* VIER

 

* I

 

Banks war der Erste, der am Dienstagmorgen zur Sitzung der Kriminalpolizei im »Sitzungssaal« des East-valer Polizeireviers erschien, kurz darauf folgten Detective Constable Susan Gay, Superintendent Gristhorpe und schließlich Sergeant Hatchley.

  Von Susan vorgewarnt, fürchtete Banks, dass auch Jimmy Riddle auftauchen könnte. Riddle war ein berüchtigter Frühaufsteher und die gut dreißig Meilen Landstraße vom Bezirkspräsidium nach Eastvale würden ihn auch zu dieser Stunde nicht abschrecken. Besonders wenn er dadurch die Gelegenheit hatte, Banks Kummer zu machen.

  Banks wusste, dass er dem Chief Constable über kurz oder lang gegenübertreten musste - Gristhorpe sagte, er hätte seinen Rüffel bereits abbekommen, weil er seinen Chief Inspector zu weit von der Leine gelassen hatte -, aber es musste ja nicht unbedingt am frühen Morgen sein, der noch nie seine bevorzugte Tageszeit gewesen war. Erst recht heute nicht, da er nach seinem Streit mit Sandra am vergangenen Abend ins Queen's Arms gegangen war und ein Glas zu viel getrunken hatte. Ihm war klar, dass er sich falsch verhalten hatte. Vernünftig war er jedenfalls nicht gewesen. Er lebte schon lange genug mit Sandra zusammen, um zu wissen, dass es, wenn sie derartig heftig reagierte - was selten vorkam -, bedeutete, dass ihr etwas Wichtiges auf der Seele lag. Und er hatte sich nicht bemüht herauszufinden, was es war. Stattdessen war er davonge-rannt wie ein trotziger Teenager.

  Überraschenderweise war Jimmy Riddle auch dann noch nicht aufgetaucht, als Kaffee und Kekse serviert wurden. Das hieß wohl, dass er nicht mehr kommen würde, dachte Banks erleichtert.

  »In Ordnung«, sagte Gristhorpe. »Was haben wir bisher? Alan, hast du mit dem Labor gesprochen?«

  Banks nickte. »Noch nichts. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber an den Schuhen oder der Kleidung, die wir rübergeschickt haben, wurde nichts gefunden. An den Schuhen von George Mahmood steckt eine Menge Dreck, der wohl von seinem Gang durch den Park herrührt; außerdem haben die Techniker eine Art Substanz gefunden, die leicht verdächtig aussieht. Aber der Junge trug Turnschuhe. Kaum die Schuhe, die man anziehen würde, wenn man vorhat, jemanden den Schädel einzutreten.«

  »Aber wir wissen ja nicht, ob er überhaupt etwas vorhatte, oder?«, gab Gristhorpe zu bedenken.

  »Stimmt. Trotzdem ist es schwierig, jemanden mit Turnschuhen totzutreten. Dr. Glendenning meinte, es müssten schwere Stiefel gewesen sein. Oder so was wie Doc Martens.«

  »Könnten die Blutspuren vom Regen verwischt worden sein?«, fragte Susan.

  »Die Leute im Labor sagen nein. Wenn es genug Blut gegeben hat, was der Fall war, und wenn es in die Nähte geraten und zwischen Sohle und Obermaterial gesickert ist, dann ist es laut Aussage der Techniker so gut wie unmöglich, es vollständig abzuwaschen.«

  Susan nickte.

  »Vic Manson arbeitet überdies an den Fingerabdrücken«, sagte Banks zu Gristhorpe, »aber er macht sich nicht viele Hoffnungen.«

  »Fingerabdrücke von wo?«

  »Von der zerbrochenen Flasche. Der Obduktion zufolge steckten winzige Glasscherben in Jason Fox' Hinterkopf, und sie passen zu den Scherben, die wir neben der Leiche gefunden haben. Es sieht so aus, als wäre er mit einer Flasche niedergeschlagen und dann getreten worden. Wie auch immer, Vic meint, dass der Regen seine Chancen wahrscheinlich zunichte gemacht hat. Trotzdem probiert er noch ein paar Tricks aus. Wenn ich richtig gehört habe, besprüht er die Scherben in einem Aquarium mit Sekundenkleber oder so was.«

  »Was hast du gestern herausgefunden?«, fragte Gristhorpe.

  »Eine ganze Menge.« Banks erzählte ihnen detailliert, wie Jason Fox seinen Job verloren hatte, von seiner falschen Adresse in Leeds und der Albion-Liga. »Außerdem habe ich diese Milly und ihren Freund überprüft«, fuhr er fort. »Das ist die Frau aus der Karibik, die von Jason in der Firma beleidigt wurde. Anscheinend ist sie zurück zu ihrer Familie nach Barbados gegangen.«

  »Dann kann Jason Fox im Nachhinein ja noch einen Sieg verbuchen«, sagte Gristhorpe. »Irgendeine Ahnung, wo Jason gewohnt hat, wenn er nicht bei seinen Eltern war?«

  Banks lächelte und nannte eine Adresse in Rawdon.

  »Wie hast du sie herausgefunden?«

  »Durchs Telefonbuch. Anscheinend hat Jason kein großes Geheimnis daraus gemacht, wo er wohnte. Er hat seinen Eltern einfach nicht gesagt, dass er umgezogen ist.«

  »Achtzehn Monate lang?«

  Banks zuckte mit den Achseln. »Jason hatte offensichtlich keine enge Beziehung zu seinen Eltern. Sie wussten eine Menge nicht von ihm. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie es nicht wissen wollten oder ob er nicht wollte, dass sie es wissen. Soweit ich das bisher einschätzen kann, sind die Bindungen in der Familie der Foxes nicht besonders eng.«

  »Wovon hat er in den letzten zwei Jahren gelebt?«, fragte Gristhorpe. »Wissen wir das?«

  Banks schüttelte den Kopf. »Nein. Aber dem Arbeitsamt zufolge bekam er kein Arbeitslosengeld. Sein Großvater meinte zudem, er hätte eine Computerausbildung gemacht, vielleicht war er also damit beschäftigt. Ich habe Ken Blackstone gebeten, für uns in Leeds entsprechende Collegekurse zu überprüfen. Und wir können beim Finanzamt nachfragen, ob er irgendwo einen anderen Job hatte.«

  Gristhorpe nickte. »Was wissen wir von dieser Albion-Liga?«

  Banks hatte nur einmal in den siebziger Jahren durch die National Front Erfahrung mit Neonazis gemacht, als er ein junger Polizist in London war. Er hatte von den gegenwärtigen, kleineren und härteren Gruppierungen wie Combat 18 und Blood and Honour gelesen, von den zu ihnen gehörenden Nazi-Rockbands und Magazinen, hatte im Dienst aber bisher nichts mit ihnen zu tun gehabt. »Noch nichts«, antwortete er. »Und hier in der Gegend scheint auch noch niemand etwas davon gehört zu haben. Ich habe mich auf jeden Fall mit Scotland Yard in Verbindung gesetzt. Dort gibt es eine Sondereinheit, die sich um Neonazigruppen kümmert.«

  »Dann drücken wir die Daumen. Haben Sie zusätzliche Informationen, Sergeant Hatchley?«

  »Die Jungs von der uniformierten Polizei haben gestern noch einmal die gesamte Gegend um die Market Street abgegrast«, sagte Hatchley. »Pubs, Cafés, Imbisse, Pensionen und so weiter. In dem Fish-and-Chips-Laden konnten sich ein paar Leute an Georgie Mahmood und seine Kumpels erinnern, aber niemand hat sie Richtung Gasse gehen sehen. Und niemand erinnert sich, Jason und seinen Kumpel gesehen zu haben. Wir haben eine Zeichnung von dem Jungen anfertigen lassen, der mit Jason zusammen war, aber davon würde ich nicht zu viel erwarten.« Hatchley kratzte seine Nase. »Ich frage mich, ob das Ganze etwas mit Drogen zu tun hatte, Sir. Das Jubilee ist dafür genau der richtige Laden. Vielleicht ein Geschäft, das schief gelaufen ist?«

  »Liegt im Drogendezernat etwas gegen das Opfer oder die Verdächtigen vor?«

  Hatchley schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Das habe ich bereits überprüft. Trotzdem ...«

  »Gut, wir behalten das im Hinterkopf. Sonst noch etwas?«

  »Ja, Sir. Ich habe mich gestern mit ein paar von Jasons Mannschaftskollegen von Eastvale United unterhalten. Nach dem Spiel hat er ein Gläschen mit ihnen getrunken, das ist richtig, aber keiner von ihnen hat ihn Samstagabend gesehen und keiner hat den Jungen auf der Zeichnung erkannt.«

  »Warum hat sich Jasons Kumpel nicht gemeldet?«, dachte Gristhorpe laut nach. »Ob er überhaupt weiß, was geschehen ist?«

  »Möglich, dass er es nicht weiß, Sir«, sagte Hatchley. »Wenn er zum Beispiel weiter weg wohnt, nicht oft fernsieht und selten Zeitungen liest.«

  Gristhorpe nickte und wandte sich an die anderen. »Oder er hat es selbst getan. Wir sollten mehr über den Hintergrund der Beteiligten herausfinden. Zuerst müssen wir wissen, ob George Mahmood und Jason Fox sich wirklich nicht besser kannten, als George behauptet. Vielleicht sind sie schon einmal aneinander geraten. Außerdem müssen wir so viel wie möglich über Asim Nazur und seinen Cousin herausfinden, diesen Kobir ... wie war sein Name ...?«

  »Mukhtar, Sir«, sagte Susan.

  »Richtig. Jemand muss sich mit der Kriminalpolizei in Bradford in Verbindung setzen und herausfinden, ob dort etwas gegen Kobir Mukhtar vorliegt.«

  »Das habe ich bereits getan, Sir«, erklärte Susan. »Da es im Computer nichts gab, habe ich um Informationen gebeten, während wir die drei noch in Gewahrsam hatten, kurz bevor .... bevor der Chief Constable gestern vorbeikam, Sir.«

  »Und?«

  »Nichts, Sir. Er scheint eine weiße Weste zu haben.«

  »In Ordnung.« Gristhorpe runzelte die Stirn. »Susan, erinnere ich mich richtig? Gab es da nicht einen Vorfall, in den die Mahmoods vor kurzem verwickelt waren?«

  »Ja, Sir. Vor ungefähr einem Monat. Jemand hat einen Ziegelstein von der Baustelle bei Gallows View gestohlen und ihn durch das Fenster der Mahmoods geschmissen. Nach einem ähnlichen Vorfall hatten sie ihre Schaufenster mit Gittern gesichert, deshalb wurde der Stein diesmal durch das Schlafzimmerfenster geworfen.«

  »Wurde jemand verletzt?«

  »Mrs. Mahmood, Sir. Sie zog sich gerade zum Schlafengehen aus. Der Stein hat ihren Kopf nur um wenige Zentimeter verfehlt, aber eine lange Glasscherbe des Fensters hat ihr den Unterarm aufgeschnitten. Sie hat ziemlich stark geblutet, als ihr Mann sie ins Allgemeine Krankenhaus brachte. Die Wunde wurde mit vierzehn Stichen genäht, und der Arzt bestand darauf, dass sie die Polizei rufen.«

  »Wollten sie das denn nicht?«

  »Zuerst nicht, Sir«, sagte Susan. »Ihr Mann sagte, es würde sie nur Zeit und Geld kosten, und sie rechneten im Gegenzug nicht mit Ergebnissen. Anscheinend war so etwas schon einmal passiert, als sie noch einen Laden in Bradford hatten. Damals hat wohl niemand etwas unternommen.«

  »Wir sind hier aber nicht in Bradford«, meinte Gris-thorpe. »Irgendwelche Spuren?«

  »An dem Tag hatten sie eine Kundin, eine Teenagerin, die sich beschwert hatte, das Wechselgeld falsch herausbekommen zu haben. Als Mrs. Mahmood darauf bestand, richtig herausgegeben zu haben, fegte das Mädchen die Zeitungen und die Süßigkeiten vom Tresen und marschierte hinaus. Wir konnten sie sogar nach einigen Mühen ausfindig machen, sie war jedoch zur Zeit des Vorfalles in Penrith. Danach gab es keine Spuren mehr.«

  »Könnte es Jason Fox gewesen sein, bei seiner Einstellung zu Ausländern?«

  »Möglich«, erwiderte Susan. »Der Vorfall ereignete sich um halb elf an einem Samstagabend, und wir wissen, dass Jason an den Wochenenden nach Eastvale kam. Aber damals wussten wir es nicht. Ich meine, wir hatten keinen Grund, ihn zu verdächtigen. Und George Mahmood hätte nicht wissen können, dass er es war.«

  »Nicht? Vielleicht hatte er einen Verdacht. Vielleicht hat er ihn sogar gesehen. Aber Sie haben Recht, wir sollten zum jetzigen Zeitpunkt zu viele Spekulationen vermeiden. Vielleicht sprechen Sie noch einmal mit Jasons Familie, Susan. Mal sehen, ob sie nun etwas entgegenkommender sind. Danach gehen Sie noch einmal zu den Mahmoods, dann zu den Nazurs ins Himalaya. Vielleicht können sie Ihnen noch mehr über die Geschehnisse des Samstagabends erzählen.« Er schaute auf seine Uhr und lächelte dann Susan an. »Teilen Sie es sich richtig ein, Mädel, dann sind sie vielleicht genau zur Mittagszeit im Himalaya.«

  Hatchley lachte und Susan errötete.

  »Das wäre dann erst einmal alles.« Gristhorpe rieb sich sein Stoppelkinn. »Aber was auch immer wir tun«, sagte er, »wir müssen behutsam vorgehen. Wie auf Eiern. Denken Sie daran. Chief Constable Riddle hat ein persönliches Interesse an diesem Fall.« Er räusperte sich. »Übrigens lässt er sich entschuldigen, dass er heute Morgen nicht hier sein konnte.«

  Banks hörte, wie Hatchley Susan zuflüsterte: »Frühstücksfernsehen.«

  Gristhorpe ignorierte es. »Was wir in diesem Moment alle im Kopf behalten sollten«, sagte er, »ist, dass dieser Fall zwar anfänglich einfach aussah, die Dinge sich aber verändert haben. Er ist wesentlich komplizierter geworden. Und egal, welche abstoßenden Züge Jason Fox' Charakter auch anzunehmen beginnt, denken Sie daran, er hatte keine Chance, sich zu wehren. Allerwenigstens haben wir es mit vorsätzlichem Totschlag zu tun, eher aber sogar mit Mord. Und vergessen Sie nicht, dass wir hier auch alle Komponenten eines ernsthaften Rassenkonfliktes haben: weißes Opfer, schnell aufgegriffene asiatische Verdächtige, die zum Verhör verhaftet worden sind. Wenn man die Tatsachen hinzunimmt, dass Jason Fox ein Rassist war, George Mahmood gerade seine moslemischen Wurzeln erforscht und Asim Nazurs Vater eine Stütze der Gesellschaft ist, dann ergibt das ein Pulverfass, das ich in meinem Revier, unabhängig von Jimmy Riddle, nicht explodieren sehen will. Und jetzt an die Arbeit.«

 

 

* II

 

Da es schneller war, zu Fuß zur Leaview-Siedlung zu gehen, als mit dem Wagen durch Eastvales verwirrendes System aus Einbahnstraßen zu fahren, schlüpfte Susan zum Notausgang hinaus und nahm die gewundenen Kopfsteinpflastergassen hinter dem Polizeirevier zur King Street. Sie kam am Krankenhaus vorbei, dann an dem gotischen Bau der Eastvaler Gesamtschule mit den Mauertürmchen, der Uhr und dem Glockenturm und dem armseligen, überwucherten Park gegenüber, bevor sie die Leaview-Siedlung erreichte. Der Himmel war heute bedeckt, zudem war es windig und gelegentlich nieselte es, aber zumindest war es nicht kalt.

  In dem trüben Licht sah der Garten der Foxes weniger beeindruckend aus, dachte Susan, als sie an der Tür klingelte. Doch die Rosen blühten noch immer, als wären sie von einem inneren Glühen erfüllt. Sie hatte Lust, eine zu pflücken und nach Hause mitzunehmen, aber sie tat es natürlich nicht. Das hätte gerade noch gefehlt.

  Sie sah schon die Schlagzeilen vor sich: POLIZISTIN STIEHLT TRAUERNDER FAMILIE WERTVOLLE ROSEN. Jimmy Riddle hätte seine Freude daran. Seine Glatze würde sich dunkelrot färben. Und mit ihrer Beförderung wäre es vorbei.

  Josie Fox hatte heute ihr Haar zurückgebunden, ihr Gesicht sah blass und mitgenommen aus und ihre Lippen wirkten ohne Makeup blutleer. Sie trug einen weiten olivfarbenen Pullover und schwarze Jeans.

  »Ach, Sie sind's. Kommen Sie herein«, sagte sie teilnahmslos und trat zur Seite.

  »Tut mir Leid, Sie zu stören«, sagte Susan, während sie ihr ins Wohnzimmer folgte. »Aber ich habe noch ein paar Fragen.«

  »Selbstverständlich. Nehmen Sie Platz.«

  Susan setzte sich. Josie Fox tat es ihr gleich und verschränkte ihre langen Beine. Mit Daumen und Zeigefinger massierte sie ihren Nasenrücken.

  »Wo ist Ihr Mann heute?«, fragte Susan.

  Sie seufzte. »Steven ist bei der Arbeit. Ich habe ihm gesagt, er solle nicht gehen, aber er meinte, es wäre besser für ihn, etwas zu tun zu haben, als den ganzen Tag untätig zu Hause zu sitzen. Ich bin im Grunde ganz froh, ihn ein paar Stunden los zu sein. Ich konnte mich nicht mehr auf mich konzentrieren. Meine Tochter Maureen ist von Newcastle gekommen und bleibt eine Weile hier. Ich bin also nicht allein.«

  »Ist sie im Moment da?«

  »Ja, oben. Warum?«

  »Würden Sie sie herunterbitten?«

  Josie Fox runzelte die Stirn, zuckte dann mit den Achseln und ging zum Treppenabsatz, um ihre Tochter zu rufen. Ungefähr eine Minute später gesellte sich Maureen Fox zu ihnen. Susans erster Eindruck war der eines ziemlich herrischen, wahrscheinlich sehr wählerischen Mädchens. Zudem war sie auf eine blonde, gesunde und sportliche Weise attraktiv. Ihre hübsche Figur machte sich gut in den engen Jeans, die sie trug, und sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge, volle Lippen und eine samtige Haut.

  Obwohl Maureen Fox offensichtlich trauerte, ging eine Energie von ihr aus, die sie nicht verbergen konnte. Sie zeigte sich darin, wie ihr Fuß in einem fort auf den Boden klopfte oder wie eines ihrer Beine zuckte, wenn sie sie übereinander schlug, und wie sie ihre Sitzposition andauernd veränderte, als würde sie sich, egal, wo sie saß, unbehaglich fühlen. Susan fragte sich, ob Jason ihr ähnlich gewesen war.

  »Warum haben Sie sie laufen lassen?«, wollte Josie wissen. »Sie hatten die Täter gefasst, und jetzt haben Sie sie freigelassen.«

  »Wir wissen nicht, ob sie es wirklich getan haben«, erwiderte Susan. »Und ohne Beweise können wir keinen Menschen auf unbestimmte Zeit einsperren.«

  »Es liegt daran, dass es Farbige sind, nicht wahr? Deswegen mussten Sie sie freilassen. Wenn Sie glauben würden, Jason hätte einen von denen getötet, dann wäre es etwas anderes, nicht wahr?«

  »Mutter!«, schaltete sich Maureen ein.

  »Ach, Maureen. Sei nicht so naiv. Jeder weiß, wie es heutzutage läuft. Für Ausländer machen sich die Behörden den Buckel krumm. Als Krankenschwester solltest du das doch wissen. Ausländer haben heute alle Möglichkeiten und für die anständige, hart arbeitende weiße Bevölkerung wird nichts getan. Schau doch, was deinem Vater passiert ist.«

  »Was ist Mr. Fox passiert?«, fragte Susan.

  »Ach«, sagte Maureen mit einem kurzen Zucken des Kopfes. »Dad wurde bei der Beförderung übergangen. Hat es irgendeinem Asiaten angelastet.«

  »Verstehe. Nun, in gewisser Weise haben Sie Recht, Mrs. Fox«, sagte Susan und schaute Josie an. »Die Polizei muss heutzutage tatsächlich sehr vorsichtig im Umgang mit Menschen sein, besonders mit Minderheiten. Wir versuchen aber, jeden gleich zu behandeln, egal, welche Hautfarbe er hat.« Sie wusste, dass es Augenwischerei war. Im Gesamtgefüge der Polizei lebte und gedieh Rassismus genauso wie Sexismus. Aber, verdammt, was sie da eben sagte war das, was sie selbst zu tun versuchte. »In diesen Fall jedoch«, fuhr sie fort, »haben wir einfach noch keine Beweise, um die Verdächtigen mit der Straftat in Verbindung zu bringen. Keine Zeugen. Keine unmittelbaren Beweise. Nichts.«

  »Heißt das, sie sind es nicht gewesen?«, fragte Josie.

  »Es haben sich Zweifel ergeben«, antwortete Susan. »Das ist alles. Leider kann ich Ihnen im Moment nicht mehr sagen.«

  »Sie haben doch nicht aufgegeben, oder?«

  »Selbstverständlich nicht. Wir verfolgen eine Reihe von Spuren. Deswegen bin ich ja hier.« Sie hielt inne. »Bedauerlicherweise haben wir ein paar beunruhigende Fakten über Ihren Sohn herausgefunden.«

  Josie Fox runzelte ihre Stirn. »Beunruhigend? Inwiefern?«

  »Waren Ihnen Jasons rassistische Ansichten bekannt?«

  »Was meinen Sie?«

  »Hat er nie über seine Meinungen mit Ihnen gesprochen?«

  »Er hat über nichts viel gesprochen«, erklärte sie. »Besonders in den letzten Jahren nicht.«

  »Wussten Sie, wie er über Asiaten und Schwarze dachte?«

  »Nun«, sagte Josie, »drücken wir es mal so aus: Ich wusste, dass er ein paar Ansichten hatte, die unpopulär sein mögen, über Ausländer, Immigranten und so weiter; aber ich würde nicht sagen, dass sie besonders extrem waren. Eine Menge Leute denken so wie Jason und das macht sie noch lange nicht zu Rassisten.«

  Das war neu für Susan: dass rassistische Ansichten die Menschen nicht zu Rassisten machten. »Hat Jason mal erwähnt, dass er zu einer Art Organisation gehörte?«, fragte sie. »Zu einer Gruppe ähnlich gesinnter Leute?«

  Es war Maureen, die das Schweigen brach. »Nein. Jason hat es nie erwähnt, aber er hat zu so einer Gruppe gehört. Wir haben es erst gestern herausgefunden.«

  »Maureen!«

  »Ach, Mutter. Jason war ein fieser Kerl, und du weißt es. Deswegen konnte er auch nie eine Freundin halten. Ist mir egal, wenn ich schlecht von einem Toten spreche. Ich konnte das nie ausstehen, schon damals in Halifax nicht, als er noch zur Schule ging. Die ganze Zeit hat er von der rassischen Reinheit gelabert, die unser Land wieder groß machen würde. Ich hätte kotzen können. Du weißt genau, dass er in der Schule mit diesen Skins herumhing, mit ihnen und mit ihren Obermackern, diesen Kerlen, die den Schülern in armen Gegenden zusetzen. Ihr hättet etwas tun müssen, du und Dad.«

  »Was denn?«, jammerte Josie Fox. »Was hätten wir tun können, um ihn zu ändern?«

  »Woher soll ich wissen, was ihr hättet tun können? Aber ihr seid seine Eltern. Ihr hättet irgendetwas tun müssen.« Sie wandte sich an Susan. »Gestern haben wir meinen Großvater besucht«, berichtete sie. »Er hat uns ein Pamphlet gezeigt, das ihm seiner Meinung nach Jason per Post geschickt hat. Er war sehr bestürzt darüber.«

  »Die Albion-Liga?«

  »Sie wissen Bescheid?«

  Susan nickte. »Ihr Großvater hat gestern Abend Chief Inspector Banks davon erzählt.«

  Maureen schaute ihre Mutter an. »Siehst du. Ich habe dir doch gesagt, dass Großvater es nicht für sich behalten kann.« Sie wandte sich wieder an Susan. »Mama meinte, wir sollten es für uns behalten, um den Familiennamen zu schützen, aber ...« Sie zuckte mit den Achseln. »Tja, jetzt ist die Katze aus dem Sack gelassen worden, oder?«

  »Ich verstehe aber nicht, was das alles damit zu tun haben soll«, protestierte Josie Fox. »Jetzt stellen Sie meinen Jason als Verbrecher hin, dabei war er das Opfer. Halten Sie es für möglich, dass diese Jungs ihn wegen seiner Ansichten getötet haben?«

  »Könnten sie davon gewusst haben?«

  »Wie meinen Sie das?«

  Susan hielt einen Moment inne, bevor sie behutsam fortfuhr: »Jason war nicht sehr häufig hier, Mrs. Fox. Er war hier nicht verwurzelt, hat keine Freundschaften geschlossen. Könnten diese Jungs über ihn Bescheid gewusst haben, über seine Anschauungen?«

  »Sie hätten es irgendwie herausfinden können, nehme ich an. Es sind Asiaten, deshalb haben sie bestimmt ihre eigenen Gangs, ihre eigenen Seilschaften, oder? Vielleicht hat er mit einem von ihnen gesprochen, mit dem aus dem Laden.«

  »Wissen Sie, ob er mal dort eingekauft hat?«

  »Das weiß ich nicht, aber er könnte es getan haben. Der Laden ist nicht weit weg, besonders wenn man zur Bushaltestelle unten am Cardigan Drive geht.«

  »Aber Jason hatte einen Wagen.«

  »Das bedeutet ja nicht, dass er nie den Bus genommen hat, oder? Ich sage ja auch nur, er hätte in diesem Laden gewesen sein können. Er liegt nicht weit weg. Das ist alles.«

  »Erinnern Sie sich an den Vorfall vor einem Monat, als jemand einen Stein ...«

  »Moment«, sagte Josie. »Das werden Sie Jason nicht in die Schuhe schieben. O nein. Das wäre schön einfach für Sie, nicht wahr, jemandem ein Verbrechen anzuhängen, der sich nicht mehr wehren kann, nur damit Sie diese Sache abhaken können und Ihre Statistiken besser aussehen.«

  Susan holte tief Luft. »Das war nicht meine Absicht, Mrs. Fox. Ich versuche eine Verbindung zwischen Jason und George Mahmood zu finden, wenn es denn eine gegeben hat. Angesichts Jasons Einstellung zu Asiaten scheint es nicht völlig außerhalb des Möglichen zu liegen, dass er den Stein geworfen und George davon gewusst hat.«

  »Nun, das werden Sie nie erfahren, oder?«

  Susan seufzte. »Vielleicht. Wissen Sie, ob Jason diese Pamphlete an jemanden in der Siedlung weitergegeben hat?«

  Josie Fox schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass er es nicht getan hat. Davon hätte ich gehört.«

  Darauf wette ich, dachte Susan. »Haben mal Kollegen von Jason hier angerufen?«

  »Das habe ich Ihnen neulich schon gesagt. Nein. Wir kannten seine Freunde nicht.« Einen Augenblick lang hatte sich Susan eine Szene wie im Haus der berüchtigten Gebrüder Kray im Londoner Osten vorgestellt: Oben planen die Jungs Mord und Totschlag, während die liebe, alte Mama Tee und Kekse hinaufbringt und sie anstrahlt. Offensichtlich nicht. »Man könnte fast denken, er hat sich für uns geschämt«, fügte Josie Fox hinzu.

  »Oder für seine Freunde«, meinte Susan. »Am Samstagabend wurde er mit diesem jungen Mann im Jubi-lee beim Trinken gesehen.« Sie wandte sich wieder an Maureen und zeigte ihr das Bild. »Wir versuchen ihn aufzuspüren. Er könnte uns helfen herauszufinden, was geschehen ist. Haben Sie Jason jemals mit diesem Jungen gesehen?«

  Maureen schüttelte den Kopf. »Nein.«

  »Mrs. Fox?«

  »Nein.«

  »Sie haben uns gesagt, Jason hätte in der Plastikfabrik in Leeds gearbeitet. Wussten Sie, dass er die Firma vor zwei Jahren verlassen hat, dass er wegen seiner rassistischen Ansichten gebeten wurde zu gehen?«

  Josie Fox' Kinnlade fiel herunter, sie konnte mit ungläubigen Blicken nur langsam den Kopf schütteln. Selbst Maureen wurde bleich.

  »Haben Sie eine Ahnung, wohin er danach gegangen ist?«, machte Susan weiter.

  »Nein«, antwortete Mrs. Fox niedergeschlagen und mit matter Stimme. »Soweit wir wussten, arbeitete er dort.«

  »Hat er mal davon gesprochen, Computerkurse zu besuchen?«

  »Nicht mir gegenüber, nein.«

  »Wissen Sie, wo Jason in Leeds gewohnt hat?«

  »Ich habe Ihnen die Adresse gegeben.«

  Susan schüttelte den Kopf. »Dort wohnte er schon seit achtzehn Monaten nicht mehr. Er ist nach Rawdon umgezogen. Haben Sie ihn nie besucht?«

  Wieder fiel Mrs. Fox aus allen Wolken. »Nein. Wie denn? Wir haben beide unter der Woche gearbeitet. Jason auch. Außerdem kam er uns ja an den Wochenenden besuchen.«

  »Haben Sie ihn nie angerufen?«

  »Nein. Er hat gesagt, es wäre ein Gemeinschaftstelefon, draußen auf dem Flur, und die Leute in den anderen Wohnungen wollten nicht gestört werden. Wenn er uns ankündigen wollte, dass er hochkommt, hat er normalerweise bei uns angerufen.«

  »Und bei der Arbeit?«

  »Nein. Sein Chef wollte das nicht. Jason hat jedes Mal bei uns angerufen. Ich verstehe es nicht. Das ist alles ... Warum hat er uns nichts erzählt?«

  »Keine Ahnung, Mrs. Fox«, sagte Susan.

  Josie Fox stiegen Tränen in die Augen. »Wie konnte er? Ich meine, wie kam es, dass er einer solchen Gruppe beigetreten ist und nie etwas verlauten ließ? Wir standen uns in der Familie doch einmal sehr nahe. Wir haben immer versucht, ihn vernünftig und anständig zu erziehen. Was haben wir denn falsch gemacht?«

  Maureen saß steif mit vor der Brust verschränkten Armen da, verdrehte die Augen und starrte einen Punkt hoch oben an der Wand an, als würde sie der Gefühlsausbruch ihrer Mutter gleichzeitig peinlich berühren und anwidern.

  Was haben wir falsch gemacht? Eine Frage, die Susan viele Male gehört hatte, sowohl während ihrer Arbeit als auch von den eigenen Eltern, wenn sie sich über den Berufsweg beklagten, den sie eingeschlagen hatte. Sie versuchte sie gar nicht erst zu beantworten.

  Eine Menge Vorurteile wurden vererbt. Das beste Beispiel hatte sie in ihrer eigenen Familie. Ihr Vater, nach außen hin ein anständiger und intelligenter Mann, ein regelmäßiger Kirchengänger, ein respektiertes Mitglied der Gemeinde, würde niemals in einem indischen Restaurant essen, weil er glaubte, ihm würde dort Fleisch von Pferden, Hunden oder Katzen serviert werden und die scharfen Gewürze hätten nur den Zweck, den Geschmack der Verwesung zu übertünchen.

  Susan wusste, dass sie eine Menge seiner Einstellungen übernommen hatte; sie wusste aber auch, dass sie dagegen ankämpfen konnte. Sie musste nicht für alle Ewigkeit an ihnen hängen bleiben. Deshalb ging sie häufig in indische Restaurants und hatte das Essen zu lieben begonnen. Und deshalb war sie bei Superintendent Gristhorpes Anspielung darauf, im Himalaya zu Mittag zu essen, errötet. Denn genau daran hatte sie in dem Moment gedacht, an Zwiebel-Bhaji und Gemüse-Samosas. Mmmm.

  Doch was auch immer sie tat, in ihrem Hinterkopf war es immer da: das von ihrem Vater geerbte Gefühl, dass diese Menschen nicht ganz wie wir waren; dass ihre Sitten und ihr religiöser Glaube barbarisch und primitiv waren, unchristlich.

  Was haben wir falsch gemacht? Wer wusste schon die Antwort auf diese Frage? Susan schloss ihr Notizbuch, verabschiedete sich von den Foxes und ging hinaus auf den Narzissenstieg. Es hatte wieder zu regnen begonnen.

 

* III

 

Der Verkehr auf der Ringstraße von Leeds war nicht allzu stark, sodass Banks um elf Uhr Rawdon erreichte. Das Haus Nummer sieben in der Rudmore Terrace war ein einfallsloses, verklinkertes Doppelhaus nahe der Hauptstraße zum Flughafen von Leeds und Bradford. Es hatte ein kleines Erkerfenster, Milchglasscheiben in der Tür und einen überwucherten Garten.

  Zuerst ging Banks aber hinüber zu Nummer neun, weil ihm aufgefallen war, dass sich dort die Spitzenvorhänge bewegt hatten, als er auf das Haus zugegangen war. Als er klopfte und eine Frau öffnete, tat sie natürlich alles, um überrascht zu wirken, dass sie Besuch erhielt. Während sie seinen Dienstausweis betrachtete, ließ sie die Türkette eingehängt, und bat ihn erst dann herein.

  »Heutzutage kann man gar nicht vorsichtig genug sein«, sagte sie vergnügt, während sie den Kessel aufsetzte. »Eine Frau aus der Nachbarstraße ist erst vor zwei Wochen überfallen worden. Vergewaltigt.« Sie hauchte das Wort mehr, als dass sie es laut aussprach, gerade so, als würde sie ihm damit die Kraft nehmen. »Am helllichten Tag auch noch. Übrigens, ich heiße Liza Williams.«

  Liza war eine attraktive Frau Anfang dreißig mit kurzem schwarzem Haar, einer glatten olivfarbenen Haut und hellblauen Augen. Sie führte Banks weiter in das Wohnzimmer, dessen Teppich mit Kinderspielzeug bedeckt war. Das Zimmer roch leicht nach Knetmasse und warmer Milch.

  »Jamie hat die Zwillinge für den Vormittag rüber zu ihrer Großmutter gebracht«, sagte sie und betrachtete die Unordnung. »Damit ich mal durchatmen kann. Zwei Zweieinhalbjährige halten einen ganz schön auf Trab, Mr. Banks. Aber vielleicht wissen Sie das ja selbst.«

  Banks lächelte. »Nein, das weiß ich nicht. Zwischen meinem Sohn und meiner Tochter liegen ein paar Jahre. Aber glauben Sie mir, ein zweieinhalbjähriges Kind war schon schlimm genug. Zwei auf einmal wage ich mir gar nicht vorzustellen.«

  Liza Williams lächelte. »Ach, so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich jammere, aber ... ich möchte die beiden nicht missen. Doch ich nehme an, Sie sind nicht gekommen, um über Kinder zu sprechen. Geht es um die Frau in der Nachbarstraße?«

  »Nein. Ich bin von der Kriminalpolizei in North Yorkshire«, stellte Banks klar. »Für den Fall wäre West Yorkshire zuständig.«

  »Ja, natürlich. Das hätte ich an dem Ausweis sehen können.« Sie runzelte die Stirn. »Aber dann verstehe ich es noch weniger.«

  »Es geht um nebenan, Mrs. Williams.«

  Sie hielt inne, dann weiteten sich ihre Augen. »Ach so, verstehe. Ja, das ist so traurig, nicht wahr? Und er war noch so jung.«

  »Verzeihung?«

  »Sie meinen doch den Jungen, der getötet worden ist, oder? Jason. In Eastvale. Das ist doch North Yorkshire, oder?«

  »Sie wissen davon?«

  »Nun, wir waren Nachbarn, auch wenn wir nicht besonders viel miteinander zu tun hatten. Man sagt, gute Zäune schaffen gute Nachbarschaft, Mr. Banks, und man braucht einen großen Zaun, um seinen hässlichen Garten nicht zu sehen. Aber ich will fair bleiben. Er war ruhig und rücksichtsvoll und hat sich nie über die Zwillinge beschwert.«

  »Sagen Sie, könnten wir noch einmal von vorne beginnen und ein paar Dinge klären?«

  »Natürlich.«

  »Jason Fox wohnte nebenan, in Nummer sieben, richtig?«

  »Ja. Das habe ich Ihnen ja gerade gesagt.«

  »Okay. Und Sie haben in der Zeitung gelesen, dass Jason Samstagnacht in Eastvale getötet worden ist?«

  »Genau genommen habe ich es im Fernsehen gesehen. Woher sollte ich es sonst wissen? Als ich hörte, dass es er war, war ich wie vom Donner gerührt.«

  »Woher wussten Sie, dass es kein anderer Jason Fox war?«

  »Nun, so häufig kommt der Name nicht vor, oder? Und obwohl die Zeichnung, die in den Nachrichten von ihm gezeigt wurde, nicht besonders gut war, konnte ich ihn daran erkennen.«

  Das Wasser im Kessel kochte, und Liza Williams ging kurz in die Küche, um Tee zu machen. Sie kam mit einem Tablett, einer Kanne und Bechern zurück.

  »Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«, fragte Banks.

  Sie runzelte die Stirn. »Polizei? Warum hätte ich das tun sollen? Habe ich etwas falsch gemacht?«

  »Nein. Ich werfe Ihnen nichts vor. Ich bin nur neugierig.«

  »Also, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Warum auch? Ich weiß eigentlich nichts über Jason. Es tat mir zwar wirklich Leid zu hören, was geschehen war, aber im Grunde ging es mich doch nichts an, oder? Es hatte nichts mit mir zu tun. Ich meine, ich bin noch nie in Eastvale gewesen.«

  »Aber kam Ihnen nicht der Gedanke, dass sich die Polizei in der Nachbarschaft, in der Jason wohnte, umschauen wollte und dass sie Ihnen vielleicht gerne ein paar Fragen über ihn gestellt hätte?«

  »Also ... ich ... Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir Leid. Ich nahm einfach an, dass die Polizei, wenn sie mich etwas fragen wollte, es bestimmt getan hätte, als sie hier war. Ich dachte, die Polizei weiß schon, was sie tut. Ich habe keine Ahnung, was mit den Häusern von Menschen geschieht, die ...«

  »Einen Moment«, sagte Banks und rutschte auf die Kante seines Stuhles. »Haben Sie gerade gesagt, dass die Polizei bereits hier gewesen ist?«

  »Ja. Zivilbeamte. Wussten Sie das nicht?«

  »Selbstverständlich nicht, sonst würde ich Ihnen nicht all diese Fragen stellen.« Liza Williams sah weder aus wie eine dumme Frau noch sprach sie so. Was sollte sie denken? »Wann war das?«

  »Sonntagmorgen. Noch bevor ich gehört hatte, was geschehen war. Warum? Stimmt etwas nicht?«

  »Nein. Nein. Alles in Ordnung.« Banks kratzte die Narbe neben seinem rechten Auge. Liza schenkte Tee ein, und als sie ihm dabei in die Augen sah, verschüttete sie etwas Tee auf dem Tablett. Sie reichte Banks einen dampfenden Becher. »Haben die Polizisten mit Ihnen gesprochen?«, fragte er.

  »Nein. Sie sind nur in Jasons Haus gegangen. Zwei Beamte. Sie schienen einen Schlüssel zu haben und zu wissen, was sie taten.«

  »Woher wussten Sie dann, dass es Polizisten waren?«

  »Ich wusste es gar nicht. Ich habe es nur angenommen, weil sie so zielstrebig waren. Als ich dann später am Abend im Fernsehen sah, was mit Jason passiert war ... da schien es Sinn zu machen.«

  »Wie spät war es, als die beiden kamen?«

  »Das muss so gegen zehn Uhr gewesen sein. Jamie war gerade vom Zeitungshändler zurückgekommen. Wir lassen uns die Zeitung nicht liefern, weil ...«

  Banks hörte ihr nicht mehr zu. Zuerst hatte er die wenn auch geringe Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass die Kriminalpolizei von West Yorkshire die linke Hand zu North Yorkshires rechter gespielt hatte. Doch Susan Gay hatte die Identität des Opfers erst am Sonntagmittag herausgefunden, und die Foxes hatten Jason erst danach offiziell identifiziert. Wer hatte also gewusst, wer das Opfer war, bevor es die Polizei wusste? Und wie hatten die Betreffenden es herausgefunden?

  Banks blies in seinen Becher, nahm einen Schluck Tee und beugte sich dann wieder vor. »Das ist jetzt sehr wichtig, Mrs. Williams«, sagte er. »Können Sie mir etwas über diese Männer erzählen?«

 

 

* IV

 

Steven Fox hatte nicht mit Susan gerechnet; als sie in seinem Büro in der Bausparkasse auftauchte, konnte man Überraschung und Argwohn an seinem Gesicht ablesen.

  »Hätten Sie Zeit für ein kurzes Gespräch?«, fragte sie lächelnd.

  Er schaute auf seine Uhr. »Na gut. Es ist sowieso fast Mittagszeit.«

  »Ich lade Sie ein«, sagte Susan. Innerlich seufzte sie auf, denn jetzt konnte sie das Essen im Himalaya vergessen.

  Steven Fox zog seinen Regenmantel an, dann gingen sie über die York Road zur El Toro Coffee Bar, die am Marktplatz direkt gegenüber des Polizeireviers lag. Das El Toro mit seiner schummerigen Beleuchtung, dem Kastagnettengeklimper, den Stierkampfbildern und dem Espressogeruch war nicht gerade berühmt für sein Essen, doch die Sandwiches waren ganz anständig. Susan bestellte sich eines mit Tomaten und Garnelen, Steven Fox entschied sich für Schinken und Käse.

  Nachdem sie ein paar Happen gegessen und etwas Kaffee getrunken hatten, begann Susan mit ihren Fragen. »Würde es Sie überraschen, zu hören, dass Jason nicht mehr in der Firma gearbeitet hat, die Sie uns angegeben haben?«

  Steven Fox hielt inne und polierte seine vom Kaffeedampf beschlagene Brille. »Um ehrlich zu sein«, sagte er, »würde mich keine Information über Jason besonders überraschen. Er machte, was er wollte.«

  »Seine Mutter war überrascht.«

  »Vielleicht machte sie sich mehr Illusionen.«

  Das könnte erklären, dachte Susan, warum Steven Fox anscheinend schneller akzeptiert hatte, dass Jason möglicherweise eines gewaltsamen Todes gestorben war, als Josie es konnte.

  »Und Sie?«, fragte sie.

  »Jason war ein eigenartiger Junge. Wir hatten nie eine besonders enge Beziehung. Ich weiß nicht, warum.«

  »Wussten Sie von seiner Mitgliedschaft in der Albion-Liga?«

  »Nein, ich habe es erst gestern erfahren.« Steven Fox schüttelte langsam den Kopf. »Nachdem Jason von zu Hause ausgezogen war, war er im Grunde weg«, sagte er. »Danach wussten wir nie, was er tat. Aber ich nehme an, von solchen Sachen erzählt man seinen Eltern auch nichts, oder? Oder können Sie sich vorstellen, eines Abends mit Ihrem Sohn am Esstisch zu sitzen, und er sagt: >Stellt euch vor, Mama und Papa, heute bin ich einer Neonazipartei beigetreten<?«

  »Außer er dachte, Sie teilen seine Ansichten.«

  Steven knallte seine Kaffeetasse auf die Untertasse und verschüttete dabei etwas Kaffee. »Jetzt machen Sie mal einen Punkt. Das ist eine Unterstellung, die ich zurückweise. Ich bin kein Rassist.«

  Susan hob beschwichtigend eine Hand. »Ich unterstelle Ihnen überhaupt nichts, Mr. Fox. Ich will es einfach nur wissen.«

  »Er hatte diese Ansichten auf jeden Fall weder von mir noch von seiner Mutter.«

  »Haben Sie eine Vorstellung, woher er sie hatte?«

  »Tja, das ist so eine Sache ... Glauben Sie wirklich, dass man einfach so ... nun, die Eigenarten oder Redensarten von jemandem übernimmt oder imitiert?«

  »Nein, glaube ich nicht. Aber irgendwo hat es wohl seinen Anfang genommen. Was ist mit dieser Beförderungssache?«

  »Hat Josie Ihnen davon erzählt?«

  »Nein, Maureen.«

  Steven Fox zuckte mit den Achseln. »Damals in Halifax wurde mir bei einer Beförderung ein Kollege aus Bangladesch vorgezogen. Ein netter Kerl, aber ... es war eine Frage von, wie nennt man das ...«

  »Quotenregelung?«

  »Genau, Jobs werden nur an Ausländer und Frauen vergeben. Es war sehr ärgerlich, denn ich hatte mehr Erfahrung. Und ich war schon länger bei der Bank. Wie auch immer, wir hatten danach eine ziemlich harte Zeit, es kam nicht genug Geld rein und so weiter. Ich glaube, Jason hat es sich mehr zu Herzen genommen als ich, vielleicht weil er bereits selbst einige Probleme in der Schule hatte. Es gab dort eine Menge Asiaten, zum größten Teil waren sie erst vor kurzem ins Land gekommen, manche hatten nur wenige Sprachkenntnisse, und Jason bekam einmal Schwierigkeiten, weil er einem Lehrer sagte, sie würden den Rest der Klasse aufhalten und sollten besser in einer Sonderklasse unterrichtet werden.«

  »Wie lange ist das her?«

  »Das war in seinem letzten Jahr dort. Kurz bevor wir umgezogen sind.«

  »Hat Ihnen das nicht Sorgen bereitet?«

  »Tja, es ... Ich meine, irgendwie hatte er doch Recht, oder? Vielleicht hätte er es diplomatischer ausdrücken sollen. Wie gesagt, Gott weiß, dass ich kein Rassist bin, aber ich habe den Eindruck, dass man, wenn man ständig den Forderungen fremder Kulturen und anderer Religionen nachgibt, auf eine Art seine eigene .... schwächt, oder? Mein Gott, in der Schule singen und beten sie bei der Morgenandacht ja nicht mal mehr.«

  Susan fuhr schnell fort. »Kennen Sie die Leute, die den Laden in Gallows View betreiben? Die Mahmoods?«

  »Ich weiß, wen Sie meinen ... Ab und zu habe ich dort mal eine Dose Suppe gekauft ... aber ich kann nicht behaupten, sie zu kennen.«

  »Erinnern Sie sich daran, dass vor einem Monat jemand einen Stein durch ihr Fenster geschmissen hat?«

  »Ich habe davon in der Lokalzeitung gelesen. Warum?«

  »War Jason an diesem Wochenende in Eastvale?«

  »Ach, ich bitte Sie«, sagte Steven. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass er so etwas getan hat?«

  »Warum nicht?«

  »Er war kein Hooligan.«

  »Aber er war ein Rassist.«

  »Trotzdem ... Ich erinnere mich auch nicht, ob er hier war oder nicht. Und sollten Sie nicht eigentlich die Mörder suchen?«

  »Alles kann uns helfen, Mr. Fox. Die Adresse in Leeds, die Sie uns gegeben haben, stimmte nicht mehr. Er war umgezogen. Wussten Sie das?«

  »Er wohnte dort nicht mehr?« Steven Fox schüttelte den Kopf. »Verdammt, nein. Ich nahm einfach ... Ich meine, warum sollte er uns deshalb anlügen?«

  »Ich glaube nicht, dass er gelogen hat. Er hat es einfach unterlassen, Ihnen Bescheid zu sagen. Vielleicht dachte er, es würde Sie nicht interessieren.«

  Steven Fox runzelte die Stirn. »Sie müssen uns für nachlässige und gefühllose Eltern halten.«

  Susan sagte nichts.

  »Aber Jason war über achtzehn«, fuhr er fort. »Er führte sein eigenes Leben.«

  »Das haben Sie bereits gesagt. Dennoch hat er sein Elternhaus besucht.«

  »Er kam an den Wochenenden nach Hause, um seine Wäsche waschen zu lassen und eine kostenlose Mahlzeit zu kriegen, so wie es viele Kinder tun.«

  »Sie haben vorhin gesagt, dass Sie und Jason sich nie besonders nahe standen. Wieso?«

  »Ich weiß es wirklich nicht. Als er jünger war, war er immer eher ein Muttersöhnchen. Als Teenager hat er dann mit Fußball angefangen. Ich habe mich nie groß für Sport interessiert. In der Schule war ich nie besonders gut bei den Spielen. Ich war immer der Letzte, der gewählt wurde. Wahrscheinlich hätte ich auf den Platz gehen sollen, um ihm beim Spielen zuzuschauen, vielleicht hätte ich mehr Unterstützung signalisieren sollen ... mehr Begeisterung. Es war ja nicht so, dass ich nicht stolz auf ihn gewesen wäre.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht war ich egoistisch. Ich habe meine Plattensammlung katalogisiert. Jason hatte seinen Fußball. Wir schienen einfach nichts gemeinsam zu haben. Aber ich konnte doch nicht wissen, wohin das alles führt. Woher denn?« Er schaute auf seine Uhr. »Hören Sie, ich muss jetzt wirklich zurück. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, ehrlich. Wenn diese Jungs Jason wirklich getötet haben, diese Ausländer, die Sie freigelassen haben, dann hoffe ich, dass Sie ein paar Beweise gegen sie finden. Kann ich sonst noch etwas tun ...?«

  Und dann stand er auf, um zu gehen. Susan nickte und war schließlich mehr als froh, dass das Gespräch beendet war. Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte sie sich zurückhalten müssen, um ihrem Gegenüber nicht lautstark zu erklären, dass George, Asim und Kobir keine Ausländer waren, sondern dass sie in diesem Land geboren waren, genau wie ihre Väter vor ihnen. Aber welchen Sinn hätte das gehabt?

  Und nun musste sie ins Himalaya gehen und mit Asim Kobir und seinen Eltern sprechen. Sie würden sich bestimmt riesig freuen, sie zu sehen. Doch so unverschämt es auch klang, vielleicht hatte sie nach allem noch Platz für eine kleine Samosa. Nur eine. Für einen anfangs banal anmutenden, außer Kontrolle geratenen Kneipenstreit, dachte sie, war dieser Fall zu einer verdammt verwirrenden Angelegenheit geworden.

 

* V

 

Die kleine Glasscheibe in der Eingangstür ging ohne Probleme zu Bruch, als Banks seinen Ellbogen benutzte. Vorsichtig steckte er seine Hand hindurch und drehte das Schloss herum. Er hatte einen Durchsuchungsbefehl für das Haus, und da alles aus Jasons Taschen mitgenommen worden war, einschließlich seines Hausschlüssels, war dies der einfachste Weg, hereinzukommen.

  Im Haus war es so still, dass er nur das Rauschen seines Blutes in den Ohren hören konnte. Nicht einmal eine Uhr tickte. Er stellte sich vor, dass es nicht immer so gewesen war, vor allem dann nicht, wenn die Zwillinge nebenan zu Hause waren.

  Er begann mit dem Wohnzimmer zu seiner Rechten: eine dreiteilige Sitzgarnitur mit hellbraunen Kordpolstern, eine Tapete mit schmalen grünen und braunen Streifen, ein Spiegel über dem Kaminsims, ein elektrisches Feuer aus imitierten Kohlen; Fernseher und Videorecorder; eine Auswahl Videobänder, dem Anschein nach vor allem Science-Fiction- und Horrorfilme; ein paar Taschenbücher: Ayn Rand, Tom Clancy, Michael Crichton. Das war es auch schon. Vor der einen Wand stand eine Anrichte und in einer der Schubladen fand Banks ein paar an Jason Fox adressierte Rechnungen. Sonst nichts.

  Die Küche war sauber und aufgeräumt, sämtliches Geschirr stand im Schrank, die Becher hingen an Haken über der Spüle. Im Kühlschrank befand sich nur sehr wenig: ein Stück Butter, Cheddarkäse, der an den Rändern blau wurde, geschnittenes Weißbrot, gekochter Schinken, welker Stangensellerie, Kopfsalat, Tomaten. Eher Zutaten für Sandwiches als für warme Mahlzeiten. Vielleicht hatte Jason meistens außerhalb gegessen.

  Es gab noch drei weitere Räume, einer war im Grunde nicht größer als ein Schrank und völlig leer. Die anderen beiden machten schon eher einen bewohnten Eindruck. Genau wie in seinem Elternhaus in Eastvale war auch hier in Jasons Schlafzimmer das Bett ordentlich gemacht und im Kleiderschrank hing eine ähnliche Auswahl an Kleidung. Die Kommodenschubladen waren voller Socken, Unterwäsche und T-Shirts, dazu gab es eine ungeöffnete Packung Kondome und eine Flasche Aspirin. Der dritte Raum sah wie ein Gästezimmer aus, ein Einzelbett stand in ihm, die Schubladen waren leer und mehr gab es nicht zu finden.

  Mit Ausnahme des Computers.

  Doch Banks hatte Angst, irgendwelchen Unfug anzustellen, wenn er begann, daran herumzuprobieren, und notierte sich deshalb nur, jemand anderen herkommen zu lassen, um das Gerät zu überprüfen.

  Zurück im Flur konnte sich Banks über die totale Leere des Hauses nur wundern. Es hatte keine Persönlichkeit. Da Jason Mitglied einer Neonaziorganisation gewesen war, würde man doch wenigstens ein paar Skrewdriver-CDs und vielleicht einige im Haus verstreute Ausgaben von The Order erwarten. Doch es hatte den Anschein, als wäre jemand hier gewesen und hätte alle möglicherweise einmal existierenden persönlichen Merkmale entfernt. Und vielleicht war das tatsächlich der Fall gewesen.

  Zwei Männer, hatte Liza Williams gesagt, und sie waren mit einigen Kartons gegangen. Leider hatte es in Leeds an diesem Sonntagvormittag geregnet und beide hatten Kappen getragen. Schwarze oder dunkelblaue.

  Einer trug eine schwarze Lederjacke und Jeans, der andere eine Daunenjacke. Der mit der Lederjacke war größer als der andere gewesen.

  Liza musste zugeben, dass sie nicht besonders gut gekleidet waren, aber da sie schon eine Menge Krimiserien im Fernsehen gesehen hatte, erwartete sie nicht, dass echte Polizisten besser gekleidet waren als ihre fik-tionalen Ebenbilder. Sie konnte auch nicht sagen, wie alt sie waren, sie hatte ihre Gesichter nicht gesehen, hatte jedoch durch die Art, wie sie sich bewegt hatten, den Eindruck, dass sie wahrscheinlich ziemlich jung und durchtrainiert waren.

  Und das war auch schon alles, was sie sagen konnte. Schließlich hatte sie nur kurz hinübergeschaut, und als sie bemerkte, dass sie einen Schlüssel benutzten, um ins Haus zu gelangen, befürchtete sie nicht mehr, es könnte sich um Einbrecher oder Vergewaltiger handeln. Zuerst dachte sie, es wären Freunde von Jason - er hatte manchmal Freunde zu Besuch -, und nachdem sie dann von seinem Tod gehört hatte, nahm sie einfach an, es seien Polizisten gewesen, die gekommen waren, um seine Sachen zu seiner Familie zu bringen. Ihr Ehemann hatte die beiden nicht gesehen, er hatte sich bereits mit der Sonntagszeitung hingesetzt, und sobald er das erst einmal tat...

  Aufgefallen war ihr allerdings ein blauer Wagen, der draußen parkte und den sie für den Wagen der Männer hielt. Aber sie wusste nicht, welches Fabrikat es war, geschweige denn, welche Nummer er hatte. Sie sagte jedoch, dass er sauber war.

  Banks seufzte, als er die Tür hinter sich verschloss. Er würde einen seiner Kollegen aus West Yorkshire bitten müssen, die Glasscheibe zu reparieren, die er eingeschlagen hatte, und vielleicht andere Bewohner der Straße befragen. Egal, was sie bemerkt hatten, es musste mehr sein als Liza Williams Beobachtungen.

 

* VI

 

Am Nachmittag war Susan durchnässt, müde und keinen Schritt weiter als am Morgen. Die Nazurs und die Mahmoods waren erwartungsgemäß abweisend und ungesprächig gewesen, die eindeutige Rassismusanklage in ihren Blicken hatte Susan erschreckt. Soweit die Mahmoods wussten, war Jason Fox nie in ihrem Laden gewesen, und die Nazurs hatten ihn nie in ihrem Restaurant gesehen. Und von einer Albion-Liga hatten sie noch nie gehört.

  Da sich Sergeant Hatchley weiterhin draußen die Hacken ablief, hatte sie wenigstens die Gelegenheit, sich mit einem warmen Kaffee aufzuwärmen und ein bisschen Ruhe zu haben.

  Sie hatte gerade ihre kalten Füße auf die Heizung gelegt, als ein Beamter der Zentrale mit einem Fax hereinkam. »Soeben angekommen«, sagte er.

  Susan dankte ihm und betrachtete das einzelne Blatt. Alles, was darauf stand, war:

  DIE ALBION-LIGA

  und dazu eine Telefonnummer. Eine Nummer aus London.

  Neugierig nahm Susan das Telefon und wählte die Nummer. Sie erinnerte sich, dass Banks ein Fax mit der Bitte um Informationen über die Albion-Liga an Scot-land Yard geschickt hatte; deshalb war sie nicht überrascht, als sich jemand von dort meldete. Nachdem sie ein paar Mal weiterverbunden worden war und lange hatte warten müssen, bekam sie schließlich jemanden an den Apparat, der bei der Erwähnung der Albion-Liga wusste, wovon sie sprach. Sein Name war Craw-ley, sagte er.

  »Ist Ihr Chef im Hause, Schätzchen?«, fragte er.

  Zornig umklammerte Susan den Hörer, doch sie sagte nichts.

  »Nun?«, meinte Crawley.

  »Detective Superintendent Gristhorpe ist im Moment leider nicht im Büro«, antwortete Susan schließlich mit zusammengebissenen Zähnen.

  »Und Sie sind Detective Constable Gay?«

  »Ja.« Wenigstens machte er keine Witze über ihren Namen.

  »Dann muss ich wohl mit Ihnen vorlieb nehmen.«

  Es war nicht ihr Tag. »Herzlichen Dank«, knurrte sie.

  »Nicht beleidigt sein, Schätzchen.«

  »Ich versuche es, Süßer. Und wie steht es nun mit der Albion-Liga?«

  Sie hörte Crawley am anderen Ende der Leitung lachen, dann räusperte er sich. »Na gut, es ist eine Neonaziorganisation. Deswegen interessiert uns auch, warum Sie Information darüber haben wollen, verstehen Sie?«

  »Ich hätte gedacht, es handele sich um eine ganz einfache Anfrage«, sagte Susan.

  »Stimmt schon, Schätzchen, aber nichts, was mit diesen Arschlöchern zu tun hat, ist einfach. Sie sind gekennzeichnet.«

  »Gekennzeichnet?«

  »Jedes Mal, wenn ihr Name auftaucht, müssen bestimmte Leute informiert werden.«

  »Das klingt ja furchtbar mysteriös.«

  »Tatsächlich?«

  »Ja. Aber keine Sorge. Ich bin sicher, Detective Chief Inspector Banks wird Ihnen einen vollständigen Bericht schicken; er leitet die Ermittlungen vor Ort. Würde es Ihnen jedoch etwas ausmachen, nur für einen Moment, einem weiblichen Detective Constable einen Gefallen zu tun? Könnten Sie mir eine allgemeine Vorstellung davon geben, worum es dieser speziellen Neonaziorganisation geht, was sie will?«

  Sie hörte erneut ein kurzes Kichern am anderen Ende der Leitung. »Was sie will?«, sagte Crawley dann. »Das ist einfach. Im Grunde das Gleiche wie der Rest von ihnen. Das Übliche: Rassenreinheit. Rückführung der Immigranten und aller Ausländer in ihre Heimat. Britannien soll weiß bleiben. Ach, und sie will, dass die Züge pünktlich fahren.«

  »Da würde ich mir keine Hoffnung machen.«

  »Wem sagen Sie das? Aber ernsthaft, Schätzchen, es geht nicht so sehr darum, was diese Leute wollen - das ist meistens ziemlich vorhersehbar -, sondern viel mehr darum, was sie bereit sind zu tun, um ihre Ziele zu erreichen. Welche Mittel sie einsetzen, wie sie organisiert sind, welche Verbindungen sie mit anderen Gruppierungen unterhalten, ob sie bewaffnet sind, welche möglichen internationalen Kontakte sie haben. Um diese Dinge geht es. Verstehen Sie, was ich meine?« •

  »Ja«, sagte Susan. »Und die Albion-Liga, wie passt die in dieses Raster?«

  Es entstand eine Pause. »Tut mir Leid«, sagte Crawley dann, »aber ich bin wirklich nicht befugt, Ihnen mehr als das zu sagen. Ihr Chef soll mich anrufen, wenn er zurück ist. In Ordnung, Schätzchen?« Und dann brach die Verbindung ab.

 

* VII

 

Als Banks die Koordinationsgespräche mit der Polizei von West Yorkshire beendet hatte, war es später Nachmittag. Er beschloss, bei Tracys Wohnheim vorbeizufahren, um zu schauen, was sie machte. Sie studierte erst seit gut zwei Wochen an der Universität von Leeds, doch er vermisste sie bereits. Vielleicht konnte er mit ihr essen gehen. Auf diese Weise würde er dem Berufsverkehr auf dem Weg nach Hause ausweichen.

  Und vielleicht würde ihn das Beisammensein mit Tracy auch für eine Weile seine Probleme mit Sandra vergessen lassen.

  Als er zu dem neben Woodhouse Moor gelegenen Studentenwohnheim kam, stellte er erfreut fest, dass nicht einfach jeder das Gebäude betreten konnte. Man musste angeben, wen man besuchen wollte. Banks zeigte dem Pförtner seinen Dienstausweis und sagte, dass er gerne seine Tochter besuchen wolle.

  Beeindruckt von Banks Papieren ließ ihn der geschwätzige Pförtner herein. Er erzählte, bis vor einigen Jahren sei er selbst Polizist gewesen, doch dann habe ihn eine Beinverletzung gezwungen, in den Ruhestand zu gehen.

  Während Banks über die Treppe ins zweite Stockwerk ging, fragte er sich, ob er sich vorher hätte ankündigen sollen. Was, wenn Tracy gerade mit einem Jungen zusammen war? Wenn sie gerade Sex hatte? Doch diesen Gedanken verdrängte er schnell wieder. Er konnte sich seine Tochter nicht dabei vorstellen. Entweder würde sie bei einer Vorlesung sein oder sie würde in ihrem Zimmer lernen.

  Als er vor ihrer Tür stand, klopfte er an. Vom anderen Ende des Flures konnte er Musik hören, doch aus Tracys Zimmer drang kein Ton. Er klopfte erneut, diesmal lauter. Nichts. Er war enttäuscht. Sie musste in einer Vorlesung sein.

  Gerade als er fortgehen wollte, öffnete sich die Nebentür und ein junges Mädchen mit zerzaustem Haar steckte ihren Kopf heraus. »Oh, Entschuldigung«, sagte sie mit einer rauchigen Stimme. »Ich dachte, Sie hätten an meine Tür geklopft. Wenn man Musik anhat, kann man das manchmal nicht richtig unterscheiden.« Dann zwinkerte sie mit den Augen. »Hey, Sie haben wirklich nicht an meine Tür geklopft, oder?«

  »Nein«, sagte Banks.

  Sie schmollte gespielt. »Schade. Wollen Sie zu Tracy?«

  »Ich bin ihr Vater.«

  »Ach, der Polizist. Sie hat viel von Ihnen erzählt.« Das Mädchen drehte eine Locke ihres roten Haares um den Zeigefinger. »Ich muss allerdings sagen, dass sie mir nie erzählt hat, wie toll Sie sind. Ich bin übrigens Fiona. Schön, Sie kennen zu lernen.«

  Sie streckte ihre Hand aus und Banks schüttelte sie. Er spürte, dass er rot wurde. »Haben Sie eine Ahnung, wo Tracy sein könnte?«

  Fiona schaute auf ihre Uhr. »Mittlerweile müsste sie mit den anderen im Pack Horse sein«, erwiderte sie seufzend. »Ich wäre eigentlich auch dort, aber ich muss wegen einer Grippe Antibiotika nehmen und darf nichts trinken. Und wenn man nichts Richtiges trinken darf, macht es keinen Spaß.« Sie rümpfte ihre Nase und lächelte. »Es ist gleich die Straße rauf. Sie können es nicht verfehlen.«

  Banks dankte ihr, ließ den Wagen stehen, wo er war, und ging zu Fuß los. Das Pack Horse lag an der Wood-house Lane, kurz vor der Kreuzung mit der Clarendon Road, nur ein paar hundert Meter entfernt. Obwohl er seine Krawatte abgenommen hatte und legere Hosen und eine Wildlederjacke mit Reißverschluss trug, fühlte er sich zu förmlich gekleidet für das Lokal.

  Mit seiner Einrichtung aus poliertem Holz, Messing und Glas sah der Pub wie eine echte viktorianische Bierschänke aus. Er schien in ein Gewirr aus einzelnen Räumen unterteilt zu sein, die meisten waren von lärmenden Studentengruppen besetzt. Erst im dritten Raum entdeckte Banks seine Tochter. Sie saß mit ungefähr sechs oder sieben anderen Studenten an einem voll gestellten Tisch, eine ziemlich ausgewogene Mischung aus Jungen und Mädchen. Die Jukebox spielte gerade einen Beatles-Oldie: »Ticket to Ride«.

  Er konnte Tracy im Profil sehen, während sie über die Musik mit einem Jungen neben ihr plauderte. Gott, wie sehr sie Sandra ähnelte. Das blonde Haar hinter die kleinen Ohren gesteckt, schwarze Augenbrauen, Nase und Kinn geneigt, die lebhaften Züge beim Reden. Ihr Anblick versetzte seinem Herz einen Stich.

  Das Äußere des Jungen neben ihr gefiel Banks nicht. Er hatte so einen Gesichtsausdruck, der immer spöttisch auf die Welt hinabzuschauen schien. Es lag irgendwie an der Bewegung der Lippen und an seinem Blick.

  Entweder bemerkte es Tracy nicht und es kümmerte sie nicht. Oder, noch schlimmer, sie fand es anziehend.

  Während sie sprach, gestikulierte sie mit den Händen, hielt gelegentlich inne, um seinen Erwiderungen zuzuhören, ein Schluck des bernsteinfarbenen Getränks aus ihrem Pintglas zu trinken und von Zeit zu Zeit zustimmend zu nicken. Ihr Getränk konnte Bier sein, doch Banks glaubte, dass es eher Cider war. Tracy hatte immer gerne alkoholfreien Cider getrunken, wenn sie während der Familienurlaube in Dorset oder den Cotswolds zum Essen in einen Pub gegangen waren.

  Dieses Glas Cider war aber wahrscheinlich alkoholisch. Warum auch nicht? Sie war alt genug, sagte er sich. Wenigstens rauchte sie nicht.

  Dann überwältigte ihn, wie er da so in der Tür stand, ein merkwürdiges Gefühl. Während er seine Tochter reden, lachen und trinken sah, hatte er plötzlich einen Kloß im Hals, und ihm wurde klar, dass er sie verloren hatte. Er konnte nicht hinübergehen und sich zu der Gruppe gesellen - er konnte es einfach nicht. Er gehörte nicht dazu; seine Anwesenheit wäre ihr nur peinlich. Eine Grenze war erreicht und überschritten worden. Tracy war nun auf der anderen Seite, es würde nie wieder wie früher sein. Und er fragte sich, ob dies die einzige Grenze war, die in letzter Zeit überschritten worden war.

  Banks wandte sich ab und ging hinaus. Der Wind trieb ihm die Tränen in die Augen, als er losging und nach einem Lokal suchte, wo er in Ruhe eine Zigarette rauchen und ein Bier trinken konnte, bevor er sich auf den Weg zurück nach Hause machte.

 

* VIII

 

An diesem Dienstagabend veranstaltete die Albion-Liga eine ihrer regelmäßigen Partys in einem kleinen, gemieteten Lagerhaus nahe Shipley. In solchen schummerigen und höhlenartigen Räumen fanden auch Raves statt, nur dass bei der Liga kein Ecstasy eingeworfen wurde. Die einzigen Drogen, die hier konsumiert wurden, vermutete Craig, waren das Bier, das aus den Fässern strömte wie Wasser aus einem Schlauch, Nikotin und vielleicht die eine oder andere Amphetaminpille.

  Trotzdem war die Stimmung hitzig. Gitarren, Schlagzeug und Bass donnerten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch simple Songs aus drei Akkorden, die nur gelegentlich von dem Gejaule einer ungewollten Rückkoppelung unterbrochen wurden. Heute Abend spielte die Albion-Liga persönlich, eine improvisierte Naziband, zu der jeder gehörte, der gerade Lust hatte, auf ein Instrument einzudreschen. In diesem Moment grölte der Sänger gerade:

  Wir sind weiß. Sie sind schwarz. Wir wollen sie nicht. Schmeißt sie raus.

  Sehr subtil. Craig wünschte, er könnte Ohrenstöpsel tragen. Von seinem Tisch aus beobachtete er, wie Motcombe den Raum bearbeitete. Er war gut, keine Frage. Smart. In dem Laden mussten mehrere hundert Leute sein, schätzte Craig, und Nev ging durch die Tische, klopfte hier auf eine Schulter und beugte sich dort für ein Lächeln und ein aufmunterndes Wort hinab.

  Es war ein Wunder, wie er es schaffte, sich bei dem gottverdammten Lärm, den die Band machte, Gehör zu verschaffen. Einige der älteren Mitglieder, chronisch arbeitslose Fabrikarbeiter und alternde Skins, hatten sich in die hinterste Ecke gehockt, so weit weg von der Lärmquelle wie möglich. Was hatten sie wohl erwartet, fragte sich Craig. Die Black Dyke Mills Band mit »Deutschland, Deutschland über alles« oder Wagners Ring? Nur die Rockbands zogen die Kids an, und durch schiere Lautstärke und Wiederholung brachten sie auch noch die Botschaft rüber.

  Das echte Problem bei diesem Gig war, dachte Craig, als er sich umschaute, dass es überhaupt nichts zum Ficken gab. Aus irgendeinem Grund hatten Mädchen nicht viel mit Nazis am Hut und im Gegenzug schienen die Kids mit einem enthaltsamen Leben zufrieden zu sein. Der pure Rassenhass geilte sie anscheinend genug auf.

  Die einzigen Weiber, die Craig heute Abend sehen konnte, waren ein paar wasserstoffgefärbte Schlampen, die aussahen wie Rockerbräute auf Rente und die mit den Älteren abhingen. Sonst gab es an einem Tisch nur noch ein paar dürre Weiber mit rasierten Schädeln und Ringen durch die Nasen. Er seufzte und trank einen Schluck Bier. Man kann nicht alles haben. Arbeit ist Arbeit.

  Die Musik verstummte und der Sänger sagte, sie würden eine kleine Pause machen. Gott sei gedankt, dachte Craig. Während er versuchte, Motcombe mit einem Auge im Blick zu behalten, wandte er sich an die drei Skins, die mit ihm am Tisch saßen.

  Himmel, dachte er, die sind doch nicht älter als sechzehn. Einer der Zellenführer aus Leeds hatte sie dabei gesichtet, wie sie auf dem Heimweg von einem Fußballspiel ein bisschen in einer Telefonzelle randaliert hatten. Erst hatte er ihnen bei der Randale geholfen, dann hatte er sie zu der Show eingeladen. Dämlich wie ein Stück Holz, alle drei.

  »Und, was haltet ihr davon?«, fragte Craig und zündete sich eine Zigarette an.

  »Nicht übel«, meinte der Pickelige, der auf den Namen Billy hörte. »Habe aber schon bessere Gitarristen gehört, sorry.«

  »Ja, okay«, sagte Craig achselzuckend. »Die sind noch ziemlich neu, brauchen noch ein bisschen Übung, stimmt schon. Aber bei denen kommt es hauptsächlich auf die Texte an. Das Problem ist, dass es den meisten Rockbands egal ist, was sie sagen, verstehst du? Ich spreche von der Message.«

  »Welche Message?«, wollte der mit dem fliehenden Kinn wissen.

  »Wenn du zugehört hättest«, erklärte Craig, »hättest du gehört, dass sie sagen, wir sollten alle Pakis und Nigger zurück nach Hause schicken und dieses Land wieder auf die Beine stellen.«

  »Ach, ja«, sagte Billy. »>Wir sind weiß, sie sind schwarz, wir wollen sie nicht, schmeißt sie raus.<«

  »Genau.« Craig lächelte. »Du hast also zugehört. Großartig. Das ist genau das, was ich meine, Billy. Der größte Teil der Rockmusik ist dekadenter Scheiß, aber das hier ist echte Musik, Musik mit einer Aussage. Das ist Musik, die die Wahrheit sagt. Sie sagt, wie es ist.«

  »Ja«, stimmte Fliehkinn zu. »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.«

  Aber nur in deinen blöden Träumen, dachte Craig.

  Aus dem Augenwinkel sah er, wie Motcombe ungefähr fünf Tische entfernt jemandem etwas ins Ohr flüsterte. Er konnte nicht erkennen, wer es war. Wie viele Eisen hatte dieser Kerl im Feuer? Die Band hatte zwar aufgehört zu spielen, doch aus den Boxen plärrte immer noch Musik und der Geräuschpegel war hoch.

  »Was haltet ihr davon?«, fragte er. »Von der Message?«

  »Ja, gut«, sagte der mit dem Eierkopf, der zum ersten Mal den Mund aufmachte. »Klingt ganz gut. Schmeißt sie alle raus. Ich meine, mir gefällt's.« Er grinste, entblößte schlechte Zähne und schaute seine Freunde an. »Ich meine, schmeißt die Ärsche raus, oder? Hä? Schickt die schwarzen Ärsche zurück in den Dschungel. Schmeißt die Ärsche raus.«

  »Genau«, sagte Craig. »Du hast es kapiert. Die Sache ist nur die, ein Mensch allein kann nicht viel machen, so ganz allein. Versteht ihr?«

  »Außer wichsen.« Fliehkinn grinste.

  Aha, ein echter Witzbold. Craig lachte. »Ja, außer wichsen. Aber ihr wollt doch keine Wichser sein, oder? Wie auch immer, wenn man sich organisiert mit anderen, die genauso denken, dann kann man eine Menge mehr erreichen. Versteht ihr?«

  »Verstehe«, gab Billy zurück. »Logisch, oder?«

  »Okay«, fuhr Craig fort und bemerkte, dass die Band wieder zu ihren Instrumenten griff. »Dann denkt mal drüber nach.«

  »Worüber?«, wollte Billy wissen.

  »Was ich gerade gesagt habe. Der Liga beizutreten. Wo du die Möglichkeit hast, auch nach deinen Grundsätzen zu handeln. Außerdem haben wir eine Menge Spaß.«

  Aus dem Verstärker kreischte eine Rückkoppelung. Billy hielt sich die Ohren zu. »Ja, merke ich«, sagte er.

  Er war eindeutig der Anführer der drei, dachte Craig, der Alex der Truppe, um einmal Clockwork Orange zu bemühen. Die anderen waren nur seine Droops. Wenn Billy etwas für eine gute Idee hielt, würden sie ihm folgen. Craig bemerkte, dass sich Motcombe im Raum umschaute und dann mit einem der Zellenführer aus Leeds durch den Notausgang nach draußen verschwand. Er stand auf und beugte sich zu den drei Skins hinab. »Dann bleiben wir in Kontakt«, sagte er, während die Musik wieder einsetzte. Er zeigte durch den Raum. »Seht ihr den Kerl an dem Tisch dort, drüben neben der Tür?«

  Billy nickte.

  »Wenn ihr heute Abend noch eintreten wollt, dann ist das euer Mann.«

  »Okay.«

  Er klopfte Billy auf die Schulter. »Ich muss pissen gehen. Wir sehen uns.«

  Lässig ging er zu den Toiletten nahe der Eingangstür. Die Band hatte ihre Hommage für Ian Stuart begonnen, dem verstorbenen Leader von Skrewdriver, der, wie Blood and Honour behauptete, vom Geheimdienst ermordet worden war. Und jetzt hatte auch die Albion-Liga ihren Märtyrer. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis jemand einen Song über Jason Fox schrieb.

  Die Toiletten waren jedenfalls leer, die meisten Leute unterhielten sich entweder lautstark oder hörten der Band zu; so konnte niemand sehen, wie Craig durch die Eingangstür nach draußen schlich. Es wäre auch egal gewesen, in dem Raum war es so heiß und verraucht, dass niemand verdächtigt werden konnte, der hinausging, um etwas frische Luft zu schnappen.

  Statt einfach dort stehen zu bleiben und den Geruch der kühlen, feuchten Nacht zu genießen, ging er um das Gebäude herum zu dem großen Parkplatz. Als er um die Ecke spähte, sah er Motcombe und den Skin aus Leeds vor Motcombes schwarzem Van stehen und reden. Da der Parkplatz nur schlecht beleuchtet war, konnte Craig unbemerkt in die Hocke gehen und näher schleichen. Er versteckte sich hinter einem rostigen, alten Metro und beobachtete die beiden durch die Fenster.

  Er brauchte nicht lange, um festzustellen, dass sie über Geld redeten. Unter Craigs verborgenen Blicken reichte der Skin aus Leeds Motcombe eine Hand voll Scheine. Motcombe holte eine Schachtel aus seinem Van und öffnete sie. Dann legte er die Scheine hinein. Der Skin sagte etwas, das Craig nicht verstehen konnte, dann gaben sie sich die Hand, und er ging allein zurück in das Lagerhaus.

  Motcombe blieb einen Moment stehen, schaute sich um und schnupperte die Luft. Craig zuckte erschreckt zusammen, einen Moment hatte er das Gefühl, Motcombe hätte seine Antennen ausgefahren und seine Anwesenheit gespürt.

  Doch der Moment ging vorüber. Motcombe öffnete die Schachtel, nahm ein paar Scheine heraus und stopfte sie in seine Innentasche. Dann straffte er seine Schultern und stolzierte zurück, um wieder die Menge zu bearbeiten.