* NEUN

 

* I

 

»Tut mir Leid, dass wir Sie von Frau und Kind wegholen mussten, Mark«, sagte Gristhorpe. »Wollen wir hoffen, dass es nicht lange dauert.«

  Wood sagte nichts, er schaute nur mürrisch und trotzig drein.

  »Auf jeden Fall«, fuhr Gristhorpe fort, »möchte ich Ihnen danken, dass Sie Zeit für uns haben.« Er setzte eine Lesebrille auf seine Hakennase, blätterte durch ein paar Papiere vor ihm und schaute gelegentlich über den Brillenrand. »Es gibt da nur ein paar Punkte, die wir gerne geklärt hätten, und wir glauben, dass Sie uns dabei helfen können.«

  »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich nichts weiß«, entgegnete Wood.

  Susan saß neben Gristhorpe in dem Verhörzimmer mit den ausgeblichenen anstaltsgrünen Wänden, dem hoch liegenden, vergitterten Fenster, dem Metalltisch und den Stühlen, die am Boden befestigt waren, dem Geruch nach Zigarettenrauch, Schweiß und Urin. Susan war überzeugt davon, dass dieser Geruch jeden Tag frisch versprüht wurde. Zwei Kassettenrecorder liefen und erzeugten im Hintergrund ein leises Surren. Als sie endlich mit dem Verhör beginnen konnten, war es draußen bereits dunkel. Gristhorpe hatte schon die Rechtsbelehrung vorgetragen. Außerdem hatte Wood einen Strafverteidiger in Leeds angerufen, Giles Var-ney, aber nur seinen Anrufbeantworter erreicht. Man musste schon viel Glück haben, um am Freitagabend einen Anwalt zu Hause anzutreffen, wusste Susan aus Erfahrung. Aber er hatte nur eine Nachricht hinterlassen und standhaft den Pflichtverteidiger abgelehnt. Da Giles Varney einer der bekanntesten Strafverteidiger des Countys war, überraschte es Susan nicht. Doch sie hätte nicht gedacht, dass Varney für einen kleinen Mann wie Mark überhaupt in Betracht kam.

  »Ja«, sagte Gristhorpe, nahm seine Brille ab und sortierte die Blätter vor ihm. »Das weiß ich. Es ist nur manchmal so, dass die Menschen, wenn sie mit der Polizei in Kontakt kommen, lügen.« Er zuckte mit den Achseln und hob dann beschwichtigend seine Hände. »Also, ich kann das verstehen, Mark. Diese Menschen tun das vielleicht, um sich zu schützen, oder vielleicht nur, weil sie Angst haben. Aber sie lügen. Und das macht unsere Arbeit etwas schwieriger.«

  »Tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Wood.

  Gutes Zeichen, dachte Susan, Gristhorpe hatte den jungen Mann bereits dazu gebracht, höflicher zu werden.

  »Also«, fuhr Gristhorpe fort, »als Sie das letzte Mal in Schwierigkeiten gerieten, haben Sie der Polizei erzählt, Sie hätten keine Ahnung davon gehabt, dass der Van, den Sie gefahren haben, für den Transport von Drogen benutzt wurde und dass einige der Leute, mit denen Sie zu tun hatten, mit Drogen handelten. Ist das richtig?«

  »Meinen Sie, ob es das ist, was ich gesagt habe?«

  »Ja.«

  Mark nickte. »Ja.«

  »Und die Aussage ist auch richtig?«

  Mark grinste. »Natürlich. Es ist das, was ich vor Gericht gesagt habe, oder? So steht es im Protokoll. Man kann es kaum mir anlasten, wenn der Richter mir nicht geglaubt hat.«

  »Natürlich nicht, Mark. Ständig werden unschuldige Leute verurteilt. Das ist eines der Probleme des Rechtssystems. Nichts ist vollkommen. Aber es wird so viel gelogen, dass Sie verstehen werden, dass wir möglicherweise ein bisschen auf der Hut sind, ja sogar übervorsichtig und vielleicht nicht ganz so gutgläubig, wie Sie es gerne hätten, oder?«

  »Mmm. Ja.«

  Gristhorpe nickte. »Gut.«

  Die Verhörtechnik des Superintendenten, fiel Susan auf, stand in direktem Kontrast zu Banks' Methode, den sie schon häufiger bei der Befragung von Personen erlebt hatte. Banks neigte dazu, die Leute, die er verhörte, zu piesacken, und wenn er sie verwirrt und verwundbar gemacht hatte, stellte er scharfsinnig mögliche Szenarios dar, wie und warum sie das Verbrechen begangen haben könnten. Manchmal ging er sogar so weit, dass er ihnen ihre Gefühle und ihren Seelenzustand während der Tat erklärte. Und wenn sie neu in der Welt des Verbrechens waren, beschrieb er ihnen dann in allen Einzelheiten, welche Art von Leben sie im Gefängnis und der Zeit danach zu erwarten hatten. Banks zielte auf die Vorstellungskraft seines Gegenübers ab; er benutzte Worte, um Bilder zu malen, die dem Zuhörer unerträglich waren.

  Gristhorpe schien mehr auf die Logik und auf vernünftige Argumente zu bauen; er war höflich, ruhig und unbarmherzig. Er machte auch den Eindruck, langsamer als Banks zu sein. Als hätte er alle Zeit der Welt. Doch Susan wollte es schnell hinter sich bringen. Sie hatte bereits die Kollegen im Labor gebeten, Überstunden zu machen, um Mark Woods Schuhe und Kleidung zu untersuchen, und wenn sie einen handfesten forensischen Beweis ermittelten oder Gristhorpe ein Geständnis erhielt, dann gab es die reelle Chance, die Sache noch vor heute Abend unter Dach und Fach zu kriegen. Und Jimmy Riddle wäre hoch zufrieden.

  Als Bonus würde sie endlich einmal das Wochenende frei bekommen und dann könnte sie am Samstagabend mit Gavin ausgehen. Vorhin hatte sie erwogen, ihn anzurufen - sie hatte sogar schon den Hörer abgenommen -, aber sie hatte dem Impuls widerstanden. Es hätte ausgesehen, als wäre sie zu sehr interessiert, zu leicht verfügbar. Er sollte sie herumkriegen. Er sollte sie verführen.

  »Verstehen Sie«, fuhr Gristhorpe fort, »die Lügen von der Wahrheit zu unterscheiden ist eines unserer Hauptprobleme. Deshalb gibt es die Wissenschaft, die uns hilft. Wissen Sie, was >forensisch< bedeutet?«

  Wood runzelte die Stirn und zog an seinem Ohrring. »Da geht es doch um Blutgruppen, Fußspuren, DNA und Fingerabdrücke und so was?«

  »Das ist ein weit verbreiteter Irrtum«, erwiderte Gristhorpe, der mit seiner Brille auf dem Tisch spielte. »Tatsächlich bedeutet es >die Gerichtsverhandlung betreffend<. Das Wort stammt aus dem Lateinischen und ist verwandt mit dem Wort Forum. Eines der besten Systeme, das uns hilft, die Lügen von der Wahrheit zu unterscheiden, ist also ein komplexer und breit gefächerter Wissenschaftszweig, der sich einzig und allein der Präsentation von wissenschaftlichen Beweisen bei der Gerichtsverhandlung widmet. Vor der Gerichtsverhandlung helfen uns diese forensischen Beweise natürlich erst einmal, die Leute zu finden, die vor Gericht kommen müssen. Und in Ihrem Fall sagt uns der Beweis leider, dass Sie wegen des Mordes an Jason Fox vor Gericht kommen müssten. Was haben Sie dazu zu sagen, Mark?«

  »Nichts. Was soll ich sagen? Ich habe nichts getan.«

  Wood war durch Gristhorpes sanfte und gelehrte Logik verstört, merkte Susan. Doch er blieb kühl. Ihr fiel auf, dass Gristhorpe die Stille in die Länge zog, bis Wood sich auf seinem Stuhl zu winden begann.

  »Aber Sie müssen doch etwas zu sagen haben, junger Mann«, fuhr Gristhorpe fort, setzte seine Brille wieder auf und zog eine Fotografie aus der vor ihm liegenden Akte. »Dies ist die Darstellung eines Fingerabdruckes, der auf dem Etikett einer Bierflasche gefunden wurde«, sagte er und drehte das Foto herum, damit Wood es betrachten konnte. »Er wurde in einem sehr mühsamen Prozess entwickelt. Die forensische Wissenschaft produziert keine Wunder, Mark, aber manchmal scheint sie nahe dran zu sein. Ich bin mir sicher, dass Sie intelligent genug sind, um zu wissen, dass Fingerabdrücke einzigartig sind. Bisher sind noch keine zwei Finger gefunden worden, die dieselbe Hautleistencharakteristik aufweisen. Ist das nicht erstaunlich?«

  Wood sagte nichts, sein Blick klebte auf dem Foto.

  »Das Besondere an diesem Fingerabdruck ist jedenfalls«, sprach Gristhorpe weiter, »dass er von einem Splitter einer zerbrochenen Flasche stammt, die am Tatort des Mordes an Jason Fox gefunden worden ist.

  Aber vielleicht bin ich etwas voreilig, schon jetzt von Mord zu sprechen, denn das ist bisher noch nicht bewiesen. Ihnen ist bekannt, dass ein großer Unterschied zwischen Mord und Totschlag besteht, oder, Mark?«

  Wood nickte. »Ja.«

  »Gut. Es bedeutet auch einen großen Unterschied in den Strafmaßen. Aber das soll uns im Moment nicht aufhalten. Der Punkt ist jedenfalls, dass dieser Fingerabdruck auffällig dem Ihren gleicht, den wir ja bereits in den Akten haben, und dass er in der Gasse am Park auf dem Splitter einer zerbrochenen Bierflasche unter Jason Fox' Leiche gefunden worden ist. Ich hätte gerne, dass Sie mir sagen, wie er dort hingelangt ist.«

  Wood fuhr mit der Zunge über seine Lippen und warf einen kurzen Blick zu Susan. Sie sagte nichts. Er schaute zurück in Gristhorpes arglose blaue Augen.

  »Tja, äh ... Ich muss sie wohl berührt haben, oder, wenn meine Abdrücke drauf sind?« Er lächelte.

  Gristhorpe nickte. »Ja. Das nehme ich an. Wann könnte das geschehen sein, Mark?«

  »Ich habe sie Jason gegeben«, sagte Wood schließlich.

  »Wann?«

  »Als wir aus dem Pub kamen. Verstehen Sie, ich dachte, ich würde noch ein Bier trinken; deshalb habe ich, bevor wir gegangen sind, noch schnell eine Flasche beim Straßenverkauf gekauft, aber dann fiel mir ein, dass ich über die A1 zurückfahren musste, und darum habe ich sie einfach Jason gegeben. Er sagte, er würde zu Fuß nach Hause gehen.«

  »Ach«, sagte Gristhorpe. »Sie haben also die Flasche Bier Jason gegeben, als Sie sich vor dem Jubilee getrennt haben?«

  »Das stimmt. Ich parkte direkt an der Straße, in der der Pub ist. Market Street. Richtig?«

  »So heißt die Straße.« Gristhorpe schaute Susan an, die ihre Augenbrauen hob.

  »Was ist?«, fragte Wood.

  Susan kratzte das Grübchen in ihrem Kinn. »Eigentlich nichts, Mark«, sagte sie. »Es ist nur so, dass Sie mich ein bisschen verwirren. Als ich vorhin mit Ihnen gesprochen habe, haben Sie geleugnet, am Samstagabend überhaupt in Eastvale gewesen zu sein. Erinnern Sie sich?« Sie tat so, als würde sie von den Blättern vor ihr ablesen. »Sie haben ein paar Flaschen Bier gekauft und ein Steven-Seagal-Video ausgeliehen, welches Sie und Ihre Frau am besagten Abend angeschaut haben. Sie sind nicht einmal kurz ins Hare and Hounds gegangen. Das haben Sie gesagt, Mark.«

  »Ja, gut... Es ist so, wie er vorhin gesagt hat, oder?« Er schaute zu Gristhorpe.

  »Und das wäre, Mark?«, fragte Gristhorpe.

  »Diese Sache über Leute, die lü... über Leute, die , manchmal nicht ganz die Wahrheit sagen, wenn die Polizei zu ihnen kommt.«

  »Sie haben also nicht die Wahrheit gesagt?«

  »Nicht ganz.«

  »Warum nicht?«

  »Ich hatte Angst.«

  »Wovor?«

  »Dass Sie mir die Sache anhängen, weil ich schon mal Schwierigkeiten hatte.«

  »Ach so«, sagte Gristhorpe und schüttelte den Kopf. »Die klassische Vorverurteilung. Das ist ein weiteres Problem, gegen das wir ständig kämpfen müssen: die öffentliche Wahrnehmung der Polizei, die vor allem von den Medien hergestellt wird. Besonders vom Fernsehen. Tja, Mark, ich bezweifle nicht, dass es tatsächlich Polizisten gibt, die nicht davor zurückschrecken würden, eine Eintragung im Notizbuch zu fälschen oder eine Aussage zu verändern, um jemanden zu verurteilen. Die Birminghamer Sechs sind uns allen peinlich, müssen Sie wissen. Deswegen gibt es heutzutage so viele Gesetze, welche die Position der Bürger schützen. Wir dürfen Sie nicht verprügeln. Wir dürfen kein Geständnis von Ihnen erzwingen. Wir müssen Sie gut behandeln, solange Sie in Gewahrsam sind, wir müssen Sie ernähren, Ihnen Möglichkeiten zur Bewegung erlauben, Ihnen Kontakt mit einem Strafverteidiger gewähren. Und so weiter. Das ist alles durch die Richtlinien der Polizei festgelegt.« Gristhorpe spreizte seine Finger. »Verstehen Sie, Mark, wir sind nur bescheidene Diener der Öffentlichkeit, sanfte Hüter des Gesetzes, nur dazu da, dafür zu sorgen, dass Ihre Rechte nicht auf irgendeine Weise missbraucht werden. Übrigens, Sie werden mittlerweile etwas hungrig sein, oder? Ich habe jedenfalls Hunger. Was halten Sie davon, wenn ich uns ein bisschen Kaffee und ein paar Sandwiches kommen lasse?«

  »Von mir aus. Solange sie nicht mit Lachs sind. Ich bin allergisch gegen Lachs.«

  »Kein Problem. Susan, würden Sie einen der uniformierten Beamten bitten, kurz rüber ins Queen's Arms zu gehen und Cyril zu bitten, uns zwei oder drei Schinken-und-Käse-Sandwiches zu machen? Und einer von der Bereitschaft soll uns eine Kanne frischen Kaffee hochbringen, bitte.«

  »Selbstverständlich, Sir.«

  Susan steckte ihren Kopf durch die Tür, gab die Bitte weiter und kehrte dann wieder auf ihren Stuhl zurück.

  »Aber während wir warten«, sagte Gristhorpe, »und wenn Sie nichts dagegen haben, Mark, lassen Sie uns noch einmal zu den Vorgängen des letzten Samstagabends zurückkehren, ja? So, wie ich gehört habe, haben Sie Ihre ursprüngliche Geschichte geändert, die Sie nun, verständlicherweise, als Lüge bekennen.«

  »Weil ich Angst hatte, dass Sie mir etwas anhängen.«

  »Richtig. Weil Sie Angst hatten, dass wir Ihnen etwas anhängen. Aber was das angeht, habe ich Sie hoffentlich beruhigt.«

  Wood lehnte sich zurück und lächelte. »Sie sind wesentlich netter als diese Typen von West Yorkshire, die mich wegen dieser Drogensache geschnappt haben.«

  Ich glaube es nicht, dachte Susan. Jetzt bekam der alte Herr sogar schon Komplimente von seinen Verdächtigen.

  »Tja«, sagte Gristhorpe und neigte leicht seinen Kopf. »Die Beamten in West Yorkshire haben auch wesentlich mehr Probleme als wir hier. Das ist ein urbaneres Umfeld dort. Die müssen die Ermittlungen manchmal ein bisschen abkürzen.«

  »Verstehe.«

  »Aber das liegt ja jetzt alles hinter Ihnen, Mark, nicht wahr? Sie sind seitdem ein guter Junge gewesen. Sie haben einen Kurs belegt und sich dann selbstständig gemacht. Bewundernswert. Doch nun gibt es dieses kleine Problem, und je eher wir es geklärt haben, desto schneller können Sie Ihr normales und produktives Leben mit Ihrer Familie weiterführen. Hat Jason jemals versucht, Sie für die Albion-Liga zu interessieren?«

  »Manchmal. Er hat eine Menge Schwachsinn darüber gefaselt, dass der Holocaust nie stattgefunden hat und dass die meisten Juden an Typhus gestorben sind und die Duschen nur dafür da waren, sie zu desinfizieren, dass es also in Wirklichkeit gar keine Todeslager gab. Ich muss zugeben, dass mich sein Gelabere ein bisschen angewidert hat. Dann habe ich das Interesse verloren und ihm kaum noch zugehört. Meistens dachte ich, er kann das nicht ernst meinen.«

  »Ich habe gehört, Ihre Frau stammt aus der Karibik?«

  »Ihre Familie ist aus Jamaika, ja.«

  »Wie haben Sie das damit in Einklang gebracht, mit einem Rassisten wie Jason zusammenzuarbeiten?«

  »Ich habe mir keine großen Gedanken darüber gemacht, auf jeden Fall am Anfang nicht. Wie gesagt, meiner Meinung nach gab Jason eine Menge Müll von sich. Ich war kurz davor, ihn loszuwerden, als ...«

  »Als was, Mark?«

  »Sie wissen schon. Als er starb.«

  »Ach, genau. Haben Sie ihm erzählt, dass Sie mit einer Jamaikanerin verheiratet sind?«

  »Machen Sie Witze ? Um dann zu hören, wie er darüber herzieht? Bei gemischten Ehen konnte er echt an die Decke gehen. Nein, ich habe mein Privatleben und meine beruflichen Angelegenheiten komplett getrennt.«

  Gristhorpe rückte wieder seine Brille zurecht und nahm sich ein paar Augenblicke, um einige Blätter zu überfliegen. Dann schaute er zurück zu Wood, nahm seine Brille in die Hand und runzelte die Stirn. »Aber Sie wussten, dass Jason diese Computerarbeit für seine Liga gemacht hat?«

  Das Essen kam, und sie machten einen Moment Pause, um die Sandwiches herumzureichen und Kaffee einzuschenken.

  »Ja, ich wusste es«, antwortete Wood. »Aber was er in seiner Freizeit gemacht hat, war seine Sache.«

  »Selbst wenn es Ihnen nicht gefiel? Seine Arbeit trug das Zeichen der Firma, die Sie beide zusammen geführt haben, oder?«

  »Wir konnten alle Aufträge gebrauchen, die wir kriegen konnten.«

  »Richtig. Deshalb haben Sie Ihren Namen für die Propaganda einer Neonazi-Gruppe hergegeben, obwohl Sie deren Ansichten abscheulich fanden. Mein Gott, Ihre Frau ist eine Schwarze, Mark. Was glauben Sie, würden die Kumpane von Jason Fox mit ihr machen, wenn sie auch nur die geringste Gelegenheit hätten? Was geben Sie denn für eine Figur ab, Mark? Schämen Sie sich für Ihre Frau?«

  »Jetzt warten Sie mal einen Moment...«

  Gristhorpe beugte sich vor. Er sprach nicht lauter, er fixierte Mark nur mit seinen Blicken. »Nein, Mark, jetzt warten Sie mal einen Moment. Sie haben mit Jason Fox getrunken in der Nacht, in der er getötet wurde. Sie haben uns bereits ein paar Mal angelogen, aber lassen wir das jetzt mal außer Acht. Ihre neueste Geschichte lautet, dass Sie mit Jason zusammen waren, aber dass Sie beide sich vor dem Jubilee getrennt haben, wobei Sie ihm die Flasche Bier gegeben haben, die Sie beim Straßenverkauf gekauft haben, weil Ihnen einfiel, dass Sie nach Hause fahren mussten. Ist das richtig?«

  »Ja.«

  »Und Sie beide waren keine engen Freunde?«

  »Nein. Das habe ich Ihnen bereits gesagt. Wir haben zusammengearbeitet. Das ist alles.«

  »Wie kamen Sie dann darauf, mit ihm im Jubilee trinken zu gehen? Eastvale ist weit weg von Ihrem normalen Revier, oder? Können Sie das erklären?«

  »Er sagte, er wollte zum Fußballspielen nach Eastvale fahren. Ich hatte Lust, mal wieder auszugehen - irgendwo anders. Nur zur Abwechslung. Sheri wusste, dass ich in letzter Zeit ein bisschen mies drauf war, wegen der Firma und so weiter, und sie sagte, es würde ihr nichts ausmachen, mit Connor zu Hause zu bleiben. Im Jubilee spielen samstagsabends echt gute Bands und ich mag Livemusik.«

  »Sie sind also den ganzen Weg von Castleford hier hoch gefahren, um einen geselligen Abend mit einem Geschäftspartner zu verbringen, den Sie nicht besonders mochten, jemandem, der der Meinung war, Ihre Frau und ihresgleichen sollte man auf Boote packen und zurück in die Karibik schicken?«

  Mark zuckte mit den Achseln. »Ich bin wegen der Band gekommen. Da Jason sowieso in der Stadt war, wollte er vorbeikommen, mehr nicht. Ich dachte, es wäre mal eine Abwechslung von Razor's Edge und Celtic Warrior und dem ganzen anderen Scheiß, den er hörte. Einmal anständige Musik hören. Das Jubilee hat im ganzen Norden einen guten Ruf. Da können Sie jeden fragen. Und so weit weg ist es auch nicht. Immer die A1 hoch. Dauert nicht länger als anderthalb Stunden oder so für einen Weg.«

  »Das sind drei Stunden Fahrt, Mark.«

  »Und? Ich fahre gern.«

  »Was haben Sie getan, nachdem Sie sich von Jason getrennt hatten?«

  »Ich bin direkt nach Hause gefahren. Ich war nicht über die Promillegrenze, wenn Sie darauf hinauswollen.«

  »Aber Sie sind trotzdem den ganzen Weg gekommen, obwohl Sie wussten, dass Sie trinken würden und zurückfahren müssen?«

  Wood zuckte mit den Achseln. »Ich bin kein großer Trinker. Mir reichen drei oder vier Pints an einem Abend.«

  »Sind Sie sicher, dass Sie nicht mehr hatten, Mark?«

  »Ich hatte drei Pints. Höchstens vier. Wenn ich damit die Promillegrenze überschritten habe, dann klagen Sie mich eben an.«

  »Sind Sie sicher, dass Sie nicht zu viel getrunken und Jason gefragt hatten, ob Sie bei ihm übernachten können? Sind Sie sicher, dass Sie nicht mit ihm ...«

  »Nein. Ich habe es Ihnen gesagt. Ich bin direkt nach Hause gefahren.«

  »In Ordnung, Mark. Wenn Sie das sagen. Ich habe jedoch noch eine weitere Frage an Sie, bevor ich Sie allein lasse, damit Sie über unsere kleine Diskussion nachdenken können.«

  »Und welche?«

  »Wenn Sie Jason die Bierflasche gegeben haben und er daraus auf seinem Heimweg getrunken hat, warum haben wir dann nicht auch seine Fingerabdrücke darauf gefunden?«

 

* II

 

Das Mädchen war unglaublich schön, fand Banks. Sie sah leicht orientalisch aus und hatte langes, glattes schwarzes Haar, eine goldene Haut und ein herzförmiges Gesicht mit perfekten, vollen Lippen und Mandelaugen. Sie konnte nicht älter als neunzehn oder zwanzig sein.

  Im Moment saß sie auf einem Stuhl, der in einen roten Neonschimmer getaucht war. Sie trug baumelnde silberne Ohrringe, einen schwarzen Spitzenbüstenhalter und einen Slip. Mehr nicht. Ihre schlanken Beine waren leicht gespreizt, sodass man durch ihre Oberschenkel deutlich die weiche Erbebung ihrer Scham erkennen konnte. Auf der Innenseite ihres linken Oberschenkels hatte sie eine winzige Tätowierung, einen Schmetterling, so wie es aussah.

  Und sie lächelte Banks an.

  »Nein«, sagte Burgess. »Die nicht. Die hat ja keine Titten.«

  Banks musste innerlich lächeln und kam auf den Boden der Tatsachen zurück. So schön das Mädchen auch war, er konnte sich genauso wenig vorstellen, mit ihr zu schlafen, wie mit einer von Tracys Freundinnen. Obwohl ihm der Schaufensterbummel durch den Rotlichtbezirk mit Burgess ganz gut gefallen hatte, hatte er nie in Erwägung gezogen, für das, was dort angeboten wurde, Geld auszugeben. Er vermutete, dass es Burgess im Grunde ebenso ging. Und nach drei oder vier Pils und dem einen oder anderen Genever war es auch fraglich, ob einer von den beiden überhaupt noch zu einer diesbezüglichen Aktivität in der Lage war.

  In der Nacht war Amsterdam besonders schön, stellte Banks fest. Über den Brücken hingen Lichterketten, die sich in den Grachten spiegelten, und aus den von Kerzenlicht erfüllten gläsernen Kabinen der Ausflugboote für »Liebespaare« erklang romantische Geigenmusik, während in ihrem Kielwasser die Reflexionen der Lichter im dunklen, öligen Wasser schimmerten. Er wünschte, Sandra wäre bei ihm und nicht Burgess. Sie würden die ganze Nacht an den Grachten entlangspazieren und sich wie vor Jahren hoffnungslos verlaufen.

  Nachts hatte der Rotlichtbezirk einen wesentlich größeren Reiz als am Tage, wenn er im Grunde nur ein weiterer Halt bei einer Besichtigungstour war. In der Nacht blieben die meisten Touristen dem Ort fern, doch nach Banks' Empfinden war er nicht gefährlicher als Soho. Seine Brieftasche war sicher in der Innentasche seiner Wildlederjacke verstaut, die mit einem Reißverschluss versehen war, und sonst hatte er nichts bei sich, was einen Diebstahl lohnen würde. Und wenn er in eine gewalttätige Situation geraten sollte, würde er schon allein zurechtkommen. Er fühlte sich zwar ein bisschen benebelt, war aber nicht betrunken. , Im Strom der Menge bummelten sie durch die Straßen, blieben gelegentlich vor einem Schaufenster stehen und waren meistens überrascht, wie schön und jung die sich präsentierenden Prostituierten waren. Einmal wurde Burgess angerempelt und Banks musste einschreiten, um eine Prügelei zu verhindern. Das wäre nicht besonders gut angekommen, dachte er: HOCHRANGIGER BEAMTER VON SCOTLAND YARD NACH SCHLÄGEREI IM AMSTERDAMER ROTLICHTBEZIRK VERHAFTET.

  Nach einer Weile bekam Banks in der Menge Platzangst und spielte gerade mit dem Gedanken, ins Hotel zurückzugehen, als Burgess sagte: »Scheiß drauf. Wissen Sie was, Banks?«

  »Was?«

  »Ich gebe es nur ungern zu, aber selbst wenn ich wollte, ich würde wahrscheinlich keinen mehr hochkriegen. Trinken wir noch was. Einen Absacker.«

  Das schien Banks, der sich gerne hinsetzen und eine Zigarette rauchen wollte, eine gute Idee zu sein. Also gingen sie in eine Bar an einer Straßenecke, wo Burgess prompt wieder Pils und Genever für die beiden bestellte.

  Über die laute Musik - eine Art moderner Europop, vermutete Banks - unterhielten sie sich über gemeinsame Bekannte bei der Londoner Polizei und beobachteten die Gäste: Seeleute, Punks, Prostituierte und hin und wieder ein Dealer, der seinen Stoff loswerden wollte. Als sie ausgetrunken hatten, schlug Burgess eine weitere Runde vor, doch Banks meinte, sie sollten lieber ein Lokal suchen, das näher am Hotel lag, solange er sich noch an den Weg erinnern konnte.

  »Scheiß auf das Hotel. Wir können überall ein Taxi nehmen«, sagte Burgess.

  »Ich habe keine Ahnung, wo der nächste Taxistand ist. Außerdem ist es nicht weit. Der Spaziergang wird Ihnen gut tun.«

  Burgess war mittlerweile tatsächlich schon völlig hinüber. Er bestand auf wenigstens noch einem weiteren Genever, den er auf Ex wegkippte, und nach etwas Gemurre gab er sich daraufhin geschlagen und folgte Banks stolpernd hinaus auf die Straße. Sie gelangten schnell aus dem Rotlichtbezirk heraus und kamen auf die Damrak, die noch belebt war. Burgess schlingerte von einer Seite zur anderen und rempelte Passanten an. Banks erinnerte sich, dass Dirty Dicks zweiter Spitzname bei der Polizei »Bambi« war, eine Anspielung darauf, dass seine Feinmotorik flöten ging, wenn er besoffen war.

  »Ich weiß einen Witz«, lallte Burgess und stieß Banks in die Rippen. »Ein Kerl geht mit einem Kraken in einen Pub und sagt zu den Jungs von der Band: »Ich wette mit jedem von euch um einen Zehner, dass mein Haustier jedes Instrument spielen kann, das ihr ihm gebt.«

  Sie nahmen eine der engen Gassen, die die Grachten Richtung Keizersgracht überquerten. Banks merkte, dass seine Aufmerksamkeit abschweifte und er Burgess' Stimme nur noch im Hintergrund wahrnahm. »Also bringt ihm einer der Musiker eine Klarinette und der Krake spielt sie wie Benny Goodman. Ein anderer bringt ihm eine Gitarre und er spielt wie Django Reinhardt. «

  Banks hatte Lust auf einen Kaffee und fragte sich, ob er im Hotel einen bekommen würde. Wenn nicht, gab es in der Nähe bestimmt noch ein geöffnetes Café. Er schaute auf seine Uhr. Erst zehn. Kaum zu glauben, dass sie in so kurzer Zeit so viel getrunken hatten. Ein kleines Café war im Grunde besser als das Hotel, entschied er. Er würde Burgess abwimmeln, sein Graham-Greene-Buch nehmen, einen schönen Platz finden und eine Weile lesen und die Leute beobachten.

  »Das geht auf jeden Fall eine Ewigkeit so weiter, ein Instrument nach dem anderen. Bongos, Posaune, Saxophon. Was auch immer. Gib dem Vieh eine Ukulele und es ist George Formby. Der Krake spielt alles wie ein Virsu... ein Virsu... ein Vir-tuh-oh-se. Schließlich hat einer der Musiker die Schnauze voll und geht los und findet einen Dudelsack. Er gibt ihn dem Kraken, und der Krake schaut ihn an, runzelt die Stirn, dreht ihn herum und glotzt ihn von jeder Seite an. >Sieht so aus, als würdest du deinen Zehner verlieren, Kumpel<, meint der Musiker. Gott, muss ich pinkeln.«

  Burgess schwankte in Richtung Kai, fingerte an seinem Hosenschlitz herum und wandte seinen Kopf mit einem schiefen Grinsen halb zu Banks um. »Aber der Typ sagt: >Warte einen Moment, Kumpel. Wenn der Krake erst mal herausfindet, dass er das Teil nicht ficken kann, dann wird er es spielen.< Kapiert? Ahh! Schei-heiße!«

  Es passierte so schnell, dass Banks nicht einmal die Chance hatte, einen Schritt zu machen. In einem Moment pinkelte Burgess noch einen langen, prasselnden Bogen in die Gracht, im nächsten war er schon mit einem gewaltigen Platschen nach vorne gestürzt, gefolgt von einer Serie erstickter Flüche.