* FÜNF

 

* I

 

»Die Albion-Liga«, begann Gristhorpe am Mittwochmorgen im Sitzungssaal. Sein lahmes Bein hatte er auf den polierten, ovalen Tisch gelegt, der graue Haarschopf war ungekämmt. Banks, Hatchley und Susan Gay saßen mit dampfenden Kaffeetassen da und hörten zu. »Ich habe ungefähr eine halbe Stunde mit diesem Crawley telefoniert, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich weniger weiß als vorher. Kennt das einer?«

  Banks nickte. Mit solchen Leuten hatte er auch schon gesprochen. Andererseits gab es Menschen, die das Gleiche über ihn sagten.

  »Jedenfalls ist dieser Haufen genau das«, fuhr Gristhorpe fort, »was ihr Pamphlet zu verstehen gibt - eine Randgruppe von Neonazis. Albion ist ein alter Name für die britischen Inseln. Man findet ihn bei Chaucer, Shakespeare, Spenser und einer Menge anderer Poeten. Laut Crawley hat dieser Haufen den Namen wohl von William Blake übernommen, der Albion zu einer Art mythischem Geist der Rasse erhoben hat.«

  »Ist dieser Blake ein Nazi, Sir?«, fragte Hatchley.

  »Nein, Sergeant«, erwiderte Gristhorpe geduldig. »William Blake war ein englischer Poet. Er lebte von 1757 bis 1827. Sie kennen ihn wahrscheinlich am ehesten als den Autor von >Jerusalem< und >Tyger, Tyger<.«

  »>Tyger! Tyger! Hell brennend<«, rezitierte Hatchley. »Ja, Sir, ich glaube, das hatte ich in der Schule.«

  »Ganz bestimmt hatten Sie das.«

  »Und das andere haben wir manchmal zu Hause auf dem Sofa nach einem Rugbyspiel gesungen. Aber liegt Jerusalem nicht in Israel, Sir? War dieser Blake denn Jude?«

  »Auch das nicht, Sergeant. Ich muss zugeben, für eine Neonaziorganisation klingt dieses Symbol etwas ironisch. Aber, wie gesagt, Blake hat die Dinge gerne mythologisiert. Für ihn war Jerusalem eine Art Bild der idealen Stadt, eine spirituelle Stadt, eine perfekte Gesellschaft, wenn Sie so wollen - von der London ein blasses, gefallenes Abbild war -, und er wollte in >Eng-lands grünem und freundlichem Land< ein neues Jerusalem gründen.«

  »War er dann ein Grüner, Sir, einer von diesen Umweltschützern?«

  »Nein, das war er nicht.«

  Banks konnte sehen, dass Gristhorpe frustriert die Lippen zusammenpresste. Am liebsten hätte er Hatchley unter dem Tisch getreten, er saß jedoch zu weit weg. Der Sergeant probierte natürlich, wie weit er gehen konnte; andererseits schienen sich Hatchley und Gristhorpe immer misszuverstehen. Man würde nicht glauben, dass beide Yorkshirer Urgewächse waren.

  »Blakes Albion war eine kraftvolle Gestalt, Herrscher dieses idealen Königreiches«, fuhr Gristhorpe fort. »Eine Gestalt, vor der selbst die Helden der Artussage verblassen.«

  »Wie lange gibt es die Gruppe schon?«, fragte Banks.

  Eindeutig erleichtert wandte sich Gristhorpe an ihn. »Seit ungefähr einem Jahr«, sagte er. »Sie begannen als Splittergruppe der Britischen Nationalpartei, die ihnen zu lasch geworden war. Und sie glauben, sie sind Combat 18 überlegen, die sie für einen reinen Schlägertrupp halten.«

  »Na, in dem Punkt haben sie immerhin Recht«, sagte Banks. »Wer ist ihr Großmeister?«

  »Ein Typ namens Neville Motcombe. Fünfunddreißig Jahre alt. In dem Alter sollte man eigentlich vernünftiger sein, oder?«

  »Irgendwelche Vorstrafen?«

  »Eine Verhaftung für einen tätlichen Angriff auf einen Polizeibeamten bei einer BNP-Versammlung vor Jahren, eine weitere für Hehlerei.«

  »Irgendwelche Verbindungen zu George Mahmood und seinen Freunden?«, fragte Banks.

  Gristhorpe schüttelte den Kopf. »Außer den offensichtlichen, nein.«

  »Sind Sie sicher, dass die Albion-Liga ihren Sitz nicht in Eastvale hat, Sir?«, fragte Susan Gay.

  Gristhorpe lachte. »Ja. Hier wohnen nur zufälligerweise Jason Fox' Eltern. Ihr Hauptquarter ist in Leeds - ein alter Obst- und Gemüseladen in Holbeck -, aber sie haben Zellen in ganz West Yorkshire, besonders in Orten, wo es einen hohen Ausländeranteil gibt. Wie gesagt, sie scheuen sich nicht, Schläger einzusetzen; aber es gibt in der Gruppe auch den eher intellektuellen Anspruch, unzufriedene, komplexbeladene weiße Jugendliche aus der Mittelschicht anzuziehen, junge Männer wie Jason Fox mit ein bisschen mehr Grips im Kopf, die nicht völlig dumpf sind.«

  »Wie stark ist die Gruppe?«

  »Schwer zu sagen. Laut Crawley gibt es ungefähr fünfzehn Zellen. Jeweils eine in kleineren Orten wie Batley oder Liversedge, zwei oder drei in größeren Städten wie Leeds. Wir wissen nicht genau, wie viele Mitglieder eine Zelle hat, aber über den Daumen gepeilt kann man sagen, die Organisation hat im Ganzen vielleicht achtzig bis hundert Mitglieder.«

  »Nicht viel, oder? Wo wohnt dieser Motcombe?«

  »In Pudsey, Richtung Fulneck. Er soll dort ein hübsches Einfamilienhaus haben.«

  Banks hob seine Augenbrauen. »Schau an. Und wie finanzieren sie sich, von Hehlerei mal abgesehen?«

  »Crawley behauptet, er weiß es nicht.«

  »Glaubst du ihm?«

  Gristhorpe schniefte und kratzte seine Hakennase. »Diese Sache stinkt nach Politik, Alan«, erwiderte er. »Und wenn ich Politik rieche, glaube ich nichts mehr, was ich sehe oder höre.«

  »Sollen Jim und ich uns mal ein bisschen in Leeds umschauen?«, fragte Banks.

  »Habe ich gerade dran gedacht. Ihr könntet damit anfangen, dass ihr bei diesem Laden vorbeigeht. Mal gucken, ob jemand da ist. Aber kläre das erst mit Ken Blackstone ab, damit du niemandem auf die Füße trittst.«

  Banks nickte. »Was ist mit Motcombe?«

  Gristhorpe überlegte, bevor er antwortete. »Ich hatte den Eindruck, Crawley wollte nicht, dass wir Mr. Motcombe belästigen«, sagte er langsam. »Im Grunde glaube ich, dass Crawley nur deshalb abkommandiert wurde, um unserer Bitte nach Informationen nachzukommen, weil sie da unten wussten, dass wir einfach losstürmen und sowieso alles herausfinden würden - wie der Elefant im Porzellanladen. Er war mit seinen Ausführungen wirklich sehr vage. Und er bat uns, mit Vorsicht vorzugehen.«

  »Und was machen wir nun?«

  Gristhorpe setzte ein verschmitztes Grinsen auf. »Nun«, sagte er und zog an seinem dicken Ohrläppchen. »Ich würde bei ihm vorbeischauen, wenn ich du wäre. Fühl ihm mal ein bisschen auf den Zahn. Offiziell hat uns ja keiner gewarnt.«

  Banks lächelte. »In Ordnung.«

  »Eine Sache noch, bevor alle gehen. Diese Zeile am Ende des Pamphlets.« Gristhorpe hob das Blatt und zeigte auf die Stelle. »Http://wwiv.alblg.com./index. html. Jeder weiß, dass ich keinen blassen Schimmer von Computern habe, aber dass das eine Internetadresse ist, weiß selbst ich. Doch fragen Sie mich nicht, wie so eine Internetseite aussieht. Die Frage ist, ob wir irgendetwas damit anfangen können. Bringt uns diese Seite irgendwie weiter? Susan?«

  »Könnte sein«, sagte Susan. »Aber leider haben wir über die Computer des Reviers keinen Zugang zum Internet.«

  »Ach. Warum nicht?«

  »Keine Ahnung, Sir. Ich nehme an, sie sind einfach zu langsam. Die Polizei von South Yorkshire hat sogar eine eigene Website. West Mercia auch.«

  Gristhorpe runzelte die Stirn. »Und wozu?«

  Susan zuckte mit den Achseln. »Sie geben Informationen heraus: Gemeindeangelegenheiten; Verbrechensprävention, die Meinung des Chief Constables zur Lage seines Bezirks. Solche Dinge. Eine Kommunikation mit den Bürgern.«

  »Ach, tatsächlich?«, brummte Gristhorpe. »Für mich klingt das nach kompletter Zeitverschwendung. Trotzdem, wenn dieses Dingsda der Albion-Liga den Versuch wert ist, gibt es dann eine Möglichkeit, da mal durchzublättern? Oder soll ich sagen surfen?«

  Susan lächelte. »Eigentlich heißt es browsen, Sir. Man surft im Internet, aber man browst auf einer Website.«

  »Ist es da ein Wunder, dass ich keine Geduld mit diesen verdammten Geräten habe?«, murrte Gristhorpe. »Wie auch immer es heißt, können Sie es sich angucken?«

  Susan nickte. »Ich habe zu Hause Internetanschluss«, sagte sie. »Ich kann es mal versuchen.«

  »Dann tun Sie das, und unterrichten Sie uns über das, was Sie herausgefunden haben. Alan, haben die Leute von West Yorkshire etwas in Jason Fox' Computer gefunden?«

  Banks schüttelte den Kopf. »Null Komma nichts.«

  »So als hätte jemand daran rumgefummelt?«

  »Genau das haben sie gesagt.«

  Gristhorpe verzog das Gesicht, als er sein krankes Bein vom Tisch nahm und es schüttelte, um den Blutkreislauf vor dem Aufstehen anzuregen. »Na gut«, sagte er. »Das ist im Moment alles. An die Arbeit.«

 

* II

 

Susan gefiel die unverhoffte Gelegenheit, während der Dienstzeit nach Hause gehen zu können, obwohl sie wusste, dass sie auch dort arbeiten musste.

  Zuerst zog sie ihre Schuhe aus und setzte einen Kessel Wasser auf. Dann schaute sie durch ihren Vorrat an Teesorten und entschied sich für die Herbstmischung, einen schwarzen Tee, der mit Apfelstücken versetzt war und perfekt zu dem regnerischen, stürmischen Tag passte. Aus einem Impuls heraus gab sie zudem eine Prise Zimt in die Kanne. Während der Tee zog, legte sie eine CD mit den größten Hits von Andrew Lloyd Webber ein und musste bei dem Gedanken lächeln, wie sehr Banks diese Musik hassen würde. Dann schenkte sie sich eine Tasse Tee ein und machte sich an die Arbeit.

  Da ihre Wohnung recht klein war, stand der Computer in ihrem Schlafzimmer. Das war das Zimmer, in dem sie noch nie Besucher empfangen hatte. Bisher jedenfalls. Doch in diesem Moment wollte sie den Gedanken an Detective Constable Gavin Richards nicht aufkommen lassen.

  Mit einer dampfenden, nach Apfel und Zimt duftenden Tasse Tee neben sich und dem aus dem Wohnzimmer herüberschallenden Song »Don't cry for me, Argentina« verschränkte Susan die Beine unter ihrem Schreibtischstuhl und logte sich ins Internet ein. Dann tippte sie die Adresse des Pamphlets ein und klickte auf ihre Maus.

  Während die verschiedenen Datenfragmente des Dokuments über die Telefonleitung übermittelt und zusammengefügt wurden, blieb der Bildschirm lange leer, bis er plötzlich schwarz wurde.

  Als Nächstes baute sich auf dem Monitor von oben nach unten, Linie für Linie, ein mehrfarbiges Bild auf und bald war das Emblem der Albion-Liga, ein Hakenkreuz aus brennenden goldenen Pfeilen, vollständig zu sehen. Wahrscheinlich, dachte Susan, sich an Superintendent Gristhorpes Worte und an das Lied von Blake erinnernd, handelte es sich um eine Art Visualisierung von Blakes »Pfeile der Sehnsucht«.

  Über dem Hakenkreuz bogen sich in einem Halbkreis aus gotischen Großbuchstaben die Worte DIE ALBION-LIGA.

  Es dauerte noch ein paar Minuten, bis auch der Rest des Dokuments übermittelt wurde. Als es vollständig war, begann Susan durch die Website zu browsen. Aus dem Wohnzimmer ertönte »Memory«.

  Anders als die Seiten eines Buches haben Websites eine zusätzliche Dimension, erreichbar über Hypertextlinks, hervorgehobene Worte oder Piktogramme, die man anklicken kann, um zu einer anderen, verwandten Seite zu gelangen. Zuerst ignorierte Susan diese Links und konzentrierte sich darauf, den Text der Homepage zu lesen. Es war so ziemlich der gleiche Text wie der, den sie auf dem Pamphlet gesehen hatte; er war nur länger und ausführlicher.

  Der erste Absatz begrüßte den Leser auf der Seite und erklärte, dass die Albion-Liga eine schnell wachsende Gruppe engagierter Bürger sei, die sich der ethnischen Reinheit, der Redefreiheit, Recht und Ordnung und der Wiederherstellung eines wahren englischen »Heimatlandes« verschrieben habe.

  Danach folgten eine Reihe Links. Manche waren eng verwandte Websites, wie die Homepages der Britischen Nationalpartei oder der von Combat 18, andere stammten aus den USA oder Kanada und trugen Namen wie Sturmfront, Ariernation und Das Erbe. Die Bandbreite variierte von einigermaßen niveauvoll bis schlichtweg unlesbar, doch manche der Grafiken waren einfallsreich gestaltet. Susan hatte Mitglieder von Nazigruppen nie für besonders kreativ oder intelligent gehalten. Andererseits musste man heutzutage auch kein Einstein sein, um mit einem Computer umzugehen. Beinahe jedes Kind kannte sich damit aus.

  Sie entschied sich für die »News«-Seite der Liga und wurde bald mit einer Reihe Geschichten aus der beschränkten, einseitigen Sichtweise der Albion-Liga konfrontiert.

  Der erste Artikel betraf die Menge der öffentlichen Gelder, die in den Bau der riesigen, neuen Moschee zwischen Leeds und Bradford gesteckt wurden, und stellte diesem Sachverhalt den schockierenden Zustand der Baufälligkeit gegenüber, in dem sich die meisten britischen Kirchen befanden.

  Der zweite behauptete, ein führender Wissenschaftler habe »bewiesen«, dass der heutige Mensch in Wirklichkeit von bleichhäutigen, nördlichen Stämmen abstamme statt von »haarigen Afrikanern«.

  Und in diesem Stil ging es weiter: Ein Tory-Abgeordneter, bekannt für sein Eintreten für Moral und Familienwerte, war bei einer Polizeirazzia in einem homosexuellen Puff erwischt worden, nur mit einer blonden Perücke und einem Tutu bekleidet; der Stadtrat von Leeds hatte dafür gestimmt, eine der Straßen der Stadt nach einem schwarzen revolutionären »Dreckskerl« umzubenennen ... Ein Artikel nach dem anderen Beispiel für die Heuchelei der Regierung und den Zerfall der Kultur.

  Eine Geschichte widmete sich einem weißen Schüler, der direkt vor den Türen einer Bradforder Gesamtschule von drei Mitgliedern einer asiatischen Gang niedergestochen worden war. Der Vorfall war traurig genug - und Susan erinnerte sich, vor ein paar Wochen darüber in der Yorkshire Post gelesen zu haben -, doch laut der Albion-Liga war es nur deshalb dazu gekommen, weil der örtliche Stadtrat von »Ausländern« und den von ihnen umgepolten, politisch korrekten weißen Lakeien dominiert wurde, die alle seit Jahren von den Problemen der Schule gewusst hätten, ohne jemals etwas dagegen zu unternehmen. Deshalb könne man den getöteten Jungen als »Opfer der multikulturellen Gesellschaft« betrachten. Susan fragte sich, was sie aus Jason Fox' Tod machen würden.

  Sie machte eine Pause und trank einen Schluck kalten Tee, um ihren Magen zu beruhigen. Die Lloyd-Webber-CD war schon seit einer Ewigkeit zu Ende und sie war zu sehr ins Lesen vertieft gewesen, um ins Wohnzimmer zu gehen und etwas anderes aufzulegen. Obwohl sie durch die Website im Grunde nicht viel mehr über die Albion-Liga und ihre Mitglieder erfahren hatte, hatte sie genug gelesen, um ihre eigene Einstellung zur Redefreiheit in Frage zu stellen. Alle Versuche, diese Leute zum Schweigen zu bringen, wurden von ihnen als Verletzung ihrer demokratischen Grundrechte gewertet. Würde man aber ihnen Macht geben, würden sie jeden außer heterosexuelle weiße Männer zum Schweigen bringen.

  Wie bei vielen Websites fand Susan am Ende der Homepage der Liga einen Link zu den Designern der Seite. In diesem Fall lautete der Name »FoxWood Designs«.

  Neugierig klickte Susan auf den Namen. Erneut wurde sie enttäuscht. Sie hatte Namen und Adressen erwartet, bekam jedoch lediglich eine stilisierte Grafik von einem Fuchs zu sehen, der aus ein paar dunklen Bäumen hervorlugte. Dazu wurde eine E-Mail-Adresse angegeben.

  Während sie die Adresse notierte, hielt sie es dennoch für möglich, dass es, wenn man annahm, dass eine Hälfte des Teams ein Mr. Fox war, eine andere Hälfte namens Mr. Wood geben könnte. Und wenn sie Mr. Wood aufspüren könnte, würde sie vielleicht einen Menschen finden, der etwas über Jason Fox' Leben wusste. Und über seinen Tod.

  Kaum hatte Susan ihr Modem ausgestöpselt, klingelte das Telefon.

  Es war Gavin.

  »Susan? Wo steckst du denn? Ich habe den ganzen Vormittag versucht, dich anzurufen. Im Revier habe ich zufällig Jim Hatchley getroffen, und er hat mir gesagt, dass du zu Hause arbeitest.«

  »Stimmt«, sagte Susan. »Was willst du?«

  »Sehr liebenswürdig. Und ich wollte dich zum Mittagessen einladen.«

  »Mittagessen?«

  »Ja. Du weißt schon, das Zeug, das man zu sich nimmt, um am Leben zu bleiben.«

  »Ich weiß nicht...«, sagte Susan.

  »Ach, komm schon. Selbst eine hart arbeitende Polizistin muss ab und zu etwas essen, oder?«

  Wenn sie nun daran dachte, musste Susan zugeben, dass sie tatsächlich hungrig war. »Eine halbe Stunde?«

  »Wenn du nicht mehr Zeit für mich übrig hast.«

  »Nein.«

  »Dann nehme ich sie.«

  »Und du zahlst?«

  »Ich zahle.«

  Susan musste unwillkürlich grinsen. »Gut. Dann sehe ich dich in zehn Minuten im Hope and Anchor.«

 

* III

 

Der alte Gemüseladen stellte sich als ehemaliger Eckladen am Ende einer Straße mit Arbeiterhäusern zwischen Holbeck Moor und Eiland Road heraus. Die Fenster waren mit Sperrholzplatten vernagelt, auf die Obszönitäten, Hakenkreuze und rassistische Parolen gesprayt worden waren. Der Nieselregen passte perfekt zu der Umgebung und verschmierte die mit Ruß bedeckten roten Ziegel und das ausgeblichene Schild über der Tür, auf dem ARTHUR GELDERD: OBST- UND GEMÜSEHÄNDLER stand.

  Banks fragte sich, was Arthur Gelderd, der Gemüsehändler, wohl denken würde, wenn er wüsste, was aus seinem Laden geworden war. Wie Frank Hepplethwaite hatte Arthur Gelderd vermutlich im Krieg gegen Hitler gekämpft. Und vor vierzig oder mehr Jahren, bevor es Supermärkte gab, war dieser Laden wahrscheinlich einer der Treffpunkte der Nachbarschaft und ein Zentrum des Tratsches gewesen. Außerdem hatte er Gelderd und seiner Familie wohl ein bescheidenes Auskommen gesichert. Nun war er das Hauptquartier der Albion-Liga.

  Im schräg fallenden Nieselregen betrachteten Banks und Hatchley für einen Moment das Gebäude. Auf der Ingram Road zischten Autos vorbei und ließen das schmutzige Regenwasser von den Rinnsteinen aufspritzen. Das Fenster der Ladentür war mit Maschendraht gesichert, die Scheibe selbst war mit alten Reklamen von Omo und Lucozade bedeckt, sodass man nicht hineinschauen konnte. In der Mitte hing ein Ziffernblatt aus Pappe, auf dem angegeben war, wann der Laden wieder öffnen würde. Der Zeiger stand auf neun Uhr und dort würde er vermutlich immer stehen bleiben.

  Sergeant Hatchley klopfte mit seiner riesigen Pranke an. Die Tür wackelte in ihrer Verankerung, aber niemand öffnete. Er drückte die Klinke herunter, die Tür war jedoch abgeschlossen. In der Stille nach dem Klopfen meinte Banks drinnen ein Geräusch zu hören.

  »Was sollen wir machen?«, fragte Hatchley.

  »Klopfen Sie noch mal.«

  Hatchley klopfte. Heftiger dieses Mal.

  Es funktionierte. Eine Stimme hinter der Tür rief: »Was wollen Sie?«

  »Polizei«, sagte Banks. »Aufmachen.«

  Sie hörten, wie eine Kette entfernt und der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde, dann ging die Tür auf.

  Aus irgendeinem Grund hatten die neuen Bewohner die an einem Metallbogen über der Tür hängende Glocke nicht abmontiert, sodass es klingelte, als Banks und Hatchley eintraten. Der Klang erinnerte Banks daran, wie er in seiner Kindheit zum Einkaufen in den Laden um die Ecke geschickt worden war, wie er gebannt zugeschaut hatte, wenn Mrs. Bray die Maschine angeschaltet hatte und der Schinken auf der Schneidemaschine vor und zurück glitt und es jedes Mal, wenn das sich drehende Schneideblatt eine Scheibe abschnitt, einen zischenden Ton gab. Er erinnerte sich an den Geruch des geräucherten Fleisches, der in der Luft hing und sich mit dem des frischen Brotes und der Äpfel vermischte.

  Doch die Gerüche, die er aufnahm, als er jetzt in den alten Laden ging, verdrängten schnell seine nostalgischen Gedanken: Es roch nach verbranntem Kohlenstoff von Fotokopierern und Laserprintern, nach frischer Farbe, Zigarettenqualm und geschnittenem Papier.

  Das Innere ähnelte auch keinem Laden mehr. Was einmal der Tresen gewesen sein musste, war mit Papierstapeln bedeckt - dem Anschein nach weitere Kopien des Pamphlets -, und auf einem Schreibtisch brummte neben einem Telefon ein Computer. An den Wänden hing ein gerahmtes Poster von Adolf Hitler in Aktion, ein Bild, das wahrscheinlich bei einer Rede vor einem der Nürnberger Parteitage aufgenommen worden war. Dazu gab es eine große Grafik, die ein aus brennenden Pfeilen bestehendes Hakenkreuz darstellte.

  Ein kleiner, junger Mann mit strähnigem schwarzem Haar, einer altmodischen Kassenbrille und einem pickeligen Gesicht schloss hinter ihnen die Tür. »Ich freue mich immer, wenn ich der Polizei helfen kann«, sagte er mit einem dämlichen Grinsen. »Wir stehen auf der gleichen Seite.«

  »Red keinen Scheiß, Freundchen«, sagte Banks. »Wie heißt du?«

  Beleidigt begann der junge Mann zu blinzeln und trat einen Schritt zurück. »Es gibt keinen Grund ...«

  »Name?«, wiederholte Banks, während er und Hatchley näher kamen und den jungen Mann gegen den Tresen drängten.

  Der Junge hob seine Hände. »Okay, okay. Schlagen Sie mich nicht. Ich heiße Des, Des Parker.«

  »Wir wollen uns nur ein bisschen umschauen, Des, wenn du nichts dagegen hast«, sagte Banks.

  Des runzelte die Stirn. »Brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungsbefehl? Ich meine, äh, ich kenne meine Rechte.«

  Banks hielt inne und hob seine Augenbrauen. Er schaute Hatchley an. »Haben Sie das gehört, Jim? Des hier kennt seine Rechte.«

  »Ja«, sagte Hatchley, ging zum Telefon und nahm den Hörer ab. »Soll ich die Gäste willkommen heißen, Sir?«

  Des sah verwirrt aus. »Welche Gäste? Was hat er vor?«

  »Er organisiert einen Durchsuchungsbefehl«, erklärte Banks. »In ungefähr einer halben Stunde werden fünfzig Trampeltiere den Laden bis in die hinterste Ecke durchkämmen. Bis sie da sind, werden Sergeant Hatchley und ich hier mit dir warten. Vielleicht willst du den Eigentümer des Hauses benachrichtigen, solange wir warten. Wenn der Laden nicht dir gehört, möchte er vielleicht vorbeikommen, damit seine Rechte nicht verletzt werden.«

  Des schluckte. »Mr. Motcombe ... Das wird ihm nicht gefallen.«

  »Und?«

  »Was ist los, Des? Wer ist da, verdammte Scheiße? Gibt es ein Problem?«

  Der neue Sprecher kam aus dem Hinterzimmer und machte sich, begleitet von der Klospülung, seinen Hosenlatz zu. Er sah ein paar Jahre älter aus als Des Parker und immerhin fünfzig Gehirnzellen klüger. Er war groß und dünn, trug ein schwarzes T-Shirt, Jeans und rote Hosenträger, und sein blond gebleichtes Haar war äußerst kurz geschoren. Außerdem trug er einen Diamantknopf in einem Ohr und sprach mit einem starken Akzent des Nordens. Mit Sicherheit war es nicht der junge Mann, der letzten Samstag mit Jason Fox im Jubilee gewesen war.

  »Es gibt überhaupt kein Problem«, sagte Banks, während er erneut seinen Dienstausweis zeigte. »Wir wollen uns hier nur kurz umschauen, wenn das für Sie in Ordnung ist. Und wer sind Sie?«

  Der Neuankömmling lächelte. »Natürlich. Wir haben nichts zu verbergen. Ich bin Ray, Ray Knott.«

  »Aber Ray!«, protestierte Des Parker. »Mr. Motcombe ... Wir können die doch nicht einfach ...«

  »Halt die Klappe, Des, sei ein guter Junge«, sagte Ray mit einem erneuten Lächeln. »Wie gesagt, wir haben nichts zu verbergen.« Er wandte sich an Banks. »Entschuldigen Sie meinen Kumpel«, sagte er und hielt seinen Zeigefinger an die Schläfe. »Des ist nicht gerade der Hellste. Ihm fehlt's hier oben ein bisschen.«

  Banks nahm eine Kopie des Pamphlets. »Was ist denn das hier, Ray? Die Albion-Liga? Eine neue Fußballliga, oder was? Wollen Sie der Premier League Konkurrenz machen?«

  »Sehr witzig«, brummte Ray. Aber er lachte nicht.

  »Erzählen Sie uns von Jason Fox«, verlangte Banks.

  »Jason? Was denn? Er ist tot. Von Pakis zu Tode getreten. Ihr Typen habt sie freigelassen.«

  Hatchley, immer noch herumschnüffelnd, streifte einen riesigen Stapel der Pamphlete auf dem Tresen. Sie fielen herunter und verteilten sich über den ganzen Boden. Ray und Des sagten nichts.

  »Tut mir Leid«, sagte Hatchley. »Ungeschickt von mir.«

  Dieser Jim Hatchley war Banks ein Rätsel. Er steckte voller Widersprüche und Überraschungen. Während er sich Fotos von halb nackten Frauen an seine Pinwand heftete - auf jeden Fall hatte er das getan, bevor er sich das Büro mit Susan teilen musste -, hasste er Pornografen. Und während er jederzeit mit anderen über rassistische Witze lachen würde und selbst ziemlich engstirnig war, konnte er Neonazis nicht leiden. Für ihn waren das natürlich keine Widersprüche. Seiner Meinung nach hatte er keine Vorurteile, er hasste jeden.

  »Wir sind uns noch nicht sicher, wer ihn getötet hat«, sagte Banks. »Wo waren Sie beide denn zur Tatzeit?«

  Ray lachte. »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Wir sollen Jason getötet haben? Niemals. Er war einer von uns.«

  »Na, dann wird es Ihnen ja nichts ausmachen, mir zu sagen, wo Sie waren, oder?«

  »Ich war zu Hause«, verkündete Des.

  »Allein?«

  »Nein. Ich wohne bei meiner Mutter.«

  »Kann mir vorstellen, dass sie richtig stolz auf dich ist, Des. Adresse?«

  Stotternd sagte Des sie ihm.

  »Was ist mit Ihnen, Ray?«

  Ray verschränkte seine Arme, lehnte sich gegen den Tresen, schlug ein Bein über das andere und setzte ein fettes Grinsen auf. »In meiner Stammkneipe.«

  »Welche ist das?«

  »Das Oakwood. Richtung Gipton.«

  »Zeugen?«

  Ray grinste. »Mindestens sechs oder sieben. Dart-meisterschaft. Ich habe gewonnen.«

  »Gratuliere. Und Sonntagvormittag?«

  »Den Kater ausgeschlafen. Warum?«

  »Allein?«

  »Ja.«

  Banks machte sich ein paar Notizen. »Auf Ihrem Flyer gab es keine Kontaktadresse«, sagte er dann. »Sie sind doch kein Geheimbund, oder?«

  »Nein. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wir haben eine bestimmte Einstellung, die wir rüberbringen wollen, und wir wissen, dass sie bei vielen Leuten nicht populär ist. Deshalb laufen wir nicht überall rum und erzählen jedem von unserer Existenz.«

  »Darauf wette ich.«

  »Nicht jeder versteht unsere Einstellung.«

  »Bestimmt nicht. Und wie kann man dann eintreten?«

  »Wieso? Sind Sie interessiert?«

  »Beantworten Sie einfach die Frage, verdammt nochmal.«

  »Okay, okay. Kein Grund, sauer zu werden. War nur ein Witz. Wir rekrutieren Leute.«

  »Wo?«

  Ray zuckte mit den Achseln. »Wo immer wir sie finden können. Das ist kein Geheimnis. In Schulen, Jugendclubs, bei Fußballspielen, Rockkonzerten, im Internet. Natürlich überprüfen wir jeden ziemlich gründlich, der Interesse zeigt.«

  »Erzählen Sie mal, Ray, was sind denn Ihre Aufgaben?«, fragte Banks und ging beim Sprechen in dem kleinem Raum auf und ab. »Wie hoch stehen Sie in dem Verein?«

  Ray grinste. »Ich? Nicht sehr hoch. Hauptsächlich verteile ich Pamphlete. Und jetzt, wo Jason tot ist, schreibe ich ein paar Sachen.«

  »Propaganda? War das sein Job?«

  »Einer davon.«

  »Der Goebbels der Gruppe, was?«

  »Wie?«

  »Schon gut, Ray. Das war vor Ihrer Zeit. Was machen Sie noch?«

  »Ein bisschen Training.«

  »Welche Art Training?«

  »Wochenendcamps. Überlebenstechniken, Zelten, Wandern, körperliche Fitness, solche Sachen.«

  »Wie Prinz Philips Pfadfinder?«

  »Wenn Sie so wollen.«

  »Waffen?«

  Ray verschränkte seine Arme. »Sie müssten doch wissen, dass das illegal wäre.«

  »Richtig. Wie dumm von mir. Aber zurück zu Jason Fox, Ray. Wie gut kannten Sie ihn?«

  »Nicht sehr gut.«

  »Wollen Sie damit sagen, Sie beide haben Ihre Gedanken zur Einwanderungspolitik nicht geteilt und nie nach ein paar Gläsern das >Horst-Wessel-Lied< zusammen gesungen?«

  »Nein«, sagte Ray. »Und Ihren Spott können Sie sich sparen. Ich habe langsam die Schnauze voll. Hören Sie, warum besorgen Sie sich nicht Ihren Durchsuchungsbefehl und rufen Ihre Leute? Sonst verpissen Sie sich von unserem Grund und Boden.«

  Banks sagte nichts.

  »Ich meine es ernst«, fuhr Ray fort. »Lassen wir es darauf ankommen. Holen Sie entweder die Schmeißfliegen oder hauen Sie ab.«

  Während die beiden einander herausfordernd anstarrten, dachte Banks nach. Er kam zu dem Schluss, dass es hier nicht mehr zu erfahren gab. Außerdem wurde er allmählich hungrig. »In Ordnung, Ray«, sagte er. »Vorerst sind wir mit Ihnen fertig. Jim?«

  »Was? Oh, Entschuldigung.« Sergeant Hatchley bekam es fertig, einen halb vollen Teebecher auf dem Tresen umzukippen. Banks wandte sich um und beobachtete, wie sich der dunkle Fleck auf den Pamphleten ausbreitete, die noch auf dem Tresen lagen, und immer größer wurde, als das Papier den Tee aufsog. Dann öffnete er die Tür, Sergeant Hatchley gleich hinter ihm, und beide gingen hinaus zum Wagen. Der Nieselregen hatte jetzt aufgehört und ein frischer Wind war aufgekommen, sodass gelegentlich ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen durch die dicken grauen Wolken brechen konnten.

  »Wir hätten nicht gehen müssen, Sir«, meinte Hatchley, als sie in den Wagen stiegen. »Wir hätten die beiden noch ein bisschen weiter bearbeiten können.«

  »Ich weiß. Wir können jederzeit zurückkommen, wenn es sein muss, aber ich glaube nicht, dass wir dort Antworten finden werden.«

  »Glauben Sie, dass die beiden etwas mit Jasons Tod zu tun haben?«

  »Weiß ich noch nicht. Ehrlich gesagt, wüsste ich nicht, warum sie etwas damit zu tun haben sollten.«

  »Ich auch nicht. Und nun?«

  Banks zündete sich eine Zigarette an und ließ das Fenster ein Stückchen hinab. »Heute Nachmittag werden wir uns mit Neville Motcombe unterhalten«, sagte er, »aber was würden Sie vorher von einem Mittagessen mit Ken Blackstone halten? Klein Adolf hat da etwas gesagt, was mich auf einen Gedanken gebracht hat.«

 

* IV

 

Als Susan ins Hope and Anchor kam, das gleich um die Ecke in der York Street lag, blätterte Gavin mit einem vollen Pint neben sich bereits durch die Speisekarte. Susan winkte ihm zu, holte sich an der Bar wie üblich ein Wasser und ging zu ihm. Die Ausgabe von Classic CD, die sie beim Zeitungshändler gekauft hatte, legte sie neben sich auf die Bank.

  »Und, was führt dich in die Stadt?«, fragte sie.

  »Ich musste ein paar Aktenkisten bei euch abliefern. Computer können eben auch nicht alles.«

  In dem Lokal herrschte nicht viel Betrieb, sodass beide bald das Tagesgericht Lasagne mit Pommes frites bestellen konnten. Gavin hob sein Glas. »Cheers.«

  »Cheers.« Susan lächelte ihn an. Etwas über einsachtzig groß und nur ein paar Jahre älter als sie, war Gavin ein gut aussehender Kerl mit einem kräftigen Kinn, gefühlvollen Augen und einer zotteligen, kastanienbraunen Mähne. Im Rugbyteam der Polizei war er Verteidiger.

  »Also«, sagte Gavin, »Sie sind diensthabender Sergeant, da kommt der Notruf rein, dass im Swainsdale-Center ein kleiner atomarer Sprengkörper gefunden wurde. Ein rechtsgültiges Codewort wurde ausgegeben, im Center ist um diese Tageszeit eine Menge los, und Sie haben zwanzig Minuten Zeit, jede Packung Rice Krispies in Eastvale an einen vereinbarten Ort zu bringen. Was machen Sie?«

  Susan lachte. »Ich steige in meinen Wagen und mache, dass ich so schnell wie möglich wegkomme.«

  »Tut mir Leid, Detective Constable Gay, Sie sind durchgefallen.«

  Es war ein ständiger Witz zwischen den beiden. Sie hatten sich kurz nach ihren Prüfungen kennen gelernt, und seitdem entwickelten sie immer absurdere Versionen von den Fallbeispielen, die sie damals lösen mussten.

  »Was ist das?«, fragte Gavin und zeigte auf das Magazin.

  »Ach, nur ein Musikmagazin.«

  »Das sehe ich. Hast du es mitgebracht, falls unser Gespräch langweilig wird?«

  »Blödmann.« Susan grinste. »Ich habe es unterwegs gekauft. Ich dachte, ich müsste vielleicht auf dich warten.«

  Gavin nahm das Magazin. »Klassische Musik? Mit einer kostenlosen CD? Cecilia Bartoli. Sir Simon Rattle. Meine Güte. Alan-Bennett-Stücke sind eine Sache, aber ich wusste nicht, dass du so kulturbesessen bist.«

  Susan riss ihm das Magazin aus der Hand. »Detective Chief Inspector Banks hat mich darauf gebracht«, sagte sie. »Wenn ich mit ihm im Auto sitze, kriege ich eine Menge klassische Musik zu hören, und ich fand ... nun, manches davon ist wirklich interessant. Dieses Magazin ist ein einfacher Weg, mehr über diese Musik zu erfahren. Auf der CD sind Ausschnitte von Opern oder so, und wenn sie mir gefallen, dann gehe ich manchmal los und kaufe mir die gesamte Aufnahme.«

  »Aha, der allgegenwärtige Chief Inspector Banks. Hätte ich mir denken können, dass er irgendwie seine Hände im Spiel hat. Und wo steckt der Goldjunge heute?«

  »Er ist nach Leeds gefahren. Und ich habe dich gebeten, nicht so über ihn zu sprechen.«

  »Leeds? Schon wieder? Weißt du, was ich glaube?« Gavin beugte sich vor und kniff seine Augen zusammen. »Ich glaube, er hat dort eine Freundin. Bestimmt.«

  »Sei nicht albern! Er ist verheiratet.«

  Gavin lachte. »Ich habe noch nie gehört, dass das einen Mann abhalten kann. Was ist mit dieser Geigerin, von der du mir erzählt hast? Treibt es Banks mit ihr?«

  »Du bist ekelhaft. Sie heißt Pamela Jeffreys und sie ist Bratschistin, nicht Geigerin. Nur zu deiner Information, Chief Inspector Banks ist ein anständiger Kerl. Er hat eine absolut großartige Frau. Sie leitet die Kunstgalerie im Gemeindezentrum. Ich bin mir sicher, dass er ihr treu ist. So etwas würde er nie tun.«

  Gavin hob seine Hand. »Schon gut, schon gut. Ich gebe mich geschlagen. Wenn du das sagst, dann ist er ein Heiliger.«

  »Das habe ich auch wieder nicht behauptet«, entgegnete Susan mit zusammengebissenen Zähnen und schaute ihn zornig an.

  Ihr Essen wurde serviert und beide schlugen zu. Susan konzentrierte sich auf die Lasagne und versuchte die Pommes frites zu ignorieren. Was ihr nicht ganz gelang.

  »Aber eines kann ich dir sagen«, meinte Gavin. »Für Chief Constable Riddle ist Banks mit Sicherheit kein Heiliger.«

  »Jimmy Riddle ist ein Idiot.«

  »Das mag sein. Aber er ist nun mal Chief Constable, und dein Goldjunge hatte ihn kürzlich gewaltig auf die Palme gebracht. Nur eine freundliche Warnung, mehr nicht.«

  »Meinst du wegen der asiatischen Jungs, die wir in Gewahrsam genommen haben?«

  Gavin nickte. »Ja, könnte etwas mit ihnen zu tun haben. Und dass er dadurch fast Rassenunruhen ausgelöst hat.«

  »Rassenunruhen? In Eastvale?« Sie lachte. »Das war ein Sturm im Wasserglas, Gavin. Ich war dabei. Und wir hatten gute Gründe, die drei in Gewahrsam zu nehmen. Sie sind auch noch nicht aus dem Schneider. Das Labor hat an George Mahmoods Schuhen eine verdächtige Substanz gefunden. Die Techniker arbeiten noch daran.«

  »Wahrscheinlich Hundescheiße. Ich glaube, das wird nicht reichen, um den Chief Constable zu überzeugen.«

  »Sie glauben, es könnte Blut sein. Und du weißt genauso gut wie ich, dass sich Jimmy Riddle nur dem politischem Druck gebeugt hat, als er ihre Freilassung befahl.«

  »Unterschätze politischen Druck nicht, Susan. Das kann eine starke Motivation sein. Besonders wenn es um persönliche Karrieren geht. Aber du hast vermutlich Recht, was seine Gründe angeht.« Gavin schob seinen leeren Teller zur Seite. »Um ehrlich zu sein, habe ich den Chief Constable im privaten Kreis noch nie ein gutes Wort über Dunkelhäutige sagen hören. Nach außen sieht das natürlich anders aus. Sie sind sicherlich nur freigekommen, weil es Farbige sind. Dieses Mal. Und weil dieser Mustapha Kamel, oder wie er heißt, irgendein Obermufti in der moslemischen Gemeinde ist. Doch es gibt einen großen Teil der Öffentlichkeit - besonders einige eher liberale Pressevertreter -, die der Meinung sind, dass sie überhaupt nur verhaftet wurden, weil es Farbige sind. Du hast die Wahl. Aber gewinnen kannst du nicht. Ich wollte auch nur sagen, vielleicht willst du ja Banks warnen, dass der Chief Constable auf dem Kriegspfad ist.«

  Susan lachte. »Das ist nichts Neues. Ich glaube, das weiß er bereits.« Sie schaute auf ihre Uhr.

  »Vielleicht ist er deshalb nach Leeds verschwunden?«

  »Chief Inspector Banks hat keine Angst vor Jimmy Riddle.«

  »Sollte er aber vielleicht.«

  Susan konnte Gavin nicht ansehen, ob er es ernst meinte oder nicht. Man konnte ihn oft nur schwer einschätzen. »Ich muss los«, sagte sie und stand auf.

  »Du kannst noch nicht weg. Du hast deine Pommes nicht aufgegessen.«

  »Die machen dick.«

  »Aber meine halbe Stunde ist noch nicht um.«

  »Ist das Leben nicht ungerecht?«, säuselte Susan lächelnd, während sie ihn auf die Wange küsste und sich dann zum Gehen umwandte.

  »Samstag?«, rief er hinter ihr her.

  »Mal sehen«, gab sie zurück.