafzimmer und dem Bad daneben, wo sie sich die Hände wusch und ihr Haar in Ordnung brachte. Dann eilte sie die andere Treppe hinunter in die Küche, stellte Wasser auf und deckte ein Tablett. Sie fand eine Büchse mit englischem Kuchen. Noel liebte englischen Kuchen, und das Mädchen, diese Amabel, sah aus, als ob sie etwas zu essen gebrauchen könnte. Penelope fragte sich, ob sie an Magersucht litt. Es hätte sie nicht überrascht. Noel hatte immer die ungewöhnlichsten Freundinnen.

Sie machte Tee und ging mit dem Tablett durchs Eßzimmer in das Wohnzimmer, wo Amabel, die den alten Mantel ausgezogen hatte, wie eine magere Katze in einer Sofaecke hockte, während Noel Scheite auf die Glut im Kamin schichtete. Penelope setzte das Tablett ab, und Amabel sagte: »Was für ein irres Haus.« Penelope versuchte, sich für sie zu erwärmen. »Ja. Es ist sehr anheimelnd, nicht wahr?«

Die Stachelbeeraugen blickten auf Die Muschelsucher. »Tolles Bild.«

»Ja, es fällt jedem auf.«

»Ist es Cornwall?«

»Ja. Porthkerris.«

»Das habe ich mir gedacht. Ich war mal in den Ferien da, aber es hat die ganze Zeit geregnet.«

»Oh. Wie schade.« Ihr fiel nichts anderes ein, und sie benutzte die nun entstehende Pause, um den Tee einzuschenken. Als sie es getan und die Tassen verteilt und den Kuchen geschnitten hatte, fing sie das Gespräch wieder an.

»Nun. Erzählt von eurem Wochenende. War es unterhaltsam?« Ja, antwortete sie, es sei ganz lustig gewesen. Eine Party mit zehn Leuten und am Sonnabend eine Schnitzeljagd und dann Dinner in einem Landhaus in der Nähe, und dann ein Ball, und sie seien erst um vier Uhr morgens ins Bett gekommen.

Für Penelope klang es alles ganz furchtbar, aber sie sagte: »Wie schön.« Da sie offenbar nichts mehr zu berichten wußten, erzählte sie von sich und sagte, daß Olivia mit einem Freund aus Amerika dagewesen sei. Amabel unterdrückte ein Gähnen, und Noel, der mit einer Tasse neben sich am Boden auf einem niedrigen Schemel am Kamin saß und seine langen Beine wie Taschenmesser unter sich zusammengeklappt hatte, hörte höflich, aber - wie Penelope spürte - nicht allzu aufmerksam zu. Sie überlegte, ob sie von Cosmos Tod erzählen sollte, beschloß jedoch, es nicht zu tun. Sie dachte daran, ihm zu sagen, daß Antonia kommen und voraussichtlich einige Wochen in Podmore’s Thatch bleiben würde, aber das würde ihn auch nicht interessieren. Er hatte Cosmo nicht kennengelernt, und was hatte er mit Antonia zu schaffen? Er interessierte sich in Wahrheit für nichts und niemanden außer sich selbst, denn er ähnelte seinem Vater nicht nur äußerlich, sondern hatte auch seinen Charakter.

Sie wollte ihn gerade nach seiner Arbeit fragen und danach, wie er in der Werbeagentur zurechtkam, und machte bereits den Mund auf, um es zu tun, als er ihr zuvorkam. »Ma, wo wir gerade von Cornwall sprechen« - hatten sie das? -, »hast du gewußt, daß diese Woche ein Bild von deinem Vater bei Boothby’s versteigert wird? Es soll angeblich um die zweihunderttausend bringen. Ich bin gespannt, für wieviel es weggeht.«

»Ja, ich habe es gewußt. Olivia hat es gestern beim Essen erwähnt.«

»Du solltest nach London fahren und dabei sein. Es wäre sicher sehr interessant für dich.«

»Wirst du hingehen?«

»Ja, wenn ich es mit der Arbeit einrichten kann.«

»Es ist merkwürdig, daß diese alten Bilder auf einmal wieder so in Mode sind. Und was für Preise dafür bezahlt werden. Der arme Papa würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüßte, wieviel Geld sie bringen.«

»Boothby’s muß schon ein Vermögen an ihnen verdient haben. Hast du die Anzeige in der Sunday Times gesehen?«

»Nein, ich habe noch nicht Zeitung gelesen.« Die Sunday Times lag zusammengefaltet auf dem Sitz ihres Ohrensessels.

Noel griff danach, schlug sie auf und faltete, als er die Annonce gefunden hatte, die aufgeschlagenen Seiten nach hinten und reichte ihr die Zeitung. In der unteren Ecke sah sie den bekannten Schriftzug des Auktionshauses Boothby’s. »Nebenwerk oder wichtige Entdeckung?«

Sie las den Text. Offenbar waren vorher zwei kleinformatige Ölgemälde mit einem ähnlichen Sujet auf den Markt gekommen. Das eine hatte nur dreihundertvierzig Pfund gebracht, das andere über sechzehntausend.

Sie war sich bewußt, daß Noel sie beobachtete, und las weiter. »Die Boothby’s-Auktionen haben in erheblichem Maß zu der kürzlichen Neueinschätzung der lange Zeit vernachlässigten viktorianischen Periode beigetragen. Wir stehen Ihnen jederzeit mit unserer Erfahrung zur Seite und schätzen Ihre Kunstwerke. Wenn Sie ein Werk aus dieser Periode haben, rufen Sie unseren Sachverständigen, Mr. Roy Brookner, an und vereinbaren Sie mit ihm einen Termin, damit er Sie kostenlos und unverbindlich aufsucht, um es zu begutachten.«

Es folgte die Adresse und die Telefonnummer, mehr nicht. Penelope faltete die Zeitung zusammen und legte sie hin. Noel wartete. Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Ich dachte, es würde dich vielleicht interessieren.«

»Du meinst, ich möchte meine Bilder schätzen lassen?«

»Nicht alle. Nur die von deinem Vater.«

»Wegen der Versicherung?« fragte Penelope gelassen. »Zum Beispiel. Ich weiß nicht, für wieviel sie jetzt versichert sind. Aber vergiß nicht, die Preise sind so hoch wie noch nie. Ein Millais hat vor ein paar Tagen achthunderttausend gebracht!«

»Ich habe leider keinen Millais.«

»Du. Würdest du sie eventuell verkaufen?«

»Verkaufen? Die Bilder meines Vaters?«

»Natürlich nicht Die Muschelsucher. Aber die beiden Gemälde auf Holz.«

»Sie sind unvollendet. Sie sind wahrscheinlich nichts wert.«

»Das glaubst du. Eben deshalb solltest du sie schätzen lassen. Möglichst bald. Wenn du weißt, was sie wert sind, wirst du es dir vielleicht überlegen. Sie hängen sowieso nur oben im Flur, wo kein Mensch sie sieht, und wahrscheinlich siehst du sie selbst kaum noch. Du würdest sie gar nicht vermissen.«

»Wie willst du wissen, ob ich sie vermissen würde oder nicht?« Er zuckte die Achseln. »Ich dachte nur. Sie scheinen nicht allzu gut zu sein, und diese wallenden Blumenfrauen sind scheußlich.«

»Wenn das deine Meinung ist, kannst du doch froh sein, daß du nicht mehr jeden Tag an ihnen vorbeigehen mußt.« Sie wandte sich ab. »Amabel, meine Liebe, möchten Sie noch eine Tasse Tee?« Noel wußte, daß seine Mutter, wenn sie unvermittelt so kühl und würdevoll wurde, nahe daran war, die Beherrschung zu verlieren, und daß er es nur noch schlimmer machen und ihren Widerstand erst recht wecken würde, wenn er weiter auf sie einredete. Aber er hatte wenigstens das Thema zur Sprache gebracht und die Saat gesät. Sobald sie allein war, würde sie vielleicht darüber nachdenken und sich seinem Standpunkt nähern. Also lächelte er strahlend und gab sich in einer seiner überraschenden Kehrtwendungen geschlagen.

»Gut. Vielleicht hast du recht. Du hast gewonnen. Ich werde nicht länger davon reden.« Er stellte die Tasse hin, schob seine Manschette zurück und sah auf die Uhr. »Du hast es eilig?« fragte seine Mutter.

»Wir sollten nicht zu lange bleiben. Es ist noch ziemlich weit nach London, und sonntags abends ist der Verkehr eine Katastrophe. Übrigens, Ma, weißt du zufällig, ob mein Squash-Schläger oben in meinem Zimmer ist? Ich habe mich zu einer Partie verabredet und kann ihn bei mir nicht finden.«

»Ich weiß nicht«, sagte Penelope voll Erleichterung, daß er das Thema gewechselt hatte. Sein kleines Zimmer in Podmore’s Thatch war voll von Umzugskisten und Koffern und allen erdenklichen Sportutensilien, doch er blieb fast nie über Nacht hier, so daß sie keinen Grund sah, es öfter als unbedingt nötig zu betreten, und auch nicht genau wußte, was alles dort war. »Warum gehst du nicht hoch und siehst selbst nach?«

»Das werde ich.« Er stand vorsichtig auf, um sich nicht die Knie zu stoßen, und sagte: »Ich bin gleich wieder da.« Dann verließ er das Zimmer. Sie hörten seine Schritte auf der Treppe. Amabel saß da, unterdrückte wieder ein Gähnen und sah aus wie eine gestrandete Meerjungfrau.

»Kennen Sie Noel schon lange?« fragte Penelope und konnte es nicht ändern, daß sie so töricht und konventionell daherredete. »Ungefähr drei Monate.«

»Wohnen Sie in London?«

»Meine Eltern leben in Leicestershire, aber ich habe eine Wohnung in der Stadt.«

»Arbeiten Sie?«

»Nur wenn ich muß.«

»Möchten Sie vielleicht noch eine Tasse?«

»Nein, aber ich hätte gern noch ein Stück Kuchen.« Penelope gab ihr eines. Amabel aß es. Penelope fragte sich, ob sie es bemerken würde, wenn sie, Penelope, jetzt einfach eine Zeitung nähme und anfange zu lesen. Sie dachte, wie reizend junge Leute doch manchmal sein konnten, und wie reizlos es war, daß Amabel immerfort mit offenem Mund kaute.

Schließlich gab sie jede weitere Bemühung um höfliche Konversation auf, stellte das Geschirr aufs Tablett zurück und ging damit in die Küche, während Amabel im Begriff zu sein schien, den verlorenen Schlaf von gestern nachzuholen. Als sie die Tassen und die Untertassen gespült hatte, war Noel noch nicht wieder erschienen. Vermutlich suchte er immer noch jenen schwer auffindbaren Squash-Schläger. Sie dachte, sie könnte ihm vielleicht helfen, und ging die Küchentreppe hoch und durch die anderen Schlafzimmer zu dem Ende des Hauses, wo sein Zimmer war. Die Tür stand offen, aber er war nicht drinnen. Sie zögerte verwirrt, und dann hörte sie über sich leise, behutsame Schritte. Der Dachboden? Was machte er auf dem Dachboden?

Sie blickte hinauf. Die alte Stiege führte zu der quadratischen Luke in der Decke. »Noel?«

Einen Augenblick später sah sie ihn, zuerst die Beine und dann den Rest, vorsichtig die Stiege herunterklettern. »Was hast du denn da oben gemacht?« Er kam die letzte Sprosse herunter. Auf seinem Jackett waren Staubflusen, und in seinem Haar hing ein Stück von einem Spinnennetz.

»Ich hab den blöden Schläger nicht finden können«, antwortete er. »Ich habe gedacht, er sei vielleicht oben auf dem Speicher.«

»Das ist unmöglich. Da oben sind nur alte Sachen aus der Oakley Street.«

Er lachte und klopfte sich den Staub vom Jackett. »Das kannst du noch mal sagen.«

»Du kannst nicht sehr gründlich gesucht haben.« Sie ging in das vollgestellte kleine Zimmer, räumte einige Windjacken und zwei Knieschützer beiseite und fand darunter sofort den Squash-Schläger. »Da ist er ja. Hast du keine Augen im Kopf? Aber du hast schon als kleiner Junge Schwierigkeiten gehabt, etwas wiederzufinden, was du verlegt hattest.«

»Oh, verdammt. Entschuldige. Vielen Dank.« Er nahm ihn ihr ab. Sie sah ihn an, aber er machte ein vollkommen harmloses Gesicht.

Sie sagte: »Amabel hat den Mantel deines Großvaters an. Wann hast du ihn mitgenommen?«

Selbst das brachte ihn nicht aus der Fassung. »Beim Umzug. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Du hast ihn nie getragen, und es ist ein Prachtstück.«

»Du hättest mich fragen sollen.«

»Ich weiß. Möchtest du ihn wiederhaben?«

»Natürlich nicht. Du kannst ihn behalten.« Sie dachte daran, daß Amabel sich gleich wieder in das einstmals luxuriöse Kleidungsstück hüllen würde, und nach ihr würden es sicher noch viele andere Mädchen tun. »Ich bin sicher, du wirst viel bessere Verwendung dafür haben als ich.«

Als sie nach unten kamen, war Amabel eingeschlafen. Noel weckte sie, und sie rappelte sich gähnend auf, ohne die Augen richtig zu öffnen, und dann half er ihr in den Mantel, gab seiner Mutter zum Abschied einen Kuß und fuhr mit seiner Freundin fort. Als Penelope den Wagen nicht mehr sehen konnte, ging sie ins Haus zurück. Sie machte die Tür zu und hatte, während sie dort in der Küche stand, ein unbehagliches Gefühl. Was hatte er oben auf dem Dachboden gesucht? Er wußte sehr wohl, daß der Squash-Schläger nicht dort sein konnte.

Sie ging wieder ins Wohnzimmer und legte ein Scheit nach. Die Sunday Times lag noch neben dem Sessel, in dem sie gesessen hatte, auf dem Teppich. Sie bückte sich, hob sie auf und las die Boothby’s-Anzeige noch einmal. Dann trat sie zum Sekretär, nahm eine Schere, schnitt sie sorgfältig aus und legte sie in eine der winzigen Schubladen über der Schreibplatte.

Mitten in der Nacht fuhr sie erschreckt hoch. Draußen stürmte es; es war stockdunkel, und es hatte wieder angefangen zu regnen. Die Fenster klapperten, und Tropfen klatschten an die Scheiben. »Ich war mal in den Ferien in Cornwall, aber es hat die ganze Zeit geregnet«, hatte Amabel gesagt. Porthkerris. Sie dachte zurück an den Regen, den die Böen vom Atlantik hergetragen hatten. Sie dachte an ihr Zimmer in Cam Cottage, während sie im Dunkeln lag, an das Geräusch der Wellen, die sich weit unten am Strand gebrochen, an die Vorhänge, die sich am offenen Fenster gebauscht hatten, und an den Lichtkegel vom Leuchtturm, der in regelmäßigen Abständen über die weißgetünchte Wand gestrichen war. Sie dachte an den Garten mit dem herrlichen Duft von Heilandsblümchen, an den Weg, der ins Hochmoor hinaufführte, und an die Aussicht von dort oben, auf die weite Bucht, das strahlende Blau des Meeres. Das Meer war einer der Gründe, weshalb sie sich so danach sehnte, noch einmal nach Porthkerris zu fahren. Gloucestershire war sehr schön, aber hier gab es kein Meer, und sie hatte ein unstillbares Verlangen nach dem Meer. Die Vergangenheit ist ein anderes Land, doch die Reise war nicht unmöglich. Es gab nichts, was sie daran hindern konnte. Allein oder mit jemand anderem, es spielte keine Rolle. Ehe es zu spät war, würde sie nach Westen fahren in den Teil Englands, in dem sie einst gelebt hatte. Wo sie geliebt hatte und jung gewesen war.