* DREIZEHN

 

* I

 

Das Erste, was er tun musste, stellte Banks im kalten Licht des Mittwochmorgens fest, war, sich ein paar Stunden Zeit zu nehmen und alle Berichte über den Jason-Fox-Fall durchzugehen - besonders jene, die in seiner Abwesenheit entstanden waren. Ihm war klar, dass er über das Wochenende eine Menge verpasst hatte, und er musste einige Dinge wissen, wenn er auf eigene Faust Fortschritte machen wollte. Aber wie konnte er an die Unterlagen kommen? Er glaubte zwar nicht, - dass man ihn aus dem Eastvaler Revier werfen würde, , doch seine Kollegen konnten ihn auch nicht einfach hereinspazieren und mitnehmen lassen, was er wollte.

  Weil im Haus kein Krümel Brot mehr zu finden war und er keine Lust hatte, den von Sandra zurückgelassenen Hüttenkäse zu essen, mussten ein Kaffee und Vaughan Williams »Serenade to Music« als Frühstück genügen.

  Während er sich von der sinnlichen Musik berieseln ließ, dachte er unwillkürlich an den vergangenen Abend. Als er Pamela bei ihrer Wohnung abgesetzt hatte, hatte er ein wenig gehofft, sie würde ihn auf einen Drink einladen, doch sie hatte ihm nur für das Nachhausebringen gedankt und gesagt, dass sie müde wäre und hoffte, ihn bald wiederzusehen. Er hatte erwidert, dass er sie anrufen würde, und war dann weitergefahren, enttäuscht, dass er nicht das bekommen hatte, was er wahrscheinlich sowieso abgelehnt hätte, selbst wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Dennoch hatte ihm das Treffen mit ihr gut getan. Immerhin hatte sie ihn davon überzeugt, weiter an dem Fall zu arbeiten.

  Als die Musik zu Ende war, nahm er das Telefon und rief Sandra in Croydon an. Er hatte schon gestern Abend mit dem Gedanken gespielt, sie anzurufen, doch dann war es ihm zu spät dafür gewesen.

  Ihre Mutter nahm ab.

  »Alan? Wie geht es dir?«

  »Ach, ganz gut, den Umständen entsprechend. Und dir?«

  »Ungefähr genauso. Du, äh, was geschehen ist, tut mir wirklich Leid. Willst du mit Sandra sprechen?«

  »Bitte.«

  »Einen Moment.«

  Sie klang verlegen, dachte Banks, während er wartete. Eigentlich kein Wunder. Was sollte sie auch sagen? Ihre Tochter hatte ihren Ehemann verlassen und war nach Hause gekommen, um Ruhe zu finden. Banks war immer gut mit seiner Schwiegermutter ausgekommen, und er rechnete nicht damit, dass sie ihn jetzt für ein Ungeheuer hielt. Aber genauso wenig wollte sie mit ihm am Telefon über seine Gefühle sprechen.

  »Alan?«

  Es war Sandras Stimme. Sie klang müde. Er spürte, wie die eisige Hand sein Herz drückte. Jetzt, wo er sie am Telefon hatte, wusste er nicht, was er sagen sollte. »Ja. Ich ... äh ... ich wollte nur hören, ob bei dir alles in Ordnung ist.«

  »Natürlich ist alles in Ordnung. Du hättest besser nicht angerufen.«

  »Aber warum?«

  »Warum wohl? Das habe ich dir doch gesagt. Ich brauche Zeit, um mir über ein paar Dinge klar zu werden. So ein Anruf hilft da nicht.«

  »Vielleicht hilft er mir.«

  »Glaube ich nicht.«

  »Ich war am Wochenende in Amsterdam.«

  »Du warst wo?«

  »In Amsterdam. Es war komisch. Da kamen eine Menge Erinnerungen hoch. Weißt du noch, wie wir ...«

  »Alan, warum erzählst du mir das? Ich möchte nicht darüber reden. Bitte. Tu mir das nicht an. Uns.«

  »Aber ich...«

  »Ich lege jetzt auf.«

  »Bitte nicht.«

  »Alan, ich komme damit nicht zurecht. Ich lege jetzt auf.«

  »Kann ich mit Tracy sprechen?«

  Für einen Moment war es still, dann kam Tracy an den Apparat. »Dad, du bist es. Ich habe mir Sorgen gemacht.«

  »Ich bin in Ordnung, Liebling. Deine Mutter ...«

  »Sie ist durcheinander, Dad. Ehrlich, ich verstehe auch nicht mehr als du. Ich weiß nur, dass Mama verwirrt ist und sagt, dass sie eine Zeit lang Abstand braucht.«

  Banks seufzte. »Ich weiß. Ich hätte nicht anrufen sollen. Sie hat Recht. Sag ihr, dass es mir Leid tut. Und sag ihr, ich ...«

  »Ja?«

  »Schon gut. Sag mal, weiß Brian eigentlich schon Bescheid? Entschuldige, aber bei mir geht alles drunter und drüber. Außer dich habe ich niemanden angerufen.«

  »Dad, du musst dich bei mir nicht entschuldigen. Ich kann mir vorstellen, dass man nicht weiß, was man tun soll, wenn so etwas geschieht. Ich meine, auf solch eine Situation kann man sich ja nicht vorbereiten, oder?«

  Gott, sie klang plötzlich so reif, dachte Banks. Viel reifer, als er sich im Moment fühlte. »Und? Weiß er Bescheid?«

  »Ja. Wir haben am Wochenende mit ihm gesprochen. «

  »Wie hat er es aufgenommen?«

  »Cool. Du kennst doch Brian.«

  »Wann werde ich dich sehen?«

  »Ich bleibe noch den Rest der Woche hier. Aber ich komme übers Wochenende hoch, wenn du willst.«

  »Würdest du das machen?« Die eisige Hand lockerte ihren Griff und Banks wurde es etwas wärmer ums Herz.

  »Natürlich. Du weißt, dass ich dich liebe, Dad. Ich liebe euch beide. Wie ich schon gestern gesagt habe, ich ergreife nicht Partei. Bitte denke nicht, nur weil ich hierher gekommen bin, bist du mir weniger wert.«

  »Denke ich nicht. Wenn du am Wochenende kommen würdest, wäre das jedenfalls großartig.«

  Tracy zögerte. »Du wirst doch nicht die ganze Zeit arbeiten, oder?«

  »Ich ... äh ... nein, ich glaube nicht«, antwortete Banks. Jetzt konnte er ihr unmöglich von seiner Suspendierung erzählen. Das Letzte, was er im Moment brauchte, war, dass ihn seine Tochter aus der Ferne noch mehr bemitleidete. »Ich hole dich vom Bahnhof ab. Wann kommt der Zug an?«

  »Er ist am Nachmittag in Leeds. Aber ich muss zuerst noch im Wohnheim vorbeischauen. Könnte sein, dass es Nachrichten für mich gibt. Eigentlich hätte ich mir nicht einfach so freinehmen dürfen. Ich habe ja gerade erst mit dem Studium begonnen.«

  »Das wird man bestimmt verstehen.«

  »Hoffentlich.«

  »Dann könnte ich doch nach Leeds kommen und dich vom Wohnheim abholen, oder? Ist das nicht eine gute Idee?«

  »Das wäre großartig.«

  »Um wie viel Uhr?«

  »So um sechs?«

  »Gut. Und dann halten wir auf dem Rückweg in Masham an und essen was im King's Head.«

  »Super. Und, Dad ...«

  »Was?«

  »Pass auf dich auf.«

  »Mache ich. Dann bis Freitag. Tschüss.«

  »Tschüss.«

  Banks lauschte eine Weile der Stille in der Leitung, legte dann den Hörer auf, schluckte, holte tief Luft und wählte Brians Nummer in Portsmouth.

  Nachdem es sechsmal geklingelt hatte, meldete sich eine verschlafene Stimme. »Ja? Wer ist da?«

  »Habe ich dich geweckt?«

  »Dad?«

  »Ja.«

  »Ah, ja, hast du. Aber ist schon okay. Ich muss sowieso aufstehen. Um zehn ist Vorlesung. Was gibt's?«

  »Ich habe gehört, du hast schon von deiner Mutter und mir erfahren, stimmt's?«

  »Ja. Blöde Sache. Bist du okay?«

  »Mir geht's gut.«

  »Und Mama?«

  »Ich habe gerade mit ihr gesprochen. Im Moment ist sie ein bisschen durcheinander, aber das wird schon wieder.«

  »Na also. Was soll jetzt passieren?«

  »Keine Ahnung. Sie sagt, sie braucht etwas Abstand.«

  »Sie kommt zurück, Dad, du wirst schon sehen.«

  »Hoffentlich.«

  »Warte einfach ab. Sie hat nur ihre Midlifecrisis, das ist alles. Sie kommt darüber weg.«

  Kinder. Banks musste lächeln. »Bestimmt. Und wie geht's dir?«

  »Gut.«

  »Wie läuft die Uni?«

  »Okay. Hey, Dad, am nächsten Wochenende haben wir ein paar Gigs. Bezahlte Gigs.« Brian spielte in einer regionalen Bluesband. Banks hielt ihn für einen ziemlich guten Gitarristen.

  »Das ist großartig. Lass dich dadurch nur nicht von deinem Studium ablenken.«

  »Nein. Keine Sorge. Ich muss jetzt aus dem Haus, sonst komme ich zu spät zur Vorlesung.«

  »Wann kommst du nach Eastvale?«

  »Ich versuche es vor Weihnachten. Okay?«

  »Gut. Wenn es ein Geldproblem gibt, dann zahle ich dein Ticket.«

  »Danke, Dad, das wäre eine große Hilfe. Ich muss los.«

  »Tschüss.«

  »Tschüss, Dad. Und lass dich nicht unterkriegen, Mann.«

  Lass dich nicht unterkriegen, Mann. Wie ein Kid aus einer amerikanischen Fernsehserie. Banks lächelte, als er auflegte. Gut, das war erst einmal genug Familie, dachte er. Er wusste zwar, dass er auch seine Eltern anrufen sollte, um ihnen mitzuteilen, was geschehen war, aber er konnte noch nicht mit ihnen darüber reden. Sie wären wirklich bedrückt. All die Jahre hatten sie Sandra wie die Tochter geliebt, die sie nie gehabt hatten. Wenn ihm jemand für das Geschehene Schuld geben würde, dann wären es ironischerweise seine Eltern und nicht Sandras, dachte er. Nein, lieber warten. Vielleicht würde Sandra ja am Wochenende mit Tracy kommen, dann müsste er ihnen gar nichts erzählen.

  Er schenkte sich noch etwas Kaffee ein und legte die Beatles-CD auf, die er gestern in Leeds gekauft hatte. ,Es war die zweite der drei Anthologien, und er hatte sie kaufen wollen, seitdem sie herausgekommen war. Er wählte gleich die zweite Disc, auf der Outtakes von »Strawberry Fields Forever« waren, seinem Lieblingssong. Beim Mitsingen räumte er ein bisschen auf, begann sich jedoch bald unruhig und gefangen zu fühlen. Irgendwie war es ein merkwürdiges Gefühl, während des Tages zu Hause zu sein und zu beobachten, wie die Nachbarn vom Einkaufen kamen und der arbeitslose Bankangestellte gegenüber zum zweiten Mal in der Woche seinen Wagen wusch.

  Es war an der Zeit, aktiv zu werden. Er nahm das Telefon, wählte die Nummer des Reviers und bat, mit Detective Constable Susan Gays Apparat verbunden zu werden.

  Sie nahm mit dem zweiten Klingeln ab.

  »Susan?«, sagte Banks. »Ich bin's.«

  »Sir? Sind Sie ... Ist alles in Ordnung?«

  Er war sicher, dass sie es so meinte, doch ihre Stimme klang verschlossen und kühl. »Mir geht's gut. Ist Jim da?«

  »Nein, er ist unterwegs in der Eastside-Siedlung. Schon wieder ein Einbruch.«

  »Und der Super?«

  »In Bramshill.«

  »Sehr gut. Entschuldigen Sie, so habe ich es nicht gemeint. Hören Sie, ich weiß, ich dürfte Sie nicht darum bitten, aber meinen Sie, Sie könnten mir einen Gefallen tun?«

  »Sir?«

  »Ich muss noch mal einen Blick auf die Unterlagen über den Jason-Fox-Fall werfen. Auf alle - von den Tatortfotos bis zu Mark Woods Aussagen. Können Sie mir helfen?«

  »Darf ich fragen, warum Sie immer noch daran interessiert sind, Sir?«

  »Weil ich nicht zufrieden bin. Würden Sie mir helfen?«

  Es entstand eine lange Pause. »Warum kommen Sie nicht ins Revier?«, meinte Susan dann.

  »Ist das eine gute Idee?«

  »Im Moment ist es ziemlich ruhig hier. Der Super wird für ein paar Wochen weg sein.«

  »Na ja, wenn Sie sicher sind. Ich will Ihnen keine Probleme machen.«

  Banks hörte so etwas wie ein raues Husten oder Bellen am anderen Ende. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«

  »Ja, schon gut. Nur ein Frosch im Hals. Es ist in Ordnung, Sir. Wirklich.«

  »Sind Sie sicher? Wenn Jimmy Riddle auftaucht ...«

  »Wenn Jimmy Riddle auftaucht, bin ich geliefert. Ich weiß. Aber es ist viel zu viel Zeug zum Kopieren. Und das würde erst recht verdächtig aussehen, besonders weil man hier in letzter Zeit für jeden Penny Rechenschaft ablegen muss, den man ausgibt. Ich nehme das Risiko auf mich, wenn Sie wollen, Sir.«

  »Danke.«

  »Aber ich wüsste trotzdem gerne, warum Sie nicht zufrieden sind.«

  »Ich sage es Ihnen, wenn ich mehr weiß. Im Moment ist es vor allem nur ein Gefühl. Und dann gibt es da ein paar Dinge, die ich in Amsterdam über Mark Wood erfahren habe.«

  »Dann kommen Sie doch einfach so schnell Sie können ins Revier. Ich warte.« Und dann legte sie eilig auf.

  Banks nahm seine Jacke und verließ das Haus. Es war wieder ein sonniger Tag mit wenigen hoch liegenden Wolken und einer leichten Frische in der Luft. Das Laub hatte sich seit letzter Woche etwas mehr verfärbt, manche Blätter begannen schon zu fallen.

  Da er Bewegung brauchte, entschloss er sich, zu Fuß zu gehen. Er stöpselte seine Kopfhörer ein und schaltete den Walkman an: Billie Holiday sang »Strange Fruit«.

  Er ging die Market Street entlang, vorbei am Kreisel, dem Zebrastreifen, der Autowerkstatt, der Schule und dem Einkaufszentrum mit dem Safeway-Supermarkt und der Ansammlung kleinerer Geschäfte und Banken. Auf der Market Street herrschte heute reger Verkehr, der beißende Gestank der Benzin- und Dieselabgase vermischte sich mit der trockenen, staubigen Luft.

  Er blieb gegenüber dem Jubilee stehen, dessen weitläufige Fassade aus Natursteinen und roten Ziegeln sich um die Kreuzung der Market Street und der Sebastopol Terrace bog. Dort hatte Jason Fox seinen letzten Abend auf Erden verbracht, bevor er in den für Rassisten reservierten Teil der Hölle geschickt worden war. Warum um alles in der Welt spielte es eigentlich eine Rolle, wer ihn umgebracht hatte und warum es geschehen war, fragte sich Banks im Weitergehen. Reichte es nicht, dass er tot war? War es nur Banks' verdammte, unersättliche Neugier, die diese Fragen so wichtig machte? Oder gab es irgendeinen absoluten Standard der Gerechtigkeit und der Wahrheit, dem er sich verpflichtet fühlte?

  Banks hatte darauf keine Antwort. Er wusste nur, dass der Fall, würde er ihn nicht aufrollen, bis er glaubte, dass alles geklärt war, ihn weiterplagen würde wie eine wunde Stelle, die nicht heilen wollte. Und er wusste, dass es in gewisser Weise der Mord an Frank Hepplethwaite war, den er rächen wollte, und nicht der an Jason Fox.

  Ein oder zwei neugierige Augenpaare folgten ihm im Revier die Treppen hinauf, aber niemand sagte etwas. Susan war in ihrem Büro und wartete mit einem dicken Stoß Akten auf ihn.

  »Ich komme mir vor wie ein Schuljunge, der sich heimlich unanständige Bilder anschaut«, sagte Banks. »Darf ich die Akten mit in mein Büro nehmen?«

  »Selbstverständlich«, erwiderte Susan. »Sie müssen mich doch nicht um Erlaubnis bitten.« Sie stand auf.

  »Hören Sie, ich weiß das zu schätzen.«

  »Kein Problem.«

  »Susan, ist...«

  »Entschuldigen Sie, Sir. Ich muss gehen.«

  Sie jagte hinaus und ließ ihn allein in ihrem Büro stehen. Tja, dachte er, es hat nicht lange gedauert, um ein Ausgestoßener zu werden, oder? Aber er konnte es Susan kaum verübeln, wenn sie ein bisschen Abstand von ihm nehmen wollte, nach allem, was passiert war. Und sie hatte sich ja Mühe gegeben, ihm zu helfen.

  Nachdem er nachgeschaut hatte, ob die Luft rein war, schlich er mit den Akten auf Zehenspitzen über den Flur in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Nichts hatte sich verändert. Selbst der Schreibtisch stand noch in demselben, komischen Winkel da, nachdem Riddle rückwärts auf ihn gefallen war. Peinlich berührt durch die Erinnerung an das, was er getan hatte, rückte er den Schreibtisch gerade, setzte sich mit den Unterlagen hin, Zigarettenschachtel und Aschenbecher neben sich, das Fenster ein paar Zentimeter weit geöffnet, und begann zu lesen.

 

* II

 

Was zum Teufel mache ich hier eigentlich, fragte sich Susan, während Banks zur Seite trat und die Tür des Duck and Drake für sie aufhielt. Warum habe ich mich nur darauf eingelassen? Ich muss verrückt sein.

  Das Duke and Drake lag versteckt im Skinner's Yard, in einer der vielen Seitengassen der King Street. Eingekeilt zwischen einem Antiquariat und dem viktorianischen Weinladen hatte es eine schmale Fassade und nicht viel mehr Platz im Inneren. Ein Vorteil war, dass es einer der wenigen Pubs war, der immer noch ein Séparée hatte, einen winzigen Raum, der ideal für Privatgespräche war. Die Tür war so niedrig, dass Banks sich bücken musste. Das Séparée bestand aus dunklen Balken und weiß getünchten Wänden, an denen Messingornamente hingen. Ein alter schwarzer Bleiglaskamin nahm fast eine ganze Wand ein. Auf dem langen Holzsims standen ein paar zerfledderte, in Leder gebundene Bücher.

  Sie hatten das Séparée für sich. Banks kaufte die Getränke und setzte sich dann an die Wand, Susan gegenüber; nur ein schmaler Tisch trennte die beiden.

  Während sie an ihrem Wasser nippte, konnte Susan aus den anderen Räumen gelegentlich den Lärm des Spielautomaten und das Klimpern der Registrierkasse hören. Wenn sie etwas von dem Barkeeper wollten, mussten sie an der Theke eine kleine Glocke läuten. Für Susan war die Situation alles in allem zu intim und gemütlich, doch sie konnte nichts dagegen tun. Banks hatte Recht damit gehabt, dass das Queen's Arm für ihr Treffen wesentlich zu öffentlich war. Und er, der sein Sam Smith's Old Brewery Bitter trank und an einem Käse-Zwiebel-Sandwich kaute, war sich ihres Unbehagens offensichtlich nicht bewusst. Susan hatte überhaupt keinen Appetit. Zwischen den Bissen erzählte er ihr, was er in Amsterdam erfahren hatte.

  Susan hörte konzentriert zu, stirnrunzelnd und auf ihrer Unterlippe kauend. Als Banks geendet hatte, sagte sie: »Das macht Sinn, Sir, aber inwiefern verändert es die Sachlage? Wir wissen bereits, dass Mark Wood Jason getötet hat. Er hat es gestanden.«

  Banks aß sein Sandwich auf, trank einen Schluck Sam Smith's und griff nach seinen Zigaretten.

  »Ja«, sagte er. »Ich habe gerade die Aussagen gelesen. Der Typ ist ein notorischer Lügner. Er hat Totschlag gestanden, aber wenn ich mich nicht täusche, war es Mord. Vorsätzlicher Mord.«

  »Ich verstehe nicht, wie Sie das beweisen wollen.«

  »Das ist der springende Punkt. Laut Obduktionsbericht ist Jason Fox am Hinterkopf von einer Bierflasche getroffen worden, richtig?«

  Susan nickte. »Dort hat Dr. Glendenning die meisten Schädelverletzungen gefunden. Und die Glassplitter.«

  »Aber in seiner Aussage behauptet Mark Wood, er habe Jason an der Seite des Kopfes getroffen.«

  »Das ist mir auch aufgefallen«, erklärte Susan, »aber, ganz ehrlich gesagt, Sir, ich habe mir nicht viel dabei gedacht. Er war durcheinander, stand unter Druck. Im Grunde hat er gesagt, dass er einfach um sich geschlagen hat.«

  »Ja, das habe ich verstanden. Der Punkt ist aber der, dass so etwas in einem Kampf nicht passiert.«

  »Sir?«

  »Stehen Sie doch einmal auf!«

  Banks zwängte sich hinter der Bank hervor. Der Raum war gerade hoch genug, dass er aufrecht stehen konnte. Kein anderer Gast war in der Nähe. Susan erhob sich und stand ihm gegenüber, fast so nah, dass sie die Wärme seines Körpers spüren konnte.

  Sie konzentrierte sich auf seine Demonstration, nahm aber auch andere Details wahr. Er sah nicht gut aus, bemerkte sie. Unter den Augen hatte er dunkle Ringe, sein Gesicht war blass. Außerdem ging eine tiefe Traurigkeit von ihm aus, die sie früher nie beobachtet hatte.

  »Tun Sie so, als würden Sie mit einer imaginären Bierflasche auf meinen Hinterkopf schlagen«, forderte er sie auf.

  »Das kann ich nicht, Sir«, sagte Susan. »Nicht aus diesem Winkel. Jason muss Wood den Rücken zugekehrt haben. Entweder ist er vor oder neben ihm gegangen. Oder er hat sich wenigstens teilweise zur Seite gedreht.«

  »Ungefähr so?« Banks drehte sich zur Seite.

  »Ja, Sir.«

  Banks setzte sich wieder hin und zündete sich eine Zigarette an. »Haben Sie sich schon oft geprügelt?«, fragte er.

  »Nein, Sir. Aber das ...«

  »Lassen Sie mich ausreden. Ich habe mich früher oft geprügelt. In der Schule. Und glauben Sie mir, der Gegner würde sich niemals in diese Position stellen. Nicht freiwillig. Außer man trifft ihn zuerst mit der Faust und schlägt ihn zur Seite.«

  »Vielleicht ist es so passiert?«

  Banks schüttelte wieder den Kopf. »Überlegen Sie genau, was Sie sagen, Susan. Um das zu tun, müsste er die Bierflasche in derselben Hand gehalten haben, mit der er Fox geschlagen hat. Wood müsste also sehr schnell erneut ausgeholt und ihn getroffen haben, bevor sich Fox bewegte. Selbst wenn er die Bierflasche in der anderen Hand gehabt und sie umgewechselt hätte, nachdem er ihn das erste Mal getroffen hatte, ist es fast unmöglich. Und denken Sie daran, körperlich war Jason kein Schwächling. Man hätte jeden Vorteil nutzen müssen, um ihn zu überwältigen. Ich will Ihnen eine Frage stellen.«

  »Ja, Sir.«

  »War Mark Wood in irgendeiner Weise verletzt? Hatte er ein blaues Auge oder irgendwelche Schrammen im Gesicht?«

  »Nein.«

  »Aber so etwas würde man doch erwarten, wenn er sich tatsächlich geprügelt hätte, oder? Besonders mit einem so kräftigen Kerl wie Jason. Wollen Sie mir sagen, Jason konnte nicht einmal einen Treffer landen?«

  »Keine Ahnung, Sir. Vielleicht hat er Wood am Körper getroffen, wo man es nicht sieht, und nicht im Gesicht? Ich meine, wir haben ihn keiner Leibesvisitation unterzogen.«

  Banks schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, aber das haut einfach nicht hin. Ich habe mir auch noch einmal genau die Fotos vom Tatort angeschaut und erneut Dr. Glendennings Obduktionsbericht gelesen. Es kann einfach nicht so passiert sein, wie Mark Wood behauptet.«

  »Tja«, sagte Susan langsam, »Superintendent Gristhorpe war auch nicht ganz überzeugt. Aber Mark sagte, Jason Fox hätte ihn mit gemeinen Sprüchen über seine Frau und sein Kind provoziert. Sie müssen sich ja nicht regelrecht geprügelt haben. Mark hat wahrscheinlich nur losgeschlagen, als er genug hatte. Ich nehme an, Sie haben es selbst in der Aussage gelesen, aber als wir von Wood genau wissen wollten, wie und wann es passierte, sagte er, es wäre alles verschwommen, er könnte sich nicht erinnern.«

  »Wie praktisch. Er hat außerdem geleugnet, Jason Fox' Taschen geleert zu haben. Zwei ungeklärte Fragen.«

  »Die Sache hat mich am meisten gestört, Sir. Aber wir haben einfach angenommen, dass er entweder lügt, weil es schlecht für ihn aussehen und zu absichtlich wirken würde, wenn er sagt, er ist dageblieben und hat Jasons Taschen geleert, anstatt in Panik davonzulaufen, oder dass später jemand anderes vorbeigekommen ist und Fox ausgeraubt hat, während er dort lag.«

  »Ich persönlich würde die erste Erklärung favorisieren. Sie passt einfach nicht in das Szenario, das er Ihnen dargestellt hat. Aber der einzige Grund, auch seine Schlüssel mitzunehmen, kann doch nur sein, dass man nicht wollte, dass Fox schnell identifiziert wird, oder? Ich glaube, dass der oder die Täter verhindern wollten, dass wir die Identität des Opfers herausfinden, bevor sie die Möglichkeit hatten, alle dubiosen Akten oder Notizen aus dem Haus in Rawdon zu räumen, die Jason Fox dort gelagert haben könnte, und sie wollten kein Risiko eingehen.«

  »Wir dachten, wenn irgendein Trittbrettfahrer vorbeigekommen ist, dann hat er einfach alles zusammengerafft und sich in der Hitze des Gefechts nicht die Mühe gemacht, die Schlüssel vom Geld zu trennen.« Susan zuckte mit den Achseln. »Chief Constable Riddle schien sich um all diese Dinge keine Gedanken zu machen. Und zu dem Zeitpunkt hatten wir Wood ja schon so weit, dass er ein Geständnis ablegen wollte.«

  »Für mich sind es trotzdem zwei ungeklärte Fragen zu viel.«

  »Aber ich weiß nicht, wohin uns das führt, Sir. Was ist mit einem Motiv?«

  Banks erzählte ihr von Marks Verstrickung in Motcombes Drogenhandel und Jasons ablehnender Haltung.

  »Sie glauben also, Motcombe steckt dahinter?«, fragte sie.

  »Ja, das glaube ich. Aber das zu beweisen ist eine andere Sache. Offiziell ist der Fall abgeschlossen. Sie haben den Täter schnell überführt. Das hat Jimmy Riddle erfreut. Das und die Gelegenheit, mich zu suspendieren. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie den Fall so schnell lösen und er das ganze Wochenende im Revier herumschwirrt. Und ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht damit gerechnet, dass er herausfindet, wo ich gewesen bin.«

  »Sir«, platzte Susan heraus und spürte, wie ihr Herz einen Satz machte. »Kann ich Ihnen etwas sagen?«

  Banks runzelte die Stirn und zündete sich eine neue Zigarette an. »Ja, natürlich. Was denn?«

  Eine Weile kaute Susan auf ihrer Unterlippe und schaute ihn nur an, unsicher jetzt, ob sie es wagen sollte,'offen zu reden oder nicht. Dann holte sie tief Luft und erzählte ihm alles über Gavins Verrat.

  Nachdem sie fertig war, saß Banks nur stumm da und schaute hinab auf den Tisch. Sie hatte Angst davor, was er sagen würde, besonders da sie ihre Gefühle zu ihm nicht länger vor sich leugnen konnte. Bitte, lieber Gott, betete sie, lass ihn das nie herausfinden.

  »Es tut mir Leid, Sir«, sagte sie.

  Banks schaute sie mit einem traurigen, schiefen Lächeln an. »Schon gut. Es war nicht Ihre Schuld. Woher sollten Sie wissen, dass Ihr Freund losrennt und Jimmy Riddle alles weitererzählt?«

  »Aber egal, von welcher Seite man es betrachtet, Sir, ich habe Ihr Vertrauen enttäuscht.«

  »Vergessen Sie es.«

  »Wie kann ich? Sie sehen doch, was daraus geworden ist.«

  »Es ist noch nicht vorbei, Susan. Ich bin lange noch nicht fertig. Sie muss dieser Verrat doch verletzt haben. Es tut mir Leid für Sie.«

  Susan schaute hinab in ihr leeres Glas.

  »Wollen Sie noch was trinken?«, fragte Banks.

  »Nein, Sir. Ich möchte nichts mehr. Wirklich.«

  »Ich nehme noch ein Pint.«

  Banks ging an die Bar und läutete die Glocke. Während er darauf wartete, bedient zu werden, saß Susan wie ein Häufchen Elend auf ihrer Bank. Egal, wie nett und versöhnlich Banks auch zu sein schien, sie würde sich niemals verzeihen können, was sie getan hatte. Schlimmer als der Verrat war die Beschämung darüber, dass sie sich von einem Scheißkerl wie Gavin hatte täuschen und benutzen lassen.

  »Was wollen Sie nun machen?«, fragte sie, als er zurückkam. »Ich meine, wegen Mark Wood.«

  »In den Unterlagen habe ich gelesen, dass Woods Anwalt ein gewisser Giles Varney ist, richtig?«

  »Richtig. Ein wirklich arroganter Widerling. Zudem ist er teuer. Ich fand es ziemlich merkwürdig, dass Varney für einen wie Wood extra aus Leeds kommt.«

  »Verstehe.«

  »Wood deutete außerdem an, dass Varney auch Jasons Anwalt war. Er hat den beiden geholfen, die Firma aufzubauen. Wood wollte keinen Pflichtverteidiger. Da hat er absolut drauf bestanden.«

  »Interessant.« Banks nippte an seinem Pint und wischte sich die Lippen ab. »Und verdächtig. Es würde mich nicht überraschen, wenn Varney auch Motcombes Anwalt ist. Ich werde Ken Blackstone anrufen und das überprüfen. In den Berichten habe ich gelesen, dass Wood erst gestanden hat, nachdem aus dem Labor die Ergebnisse der Blutuntersuchung gekommen waren, stimmt das?«

  »Ja, Sir. Nach dieser Beweislage hätte er sich schwerlich noch herauslügen können.«

  »Hat er mit Varney unter vier Augen gesprochen? Hat er Telefonate geführt?«

  »Ja. Sir. Wir sind strikt nach den Richtlinien vorgegangen.«

  Banks nickte. »Also hat Wood mit Varney gesprochen, dann telefoniert und dann gestanden.«

  »Genau, Sir.«

  »Wen hat er angerufen?«

  »Das weiß ich nicht. Es war niemand dabei.«

  »Wir müssten die Nummer herausfinden können. Ich wette, er hat Neville Motcombe angerufen. Ich wette, er hat Motcombe erzählt, dass er tief in der Scheiße sitzt, und Motcombe hat mit Varney gesprochen, der ihm dann gesagt hat, er soll auf Totschlag plädieren.«

  »Aber warum sollte er das tun?«

  »Liegt das nicht auf der Hand? Sie hatten seinen Kopf in der Schlinge. Ich meine, gut, der Beweis mit dem Blut hatte zu dem Zeitpunkt noch nicht viel zu sagen, aber Wood wusste ja, dass er es getan hatte, und "sowohl ihm als auch Varney war vermutlich klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis wir die Ergebnisse des DNA-Tests erhalten würden. Und dass er positiv ausfallen würde. Wenn Mark Wood eine geringfügigere Anklage wie Totschlag zugibt und behauptet, Motcombe niemals gesehen zu haben, dann wird sich in der Zwischenzeit der Sturm gelegt haben. Es war nur ein Kampf, der übel ausgegangen ist. Und man kann außerdem darauf wetten, dass Varney aus der Tatsache, dass der Kampf wegen Jason Fox' rassistischer Bemerkungen über Mark Woods Frau und Kind begann, so viel Mitgefühl aus den Geschworenen herauskitzeln wird, wie er kann. Motcombe muss nur versprechen, dass Wood eine kurze Haftstrafe erhält und dass seine Familie finanziell versorgt wird, während er sitzt. Und dass er eine ansehnliche Prämie kriegt, wenn er rauskommt. Ich glaube, wenn ich so tief in der Scheiße stecken würde wie Wood, würde ich so ein Angebot annehmen.«

  »Falls Motcombe bezahlt.«

  »Ja. Er könnte einen Rückzieher machen. Und einen Unfall im Gefängnis arrangieren. Ich glaube nicht, dass er das alles aus reiner Freundlichkeit macht. Er tut es, weil Wood etwas gegen ihn in der Hand hat. Zum Beispiel die Wahrheit darüber, was wirklich passiert ist.«

  »Was können wir dagegen unternehmen, wenn Sie Recht haben sollten?«

  »Wir können gar nichts machen, Susan. Vergessen Sie nicht, Sie sind noch bei der Polizei, aber Sie ermitteln nicht mehr in dem Fall. Ich dagegen kann tun, was ich will.«

  »Aber ...«

  Banks hob seine Hand. »Susan, was Sie bisher getan haben, weiß ich zu schätzen, aber ich möchte nicht riskieren, Sie erneut in Schwierigkeiten zu bringen. Selbst Superintendent Gristhorpe wäre nicht einverstanden, wenn er wüsste, was ich vorhabe.«

  »Doch, wenn Sie es ihm erzählen würden, wäre er einverstanden, Sir. Ich sagte ja, er hatte auch seine Zweifel. Aber dann ist Jimmy Riddle hereingeplatzt und hat alles platt gewalzt.«

  »Ich weiß. Aber der Super ist nicht hier. Im Moment ist es besser so. Glauben Sie mir.«

  »Und was jetzt?«

  Banks schaute auf seine Uhr. »Jetzt werde ich wohl zum Ausgangspunkt zurückkehren und noch einmal George Mahmood aufsuchen. In diesen Aussagen fehlt etwas. Mir fehlt da eine Verbindung und das irritiert mich. Vielleicht hilft mir der Gang nach Canossa, um herauszufinden, was es ist.«

 

* III

 

Banks ging die King Street hinab zum Laden der Mahmoods. Als er an der School Lane vorbeikam, hörte er auf dem Rugbyfeld Kinder schreien und war fast versucht, hinzugehen und zuzuschauen. In der Schule hatte er gerne Rugby gespielt, und auch dann noch, als er in London bei der Polizei begonnen hatte. Man sollte sich nicht selbst loben, aber er war ein recht guter Flügelstürmer gewesen. Kräftig, wendig und schnell.

  Fühlt man sich so als Privatdetektiv?, fragte er sich, als er am nördlichen Rand der Leaview-Siedlung die Tulip Street entlangging. Er hatte nicht einmal eine Lizenz, um sich rechtskräftig auszuweisen. Wie erhielt man in Yorkshire eine Lizenz als Privatdetektiv? Benötigte man überhaupt eine?

  Aber er hatte noch seinen Dienstausweis. Riddle hatte keine Gelegenheit gehabt, den Ausweis von ihm zu fordern, und Banks hatte es versäumt, ihn in einer abgeschmackten Geste auf den Tisch zu knallen. Vermutlich machte man sich strafbar, wenn man den Ausweis benutzte, während man suspendiert war, aber das war im Moment seine geringste Sorge.

  Auf den Feldern um Gallows View waren Bauarbeiter zu sehen, sie mischten Beton, kletterten mit Steinen beladen Leitern hinauf oder standen einfach nur redend und Zigaretten rauchend herum. Bald würde die alte Häuserreihe verschluckt sein. Banks fragte sich, ob der Name der Straße und der Gegend geändert werden würde, wenn die neue Siedlung fertig war. Gallows-Siedlung würde man im Stadtrat vermutlich nicht durchkriegen.

  Als sich Banks dem Laden der Mahmoods näherte, schloss sich für ihn ein Kreis. Nicht nur der Jason-Fox-Fall hatte ihn hierher geführt, in seinen ersten Fall in Eastvale war auch der frühere Besitzer des Ladens verwickelt gewesen. Und so, wie es aussah, könnte dies sein letzter Fall sein.

  George stand in seinem weißen Hemd mit Nehru-Kragen hinter dem Tresen und bediente eine junge Frau, die ein Baby vor ihre Brust gebunden hatte. Als er Banks sah, machte er ein finsteres Gesicht. Seine Mutter Shazia kam aus der Kühlabteilung, wo sie gerade Tiefkühlpizzen ausgezeichnet hatte.

  Obwohl sie Banks nur bis zur Schulter reichte, schaute sie ihn herausfordernd an. »Was wollen Sie dieses Mal, Mr. Banks? Haben Sie hier nicht schon genug Schwierigkeiten gemacht?«

  »Ich wüsste nicht, dass ich Schwierigkeiten gemacht habe, Mrs. Mahmood. Auf jeden Fall nicht absichtlich. Ich habe einer Arbeit nachzugehen.« Eine kleine Lüge, merkte er. Hatte einer Arbeit nachzugehen wäre richtiger gewesen. »Ich habe einer Arbeit nachzugehen und das ist manchmal schwierig. Es tut mir Leid, dass Sie dadurch Probleme hatten.«

  »Ach, wirklich? Sie werfen meinen Sohn über Nacht in eine Zelle und ängstigen seine armen Eltern zu Tode.«

  »Mrs. Mahmood, George wurde nirgendwohin geworfen, und er hat sein Recht wahrgenommen, einen Anruf zu tätigen. Wenn er Sie nicht angerufen ...«

  Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »O ja, er hat uns angerufen. Aber wir haben uns trotzdem Sorgen gemacht. Ein Junge wird einfach mit all den Kriminellen ins Gefängnis gesteckt.«

  »Er war allein in der Zelle. Hören Sie, ich habe keine Ahnung, woher Sie das haben ...«

  »Und nur wegen seiner Hautfarbe. Glauben Sie nur nicht, wir wissen nicht, warum Sie es auf uns abgesehen haben.«

  Banks holte tief Luft. »Hören Sie, Mrs. Mahmood, ich habe genug davon. Wir haben Ihren Sohn mitgenommen, weil er und seine Freunde in der Tatnacht einen Streit mit dem Opfer hatten, weil beide ungefähr im gleichen Stadtteil wohnen, weil er sich weigerte, mit uns zu kooperieren, und weil wir etwas Verdächtiges an seinen Turnschuhen gefunden hatten.«

  »Verdächtig? Tierblut?«

  »Das wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. Es hätte menschliches Blut sein können.«

  Sie schüttelte den Kopf. »Mein Sohn würde nie jemandem etwas antun.«

  »Tut mir Leid, aber in meiner Branche kann man nicht immer so viel Vertrauen haben, wie man gerne möchte.«

  »Und was war beim zweiten Mal? Das ist doch eine Hetzjagd.«

  »Meine Kollegen hatten einen Zeugen gefunden, der ausgesagt hat, er hätte gesehen, wie George und seine zwei Freunde Jason Fox verprügelt haben. Was sollten sie machen?«

  »Aber er hat gelogen.«

  »Ja. Aber auch das konnten wir zu dem Zeitpunkt nicht wissen.«

  »Und warum kommen Sie nun und belästigen uns schon wieder?«

  »Schon in Ordnung, Mutter«, sagte George und kam herbei. Die Frau mit dem Baby schien hin- und hergerissen zu sein, ob sie gehen oder bleiben sollte, um das Gespräch mit anzuhören. Sie brauchte eine Ewigkeit, um ihr Wechselgeld im Portemonnaie zu verstauen. Als Banks sie mit einem durchdringenden Blick bedachte, hastete sie hinaus und murmelte tröstend auf ihr Baby ein, das zu weinen begonnen hatte.

  »Können wir irgendwohin gehen und in Ruhe reden, Mohammed?«, fragte Banks.

  George deutete mit dem Kopf zum Lagerraum am Ende des Ladens.

  »Ich werde einen Anwalt anrufen«, erklärte Mrs. Mahmood.

  »Nicht nötig, Mama«, sagte George. »Ich komme schon klar.«

  Banks folgte ihm nach hinten. Der Lagerraum war voll mit Kisten und Kartons und roch nach Kümmel und Schuhcreme. Er hatte keine Fenster, und wenn er welche hatte, dann waren sie hinter den Kartonstapeln versteckt. In der Mitte des Raumes brannte eine nackte Glühbirne. Banks fand, dass der Raum aussah, als wäre er der Fantasie eines Filmemachers von einem dieser Verhörzimmer aus früheren Zeiten entsprungen. Erst vor kurzem hatte er einen Film gesehen, in dem zwei Polizisten eine Frau auf einen Stuhl gesetzt und tatsächlich zwei Schreibtischlampen auf sie gerichtet hatten. Er selbst hatte das bei Verhören nie ausprobiert. Wer weiß, vielleicht funktionierte es ja.

  »Was wollen Sie?«, fragte George. Seine Stimme war alles andere als freundlich. Wenn es durch Brian einmal eine Art Freundschaft gegeben hatte, dann war nichts mehr davon übrig.

  »Ich brauche deine Hilfe.«

  George schnaubte und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen einen Stapel Kisten. »Das ist doch ein Witz. Warum sollte ich Ihnen helfen?«

  »Um herauszufinden, wer Jason Fox wirklich getötet hat.«

  »Wen kümmert das? Nach allem, was ich gehört habe, hat dieses rassistische Arschloch genau das gekriegt, was es verdient hat. Außerdem habe ich in der Zeitung gelesen, dass sein Kumpel gestanden hat. Reicht Ihnen das nicht?«

  »Ich will nicht mit dir streiten. Würdest du mir bitte nur ein paar einfache Fragen beantworten?«

  Er zuckte mit den Achseln. »Okay. Von mir aus. Aber beeilen Sie sich.«

  »Bitte erinnere dich noch einmal an diesen Samstagabend im Jubilee. Warum warst du dort?«

  George runzelte die Stirn. »Warum? Um die Band zu hören. Warum sonst? Wie gesagt, Kobir war aus Bradford zu Besuch, und Asim und ich dachten, es könnte ihm gefallen.«

  »Stimmt es, dass das Jubilee einen guten Ruf für Musik hat?«

  »Ja.«

  »Mädchen?«

  »Ja, man kann dort gut Mädchen kennen lernen.«

  »Und Drogen?«

  »Wenn man daran interessiert ist. Ich nicht.«

  »Die Leute kommen von weit her.«

  »Und?«

  »Und es war an diesem Abend richtig voll?«

  »Ja. Scatterd Dream sind echt populär. Sie sind noch ziemlich neu in der Szene und spielen noch nicht in den teuren Veranstaltungsorten. Aber sie haben schon Platten für ein Independentlabel aufgenommen. Schon bald wird man sich dumm und dämlich zahlen, um sie in Wembley oder sonstwo zu sehen.«

  »Gut. Ist dir, abgesehen von diesem kleinen Zwischenfall, den du mit Jason hattest, sonst etwas an ihm und seinem Kumpel aufgefallen?«

  »Ich habe echt nicht auf die beiden geachtet. Ich habe nur gesehen, dass sie eine ganze Weile ziemlich intensiv miteinander gesprochen haben.«

  »Haben sie sich gestritten?«

  »Wenn, dann nicht laut. Aber die beiden sahen nicht besonders glücklich miteinander aus.«

  »Haben sie versucht, Mädchen anzusprechen?«

  »Habe ich nicht gesehen.«

  »Und sie haben auch nicht der Musik zugehört?«

  »Eigentlich nicht. Manchmal. Aber sie saßen ziemlich weit hinten, nahe der Bar. Wir saßen ganz vorne, aber so, wie die Stühle standen, waren die beiden in meinem Blickwinkel. Wenn sie nicht redeten, schien der andere, der, der ihn umgebracht hat, der Band zuzuhören, aber der, der umgebracht wurde, hat sich ab und zu sogar die Ohren zugehalten.«

  »Was für eine Musik hat die Band gespielt?«

  George veränderte seine Position und steckte seine Hände in die Taschen. »Im Grunde schwer zu beschreiben. Eine Art Mischung aus Rap, Reggae und Acid Rock. Besser kann ich's nicht sagen.«

  Kein Wunder, dass sich Jason die Ohren zugehalten hat, dachte Banks. Offensichtlich hatte er keine Ahnung, welche Musik ihn erwartete. Aber Mark Wood hatte es wahrscheinlich gewusst.

  »Hast du gesehen, ob einer von den beiden mit jemand anderem gesprochen hat?«

  George runzelte die Stirn. »Nein. Ich war auch viel mehr an der Musik interessiert als an diesen beiden Wichsern.« Die Ladenglocke läutete. »Ich muss zurück und meiner Mutter helfen. Mein Vater ist auf dem Großmarkt.«

  »Nur noch ein paar Fragen. Bitte.«

  »Okay. Aber beeilen Sie sich.«

  »Was ist mit diesen Drogen verkaufenden Jamaikanern, die du erwähnt hast, als wir das erste Mal miteinander sprachen?«

  »Was soll mit denen sein?«

  »Stimmte es denn?«

  »Ja, na klar. Ob die wirklich aus Jamaika waren, kann ich natürlich nicht sagen. Aber sie sahen wie Rastas aus, einer von ihnen hatte Dreadlocks.«

  »Und die Drogen?«

  »Ich habe gesehen, wie hin und wieder Geld rübergeschoben wurde und dann einer von ihnen in sein Handy gesprochen hat. Eine Weile später ist er dann rausgegangen und hat das Ecstasy oder Crack oder Hasch oder Was-weiß-ich von dem geholt, der es lagert. Sie haben das Zeug nie dabei. So machen sie das immer.«

  »Und du hast sie dabei beobachtet?«

  »Klar. Meinen Sie, ich hätte es anzeigen sollen? Glauben Sie, die Polizei weiß nicht, was da abläuft? Sie haben mir doch selbst gesagt, dass das Jube für Drogen bekannt ist.«

  »Ich bin mir sicher, dass das Drogendezernat ganz gut Bescheid weiß. Es hört sich aber nicht so an, als wären diese Typen große Dealer. Waren es Stammgäste?«

  »Ich hatte sie noch nie gesehen.«

  »Haben sie gute Geschäfte gemacht?«

  »Sah so aus.« George grinste spöttisch. »Manche weißen Kids finden es cool, wenn sie Drogen von Schwarzen kaufen.«

  »Waren sie mit anderen dort?«

  »Ich würde sagen, sie waren mit der Band da.«

  In Banks' Kopf begannen sich ein paar Fäden zu verknüpfen. Das war die Verbindung, die er in den Unterlagen vermisst hatte. »Haben sie auch in der Band gespielt?«

  George zuckte mit den Achseln. »Nein, es waren eher Roadies. Typen, die mit der Band rumhingen.« Die Glocke ertönte erneut. »Ich muss jetzt zurück. Wirklich.«

  »In Ordnung. Nur noch eine Sache. Hast du gesehen, ob es einen Kontakt zwischen den Jamaikanern und Jason oder Mark gegeben hat?«

  »Was? Das wäre ziemlich unwahrscheinlich gewesen, oder? Ich meine ... Moment mal ...«

  »Was?«

  »Einmal, als ich pinkeln gehen wollte, habe ich gesehen, wie sie im Gang aneinander vorbeigegangen sind. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir ein, dass sie sich jedenfalls irgendwie zugenickt haben. Ganz schnell, ausdruckslos. Damals fand ich es ein bisschen seltsam, aber dann habe ich es vergessen.«

  »Wer hat wem zugenickt?«

  »Der Typ, der gestanden hat. Er hat einem der Jamaikaner zugenickt. Wie gesagt, ich fand es komisch, weil er mit einem Kerl da war, der mich >Pakischwein< genannt hat - und dann grüßt er plötzlich einen Rasta.«

  »War das nach deinem kleinen Konflikt mit Jason Fox?«

  »Ja.«

  »Das ergibt einen Sinn«, murmelte Banks mehr zu sich selbst. »Ihr seid schön in die Falle getappt.«

  »Wie?«

  »Ach, nichts. Ich habe nur laut gedacht.« Banks folgte George zurück in den Laden. »Danke für deine Zeit, Mohammed.« Als er hinaus auf die Straße ging, merkte er, wie Shazia Mahmood böse hinter ihm herschaute.

  Einen Augenblick lang blieb Banks auf Gallows View stehen; während sich seine chaotischen Gedanken wie Eisenspäne, über die man einen Magneten hielt, zu einer Art Muster ordneten: Motcombes Drogenhandel mit dem Türken und Devon, bei dem Mark Wood als Vermittler fungierte; Mark Woods jamaikanische Frau; Marks Verbindung zu einer Reggaeband und seine Drogengeschäfte; die Band Scattered Dreams - Zerschlagene Träume. Das Zeichen zwischen Wood und dem Dealer; der Befehl, Jason hinzurichten. Das alles ergab ein Muster, doch nun musste er eine Möglichkeit finden, es zu beweisen.

  Banks machte sich auf den Weg Richtung King Street. Ein Pressluftbohrer auf der Baustelle durchbrach die Stille und schreckte eine Schar auf den Feldern pickernder Spatzen auf, die nun hektisch in den Himmel stoben.