* ACHT

 

* I

 

Die niederländische Küste kam in Sicht: erst die hellbraunen Sandbänke, auf die das graue Meer in einer langen weißen Linie klatschte, dann die Deiche, die das gewonnene Land markierten und es vor dem Wasserpegel schützten.

  Banks schaltete seinen Walkman mitten in »Stop breaking down« aus. Wenn er flog, was selten vorkam, hörte er immer laute Musik. Es war das Einzige, was er über dem Brummen der Maschinen hören konnte. Und Exile on Main Street hatte er schon so lange nicht mehr gehört, dass er ganz vergessen hatte, wie gut die Platte war. Außerdem hatte der raue Rhythm and Blues der Rolling Stones den zusätzlichen Vorteil, die deprimierenden Gedanken zu verdrängen.

  Über dem Mosaik der grünen und braunen Felder flog das Flugzeug eine Kurve und verlor an Höhe, und bald konnte Banks auf den langen, geraden Straßen Autos erkennen und Hausdächer in der Mittagssonne glitzern sehen. Das Wetter war an diesem Herbsttag in den Niederlanden genauso herrlich, wie es in Yorkshire gewesen war.

  Banks rieb sich die Augen. Er hatte eine schlaflose Nacht in Brians Zimmer verbracht, weil Sandra der Meinung gewesen war, dass alles nur schwieriger werden würde, wenn sie in einem Bett schliefen. Er wusste, dass sie Recht hatte, aber es wurmte ihn dennoch. Es ging nicht einmal um Sex. Irgendwie war es einfach ungerecht, dass man, wenn einem der Verlust eines Menschen drohte, den man zwanzig Jahre lang geliebt hatte, nicht einmal mehr eine letzte Nacht in Zuneigung und Gesellschaft verbringen durfte, an die man sich erinnern konnte. Das löste die gleiche Trauer aus wie all die Dinge, die ungesagt geblieben waren, wenn jemand starb.

  Auch wenn Sandra sagte, sie habe sich schon lange mit dem Problem auseinander gesetzt - für Banks war ihre Entscheidung ein Schock gewesen. Vielleicht bewies das nur ihr Argument, er habe sich zu wenig um sie gekümmert, habe sich von der Beziehung entfernt, doch irgendwie konnten ihre Worte den Schlag nicht dämpfen. Jetzt fühlte er sich vor allem betäubt, wie eine erbärmliche Gestalt, die schwerelos durch den Raum trieb.

  Wenn er an Sandra dachte, dachte er vor allem an ihre frühe Zeit in London, wo sie vor ihrer Hochzeit ungefähr zwei Jahre lang zusammengelebt hatten. Es waren die siebziger Jahre gewesen. Banks hatte gerade sein Diplom gemacht und spielte bereits mit dem Gedanken, zur Polizei zu gehen, und Sandra nahm Kurse für Sekretärinnen. Jeden Sonntag, wenn er nicht arbeiten musste, waren sie lange durch die Stadt und die Parkanlagen spazieren gegangen, wobei Sandra ihre Fotografie erprobte und Banks seinen Polizistenblick für verdächtige Charaktere entwickelte. In seiner Erinnerung war es bei diesen Spaziergängen irgendwie immer Herbst gewesen: sonnig, aber kühl, mit dem Rascheln des Laubes unter den Sohlen. Und wenn sie zurück in die winzige Wohnung in Notting Hill gekommen waren, hatten sie Musik gehört, gelacht, geredet, Wein getrunken und sich geliebt.

  Dann kam die Ehe, Kinder, finanzielle Verpflichtungen und ein Beruf, der immer mehr von Banks' Zeit und Energie in Anspruch nahm. Die meisten seiner Freunde bei der Polizei waren vor dem Ende der Siebziger geschieden, und alle fragten sich verwundert und voll Neid, wie er und Sandra es schafften, zusammenzubleiben. Genau konnte er es nicht sagen, aber hauptsächlich führte er es auf den unabhängigen Geist seiner Frau zurück. Was das anbelangte, hatte Sandra Recht. Sie war nicht die Sorte Frau, die einfach zu Hause blieb und darauf wartete, dass er auftauchte, jammernd und wütend werdend, wenn das Essen verkocht war und die Kinder nach Gutenachtgeschichten von Daddy schrien. Sandra ging ihren eigenen Weg; sie hatte ihre eigenen Interessen und ihren eigenen Freundeskreis. Da Banks kaum zu Hause war, war die Erziehung der Kinder natürlich vor allem an ihr hängen geblieben, aber sie hatte sich nie beschwert. Und für eine lange Zeit hatte es funktioniert.

  Nach Banks' Fast-Zusammenbruch bei der Londoner Polizei und einem langen, steinigen Abschnitt in der Ehe waren sie nach Eastvale gezogen. Dort, so hatte Banks geglaubt, würde alles wieder zur Ruhe kommen, in der ländlichen und friedlichen Umgebung würden die beiden gemeinsam den Übergang in die mittlere Lebensphase genießen; all die Dinge, die den meisten Paaren erfahrungsgemäß eine lange Ehe bescherten.

  Falsch gedacht.

  Er schaute auf seine Uhr. Sandra würde mittlerweile schon im Zug nach Croydon sitzen, und was auch immer geschah, zu welcher Entscheidung sie letzten Endes auch gelangte, es würde zwischen den beiden nie mehr wie früher sein. Und er konnte nichts daran ändern. Überhaupt nichts.

  Er nahm die Morgenausgabe der Yorkshire Post von dem leeren Platz neben ihm und betrachtete erneut die Schlagzeile: »HELD DES ZWEITEN WELTKRIEGES STIRBT BEI BEERDIGUNG DES ENKELS - Neonazis sind verantwortlich, sagt die Enkelin.« Es gab kein Foto, doch die grundlegenden Fakten waren geschildert: der Hitlergruß, Frank Hepplethwaites Attacke, Maureen Fox' beherztes Eingreifen. Und daneben gab es ein kurzes Interview mit Motcombe selbst.

  Er bedauere den »sinnlosen Tod« des »Kriegshelden« Frank Hepplethwaite zutiefst, erklärte Motcombe darin, wies aber gleichzeitig darauf hin, welche Ironie es wäre, dass der arme alte Mann gestorben sei, weil er die einzigen Menschen angegriffen habe, die es gewagt hätten, gerechte Strafen für die Mörder seines Enkels zu fordern. Nach ruhiger Überlegung würden selbstverständlich weder er noch irgendein Mitglied seiner Organisation beabsichtigen, Strafanzeige gegen Maureen Fox zu erstatten, obwohl die Kopfwunde, die sie ihm zugefügt hätte, mit fünf Stichen hätte genäht werden müssen. In der Hitze des Gefechtes seien die Dinge lediglich außer Kontrolle geraten, und er könne sogar verstehen, dass sie ihn und seine Freunde mit einem Brett angegriffen habe. In der Trauer verhielten sich die Menschen unvernünftig, gestand er zu.

  Natürlich, fuhr Motcombe fort, wüsste jeder, wer Jason Fox getötet hatte, und außerdem wüsste jeder, warum die Polizei machtlos war. So wären die Zustände heutzutage nun einmal. Er hätte Verständnis, doch wenn die Regierung nicht endlich handeln und etwas gegen die Immigration unternehmen würde, dann ...

  Jason bezeichnete er als Märtyrer des Kampfes. Jeder wahre Engländer sollte ihn ehren. Wenn mehr Leute auf Motcombes Idee hören würden, könnten sich die Dinge nur zum Besseren wenden ... Gerechterweise musste man sagen, dass die Reporterin es geschafft hatte, Motcombe davon abzuhalten, das gesamte Interview zu Propaganda zu machen. Oder der Textchef hatte umfangreiche Kürzungen vorgenommen. Doch selbst so hätte Banks bei dem Interview kotzen können. Wenn es in dieser Geschichte einen Märtyrer gab, dann war das Frank Hepplethwaite.

  Frank erinnerte Banks in vielerlei Hinsicht an seinen Vater. Beide hatten im Krieg gekämpft und keiner sprach viel darüber. Ihre Einstellungen zu Ausländern waren auch sehr ähnlich. Banks Vater mochte sich über die Immigranten beklagen, die das Land überschwemmten und die Welt, welche er sein Leben lang gekannt hatte, veränderten und sie plötzlich fremd und ungewohnt erscheinen ließen, sogar bedrohlich - und in der gleichen Weise war Frank vermutlich seine Bemerkung über den geizigen Juden herausgerutscht -, aber wenn es hart auf hart kam, wenn jemand Hilfe brauchte, ob nun ein Schwarzer oder ein Jude, dann hätte Banks' Vater in der ersten Reihe gestanden und Frank Hepplethwaite wahrscheinlich gleich neben ihm.

  Sowenig akzeptabel selbst diese Einstellungen zu Ausländern waren, dachte Banks, sie waren doch himmelweit entfernt von denen Neville Motcombes und seinesgleichen. Die Sichtweise von Banks' Vater, genauso wie Franks, basierte auf Unkenntnis und Sorge, auf Angst vor Veränderung, nicht auf Hass. Motcombes Hass entsprang vielleicht auch einer anfänglichen Angst, doch das entschuldigte noch lange nicht den Weg, den er eingeschlagen hatte.

  Die Räder setzten holpernd auf der Landepiste auf und bald strömte Banks mit der Menge in die Ankunftshalle. Er reiste mit leichtem Handgepäck und musste deshalb nicht an der Gepäckausgabe warten. Der Flughafen war eine kleine Stadt für sich und voll reger Betriebsamkeit. Hier gab es alles, von Geschäften über Banken und einem Postamt bis hin zu Schaltern für Touristeninformationen. Ein Kollege hatte ihm vor einer Weile erzählt, dass in Schiphol sogar Pornografie offen angeboten wurde. Er hatte weder Zeit noch Lust, danach zu suchen.

  Das Erste, was Banks brauchte, als er aus dem Flugzeug kam, war eine Zigarette. Er folgte der Beschilderung zur Bushaltestelle und sah, dass er fünfzehn Minuten zu warten hatte. Perfekt. Er rauchte gemächlich eine Zigarette und stieg dann in den Bus. Und bald jagte er unter den Netzen der Oberleitung und den hohen Straßenlaternen über die Autobahn.

  Die Aufregung über die Ankunft verdrängte für den Moment Banks' Probleme, und er begann sich an seiner Rebellion zu erfreuen, seinem kleinen Akt der Verantwortungslosigkeit. Damit niemand glaubte, er hätte sich komplett in Luft aufgelöst, hatte er Susan angerufen und ihr gesagt, dass er über das Wochenende freinahm, um nach Amsterdam zu fliegen, und irgendwann am Montag zurück sein wollte. Susan hatte verwirrt und überrascht geklungen, hatte aber keinen Kommentar abgegeben. Was sollte sie auch sagen? Banks war ihr Chef. Als der Bus Richtung Stadtzentrum fuhr, begann er sich auf das Kommende zu freuen, was auch immer es bringen mochte. Schlimmer als das Leben in Eastvale konnte es im Moment nicht sein.

  Er war schon einmal in Amsterdam gewesen, mit Sandra, in einem Sommer, als sich beide zwischen der Uni und dem Berufsbeginn befunden hatten. Er erinnerte sich an die Radfahrer, die Grachten, Trambahnen und Hausboote. Damals war die Stadt noch von dem übrig gebliebenen Geist der sechziger Jahre erfüllt gewesen, und sie hatten alles ausprobiert, solange sie noch konnten: das Paradiso, das Milky Way, den Von-delpark, die Drogen - nun ja, immerhin Marihuana -, und genauso hatten sie alle Museen und Sehenswürdigkeiten besucht.

  Stationsplein sah noch aus wie früher. Die Luft war warm und nur leicht mit dem Gestank der in die Grachten geleiteten Abwasser versetzt. In alle Richtungen fuhren quietschend Trambahnen. Ein Ausflugsboot mit Panoramafenster legte ab. Kleine Wellen klatschten gegen die Steinmole.

  Unter die Touristen der Nachsaison und das normale Volk waren alle Jugendmoden der Nachhippiezeit gemischt: Punkfrisuren, ein grüner Irokese, nietenbesetzte Lederwesten, kurzes, gebleichtes Haar, Ohrringe, Nasenringe, gepiercte Augenbrauen.

  In der Nähe fand Banks den Taxistand. Nachdem er im Flugzeug und im Bus eingepfercht gewesen war, wäre er gerne zu Fuß gegangen, aber er konnte sich noch nicht orientieren. Er wusste nicht, wie er zum Hotel gelangen sollte oder wie weit es war.

  Das Taxi war sauber und der Fahrer schien den Namen des Hotels zu kennen. Bald hatte er den Wagen vom Platz gelenkt, dann fuhren sie eine breite, belebte Straße entlang, die mit Bäumen, Arkaden, Geschäften und Cafés gesäumt war. Auf den Gehsteigen waren für Anfang Oktober eine Menge Touristen unterwegs, und Banks sah, dass einige der Cafés und Restaurants Tische hinausgestellt hatten. Er öffnete das Fenster ein wenig und ließ den Duft des frisch gebrühten Kaffees herein. Gott, es war wie ein Sommertag.

  Der Fahrer bog ab, überquerte eine malerische Brücke und folgte dann einer der Grachten. Nach ein paar weiteren Abzweigungen hielt er schließlich vor dem Hotel in der Keizersgracht an. Banks zahlte den Fahrpreis, eine exorbitante Summe Gulden für die kurze Strecke, und hob dann seine Reisetasche aus dem Kofferraum.

  Er schaute hinauf auf die geschlossene Häuserreihe vor ihm. Das Hotel war ein kleines, schmales Gebäude, ungefähr sechs Stockwerke hoch, mit einer gelben Sandsteinfassade und einem Giebeldach. Es war in eine lange Reihe unterschiedlicher Gebäude aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eingekeilt, die, wie Banks vermutete, wahrscheinlich einmal Häuser von Kaufleuten gewesen waren. Manche waren aus roten Ziegeln erbaut, manche aus Stein; manche waren schwarz oder grau gestrichen worden; manche hatten Giebel-, manche Flachdächer. Aber alle schienen eine Menge Fenster zu haben.

  Banks wich ein paar Fahrradfahrern aus und ging in die Hotellobby. Der Mann an der Rezeption sprach gutes Englisch. Banks erinnerte sich von seiner früheren Reise, dass die meisten Menschen in Amsterdam gut Englisch sprachen. Sie hatten keine Wahl. Welcher Engländer gab sich schließlich die Mühe, Niederländisch zu lernen?

  Ja, sagte der Mann, sein Zimmer sei fertig, und er war erfreut, ihm eines mit Blick auf die Gracht anbieten zu können. Frühstück würde im Saal im Erdgeschoss zwischen sieben und neun Uhr serviert. Er entschuldigte sich, dass das Hotel keine eigene Bar hatte, aber es gab viele gute Etablissements in der Nähe, die man zu Fuß erreichen konnte. Er wünschte Banks einen angenehmen Aufenthalt.

  Als Banks seine Kreditkarte hervorzog, winkte der Empfangschef ab und sagte ihm, dass das Zimmer bereits bis Montagmorgen bezahlt worden war. Banks versuchte herauszufinden, wer die Rechnung beglichen hatte, doch da wurde der Mann äußerst verschlossen und sein Englisch verschlechterte sich zunehmend. Banks gab es auf.

  Dann händigte der Empfangschef ihm eine Nachricht aus: ein einzelnes Blatt Papier, auf dem in getippten Buchstaben stand: »De Kuyper's: 16.00 Uhr.«

  Banks fragte, was »De Kuyper's« bedeutete, und erhielt die Antwort, dass es ein Café war, eine Art niederländischer Pub, und sich ungefähr hundert Meter zu seiner Linken an der Gracht befand. Es lag an einer ruhigen Straßenecke und würde vermutlich ein paar Tische draußen haben. Ein sehr nettes Lokal. Er könne es nicht verfehlen.

  Das Zimmer war eine Mansarde mit Giebeln in der fünften Etage, zu der enge Treppen hinaufführten. Als Banks oben ankam, keuchte er und hatte Schweißperlen auf der Stirn.

  Obwohl man sich in dem Zimmer kaum rühren konnte und das Bett winzig war, war es sauber. Über die Decke verliefen schwarze Holzbalken, die Wände waren mit blassblauer Tapete bedeckt. Es duftete angenehm nach Zitrone. Auf dem Nachttisch stand neben der Leselampe und dem Telefon ein blauer Aschenbecher. Außerdem gab eS einen kleinen Fernseher und ein Bad.

  Der Grachtenblick machte die Unzulänglichkeiten mehr als wett. Banks gefiel besonders die Art, wie sich die Decke und die schwarz gestrichenen Balken zum Giebelfenster neigten und den Blick förmlich hinauslenkten. Und tatsächlich schaute er hinunter auf die Keizersgracht und die hohen, eleganten Fassaden der Gebäude gegenüber. In dem Zimmer war es etwas zu warm und zu stickig, deshalb öffnete er das Fenster und ließ die entfernten Straßengeräusche herein. Er schaute auf seine Uhr. Erst nach zwei. Noch eine Menge Zeit für eine Dusche und ein Nickerchen vor dem geheimnisvollen Treffen. Doch zuerst griff er nach dem Telefon. Es gab immer noch die Möglichkeit, dass Sandra ihre Meinung geändert hatte.

 

* II

 

Susan Gay machte sich Sorgen um Banks. Während sie mit einem schwarzen Kaffee und einem sündhaft kalorienreichen Kit-Kat zurück in ihr Büro ging, musste sie an den kurzen, verwirrenden Anruf denken. Was dachte er sich dabei, mitten in einer brisanten Ermittlung ein paar Tage freizunehmen? Wo sie gerade kurz davor waren, Mark Wood aufzuspüren. Na gut, es war Wochenende. Auf jeden Fall fast. Aber war ihm denn nicht klar, dass Jimmy Riddle durchdrehen würde, wenn er es herausfand? Selbst Superintendent Gristhorpe würde verärgert sein.

  Es musste mehr dahinter stecken. Sein Tonfall bei dem Telefonat machte ihr Sorgen. Kurz angebunden. Zerstreut. Das sah ihm gar nicht ähnlich.

  Lag es an dem, was er in Amsterdam wollte? Hatte ihn das beunruhigt? Waren Gefahren mit der Reise verbunden oder etwas Illegales? Anders als manche Polizisten, die Susan kannte, überschritt Banks nur selten die Grenzen des Gesetzes, aber wenn er es tat - und irgendwann tat es jeder Polizist -, dann sah er keine andere Möglichkeit mehr. Verfolgte er eine Spur?

  Aber sie konnte nur spekulieren, dachte sie, und wahrscheinlich würde sie es nicht erfahren, ehe er zurückkam und seine Motive verriet. Falls er sie überhaupt verriet. Bis dahin war es am besten, mit ihrer Arbeit fortzufahren und aufzuhören, sich wie eine Glucke zu benehmen.

  Bisher hatte sie noch nicht viel Glück bei der Suche nach Mark Wood gehabt. Alle Eintragungen im Telefonverzeichnis zu überprüfen würde eine Ewigkeit dauern. Und selbst dann könnte sich noch herausstellen, dass er nicht in der Umgebung von Leeds lebte oder kein Telefon hatte. Sergeant Hatchley war heute in Leeds und suchte mit einem seiner alten Kumpels vom Revier in Millgarth die Besitztümer von Motcombe auf. Vielleicht würden sie etwas herausfinden, doch sie bezweifelte es.

  Sie wollte gerade den Hörer abnehmen und mit dem Durchgehen ihrer Liste beginnen, als das Telefon klingelte.

  »Spreche ich mit Detective Constable Gay?«, fragte die Stimme. »Susan?«

  »Ja.« Sie wusste nicht, wer es war.

  »Hier ist Vic. Vic Manson, Fingerabdrücke.«

  »Ach, natürlich. Tut mir Leid, im ersten Moment habe ich Ihre Stimme nicht erkannt. Was gibt's?«

  »Ich habe gerade versucht, Alan zu erreichen, aber anscheinend ist er nicht im Büro. Und zu Hause war nur der Anrufbeantworter dran. Wissen Sie, wo er ist?«

  »Er wird heute leider den ganzen Tag nicht kommen.«

  »Doch nicht krank, hoffe ich?«

  »Kann ich Ihnen helfen, Vic?«

  »Ja. Ja, natürlich. Kennen Sie sich ein bisschen mit Fingerabdrücken aus?«

  »Nicht besonders. Haben Sie Neuigkeiten?«

  »Na ja, in gewisser Weise. Aber leider keine besonders guten. Nicht so gut, wie ich gehofft hatte.«

  »Ich höre.«

  »In Ordnung. Also, als ich Anfang der Woche mit Alan gesprochen habe, habe ich gerade das Glas der zerbrochenen Flasche untersucht, die bei Jason Fox' Leiche gefunden wurde.«

  »Ich erinnere mich«, sagte Susan. »Er hat irgendwas von Besprühen mit Sekundenkleber in einem Aquarium gesagt.«

  Manson lachte. »Ja. Genau genommen handelte es sich um ein Zyanocrylat-Dampfbad.«

  »Was Sie nicht sagen.«

  »Ja ... äh, aber leider hat es nicht funktioniert. Wir haben auf dem Glas nichts gefunden. Wahrscheinlich wegen des Regens.«

  »Und das war's?«

  »Nicht ganz. Haben Sie schon einmal etwas von Ninhydrin gehört?«

  »Ist das nicht die Chemikalie, mit der man Abdrücke von Papier bekommen kann?«

  »So in der Art, ja. Ninhydrin macht die Aminosäuren sichtbar, die sich in den Hautleisten verschwitzter Finger ablagern, und zwar vor allem, wenn sie auf Papier übertragen werden.«

  »Verstehe. Aber ich dachte, wir hätten es hier mit Glas zu tun, Vic, und nicht mit Papier.«

  »Richtig«, sagte Manson. »Hatten wir. Aber nur, solange wir nicht weiterkamen. Dann habe ich jedoch ein paar Glassplitter gefunden, auf denen teilweise noch das Etikett klebte. Glücklicherweise lagen zwei von diesen Splittern unter der Leiche, mit der Etikettseite nach oben, ohne jedoch die Kleidung des Opfers zu berühren. Sie waren also einigermaßen vor dem Regen geschützt. Aminosäuren sind nämlich wasserlöslich. Na gut, ich will jetzt nicht zu sehr in die technischen Details gehen, auf jeden Fall hat die Untersuchung viel Zeit in Anspruch genommen. Ein Splitter ist mir kaputtgegangen, aber nachdem ich ein paar Stellen mit Ninhydrin behandelt habe, konnte ich unter Laserlicht ein viel besseres Leistendetail erkennen.«

  »Sie haben also einen Abdruck?«

  »Moment, Moment«, sagte Manson. »Ich habe Ihnen gleich gesagt, dass Sie nicht zu viel erwarten können. Was ich erhalten habe, ist ein partieller Fingerabdruck. Sehr partiell. Selbst mit einer Computervergrößerung konnte ich nicht viel mehr herausholen. Und denken Sie daran, diese Flasche könnte durch die Hände einer ganzen Reihe Leute gegangen sein. Der Zulieferer, der Wirt, der Barkeeper. Jeder könnte sie berührt haben.«

  »Er ist also wertlos, meinen Sie?«

  »Nicht ganz. Vor Gericht würde er natürlich nicht bestehen. Der Abdruck bietet nicht genug Vergleichspunkte. Ich meine, letztlich könnte es auch mein eigener sein. Gut, ich übertreibe, aber Sie wissen, was ich meine.«

  »Ja«, sagte Susan enttäuscht. Langsam wurde sie ungeduldig. »Bringt uns das nun überhaupt weiter?«

  »Tja«, sagte Manson, »ich habe den Abdruck in das neue computergesteuerte Abgleichsystem gegeben und eine Liste von Möglichkeiten erhalten. Ich habe die Suche auf Yorkshire beschränkt, außerdem trifft sie natürlich nur auf Leute zu, die wir in den Akten haben.«

  »Und der Abdruck könnte zu jeder Person auf der Liste gehören?«

  »Genau genommen, ja. Auf jeden Fall, was die Beweisführung vor Gericht betrifft. Tut mir Leid. Aber wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen rüberschicken.«

  »Einen Moment«, sagte Susan, die spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. »Liegt sie vor Ihnen? Die Liste?«

  »Ja.«

  »Machen wir mal einen Versuch. Könnten Sie einen Namen überprüfen?«

  »Natürlich.«

  »Versuchen Sie Wood. Mark Wood.«

  Es war den Versuch wert. In der folgenden Stille konnte Susan ihr Herz schneller schlagen hören. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, als Manson schließlich sagte: »Ja. Ja, es gibt einen Mark Wood. Ich habe hier natürlich nicht alle Einzelheiten, aber West Yorkshire hat wahrscheinlich eine Akte über ihn.«

  »West Yorkshire?«

  »Ja. Da wohnt er. In der Gegend von Castleford. Wenn er noch die gleiche Adresse hat.«

  »Sie haben die Adresse?«

  »Ja.« Er las sie ihr vor.

  »Und lassen Sie mich raten«, sagte Susan. »Er wurde als Fußballhooligan verurteilt oder wegen irgendeiner Sache mit rassistischem Hintergrund?«

  »Äh, nein, eigentlich nicht«, sagte Manson.

  »Was dann?«

  »Drogen.«

  »Drogen?«, wiederholte Susan. »Interessant. Vielen Dank, Vic.«

  »Keine Ursache. Und sagen Sie Alan, dass ich angerufen habe, ja?«

  Susan lächelte. »Mache ich.«

  Vic Manson hatte zwar gesagt, dass der Beweis vor Gericht nicht bestehen würde, aber das interessierte Susan im Moment nicht. Die Verbindung zwischen dem partiellen Fingerabdruck und Jason Fox' Webdesign-Geschäftspartner war einfach zu stark, um Zufall zu sein.

  Anfänglich hatte Susan gedacht, der andere junge Mann müsste vor dem Angriff weggelaufen sein oder Jason allein gelassen haben. Jetzt ergab sich allerdings ein völlig neues Bild. Vielleicht konnten sie Mark Wood nicht aufgrund des Fingerabdruckes überführen, aber sie konnten nun versuchen, ein Geständnis oder zwingendere Beweise zu erhalten. Vor allem sollten die Leute im Jubilee ihn eigentlich identifizieren können.

  Aber zuerst, dachte Susan, während sie nach ihrer Jacke und ihrem Handy griff, musste sie ihn finden. Bereits jetzt bebte sie vor Aufregung, spürte den Kitzel der Jagd, und sie dachte gar nicht daran, in Eastvale zu bleiben, während Sergeant Hatchley seinen Spaß hatte und den ganzen Ruhm einheimste.

 

* III

 

Mit noch feuchtem Haar trat Banks hinaus in die Wärme des späten Nachmittags. Sandra war nicht zu Hause gewesen, als er angerufen hatte; sie hatte ihre Meinung also nicht geändert. Obwohl er im Grunde nichts anderes erwartet hatte, war er ungeheuer enttäuscht gewesen, als er seine eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter gehört hatte.

  Doch nachdem er ungefähr eine Stunde lang über den Walkman Blasquintette von Mozart gehört und danach eine lange, heiße Dusche genommen hatte, begann er schon optimistischer zu werden als noch im Flugzeug. Sandra würde schließlich zurückkehren. Sie würde ein paar Tage bei ihren Eltern verbringen, um über den Krach hinwegzukommen, und dann würde sich bald wieder alles zwischen ihnen normalisieren. Na ja, fast. Sie mussten viel miteinander reden und eine Menge klären, aber sie würden es schaffen. Sie hatten es immer geschafft.

  Als er auf die Keizersgracht ging, hatte er immer noch dieses Gefühl der Distanz, das er schon bei der Ankunft gespürt hatte. Als wären die Grachten, die Fahrräder, die Hausboote, als wäre die gesamte Umgebung irgendwie nicht ganz real, nicht mit seinem Leben verbunden. Könnte es sein, dass er eine Art Parallelleben führte, fragte er sich, dass zur gleichen Zeit zu Hause in Eastvale ein anderes Leben ablief, in welchem er mit Sandra über die Zukunft sprach?

  Oder machte er gerade eine Zeitreise? Würde er, nachdem er das Gefühl hatte, ein Jahr weg gewesen zu sein, plötzlich nur Sekunden nach seiner Abreise nach Eastvale zurückkehren? Oder, schlimmer, würde er wieder mitten in diesem schrecklichen Gespräch des vergangenen Abends landen, wenige Augenblicke bevor der geheimnisvolle Umschlag eintraf?

  Während er die Fassaden der alten Gebäude entlang der Gracht bewunderte, versuchte er das Gefühl abzuschütteln. Am Steinkai waren Reihen von Fahrrädern ^abgestellt und ganz in der Nähe waren Hausboote vertäut. Das musste ein interessantes Leben sein, dachte Banks, auf dem Wasser zu wohnen. Vielleicht sollte er es ausprobieren. Er war jetzt wieder sein eigener Herr, er konnte tun, was immer er wollte, und leben, wo es ihm gefiel. Natürlich nur, solange er eine Einkommensquelle hatte. Aber es gab ja noch Europol oder Interpol.

  Die Sonne war hinter einem Wolkenschleier verschwunden, wodurch das Licht leicht dunstig oder neblig erschien. Doch es war noch warm und er legte beim Gehen seine Jacke über die Schulter.

  Zwei hübsche junge Mädchen gingen an ihm vorbei, ihrem Äußeren nach zu urteilen Studentinnen, und die mit dem langen, hennagefärbten Haar lächelte ihn an. Ohne Frage ein flirtendes Lächeln. Absurderweise fühlte sich Banks geschmeichelt und zufrieden mit sich; auch war er ein wenig verlegen. Na bitte, da war er nun Anfang vierzig und die jungen Mädchen warfen ihm immer noch Blicke zu.

  Anscheinend sah er trotz der leicht ergrauten Schläfen seines kurz geschnittenen, schwarzen Haares jugendlich aus, und er wusste, dass er für sein Alter ganz gut in Form war - immer noch schlank und rank, wirkte er auf eine drahtige und kompakte Art kräftig. Zwanglos mit Jeans, Turnschuhen und einem hellblauen Jeanshemd bekleidet, erschien er wahrscheinlich jünger, als er war. Und obwohl sein eher langes, kantiges Gesicht nicht im üblichen Sinn des Wortes gut aussehend war, war es doch ein Gesicht, das den Frauen aufzufallen schien. Sandra hatte immer gesagt, es würde an seinen lebendigen, ausdrucksvollen dunkelblauen Augen liegen.

  Er erreichte eine kleine Brücke mit schwarzem Eisengeländer. An der Ecke stand ein Blumenhändler, der intensive Duft der Rosen erfüllte die Luft. Wie es Gerüchen eigen ist, rief der Duft eine lebhafte Erinnerung in ihm wach, die mit einem seiner Jahre zurückliegenden Spaziergänge mit Sandra zu tun hatte, doch er verdrängte sie. Einen Moment lang blieb er auf das Geländer gelehnt stehen und schaute hinab auf das trübe Wasser, auf dem zwischen den Regenbögen des Dieselöls Schokoladenverpackungen und Zigarettenschachteln trieben, holte dann tief Luft und ging zurück auf die Straße.

  Wie der Empfangschef gesagt hatte, befand sich gleich an der Straßenecke der Pub De Kuyper's. Die Fassade bestand aus dunkelbraunem Holz und ungeschliffenen Rauchglasfenstern, auf denen in großen weißen Buchstaben der Name stand. Vor dem Lokal standen ein paar kleine, runde Tische, von denen im Moment keiner besetzt war. Banks warf einen Blick in die mit dunklem Holz vertäfelte Bar, sah niemanden, den er kannte oder der Notiz von ihm nahm, und ging wieder hinaus. Er klopfte auf seine Jackentaschen, um zu prüfen, ob er Zigaretten und Brieftasche dabei hatte, hängte sie dann über eine Stuhllehne und setzte sich.

  Wie beabsichtigt war er zu früh für das Treffen. Obwohl er nicht mit Gefahr rechnete, nicht hier im Freien an einem warmen Nachmittag, wollte er so viele Blickwinkel wie möglich haben. Sein Tisch war perfekt dafür. Von seinem Platz aus konnte er an der gewundenen Gracht entlang bis jenseits des Hotels schauen, von wo er gekommen war, und in die andere Richtung konnte er auch ziemlich weit sehen. Außerdem hatte er einen ungetrübten Blick auf das gegenüberliegende Ufer. Irgendwo in der Ferne konnte er eine Drehorgel hören.

  Als der mit einer weißen Schürze bekleidete Kellner vorbeikam, bestellte Banks eine Flasche De Köninck, ein dunkles belgisches Bier, das er einmal im Belgo, einem Londoner Restaurant, probiert hatte und das ihm damals geschmeckt hatte. Das Bier vor sich, zündete er eine Zigarette an, lehnte sich wartend zurück und beobachtete die an der Gracht vorbeigehenden, lachenden und redenden Leute. Er hatte bereits einen Verdacht, wer gleich auftauchen würde.

  Und tatsächlich musste er nicht lange warten. Er hatte gerade seine zweite Zigarette angezündet und sein Bier zur Hälfte geleert, als ihm aus dem Augenwinkel jemand auffiel, der aus der engen Seitenstraße kam.

  Es war ein vertrauter Anblick, und Banks gratulierte sich selbst dazu, dass er richtig getippt hatte: Niemand anderer als Detective Superintendent Richard »Dirty Dick« Burgess in Fleisch und Blut kam auf ihn zu. So, wie es aussah, trug er ein bisschen mehr Fleisch als bei ihren letzten Treffen, das meiste davon an seinem Bauch. Und sein Haar war mittlerweile fast genauso grau wie seine zynischen Augen. Burgess arbeitete für irgendeine Sondereinheit von Scotland Yard, und wann immer er auf der Bildfläche erschien, wusste Banks, dass es Komplikationen geben würde.

  »Banks, alter Gauner«, sagte Burgess mit einem Cockneyakzent, den er eigentlich, wie Banks wusste, schon vor Jahren verloren hatte. Dann schlug er Banks auf den Rücken und nahm einen Stuhl. »Was dagegen, wenn ich mich dazusetze?«

 

* IV

 

Als Susan die Autobahn an der Ausfahrt nach Garforth verließ, hatte sich ein beständiger Nieselregen eingerichtet, und sie musste die Scheibenwischer anschalten, um den ganzen Dreck abzuwaschen, den die LKWs aufgewirbelt hatten. Doch bis Castleford war es nicht mehr weit und schon bald kamen die gewaltigen Kühltürme des Kraftwerkes Ferrybridge in Sicht. Ohne große Probleme fand sie die Straße nach Ferry Fryston und hielt dann auf dem Parkplatz eines großen Pubs an, um auf ihre Karte zu schauen und die Straße zu finden, die sie suchte.

  Mark Wood wohnte in einem »Plattenbau« in einem der Sozialviertel der frühen Nachkriegszeit. Dabei handelte es sich um Häuser - hauptsächlich Doppelhäuser oder kurze Reihenhausblöcke -, die aus vorgefertigten Betonplatten errichtet waren, welche vor Ort zusammengefügt wurden. In dieser Gegend waren sie ursprünglich für Zechenarbeiter gebaut worden, doch nachdem alle örtlichen Zechen während der Thatcher-Zeit geschlossen worden waren, stellten sie nun ein Schnäppchen für Leute dar, die billig wohnen wollten.

  Es waren keine besonders guten Wohnungen. Sie hatten keine Zentralheizung und die Wände waren feucht. Im Regen, dachte Susan, sahen die Betonmauern wie Haferschleim aus.

  Susan fuhr durch ein Gewirr aus »Alleen«, »Stiegen«, »Gassen« und »Wegen«, die sich schlängelten und wanden, ehe sie, wie am Telefon abgesprochen, gleich an der Ecke vor Woods Haus Hatchleys dunkelgrünen Astra erblickte.

  Susan parkte hinter ihm, schaltete den Motor aus, lief dann schnell hinüber und sprang auf den Beifahrersitz.

  »Tut mir Leid, dass Sie warten mussten, Sarge«, sagte sie. »Drei Autounfälle beim Yorker Dreieck.«

  »Schon gut«, erwiderte Hatchley und drückte seine-Zigarette in dem bereits überfüllten Aschenbecher aus. »Bin selbst gerade erst angekommen. Die Adresse findet man ja kaum. Und wohnen wollte ich in dem Scheißkaff auch nicht.«

  »Wie sollen wir vorgehen?«

  Hatchley rutschte auf seinem Sitz umher und fuhr mit seinen kurzen, dicken Fingern unter den Kragen, als wollte er ihn lockern. »Warum fangen Sie nicht mit der Befragung an?«, sagte er. »Das ist eine gute Übung, jetzt, wo Sie Sergeant werden. Ich springe ein, wenn ich es für notwendig halte.«

  »Gut«, sagte Susan und musste innerlich lächeln. Sie wusste, dass Hatchley die Durchführung von offiziellen Befragungen hasste, es sei denn, er sprach entweder mit einem Informanten oder einem Gewohnheitskriminellen. Da sie bei Wood noch nicht wussten, mit wem sie es zu tun hatten, überließ Hatchley die Führungsrolle lieber ihr und würde wohl erst eingreifen, wenn sie das Gespräch in eine interessante Richtung geführt oder etwas versäumt hatte.

  Wie sich herausstellte, hatte Hatchley sogar noch mehr Gründe, die Befragung Susan zu überlassen. Als sie an die Tür klopften, öffnete eine junge Frau, und bei der Befragung von Frauen war Hatchley nutzlos. Nachdem sie erfahren hatten, dass Mark »nur mal kurz« in den Laden gegangen war, um Zigaretten zu kaufen, und in wenigen Minuten zurück sein würde, zeigte Susan ihren Dienstausweis und wurde ohne Probleme hereingelassen. Gut, dachte sie, damit hatte sie die Möglichkeit, zuerst allein mit der Freundin zu sprechen.

  Innen war das Haus recht sauber und aufgeräumt, doch Susans jederzeit empfindlicher Geruchssinn reagierte sofort auf die Babygerüche - warme Milch, breiiges Essen und natürlich die Schweinerei, wenn alles am anderen Ende wieder herauskam, die zudem noch mit dem Gestank eines Katzenklos vermischt waren. Und prompt entdeckte sie eine schwarz-weiße Katze, die durch das Zimmer schlich, und ein Baby, das in seinem Bettchen in der Ecke schlief und gelegentlich ein winziges Schniefen oder einen Schrei ausstieß, als würde es von Träumen geplagt. Eine der Wände war feucht, nahe der Decke blätterte die Tapete ab.

  »Worum geht es denn?«, fragte die Frau. »Ich bin Shirelle. Marks Frau.«

  Das war Susans erster Schock. Shirelle war eine farbige Karibin. Und sie sah keinen Tag älter aus als vierzehn. Sie war von kleiner Statur, mit flacher Brust und schmalen Hüften, und ihr hellbraunes Gesicht war von langen, geflochtenen Haaren gerahmt, die wallend auf ihre Schulter fielen. Wenn man sie dort in dem abgewetzten, alten Sessel sitzen sah, konnte man nur schwer glauben, dass sie alt genug war, um Mutter zu sein.

  »Wir wollen Ihnen nur ein paar Fragen über Mark stellen«, sagte Susan so beruhigend wie möglich. Da Shirelle nicht antwortete, fuhr sie fort: »Vielleicht können Sie uns helfen. Kennen Sie Jason Fox?«

  Sie runzelte die Stirn. »Nein, nicht persönlich. Mark hat ihn ein paar Mal erwähnt. Sie arbeiten zusammen. Aber er hat ihn nie hierher mitgebracht.«

  Das wundert mich nicht, dachte Susan. »Hat Mark Ihnen mal etwas über ihn erzählt?«

  »Was, zum Beispiel?«

  »Wie er so ist, wie sie zusammen klarkommen, solche Dinge.«

  »Also, ich glaube, Mark mag ihn nicht besonders. Sie arbeiten noch nicht lange zusammen, und ich glaube, Mark wird sich von ihm trennen. Anscheinend hat dieser Jason ein paar seltsame Ansichten über Immigranten und so.«

  Das konnte man laut sagen. »Stört Sie das nicht?«

  »Ich bin keine Immigrantin. Ich bin hier geboren.«

  »Wie lange haben die beiden zusammengearbeitet?«

  »Ein paar Monate.«

  »Wie haben sie sich kennen gelernt?«

  »Sie haben beide zur gleichen Zeit einen Computerkurs in Leeds besucht und keiner von beiden konnte danach einen Job finden. Ich glaube, dieser Jason hatte etwas Geld, mit dem er eine Firma aufmachen konnte. Mark war der Beste des Kurses, deswegen hat Jason ihn gefragt, ob er mitmacht. Wie gesagt, ich glaube nicht, dass Mark bei ihm bleiben wird. Es ist nur ein Anfang für ihn, mehr nicht. Der Anfang ist immer schwer, wenn man keine Erfahrung hat.«

  »Und wie läuft die Firma?«, fragte Susan.

  Shirelle schaute sich um und schnaubte. »Was glauben Sie wohl? Es reicht kaum für die Miete, und Sie können ja sehen, was für eine Absteige das hier ist.« Jetzt sah sie weder so aus noch klang sie wie eine Vierzehnjährige.

  Die Katze versuchte, an Susans Knie hochzuklettern, aber sie schubste sie weg. »Nicht, dass ich keine Katzen mag, Shirelle«, erklärte sie, »aber ich bin allergisch gegen sie.«

  Shirelle nickte. »Tina, komm her!«, rief sie.

  Doch die, typisch für eine Katze, schenkte ihr einen Du-machst-wohl-Witze-Blick und ignorierte sie. Schließlich schoss Shirelle nach vorn, schnappte sich Tina, setzte sie im Nachbarzimmer ab und schloss die Tür.

  »Danke«, sagte Susan. »Haben Sie von der Albion-Liga gehört?«

  Shirelle schüttelte den Kopf. »Was soll das denn sein?«

  »Wissen Sie, wo Mark letzten Samstagabend war?«

  Shirelle schaute gerade lange genug weg, dass Susan wusste, sie würde lügen. Warum? Auf Wunsch ihres Ehemanns? Oder wollte sie Ärger mit der Polizei vermeiden? Manche Leute taten es rein gewohnheitsgemäß. Wie auch immer, als Shirelle sagte: »Er war hier, zu Hause«, bat Susan sie, noch einmal genau über ihre Antwort nachzudenken.

  »Um welche Zeit meinen Sie denn?«, fragte Shirelle nach einigen Augenblicken des Zögerns. »Er könnte nämlich auch mal kurz auf ein Bier mit seinen Kumpels im Pub gewesen sein.«

  »Welcher Pub wäre das?«

  »Hare and Hounds. Gleich an der Ecke. Das ist seine Stammkneipe.« Shirelle schien von Sergeant Hatchley abgelenkt zu sein, der bisher noch nichts gesagt hatte, sondern einfach nur neben Susan auf dem Sofa saß und die ganzen Vorgänge reglos wie eine Statue beobachtete, gelegentlich ermutigend nickte oder etwas in sein schwarzes Buch notierte. Sie betrachtete ihn eine Weile und wandte sich dann mit ihren großen, verschreckten Augen wieder an Susan.

  »Und wenn wir dort nachfragen würden, in diesem Hare and Hounds«, hakte Susan nach, »dann würde man sich von letzten Samstagabend an Mark erinnern, oder?«

  »Ich ... ich weiß nicht...«

  In diesem Moment ging die Eingangstür auf und eine männliche Stimme rief: »Sheri? Sheri?«

  Dann betrat Mark Wood das Zimmer: stämmig gebaut, muskulös, kurzes Haar, Ohrring und so weiter. Anfang zwanzig. Der Mann auf dem Bild.

  »Hallo, Mark«, sagte Susan. »Wir hätten schon seit Samstag mit Ihnen reden wollen.«

  Als Mark Susan und Hatchley sah, blieb er mit offenem Mund abrupt stehen. »Wer ...?« Doch es war offensichtlich, dass er wusste, mit wem er es zu tun hatte, auch wenn er nicht mit ihnen gerechnet hatte. Er legte eine Zigarettenschachtel auf den Tisch und setzte sich in den anderen Sessel. »Worum geht's?«

  »Um Jason. Wir hätten gedacht, Sie würden sich mit uns in Verbindung setzen nach Jasons Tod.«

  »Jasons was?«, platzte Shirelle heraus. Sie schaute Mark an. »Jason ist tot? Davon hast du mir nichts gesagt.«

  Mark zuckte mit den Achseln.

  »Und?«, fragte Susan.

  »Was und?«

  »Was haben Sie zu sagen? Auch wenn Ihre Frau nichts davon wusste, Sie wussten, dass Jason tot ist, nicht wahr?«

  »Ich habe davon in der Zeitung gelesen. Aber das hat nichts mit mir zu tun, oder?«

  »Nicht? Sie waren dort, Mark. Sie waren in Eastvale und haben mit Jason getrunken. Sie haben gemeinsam mit ihm das Jubilee kurz nach der Sperrstunde verlassen. Wir würden gerne wissen, was danach passiert ist.«

  »Ich war nicht dort«, sagte Mark. »Ich war hier. Zu Hause. Jetzt, wo wir den kleinen Connor haben, gehe ich nicht mehr so viel aus wie früher. Ich kann Sheri schließlich nicht die ganze Zeit mit ihm allein lassen, oder? Außerdem sehen Sie ja wohl auch, dass wir etwas knapp bei Kasse sind.«

  »Aber ich wette, dass Sie einen Wagen haben, oder?«

  »Nur eine alte Karre. Einen Van. Ich brauche ihn für die Arbeit.«

  »Websites designen?«

  »Das ist nicht alles, was wir machen. Wir verkaufen auch Computerteile, reparieren Betriebssysteme, installieren Computeranlagen, machen Notdienst und so weiter.«

  »Also haben Sie seit einer Weile nicht mehr mit Drogen gedealt?«

  »Ach, Sie wissen davon?«

  »Wir stellen unsere Nachforschungen an. Was erwarten Sie?«

  Mark rutschte auf seinem Sessel umher und warf einen kurzen Blick zu Shirelle. »Ja, gut, das ist Jahre her. Es ist vorbei. Seitdem bin ich clean.«

  »Haben Sie letzten Samstagabend im Jubilee Drogen verkauft?«

  »Nein. Ich habe es Ihnen gesagt. Ich war gar nicht dort. Außerdem habe ich meine Zeit abgesessen.«

  »Stimmt«, sagte Susan. »Neun Monate, wenn ich den Bericht richtig gelesen habe. Schön zu wissen, dass es tatsächlich so etwas wie Rehabilitation gibt. Aber daran sind wir auch gar nicht interessiert. Wir wollen nur wissen, was mit Jason Fox passiert ist. Was ist mit der Albion-Liga, Mark? Sind Sie Mitglied?«

  Mark schnaubte verächtlich. »Dieser Haufen Wichser? Das war Jasons Sache. Nicht meine.« Er schaute Shirelle an. »Oder ist das für Sie nicht bereits offensichtlich genug?«

  »Hat Jason Ihnen mal ihren Anführer vorgestellt, Neville Motcombe, oder ein anderes Mitglied?«

  »Nein. Er hat mich nur immer wieder gefragt, ob ich nicht zu den Treffen mitkommen wollte. Ich glaube, irgendwann hat er schließlich kapiert, dass ich nicht interessiert bin.«

  »Aber Sie beide haben die Website für die Gruppe produziert.«

  »Das hat Jason in seiner Freizeit gemacht. Allein. Er hielt es für eine gute Idee, das Firmenlogo ans Ende zu setzen. Er meinte, es könnte uns Aufträge bringen.« Er zuckte mit den Achseln. »Aufträge sind Aufträge, selbst wenn manche von Knallköpfen kommen.«

  »Und hat es das?«

  »Hat es was?«

  »Aufträge gebracht.«

  »Nicht viel. Um ehrlich zu sein, ich glaube, die Website hat kaum jemand angeguckt. Oder würden Sie die angucken?«

  »Aber Sie waren auch mit Jason befreundet, oder?«

  »Das würde ich nicht sagen.«

  »Ich habe gehört, er hat das Startkapital für die Firma zur Verfügung gestellt.«

  Mark schaute Shirelle an. Susan vermutete, dass er versuchte herauszufinden, was seine Frau ihnen bereits erzählt hatte.

  »Ja«, sagte er. »Ich hatte kein Geld, aber Jason hat ein bisschen Kohle in die Sache gesteckt, damit wir loslegen konnten. Aber nur als Darlehen.«

  »Sie würden also nicht sagen, dass Sie beide Freunde waren?«

  »Nein. Wir hatten privat im Grunde nichts miteinander zu tun.«

  »Aber letzten Samstagabend in Eastvale hatten Sie privat mit ihm zu tun.«

  »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich nicht dort war. Ich war den ganzen Abend hier.«

  »Sind Sie nicht mal kurz auf ein Bier rausgegangen?«, fragte Susan. »Shirelle war der Meinung, Sie könnten mal kurz weg gewesen sein.«

  Mark sah ratsuchend seine Frau an. »Ich ... das habe ich nicht«, sagte sie schnell. »Sie hat mich durcheinander gebracht, Mark. War es am Samstag? Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe nur gesagt, er könnte vielleicht für ein paar Minuten weggegangen sein.«

  »Sind Sie nun weggegangen, Mark?«, wollte Susan wissen.

  »Nein«, sagte Mark. Dann wandte er sich an Shirelle. »Erinnerst du dich nicht mehr, Liebling, als wir nachmittags in der Stadt einkaufen waren, haben wir ein paar Flaschen mitgenommen, dann dieses Steven-Seagal-Video ausgeliehen und sind den ganzen Abend zu Hause geblieben und haben den Film angeschaut. Erinnerst du dich?«

  »Ach, ja, stimmt«, gab Shirelle zur Antwort. »Jetzt erinnere ich mich. Wir sind zu Hause geblieben und haben zusammen das Video geguckt.«

  Susan beachtete Shirelle nicht, sie log schon wieder. Und sie fand es bemerkenswert, dass, wie arm die Leute auch zu sein schienen, wie »knapp bei Kasse« sie auch waren, sie immer genug Geld für Alkohol, Zigaretten, Videos und Haustiere hatten. Sogar für Autos. »Dann waren Sie also letzten Samstagabend bestimmt nicht in Eastvale, Mark?«

  Mark schüttelte den Kopf. »Nein.«

  »Ich nehme an, der Videoverleih wird eine Quittung haben?«

  »Ich nehme an. Das läuft bei denen alles über Computer, die neuesten Geräte, sie müssten also eine haben. Ich habe nie danach gefragt. Ich meine, ich dachte nicht, dass es jemanden interessieren würde.«

  »Aber Sie könnten dennoch lügen, nicht wahr?«, fuhr Susan fort. »Denn im Grunde spielt es ja überhaupt keine Rolle, ob Sie am Samstagnachmittag ein Video ausgeliehen haben, oder? Sie könnten trotzdem Samstagabend nach Eastvale gefahren sein, Jason im Jubilee getroffen und ihn zu Tode getreten haben. Sie könnten sich das Video angeschaut haben, nachdem sie nach Hause gekommen waren.«

  »Ich habe Ihnen alles gesagt. Ich habe nichts dergleichen getan. Ich war nicht mal in der Nähe. Warum hätte ich so etwas tun sollen? Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Jason mein Geschäftspartner war. Warum sollte ich die Gans töten, die die goldenen Eier legt?«

  »Erzählen Sie es mir! Ich habe gehört, Sie wollten ihn loswerden?«

  Erneut schaute Mark Shirelle an, die auf ihren Schoß starrte.

  »Hören Sie«, sagte er. »ich sage Ihnen, dass ich nichts getan habe. Ich war nicht einmal in der Nähe von Eastvale. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht dort gewesen.«

  Plötzlich stand Sergeant Hatchley mit einem Ruck auf und erschreckte damit sogar Susan. »Hören wir mit diesem Schwachsinn auf, Junge«, sagte er und steckte sein Notizbuch zurück in die Innentasche. »Wir wissen, dass Sie dort waren. Sie sind in dem Pub gesehen worden. Und wir haben eindeutige Fingerabdrücke von Ihnen auf der Tatwaffe gefunden. Was haben Sie dazu zu sagen?«

  Mark schaute von links nach rechts, als würde er einen Fluchtweg suchen. Shirelle begann zu weinen. »Oh, Mark ...«, jammerte sie. »Was sollen wir machen?«

  »Hör auf zu heulen«, sagte er und wandte sich dann wieder an Susan und Hatchley. »Ich will einen Anwalt.«

  »Später«, sagte Hatchley. »Zuerst werden wir einen Plastikbeutel mit Ihren Schuhen und Klamotten füllen und dann werden wir zurück nach Eastvale fahren und dort ein nettes, langes Gespräch in einem anständigen Verhörzimmer der Polizei führen. Wie gefällt Ihnen das?«

  Mark sagte nichts.

  Connor rührte sich in seinem Bettchen und begann zu weinen.

 

* V

 

»Sagen Sie mir eines«, verlangte Banks. »Warum zum Teufel haben Sie mich bis hierher nach Amsterdam gelotst?«

  Burgess lächelte, schnippte seine Dose Tom Thumb Zigarren auf und wählte eine aus. »Das wird sich alles noch rechtzeitig aufklären. Verdammt, schön, Sie wiederzusehen, Banks«, sagte er. »Ich wusste, dass ich mich auf Ihre Neugier verlassen konnte. Ich kann mir keinen besseren Mann für einen Fall wie diesen vorstellen.« Er zündete die kleine Zigarre an und blies eine Qualmwolke aus.

  »Und welcher Fall soll das sein?«, fragte Banks, der über die Jahre gelernt hatte, Burgess ungefähr genauso sehr zu vertrauen wie einem Politiker im Wahljahr.

  »Ach, tun Sie doch nicht so. Der Jason-Fox-Fall natürlich.«

  Der Kellner kam heraus. Burgess fragte Banks, was er trinken wolle. Banks sagte ihm, er würde noch ein De Köninck nehmen.

  »Ekelhaftes Zeug«, brummte Burgess. Dann wandte er sich an den Kellner. »Aber bringen Sie ihm noch eins, mein Freund, wenn er das haben will. Ich nehme ein Lager. Irgendein Fassbier.«

  Banks bemerkte zum ersten Mal, dass Burgess sein ergrautes Haar zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Typisch. Der Look des alternden Aufreißers.

  »Herrlicher Tag, nicht wahr?«, sagte Burgess, als der Kellner mit ihren Getränken zurückkam. »Sind Sie nicht froh, dass ich Ihnen ein Ticket besorgt habe, Banks?«

  »Ich bin von Freude und Dankbarkeit überwältigt«, erwiderte Banks, »aber ich hätte nichts dagegen zu erfahren, was das alles soll. Eine Andeutung würde mir zum Anfang schon genügen.«

  »Das ist ganz mein Banks.« Burgess rutschte ruckartig nach vorn - alle seine Bewegungen wirkten ruckartig - und klopfte ihm auf die Schulter. »Immer gleich zur Sache kommen. Wissen Sie, Sie hätten mittlerweile schon Superintendent sein können. Wer weiß, vielleicht sogar Chief Super. Wenn Sie nur nicht so ein Scheißbolschewik wären. Sie haben nie gelernt, zu den richtigen Leuten nett zu sein, oder?«

  Banks lächelte. »Aber Sie, oder?«

  Burgess zwinkerte. »Irgendetwas muss ich richtig gemacht haben, meinen Sie nicht? Aber egal, genug von mir. Irgendwann Anfang der Woche haben Sie - oder jemand aus Ihrer Abteilung - eine Alarmglocke ausgelöst, die ich auf eine bestimmte Akte platziert hatte.«

  »Die Albion-Liga?«

  »Na, wer ist denn hier der clevere Junge? Genau, die Albion-Liga. Ich habe einen gewissen Crawley - ein guter Mann übrigens - beauftragt, die Anfrage zu beantworten, und ihn instruiert, so wenig Informationen wie möglich rauszugeben. Verstehen Sie? Ich wollte wissen, warum Sie derart an der Liga interessiert sind. Es ist ja nicht so, dass diese Gruppe in North Yorkshire ein großes Ding am Laufen hat. Dann erfuhr ich von Jason Fox' Tod und alles ergab irgendwie einen Sinn.«

  »Sie wussten, dass Jason ein Mitglied war?«

  »Selbstverständlich wusste ich das. Er war Neville Motcombes rechte Hand. Er wurde schon als zukünftiger Führer gehandelt. Dass Jason auf diese Weise getötet wurde, war eine sehr schlimme Sache, denn es löste weit und breit alle möglichen Alarmglocken aus. Deswegen bin ich hier. Und Sie auch.«

  Zwei junge blonde Mädchen spazierten vorbei. Eine von ihnen trug ein hautenges T-Shirt und äußerst knappe türkisfarbene Shorts. Sie schob ihr Fahrrad, während sie mit ihrer Freundin plauderte. »Jesus Christus, schauen Sie sich mal diesen Arsch an«, sagte Burgess und fiel in den amerikanischen Slang, den er sich angewöhnt hatte. »Da kriege ich so einen Ständer, dass ich nicht mehr genug Haut übrig habe, um meine Augen zu schließen.« Er schüttelte sich gespielt. »Egal, wo war ich gerade?«

  »Alarmglocken.«

  »Richtig. Ich habe keine Ahnung, wie viel Sie über ihn wissen, Banks, aber Motcombe ist ein übler Typ. Nur weil er ein Spinner ist, dürfen Sie ihn nicht unterschätzen.«

  »Ich hätte gedacht, dass gerade Sie das vollste Verständnis für ihn haben«, sagte Banks. »Im Grunde bin ich überrascht, dass Sie nicht selbst Mitglied der Albion-Liga sind.«

  Burgess lachte. »Oh, das ist echt billig. Man weiß einfach immer genau, wie Sie reagieren. Wissen Sie das? Das ist einer der Gründe, warum ich Sie mag. Auf eine solche Bemerkung habe ich gewartet, seit ich mich hingesetzt habe.« Er lehnte sich zurück und paffte an seiner Tom Thumb. »Ob ich glaube, wir lassen zu viele Ausländer rein? Ja. Ob ich glaube, wir haben ein Problem mit unserer Einwanderungspolitik? Und wie ich das glaube. Aber ob ich glaube, eine Bande von Fußballhooligans im Stechschritt sind die Antwort? Nein, glaube ich nicht. Schauen Sie sich diesen Haufen hier an.« Er machte eine ausholende Armbewegung, als meinte er die Niederländer im Ganzen. »Schauen Sie sich die Probleme an, die sie hier mit ihren Schwarzen haben. Und die haben nur Niederländisch-Guayana am Hals.«

  »Surinam.«

  »Wie auch immer.«

  »Und ich glaube, sie haben wesentlich mehr Teile der Welt kolonialisiert als Surinam.«

  »Passen Sie auf, Banks, seien Sie nicht immer so ein verdammter Klugscheißer. Das ist nicht der Punkt, und das wissen Sie genau. Sie können mir nicht erzählen, dass England nicht zivilisierter und gesetzestreuer wäre, wenn wir nicht so viele von den Arschlöchern reingelassen hätten.«

  »So zivilisiert und gesetzestreu wie Fußballhooligans?«

  »Ach, es macht echt keinen Sinn, mit Ihnen zu diskutieren. Sie haben immer das letzte Wort, was? Lassen Sie es mich klipp und klar sagen: Obwohl ich glaube, dass diese Albion-Liga ein paar ganz gute Ansichten haben könnte, mag ich es nicht, mich wie ein Schwachkopf anzuziehen und mit Skinheads und Lederfetischisten herumzuhängen, die nicht bis zwei zählen können. Sie sollten mich für etwas vernünftiger halten, Banks. Egal was ich bin«, schloss Burgess und stieß seinen Daumen auf die Brust, »ich bin nicht bekloppt, verdammte Scheiße.«

  Burgess trug zwar wie üblich seine abgewetzte schwarze Lederjacke, doch Banks ging nicht weiter darauf ein.

  »Aber zurück zu Neville Motcombe«, fuhr Burgess nach einem großen Schluck seines wässrigen Lagers fort. »Wir wissen, dass er Verbindungen zu anderen rechten Gruppierungen in Europa und Amerika unterhält. Während der letzten vier Jahre ist er häufig nach Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Holland gereist. Er ist auch in Griechenland und in der Türkei gewesen.«

  »Ich hätte nicht gedacht, dass die Türkei ein interessantes Reiseziel für einen Neonazi ist«, sagte Banks.

  »Sie wären überrascht. Es gibt eine Menge rechter türkischer Gruppierungen mit Zugang zu Waffen. Sie kriegen sie billig von den Russen in Aserbaidschan oder Armenien. Die Türkei ist für eine Menge übler Machenschaften strategisch sehr gut gelegen. Und vergessen Sie nicht, der Türke ist ein schleimiger Bursche. Egal, Motcombe hat zudem eine Reihe von militärischen Trainingscamps im Südwesten der Vereinigten Staaten besucht, und er wurde dabei gesehen, wie er das Hauptquartier einer Nazipartei in Lincoln, Nebraska, betreten hat. Nur zu Ihrer Information: Von dort stammen die meisten Baupläne für Bomben und Sprengsätze. Dieser Kerl hat also mit der Sorte von Leuten geredet, die dieses Regierungsgebäude in Oklahoma City in die Luft gejagt haben.« Burgess deutete mit seiner Zigarre auf Banks. »Egal, was Sie machen, Banks, unterschätzen Sie Neville Motcombe nicht. Und außerdem, wenn man diese ganze Sache erst einmal durchschaut, dann hat sie im Grunde nichts mit Politik zu tun. Es geht um etwas anderes.«

  »Was?«

  »Geld. Einer der türkischen Rechten, mit dem Motcombe in letzter Zeit häufig per Internet kommuniziert hat, steht als internationaler Drogendealer im Verdacht. Hauptsächlich Heroin. Und zufälligerweise wissen wir, dass er nach neuen Absatzmärkten in England sucht. Die beiden haben sich kennen gelernt, als Motcombe den Sommer über in der Türkei war, und während der letzten drei Wochen hat der elektronische Verkehr dramatisch zugenommen. Die Drähte glühen, könnte man sagen.«

  »Und was beinhaltet dieser Schriftverkehr?«

  »Tja, da liegt das Problem. Unsere Computerfritzen beobachten diese Cyber-Nazis, wie man sie nennt, schon lange. Einige von ihren Passwörtern sind uns bekannt; ein bisschen was können wir also lesen. Bis sie darauf kommen, dass wir sie überwachen, und die Passwörter ändern. Das Problem ist, dass einiges von dem richtig heißen Zeug verschlüsselt ist. Sie benutzen PGP und sogar noch weiter entwickelte Verschlüsselungsprogramme. Ohne Scheiß, Banks, im Vergleich zu diesen Dingern ist jedes Rätsel ein Kinderspiel.«

  »Sie können die Nachrichten also nicht entschlüsseln?«

  »Tja, nicht ganz. Vielleicht plaudern sie nur über die Holocaust-Lüge oder so einen Schwachsinn, aber so, wie ich den Türken kenne, bezweifle ich es. Ich würde sagen, er hat die Pipeline gefunden, die er gesucht hat.«

  Banks schüttelte den Kopf. »Und Jason Fox?«, fragte er. »Glauben Sie, das könnte etwas mit seinem Tod zu tun haben?«

  Burgess zuckte mit den Achseln. »Ist schon ein komischer Zufall, oder? Und ich weiß, dass Ihnen Zufälle nicht gefallen. Ich dachte nur, Sie sollten unterrichtet sein, das ist alles.«

  »Was für ein Haufen Schwachsinn«, sagte Banks. »Und hören Sie mir auf mit diesem mysteriösen Agentenkram. Verschlüsselte E-Mails. Vage Verdächtigungen. Haben Sie mich deswegen hierher beordert?«

  Burgess sah gekränkt aus. »Nein«, sagte er. »Auf jeden Fall nicht nur. Im Grunde weiß ich selbst noch nicht viel darüber.«

  »Und weswegen bin ich nun hier?«

  »Weil eine sehr wichtige Person hier ist, für mindestens eine Woche hier sein muss. Weil es erforderlich ist, dass Sie mit dieser Person sprechen, bevor Sie auch nur einen weiteren Schritt in Ihrer Ermittlung unternehmen. Und weil Sie beide zu Hause nicht zusammen gesehen werden dürfen. Glauben Sie mir, der Mann wird Ihnen wesentlich mehr erzählen können als ich. Reicht das?«

  »Und telefonisch wäre es nicht möglich gewesen?«

  »Ach, jetzt machen Sie mal halblang, Banks. Wenn man Charlie und Di abhören kann, dann kann man auch Sie abhören. Telefone sind nicht sicher. Hören Sie auf, herumzumeckern und genießen Sie Ihren Aufenthalt. Es gibt ja nicht nur Arbeit. Ich meine, worüber beschweren Sie sich? Sie haben ein Gratiswochenende in einer der aufregendsten Städte der Welt bekommen. Okay?«

  Banks dachte einen Moment nach und betrachtete die an der Gracht entlangfahrenden Fahrräder und Autos. Er zündete sich eine Zigarette an. »Und was geschieht als Nächstes?«, fragte er.

  »Morgen Nachmittag werde ich über alles auf den neuesten Stand gebracht, dann verabschiede ich mich in den Urlaub, ob Sie's glauben oder nicht. Ich glaube, ich fahre einfach raus nach Schiphol und nehme den ersten Flieger irgendwohin in die Tropen. Am Abend haben Sie ein sehr wichtiges Treffen.« Burgess sagte ihm, er müsse um acht Uhr in einer Bar nahe des Sarphatiparks sein, erzählte ihm aber nicht, wen er dort antreffen würde. »Und passen Sie auf, dass Sie nicht verfolgt werden«, fügte er hinzu.

  Banks konnte bei all dem Getue nur den Kopf schütteln. Burgess liebte diesen Agentenkram einfach.

  Dann klatschte Burgess in die Hände und streute Asche über den Tisch. »Aber bis dahin sind wir frei. Zwei glückliche Junggesellen, die die ganze Nacht vor sich haben.« Er senkte seine Stimme. »Also, ich schlage vor, dass wir uns ein nettes indonesisches Restaurant suchen, ein, zwei Teller Rijsttafel reinschaufeln und das Ganze mit ein paar Bier runterspülen. Dann schauen wir mal, ob wir einen dieser kleinen Coffeeshops finden, wo man Hasch rauchen kann.« Er legte seinen Arm um Banks' Schulter. »Und danach, finde ich, sollten wir ein bisschen durch den Rotlichtbezirk schlendern und uns jeder eine hübsche, enge holländische Muschi suchen. Das ist hier alles vollkommen legal und korrekt, die Mädchen werden regelmäßig untersucht. Ausprobiert und getest und mit dem Gütesiegel versehen.« Er sah Banks prüfend an. »Okay, ich weiß, dass Sie diese schöne Frau haben, die zu Hause auf Sie wartet - Sandra, oder? -, aber ab und zu geht doch nichts über eine kleine, fremde Muschi. Glauben Sie mir. Und was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Meine Lippen werden für ewig verschlossen sein, versprochen. Wie sieht's aus?«

  Wie immer, dachte Banks, hatte der Scheißkerl einen unfehlbaren Instinkt dafür, die wunde Stelle zu finden, wie ein Zahnarzt, der auf einen offenen Nerv stößt. Burgess konnte unmöglich wissen, was in der vergangenen Nacht zwischen Banks und Sandra vorgefallen war. Trotzdem traf er nun genau ins Mark. Ach, zum Teufel mit ihm.

  »Gut«, sagte Banks. »Abgemacht.« Dann hob er sein Glas und trank sein Bier aus. »Aber zuerst nehme ich noch eins davon.«