* EINS

 

* I

 

Die Leiche des Jungen lehnte an einer mit Graffiti beschmierten Mauer in einer Seitengasse der Market Street. Sein Kopf war nach vorn geneigt, das Kinn lag auf der Brust, die Hände umklammerten den Bauch. Auf der Vorderseite seines weißen Hemdes war ein Blutrinnsal hinabgeflossen.

  Detective Chief Inspector Alan Banks stand im Regen und sah zu, wie Peter Darby Aufnahmen vom Tatort machte und die Blitzlichter die Regentropfen im Hinabfallen einfroren. Banks war verärgert. Von Rechts wegen hätte er gar nicht hier sein sollen. Im Regen um halb zwei Uhr in einer Samstagnacht.

  Als wenn er nicht bereits genug Probleme hätte.

  Der Anruf hatte ihn in dem Moment erreicht, als er durch die Tür gekommen war, nachdem er sich in Leeds allein eine Aufführung der Perlenfischerin der Opera North angeschaut hatte. Allein, weil seiner Frau Sandra am Mittwoch eingefallen war, dass sich die Benefizveranstaltung, deren Gastgeberin sie für das Eastvaler Gemeindezentrum sein sollte, mit ihrem Abonnement überschnitt. Da Sandra von Banks erwartet hatte, zugunsten ihrer Veranstaltung auf die Oper zu verzichten, war es zum Streit gekommen, sodass Banks am Ende ohne sie gegangen war. Dass die beiden ihrer eigenen Wege gingen, war in der letzten Zeit häufig vorgekommen, so häufig, dass Banks sich kaum noch erinnern konnte, wann sie das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen hatten.

  Die eingängige Melodie des Duetts »Au fond du temple saint« geisterte noch durch seinen Kopf, während er zuschaute, wie der junge Polizeiarzt Dr. Burns unter dem Zelt, das die Beamten der Spurensicherung über der Leiche errichtet hatten, mit seiner Vor-Ort-Untersuchung begann.

  Police Constable Ford war während seines Streifenganges um elf Uhr siebenundvierzig am Tatort vorbeigekommen. Zuerst hatte er das Opfer lediglich für einen Betrunkenen gehalten, sagte er, der es nach der Sperrstunde nicht mehr bis nach Hause geschafft hatte. Immerhin lag eine zerbrochene Bierflasche auf dem Boden neben dem Jungen, er schien seinen Bauch zu halten und im Licht von Fords Taschenlampe hätte man das Blut leicht für Erbrochenes halten können.

  Ford erzählte Banks, er wisse selbst nicht recht, was ihn schließlich ahnen ließ, dass er es nicht mit einem Betrunkenen zu tun hatte, der seinen Rausch ausschlief; möglicherweise war es die unnatürliche Reglosigkeit der Leiche gewesen. Oder die Stille: Er vernahm weder ein Schnarchen noch ein Zucken oder Murmeln, wie es bei Betrunkenen üblich ist, sondern nur die Stille unter dem Zischen und Prasseln des Regens. Nachdem er sich hingekniet und genauer nachgesehen hatte - nun, da war es ihm natürlich klar gewesen.

  Bei der Gasse handelte es sich um einen kaum zwei Meter breiten Gang zwischen zwei Häuserreihen am Carlaw Place. Er wurde oft als Abkürzung zwischen der Market Street und dem westlichen Teil von East-vale benutzt. Jetzt hatten sich Schaulustige hinter dem Absperrband der Polizei am Eingang der Gasse versammelt; die meisten drängten sich unter Schirmen, unter den Regenmänteln stachen Pyjamaknöpfe hervor. In vielen Häusern entlang der Straße waren trotz der späten Stunde die Lichter angegangen. Mehrere uniformierte Beamte hatten sich auf der Suche nach jemandem, der etwas gesehen oder gehört hatte, unter die Menge gemischt oder klopften an Türen.

  Die Mauern der Gasse boten etwas Schutz vor dem Regen, aber nicht viel. Banks spürte, wie das kalte Wasser seinen Nacken hinabtropfte. Er schlug den Kragen hoch. Es war Mitte Oktober, die Jahreszeit, in der das Wetter ständig zwischen warmen, nebligen, milden Tagen, die direkt Keats Versen entnommen zu sein schienen, und peitschenden orkanartigen Winden wechselte, die einem einen stechenden Regen ins Gesicht trieben, der dem Hagel aus Pfeilen glich, welche die Blefuskier auf Gulliver abgefeuert hatten.

  Banks sah, wie Dr. Burns das Opfer auf die Seite drehte, die Hosen herunterzog und rektal die Körpertemperatur maß. Er hatte bereits selbst einen Blick auf die Leiche geworfen, und es schien, als hätte jemand den Jungen zu Tode geschlagen oder getreten. Das Gesicht war so schlimm zugerichtet worden, dass man kaum mehr sagen konnte, als dass es sich um einen jungen weißen Mann handelte. Sein Portemonnaie war verschwunden, ebenso Schlüssel oder Kleingeld oder was auch immer er in seinen Taschen gehabt hatte; und so gab es keinerlei Hinweis darauf, wer er war.

  Wahrscheinlich hatte es als Kneipengerangel begonnen, vermutete Banks, oder vielleicht hatte das Opfer mit seinem Geld herumgewedelt. Während er Dr. Burns beobachtete, der das zerschundene Gesicht des Jungen untersuchte, stellte sich Banks vor, wie es passiert sein könnte: Der verängstigte Junge, der vielleicht davon-rennt, als ihm bewusst wird, dass außer Kontrolle gerät, was ganz harmlos begonnen hat. Wie viele sind hinter ihm her? Wahrscheinlich mindestens zwei. Vielleicht drei oder vier. Er rennt im Regen durch die dunklen, verlassenen Straßen, platscht durch Pfützen, ohne seine nassen Füße wahrzunehmen. Ist ihm klar, dass sie ihn töten werden? Oder hat er einfach nur Angst, verprügelt zu werden?

  Wie auch immer, er sieht die Gasse, glaubt es zu schaffen, glaubt, türmen zu können und wohlbehalten nach Hause zu kommen, doch es ist zu spät. Er wird niedergeschlagen oder zum Straucheln gebracht, er sinkt zu Boden, und plötzlich wird sein Gesicht auf den regennassen Stein gedrückt, auf die Kippen und den Unrat. Er kann Blut, Staub und Laub schmecken und spürt mit der Zunge einen angeschlagenen Zahn. Und dann fühlt er einen heftigen Schmerz in der Seite, einen weiteren im Rücken, in seinem Bauch, seiner Leiste, dann treten sie gegen seinen Kopf, als wäre es ein Fußball. Er versucht zu sprechen, zu bitten, zu flehen, aber er bekommt kein Wort hervor, sein Mund ist voller Blut. Und schließlich verliert er die Besinnung. Kein Schmerz mehr. Keine Angst mehr. Nichts mehr.

  Vielleicht war es so passiert. Andererseits könnten sie ihm auch aufgelauert haben, könnten die Gasse an beiden Seiten versperrt und ihn umzingelt haben. Einige von Banks' Vorgesetzten fanden, er hätte zu viel Fantasie, obwohl er der Meinung war, dass sie immer hilfreich gewesen war. Die meisten Leute wären überrascht, wenn sie wüssten, wie viel von dem, was sie für sorgfältige, logische Polizeiarbeit hielten, im Grunde auf nichts anderes zurückzuführen war als auf eine Vermutung, eine Ahnung oder eine plötzliche Eingebung.

  Banks schüttelte seinen Gedankengang ab und widmete sich wieder der zu erledigenden Arbeit. Dr. Burns kniete noch vor dem Jungen und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in seinen Mund. Für Banks sah er aus wie ein Pfund rohes Hackfleisch. Er wandte sich ab.

  Also eine Kneipenprügelei? Obwohl die normalerweise nicht tödlich endeten, waren Prügeleien an einem Samstagabend nichts Ungewöhnliches in Eastvale. Besonders dann, wenn ein paar Jungs aus den umliegenden Dörfern kamen, die heiß darauf waren, den arroganten Städtern ihre körperliche Überlegenheit zu demonstrieren.

  Sie reisten schon früh an, um am Nachmittag ein Spiel von Eastvale United oder der Rugbymannschaft anzuschauen, und wenn sie nach der Sperrstunde aus den Pubs geworfen wurden, waren sie für gewöhnlich aufgestachelt, provozierten die anderen in den Schlangen der Fish-and-Chips-Imbisse und pöbelten streitsüchtig jeden Erstbesten an. Es lief immer nach dem gleichen Muster ab: »Was gibt es zu glotzen?« - »Nichts.« - »Ich bin nichts, oder was?« Nach Möglichkeit hielt man sich da besser heraus.

  Um Mitternacht waren die meisten Säufer allerdings bereits nach Hause verschwunden, es sei denn, sie waren in einen von Eastvales zwei Nachtclubs weitergezogen, wo man für ein geringes Eintrittsgeld eingelassen wurde, einen ungenießbaren Hamburger erhielt, unablässig mit ohrenbetäubender Musik beschallt wurde und, was am wichtigsten war, die Möglichkeit hatte, bis um drei Uhr am Morgen wässriges Lagerbier herunterzukippen.

  Nicht dass Banks kein Mitgefühl für das Opfer hatte - schließlich war der Junge irgendjemandes Sohn -, doch diesen Fall würde man wohl nur dann lösen, dachte er, wenn man durch die einschlägigen Pubs zog und herausfand, wo er getrunken und wen er gegen sich aufgebracht hatte. Das war vielleicht eine Aufgabe für Sergeant Hatchley, bestimmt aber keine für einen durchnässten Chief Inspector, der immer noch Bizets einschmeichelnde Melodien im Ohr hatte und dessen einziger Wunsch es war, in ein warmes Bett neben eine Frau zu kriechen, die wahrscheinlich immer noch kein Wort mit ihm sprechen würde.

  Dr. Burns beendete seine Untersuchung und kam zu ihm. Burns übernahm die Untersuchungen am Tatort immer dann, wenn der zuständige Pathologe, Dr. Glendenning, nicht verfügbar war. Für diese Arbeit sah er wesentlich zu jung und unschuldig aus - mit seinem runden Gesicht, den freundlichen, etwas derben Zügen und dem kastanienbraunen Haarschopf ähnelte er im Grunde eher einem Bauern -, doch er war schnell mit den verschiedenen Arten vertraut geworden, mit denen ein Mensch seinen Mitmenschen ins Jenseits befördern konnte.

  »Tja, sieht eindeutig so aus, als wäre er zu Tode getreten worden«, sagte er und steckte ein schwarzes Notizbuch in seine Tasche. »Beschwören kann ich es natürlich nicht, das muss Dr. Glendenning bei der Obduktion bestätigen, aber es sieht ganz danach aus. Soweit ich nach erster Untersuchung sagen kann, hängt ein Auge praktisch aus der Augenhöhle, die Nase ist zu Brei geschlagen, zudem gibt es mehrere Schädelfrakturen. An einigen Stellen könnten Knochensplitter in das Gehirn eingedrungen sein.« Burns seufzte. »In gewisser Weise ist es ein Glück für den armen Kerl, dass er tot ist. Wenn er überlebt hätte, wäre er für den Rest seines Lebens als einäugiger Krüppel herumgelaufen.«

  »Keine Anzeichen von anderen Verletzungen?«

  »Ein paar gebrochene Rippen. Und ich vermute, dass einige innere Organe ernsthaft beschädigt worden sind. Aber sonst ...« Burns warf einen Blick zurück auf die Leiche und zuckte mit den Achseln. »Ich würde sagen, er wurde von jemandem zu Tode getreten, der schwere Schuhe oder Stiefel trug. Aber verbürgen kann ich mich dafür nicht. Sieht außerdem so aus, als wäre er auch am Hinterkopf getroffen worden - vielleicht von dieser Flasche da.«

  »Nur ein Täter?«

  Burns fuhr mit einer Hand durch sein nasses Haar und rieb sie dann an der Seite seiner Hose trocken. »Nein, es waren eher zwei oder drei. Eine Gang vielleicht.«

  »Aber auch eine Person hätte es tun können?«

  »Sobald das Opfer am Boden lag, ja. Der Junge sieht allerdings ziemlich kräftig aus. Wahrscheinlich waren mehr als einer nötig, um ihn zu überwältigen. Es sei denn, er wurde hinterrücks mit der Flasche niedergeschlagen.«

  »Wie lange liegt er schon hier?«

  »Nicht lange.« Burns schaute auf seine Uhr. »Angesichts der Wetterverhältnisse würde ich sagen, vielleicht zwei Stunden. Allerhöchstens zweieinhalb.«

  Banks stellte eine schnelle Rechnung auf. Jetzt war es zwanzig vor zwei. Das bedeutete, der Junge war wahrscheinlich zwischen zehn nach elf und elf Uhr siebenundvierzig, als Police Constable Ford die Leiche gefunden hatte, getötet worden. Etwas mehr als eine halbe Stunde. Und eine halbe Stunde, die mit der Sperrstunde der Pubs zusammenfiel. Seine Theorie sah immer noch gut aus.

  »Weiß jemand, wer er ist?«, fragte Banks.

  Dr. Burns schüttelte den Kopf.

  »Besteht die Möglichkeit, ihn so herzurichten, dass ein Zeichner ein Bild herstellen kann?«

  »Könnte man versuchen. Aber wie gesagt, die Nase ist zu Brei geschlagen, ein Auge hängt praktisch ...«

  »Ja, ja. Danke, Doktor.«

  Burns nickte forsch und ging davon.

  Der Polizeiarzt wies zwei Rettungssanitäter an, die Leiche zu bergen und in die Gerichtsmedizin zu bringen. Peter Darby machte weitere Aufnahmen und das Team der Spurensicherung fuhr mit seiner Arbeit fort. Der Regen hörte nicht auf.

  Banks lehnte sich gegen die feuchte Mauer und zündete eine Zigarette an. Vielleicht half sie ihm, sich zu konzentrieren. Zudem mochte er den Geschmack einer Zigarette im Regen.

  Es gab eine Menge Dinge zu erledigen, die Ermittlung musste in Gang gesetzt werden. Zuerst mussten sie herausfinden, wer das Opfer war, woher der Junge kam, wohin er gehörte, und was er am Tage seines Todes getan hatte. Irgendjemand wird ihn hier irgendwo vermissen, dachte Banks. Oder war er fremd in der Stadt und weit weg von zu Hause?

  Sobald sie etwas über das Opfer wussten, würde die Ermittlung vor allem aus Lauferei bestehen. Am Ende würden sie die Kerle aufspüren, die das getan hatten.

  Wahrscheinlich würde es sich um Jugendliche handeln, bestimmt kaum älter als das Opfer, und sie würden abwechselnd reuig und arrogant auftreten. Und wenn sie alt genug waren, würden sie schließlich wegen Totschlags angeklagt werden. Zu neun Jahren würde man sie verurteilen, nach fünf wären sie draußen.

  Manchmal war alles so verdammt vorhersehbar, dachte Banks, als er seine Kippe in die Gosse warf und durch Pfützen platschend, in denen sich die kreisenden Lichter der Streifenwagen spiegelten, zu seinem Wagen ging. Und zu diesem Zeitpunkt konnte man ihm kaum vorwerfen, dass er nicht wusste, wie falsch er damit lag.

 

* II

 

Der Anruf um acht Uhr am Sonntagmorgen weckte Detective Constable Susan Gay aus einem angenehmen Traum, in dem sie mit ihrem Vater Ägypten besuchte. Natürlich hatten sie nie etwas Derartiges getan - ihr Vater war ein kühler, unnahbarer Mann, der nie etwas mit ihr unternommen hatte -, doch der Traum erschien völlig real.

  Noch mit geschlossenen Augen tastete Susan nach dem Telefon, bis ihre Finger das glatte Plastik auf ihrem Nachttisch berührten; dann zog sie den Hörer neben sich auf das Kissen.

  »Mmm?«, murmelte sie.

  »Susan?«

  »Sir?« Sie erkannte Banks' Stimme und versuchte sich aus Morpheus' Armen zu befreien. Aber sie kam nicht sehr weit. Sie runzelte die Stirn und rieb sich den Schlaf aus ihren Augen. Schon immer hatte sie sich schwer getan mit dem Aufwachen, das war schon als kleines Mädchen so gewesen.

  »Tut mir Leid, Sie am frühen Sonntagmorgen zu wecken«, sagte Banks, »aber wir hatten gestern Nacht nach der Sperrstunde einen verdächtigen Todesfall.«

  »Ja, Sir.« Susan wand sich aus den Decken und lehnte sich gegen die Kissen. »Verdächtiger Todesfall.« Sie wusste, was das bedeutete. Arbeit. Sofort. Das dünne Bettlaken rutschte von ihrer Schulter und entblößte ihre Brüste. Ihre Brustwarzen waren hart von der morgendlichen Frische im Schlafzimmer. Für einen Augenblick war es ihr peinlich, mit Banks zu reden, während sie nackt im Bett saß. Aber er konnte sie ja nicht sehen. Sei nicht so blöd, sagte sie sich.

  »Wir haben so gut wie keine Spuren«, fuhr Banks fort. »Bisher kennen wir noch nicht einmal den Namen des Opfers. Ich brauche Sie hier, so schnell Sie kommen können.«

  »Ja, Sir. Ich bin gleich da.«

  Susan legte den Hörer zurück, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und stieg aus dem Bett. Auf den Zehenspitzen stehend streckte sie ihre Arme an die Decke, bis ihre Gelenke knackten, dann tapste sie ins Wohnzimmer und hielt auf dem Weg vor dem Garderobenspiegel inne, in dem sie die Rundungen ihrer Hüften und ihrer Oberschenkel bemerkte. Bald würde sie erneut diese Diät beginnen müssen. Bevor sie eine Dusche nahm, stellte sie die Kaffeemaschine an und legte eine CD mit alten Songs von Rod Stewart in den Player, die ihr beim Aufwachen helfen sollten.

  Während das heiße Wasser über ihre Haut lief, dachte sie an die Verabredung am vergangenen Abend mit Gavin Richards, einem Detective Constable des Bezirkspräsidiums. Er hatte sie ins Georgische Theater in Richmond ausgeführt, wo gerade ein Stück von Alan Bennett gespielt wurde, und danach hatten sie einen gemütlichen Pub direkt am Marktplatz von Richmond gefunden und dort Käse-Zwiebel-Chips gegessen und ein halbes Pint Cider getrunken.

  Auf dem Weg zu ihrem Wagen hatten sich die beiden unter ihrem Schirm zusammengedrängt, denn es hatte heftig geregnet und Gavin hatte wie die meisten Männer keinen bei sich gehabt. Sie hatte seine Wärme gespürt, hatte gespürt, wie sie darauf ansprach, und als er sie zu sich nach Hause auf einen Kaffee eingeladen hatte, hätte sie fast ja gesagt. Fast. Doch sie war noch nicht so weit. Sie wollte. O ja, sie wollte. Erst recht, nachdem sie sich vor ihrem Wagen mit einem Kuss verabschiedet hatten. Aber sie waren erst dreimal miteinander aus gewesen und das ging Susan zu schnell. Sie hatte zwar in den letzten Jahren ihr Privatleben ihrer Karriere geopfert, aber sie sprang noch lange nicht mit dem ersten passablen Kerl ins Bett, der ihr über den Weg lief.

  Als sie bemerkte, dass sie schon so lange unter der Dusche gestanden hatte, dass ihre Haut zu glühen begann, trat sie heraus, trocknete sich energisch ab und zog schwarze Jeans und einen Pullover mit Polokragen an, der farblich zu ihren Augen passte. Sie war froh, dass sie um ihr lockiges blondes Haar keinerlei Aufhebens machen musste. Sie trug nur etwas Gel auf, um ihm Glanz zu geben, dann war sie fertig. Rod Stewart sang »Maggie Mae«, während sie den Rest ihres schwarzen Kaffees ohne Zucker nippte und eine trockene Toastscheibe aß.

  Noch kauend nahm sie eine leichte Jacke vom Haken und stürmte aus der Tür. Die Fahrt zum Revier dauerte nur fünf Minuten, und bei einer anderen Gelegenheit wäre sie zu Fuß gegangen, um sich etwas Bewegung zu verschaffen. Besonders an solch einem Morgen. Es war ein vollkommener Herbsttag: ein makelloser blauer Himmel und nur eine ganz leichte kühle Brise in der Luft. Die Winde der vergangenen Tage hatten bereits ein paar frühe gelb und rot gefärbte Blätter von den Bäumen gefegt, die unter ihren Füßen raschelten, als sie zu ihrem Wagen ging.

  Doch heute hielt Susan nur kurz inne, um die frische Luft einzuatmen, dann stieg sie in ihren Wagen und drehte den Zündschlüssel herum. Ihr roter Golf sprang beim ersten Versuch an. Ein vielversprechender Start.

 

* III

 

Banks lehnte neben seinem Bürofenster, seinem Lieblingsplatz, und blies auf die Oberfläche seines Kaffees, von dem der Dampf aufstieg, während er hinaus auf den ruhigen Marktplatz schaute. Er dachte an Sandra, an ihre Ehe und daran, wie zurzeit alles schief zu laufen schien. Im Grunde lief es nicht schief, sondern einfach ins Nirgendwo. Seit seinem Opernbesuch hatte sie noch nicht wieder mit ihm gesprochen. Da er bis spät in der Nacht am Tatort gewesen war, hatte sie natürlich auch noch nicht viel Gelegenheit dazu gehabt. Und an diesem Morgen war sie, als er gehen musste, noch im Halbschlaf gewesen. Trotzdem, im Haus herrschte eine bedrückende Kälte.

  Der Regen hatte alle Exzesse von Samstagnacht von den Pflastersteinen gespült, genauso wie das Reinigungspersonal des Reviers die Zellen desinfiziert und gewischt hatte, nachdem die über Nacht in Gewahrsam genommenen Betrunkenen und Ruhestörer entlassen worden waren. Im Morgenlicht schimmerten der Platz und die Gebäude ringsum in einem blassen Graugold.

  Banks hatte sein Fenster ein paar Zentimeter weit geöffnet, sodass der Klang der Kirchengemeinde, die »Wir pflügen die Felder und streuen die Saat« sang, herüberwehte. Er musste an die Erntedankfeste seiner Kindheit denken, daran, wie seine Mutter ihm ein paar Äpfel und Orangen gab, damit er sie zu den Gaben der anderen in den Korb der Kirche legen konnte. Er hatte sich oft gefragt, was mit all den Früchten passierte, nachdem das Fest vorüber war.

  Der Kalender des »Dalesman« zeigte die Healaugh-Kirche nahe York, aufgenommen durch das Gatter eines Bauernhofs. Im Grunde war es keine herbstliche Aufnahme, dachte Banks gerade, als er das Klopfen an seiner Tür hörte.

  Es war Susan Gay, die als Erste nach Detective Superintendent Gristhorpe erschien, der bereits damit beschäftigt war, die Ermittlung mit dem Bezirkspräsidium zu koordinieren sowie eine Berichterstattung in den lokalen Medien zu arrangieren.

  Susan sah wie üblich frisch und munter aus, dachte Banks. Genau die richtige Menge Make-up, die blonden Locken glitzerten noch von der Dusche. Niemand würde Susan Gay mit ihrer kleinen Stupsnase und ihrem ernsten, beherrschten Ausdruck malen wollen, doch ihre klaren blaugrauen Augen waren faszinierend; zudem besaß sie einen schönen, glatten Teint.

  Auf jeden Fall schien sich Susan nicht für die wilden Gelage der Samstagnacht zu begeistern, denen Jim Hatchley offenbar frönte. Er kam unmittelbar nach ihr und sah aus wie der personifizierte Kater: die Augen trübe und blutunterlaufen, die Lippen ausgetrocknet und gesprungen, ein Fetzen Toilettenpapier über einen Rasierschnitt gepappt, das lichter werdende, strohige Haar seit Tagen ungewaschen und ungekämmt.

  Nachdem die zwei Platz genommen hatten, beide an einem Kaffeebecher nippend, erklärte Banks, wie der Junge getötet worden war. Dann ging er hinüber zum Stadtplan von Eastvale, der an der Wand neben seinem Aktenschrank hing, und zeigte auf die Gasse, in der die Leiche entdeckt worden war.

  »Hier hat ihn Police Constable Ford gefunden«, begann er. »In der Nähe gibt es keine nach Westen führenden Durchgangsstraßen, deshalb kürzen die Leute ihren Weg gerne durch die Wohnstraßen ab, nehmen dann die Gasse am Carlaw Place und gelangen über den Park zur King Street und zur Leaview-Siedlung. Das Problem ist, dass man die Abkürzung in beide Richtungen benutzen kann. Wir wissen also nicht, von wo er gekommen ist.«

  »Sir«, sagte Susan, »Sie haben mir am Telefon gesagt, dass er wahrscheinlich kurz nach der Sperrstunde ermordet worden ist. Wenn er auf Kneipentour war, ist es dann nicht wahrscheinlicher, dass er vom Marktplatz gekommen ist? Ich meine, das ist samstagnachts ein recht beliebter Ort für junge Leute. Dort gibt es eine ganze Reihe Pubs und manche haben Live-Bands oder Karaoke.«

  Karaoke. Bei dem Gedanken lief Banks ein Schauer über den Rücken. Der einzige andere Begriff, der eine ähnliche Auswirkung auf ihn hatte, war »Country-und-Western-Musik«. Das war für ihn schon ein Widerspruch in sich.

  »Guter Punkt«, sagte er. »Konzentrieren wir also unsere Untersuchung anfänglich auf die Pubs am Marktplatz und die Leaview-Siedlung. Wenn wir damit keinen Erfolg haben, können wir das Gebiet ausdehnen.«

  »Wie viel wissen wir denn eigentlich, Sir?«, fragte Sergeant Hatchley.

  »Reichlich wenig. Ich habe mir schon die Dienstberichte von heute Nacht angeschaut, aber es gab keine größeren Krawalle. Wir haben mit den Bewohnern der Häuser in der Gasse gesprochen, außerdem mit den Leuten jenseits der Straße. Der Einzige, der etwas sagen konnte, hat ferngesehen und deshalb nichts Eindeutiges gehört. Aber er war sich sicher, dass er während der Übertragung des Spiels Liverpool-Newcastle in der Sportschau draußen eine Prügelei gehört hat.«

  »Was genau hat er denn gehört, Sir?«, fragte Susan.

  »Nur ein Gerangel und ein Stöhnen und dann, wie Leute weggelaufen sind. Seiner Meinung nach mehr als einer, aber wie viele es wirklich waren, konnte er nicht sagen. In welche Richtung auch nicht. Er dachte, es wären nur die üblichen betrunkenen Rowdys; jedenfalls hatte er keine Lust, rauszugehen und nachzuschauen.«

  »Das kann man ihm nicht verdenken, gerade heutzutage, oder?«, meinte Sergeant Hatchley und fasste zaghaft an den Papierfetzen über seinem Schnitt. Er begann wieder zu bluten. »Manche von denen bringen einen schon um, wenn man sie nur anschaut. Außerdem war es ein verdammt gutes Spiel.«

  »Wie auch immer«, fuhr Banks fort, »Sie sollten auch bei der Verkehrspolizei nachfragen. Wir wissen nicht, ob die Angreifer nach Hause gelaufen oder weggefahren sind. Vielleicht haben sie einen Strafzettel gekriegt oder sind bei einer Radarkontrolle angehalten worden.«

  »Wenn wir mal so ein Glück hätten«, brummte Hatchley.

  Banks zog zwei Blätter aus einer Mappe auf seinem Schreibtisch und reichte jeweils eines an Susan und Hatchley. Auf den Blättern war die Zeichnung eines jungen Mannes zu sehen, wahrscheinlich Anfang zwanzig, mit dünnen Lippen und einer langen, schmalen Nase. Sein Haar war kurz geschnitten und ordentlich zurückgekämmt. Trotz seines jungen Alters schien es an den Schläfen auszugehen und sah oben sehr dünn aus. Er hatte nichts besonders Auffälliges an sich, doch Banks war der Meinung, er könne eine gewisse Arroganz in seinem Ausdruck erkennen. Aber wahrscheinlich war das lediglich auf die künstlerische Freiheit des Zeichners zurückzuführen.

  »Das hat der Nachtwächter der Leichenhalle angefertigt«, sagte er. »Vor ein paar Monaten begann er sich zu langweilen, weil er während der Arbeit mit niemandem reden kann; und deshalb zeichnet er seitdem zum Zeitvertreib die Leichen. >Stilleben< nennt er seine Zeichnungen. Offensichtlich ein Mann mit verborgenen Talenten. Wie auch immer, er hat gesagt, dass die Zeichnung hauptsächlich auf Spekulation beruht, besonders die Nase, die furchtbar lädiert ist. Die Wangenknochen sind auch gebrochen, deshalb konnte er nur mutmaßen, wie hoch und wie vorstehend sie gewesen sein mögen. Aber das Haar entspricht der Realität, meint er, ebenso die Kopfform. Vorerst muss das Bild genügen. Alles, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass das Opfer etwas über einsachtzig groß war, siebzig Kilo gewogen hat, in guter körperlicher Verfassung war - vielleicht ein Sportler - und blaue Augen und blondes Haar hatte. Keine Muttermale, Narben, Tätowierungen oder anderen charakteristischen Merkmale.« Er tippte auf die Mappe. »Wir versuchen, das Bild und die Beschreibung heute in die lokalen Fernsehnachrichten und morgen in die Zeitungen zu bekommen. Vorerst können Sie damit beginnen, Haus-zu-Haus-Befragungen durchzuführen, und wenn die Pubs aufmachen, können Sie sich dort erkundigen. Die Schutzpolizei hat vier Beamte zur Unterstützung abgestellt. Unsere oberste Priorität ist, herauszufinden, wer der arme Kerl war, und dann festzustellen, mit wem er vor seinem Tod zuletzt gesehen wurde. Okay?«

  Die beiden nickten und standen auf, um zu gehen.

  »Und nehmen Sie Ihre Handys oder Funkgeräte mit und halten Sie Kontakt zueinander. Ich möchte, dass die rechte Hand weiß, was die linke tut. Alles klar?«

  »Ja, Sir«, sagte Susan.

  »Was mich angeht«, sagte Banks mit einem grimmigen Lächeln, »Dr. Glendenning hat sich freundlicherweise erboten, die Obduktion heute Morgen höchstpersönlich vorzunehmen. Deshalb glaube ich, dass einer von uns ihn mit seiner Anwesenheit beehren sollte.«

 

* IV

 

Eine Menge Kriminalbeamte beklagten sich über Haus-zu-Haus-Befragungen und zogen es vor, ihre Zeit in verruchten Kaschemmen mit halbkriminellen Informanten zu verbringen, wo sie sich als echte Detektive fühlten. Doch Susan Gay hatte eine anständige Haus-zu-Haus-Befragung immer gerne gemacht. Zumindest war es eine gute Geduldübung.

  Natürlich traf man dabei immer wieder auf den obligatorischen Bekloppten, den Flegel und den lüsternen Fiesling mit seinem am Ende der Kette zerrenden Hund. Einmal war sogar ein nacktes Kind neugierig herausgewackelt und hatte auf Susans neue Schuhe gepinkelt. Die Mutter fand das zum Schreien.

  Dann gab es die endlosen Stunden in Regen, Wind und Schnee; sie klopfte reihenweise an die Türen, die Füße taten weh, Nässe und Kälte setzten ihr zu und sie wünschte, sie hätte irgendeinen anderen Berufsweg eingeschlagen und dachte in solchen Momenten sogar, dass im Vergleich zu dieser Arbeit eine Ehe und Kinder besser wären.

  Und natürlich neckte sie alle naselang irgendein Klugscheißer mit der Bemerkung, sie sei viel zu hübsch für eine Polizistin, oder schlug ihr gar vor, dass sie jederzeit ihre Handschellen bei ihm anlegen könnte, ha-ha-ha. Aber das gehörte alles zum Spiel dazu, und es störte sie nicht so sehr wie sie manchmal vorgab, nur um Sergeant Hatchley zu ärgern. Für Susan gab es keinen Zweifel, dass die menschliche Rasse immer eine große Anzahl Klugscheißer enthalten würde. Und der größte Teil von ihnen waren nach ihrer Erfahrung Männer.

  Aber an einem herrlichen Morgen wie diesem, angesichts der mit Natursteinmauern durchzogenen Talhänge jenseits des westlichen Randes der Stadt, die nach den Regenfällen des Spätsommers noch üppig grün waren, und des violett blühenden Heidekrauts in der Höhe, dort, wo das wilde Hochmoor begann, fand sie diese Arbeit so gut wie jede andere, um ihr tägliches Brot zu verdienen. Zudem gab es keine bessere Möglichkeit, als eine Haus-zu-Haus-Befragung, um das eigene Revier kennen zu lernen.

  Die morgendliche Frische war schnell einer Wärme gewichen, und Susan vermutete, dass die Temperatur in Eastvale vor Tagesende zwanzig Grad erreichen würde. Ein prächtiger Altweibersommer. Sie zog ihre Jacke aus und warf sie über die Schulter. Zu dieser Jahreszeit musste man jeden guten Tag in den Dales ausnutzen. Morgen könnte Regen, eine Sintflut oder Hungersnot kommen, also genieße den Augenblick, sagte sie sich. In den Straßen spielten Kinder Fußball oder fuhren auf Fahrrädern und Skateboards umher; Männer mit hochgekrempelten Hemdsärmeln kippten Eimer mit seifigem Wasser über ihre Autos und polierten sie dann mit aller Gründlichkeit; Teenagergruppen standen rauchend an den Straßenecken und versuchten - ohne viel Erfolg - finster und bedrohlich auszusehen; Türen und Fenster waren geöffnet; manche Leute saßen sogar vor ihren Türen und lasen die Sonntagszeitung und tranken Tee.

  Während Susan ging, konnte sie riechen, wie Fleisch gebraten und Kuchen gebacken wurde. Außerdem hörte sie Fetzen fast jeder Art Musik, von Crispian St. Peters, der »You were on my mind« sang, bis zur Ouvertüre von Elgars Cellokonzert, das sie nur deshalb erkannte, weil dieser Ausschnitt auch auf der CD enthalten war, die letzten Monat ihrem Magazin für klassische Musik beigelegen hatte.

  Die Leaview-Siedlung war direkt nach dem Krieg errichtet worden. Die Häuser, eine Mischung aus Bungalows, Reihenhäusern und Mehrfamilienhäusern, waren massiv gebaut, ihr Stil und die verwendeten Materialien fügten sich harmonisch in die für Swaindale übliche Architektur aus Natur- und Sandsteinen. Weder hässliche Mietskasernen noch Hochhäuser verschandelten den Horizont wie auf der anderen Seite der Stadt in der neueren Eastside-Siedlung. Und in der Leaview-Siedlung waren viele Straßen nach Blumen benannt.

  Es war fast Mittag, und Susan hatte bereits die Primeln, den Goldregen und die Rosen hinter sich gebracht, ohne Glück zu haben. Nun wollte sie zu den Narzissen und Butterblumen weitergehen. Sie hatte ein Klemmbrett dabei und hakte sorgfältig alle Häuser ab, die sie besucht hatte. Neben jede Antwort, die ihr verdächtig erschien, machte sie ein Fragezeichen und Bemerkungen; zudem achtete sie auf geschwollene Knöchel oder andere Zeichen jüngster Schlägereien. Wenn jemand nicht zu Hause war, kreiste sie die Hausnummer ein. Nach jeder Straße nahm sie ihr Funkgerät und erstattete im Revier Bericht. Sollten Hatchley oder einer der uniformierten Beamten zuerst etwas herausfinden, würde die Zentrale sie informieren.

  Ein Junge kam auf Rollerblades um die Ecke des Narzissenstiegs geprescht, und Susan schaffte es gerade noch rechtzeitig, aus dem Weg zu springen. Er hielt nicht an. Sie presste ihre Hand auf die Brust, bis sich ihr Herzschlag wieder normalisiert hatte, und überlegte, ihn wegen eines Verstoßes gegen die Straßenverkehrsordnung zu verhaften. Dann sank ihr Adrenalinspiegel und sie kam wieder zu Atem. Sie läutete an der Tür von Nummer zwei.

  Die Frau, die öffnete, war wahrscheinlich Ende fünfzig, schätzte Susan. Hübsch zurechtgemacht: eine frische Dauerwelle, nur einen Hauch Lippenstift, Gesichtspuder. Vielleicht war sie gerade vom Gottesdienst zurückgekehrt. Trotz der Hitze trug sie eine beige Strickjacke. Als sie sprach, zog sie die Jacke über ihrer blassrosa Bluse zusammen.

  »Ja, meine Liebe?«, sagte sie.

  Susan zeigte ihren Dienstausweis und hielt die Zeichnung des Nachtwächters der Leichenhalle hoch. »Wir versuchen herauszufinden, wer dieser Junge ist«, sagte sie. »Wir glauben, dass er in dieser Gegend wohnt; deshalb fragen wir herum, ob ihn jemand kennt.«

  Die Frau starrte auf die Zeichnung, neigte dann ihren Kopf und kratzte sich am Kinn.

  »Tja«, sagte sie. »Das könnte Jason Fox sein.«

  »Jason Fox?« Für Susan klang es wie der Name eines Popstars.

  »Ja. Mr. und Mrs. Fox' Junge.«

  Sehr aufschlussreich, dachte Susan und klopfte mit ihrem Stift gegen das Klemmbrett. »Wohnen sie hier in der Nähe?«

  »Ja. Gleich gegenüber.« Sie streckte ihren Arm aus. »Nummer sieben. Aber ich sagte lediglich, er könnte es sein. Es besteht keine große Ähnlichkeit, wissen Sie. Sie sollten einen anständigen Zeichner für sich arbeiten lassen. Einen wie meinen Jungen, Laurence. Das wäre ein Zeichner für Sie. Er verkauft seine Drucke im Kunstzentrum in der Stadt. Ich bin mir sicher, er ...«

  »Ja, Mrs. ...?«

  »Ingram ist der Name. Laurence Ingram.«

  »Werde ich mir merken, Mrs. Ingram. Können Sie etwas über Jason Fox erzählen?«

  »Die Nase stimmt nicht. Das ist das Hauptproblem. Nasen kann mein Laurence sehr gut. Curly Watts von >Coronation Street< hat er haargenau gezeichnet und der ist nicht leicht. Wussten Sie, dass er Curly Watts gezeichnet hat? Mein Laurence ist recht bekannt unter den Berühmtheiten. O ja, sehr ...«

  Susan holte tief Luft, ehe sie fortfuhr. »Mrs. Ingram, können Sie mir sagen, ob Sie Jason Fox in der letzten Zeit gesehen haben?«

  »Nicht seit gestern. Aber er ist auch nicht oft hier. Er lebt in Leeds, glaube ich.«

  »Wie alt ist er?«

  »Das kann ich nicht genau sagen. Aber er hat die Schule abgeschlossen, das weiß ich.«

  »Irgendwelche Probleme?«

  »Jason? Nein. Das ist ein ruhiger Typ. Wie gesagt, man sieht ihn kaum noch hier. Aber bis auf die Nase sieht das Bild nach ihm aus. Und Nasen gelingen oft nicht sehr gut, meint mein Laurence.«

  »Ich danke Ihnen, Mrs. Ingram«, sagte Susan und schaute hinüber zu Nummer sieben. »Vielen Dank.« Und dann entfernte sie sich eilig.

  »Einen Moment«, rief Mrs. Ingram hinter ihr her. »Wollen Sie mir nicht sagen, was passiert ist? Nachdem ich Ihnen so geholfen habe. Ist Jason etwas zugestoßen? Hat er was angestellt?«

  Wenn Jason derjenige ist, den wir suchen, dachte Susan, dann wirst du es schnell genug erfahren. Noch war er lediglich ein »möglicher Kandidat«, und doch wollte sie lieber Banks informieren, bevor sie allein bei seinen Eltern hereinplatzte. Sie ging zurück zur Straßenecke und sprach in ihr Funkgerät.

 

* V

 

Banks ging schnell durch die mit Touristenläden gesäumten engen Gassen hinter dem Polizeirevier und dann die King Street hinab Richtung Narzissenstieg. Hinter der Leaview-Siedlung ging die Stadt allmählich in das Land über, das Tal wurden enger und die Hänge steiler, je weiter sie sich nach Westen erstreckten.

  Nahe Eastvale war Swainsdale ein breites Tal, das viel Raum für Dörfer und Wiesen bot und in dem sich der Fluss Swain in alle Richtungen schlängeln konnte. Zwanzig oder dreißig Meilen taleinwärts jedoch, in der Umgebung von Swainshead, war es eine Landschaft aus hohen Bergen und viel zu eng und unwirtlich für menschliche Siedlungen. Ein, zwei Orte wie besagtes Swainshead oder das abgelegene Skieid boten noch Lebensraum in der wilden Landschaft unweit des Hexenberges und des Adamsberges, aber mehr schlecht als recht.

  Die letzte Reihe alter Cottages, Gallows View, stach wie ein krummer Finger ins Tal. Banks' erster Fall in Eastvale hatte sich um diese Häuser gedreht, erinnerte er sich, während er Richtung Narzissenstieg hastete.

  Graham Sharp, der eine wichtige Rolle in diesem Fall gespielt hatte, war im Sommer an einem Herzinfarkt gestorben, hatte Banks gehört. Vor ein paar Jahren hatte er seinen Laden verkauft; seitdem wurde er von den Mahmoods geführt, die Banks vage durch seinen Sohn, Brian, kannte. Vor kurzem hatte er sie auch auf dem Revier gesehen; laut Susan hatte jemand ein paar Wochen zuvor einen Stein durch ihr Fenster geworfen.

  Auf den ehemals leeren Feldern rings um Gallows View wurde eine neue Siedlung gebaut, in einem Jahr sollten die Bauarbeiten abgeschlossen sein. Banks konnte die halb ausgehobenen Fundamente sehen, die mit Pfützen gefüllt waren; er sah die Ziegelstapel und die Brettertürme und die im Sonnenlicht funkelnden still stehenden Kräne und Betonmischer. Ein, zwei Straßen waren teilweise fertig, aber noch hatte keines der Häuser Dächer.

  Das Anwesen Nummer sieben am Narzissenstieg hob sich vom Rest der Häuser der Straße ab. Die Besitzer hatten nicht nur einen weißen Zaun um den Garten gezogen und eine vertäfelte, nach Kiefer aussehende Naturholztür mit einer Fensterscheibe aus Buntglas eingesetzt - Irrsinn, dachte Banks, wie schnell konnte man dort einbrechen -, sie hatten zudem einen der wenigen Gärten in der Straße, der dem Blumenmotiv der Siedlung entsprach. Und weil es ein langer Sommer gewesen war, standen viele Blumen, die Ende September normalerweise schon verblüht gewesen wären, noch in voller Pracht. Bienen schwirrten durch die roten und gelben Rosenblüten, die direkt unter dem Vorderfenster noch an ihren dornigen Stauden hingen, und auf den Gartenbeeten wucherten Chrysanthemen, Dahlien, Begonien und Gladiolen.

  Die Eingangstür war angelehnt. Bevor er eintrat, klopfte Banks vorsichtig an. Er hatte Susan über Funk angewiesen, sie solle, bevor er käme, mit den Eltern sprechen, um herauszufinden, ob die Zeichnung ihren Sohn darstellen könnte, solle ihnen aber nichts sagen, bis er da wäre.

  Als Banks das Haus betrat, brachte Mrs. Fox gerade ein Teetablett von der Küche in das helle, luftige Wohnzimmer. Schnittblumen in Kristallvasen schmückten den Esstisch und die polierte Holzplatte über dem elektrischen Kamin mit den nachgeahmten Kohlen. Auf der cremefarbenen Tapete kletterten Rosen an Gittern empor. Über dem Kamin hing eine gerahmte, antike Karte von Yorkshire, wie man sie für wenig Geld in den Touristenläden kaufen konnte. Vor der schmälsten Wand stand ein vom Boden bis an die Decke reichendes Holzregal, das anscheinend vollständig mit Langspielplatten gefüllt war.

  Mrs. Fox war ungefähr vierzig, schätzte Banks. Sandras Alter. Sie trug ein weites Oberteil und schwarze Leggings, die ihre langen Beine mit wohl geformten Waden und Oberschenkeln zur Geltung brachten. Beine, die man in diesem Alter nur durch regelmäßiges Training hatte. Ihr Gesicht war schmal, die einzelnen Züge lagen etwas zu dicht beieinander. Sie trug einen einfachen Mittelscheitel, ihr Haar war schulterlang und wellte sich an den Spitzen ein wenig. Die Wurzeln hatten einen etwas dunkleren Blondton.

  Mr. Fox stand auf, um Banks die Hand zu schütteln. Er war kahlköpfig bis auf ein paar schwarze Zacken über den Ohren, hatte ein schmales, hageres Gesicht und trug eine Brille mit schwarzer Fassung, Jeans und ein grünes Sweatshirt. Er war außerordentlich dünn, was ihn groß erscheinen ließ, und sah aus, als hätte er die Sorte Stoffwechsel, die es ihm erlaubte, so viel zu essen, wie er wollte, ohne ein Gramm zuzunehmen. Ganz so dünn war Banks nicht, aber auch er nahm trotz seines Bierkonsums und dem Junkfood nie viel zu.

  Nachdem der Tee eingeschenkt war, setzte sich Mrs. Fox zu ihrem Mann aufs Sofa und schlug ihre langen Beine übereinander. Ehemann und Ehefrau ließen so viel Platz frei, dass man zwischen ihnen noch hätte sitzen können, doch Banks nahm einen Stuhl vom Esstisch, drehte ihn herum, setzte sich und legte seine Arme auf die Lehne.

  »Mr. und Mrs. Fox haben mir gerade erzählt«, sagte Susan und holte ihr Notizbuch hervor, »dass Jason aussieht wie der Junge auf der Zeichnung und dass er gestern Nacht nicht hier geschlafen hat.«

  »Sie wollte uns nichts sagen.« Mrs. Fox sah Banks mit ihren kleinen, funkelnden Augen flehend an. »Steckt Jason in irgendwelchen Schwierigkeiten?«

  »Hat er schon mal in Schwierigkeiten gesteckt?«, fragte Banks.

  Sie schüttelte den Kopf. »Niemals. Er ist ein guter Junge. Er hat uns nie Probleme gemacht, nicht wahr, Steven? Deswegen verstehe ich auch nicht, was Sie zu uns führt. Wir hatten noch nie die Polizei im Haus.«

  »Waren Sie nicht besorgt, als Jason heute Nacht nicht hier geschlafen hat?«

  Mrs. Fox schaute überrascht. »Nein. Warum sollte ich?«

  »Haben Sie ihn nicht erwartet?«

  »Hören Sie, was ist passiert? Was ist los?«

  »Jason wohnt in Leeds, Chief Inspector«, schaltete sich Steven Fox ein. »Er kommt hier nur vorbei, wenn es ihm passt, wie in einem Hotel.«

  »Ach, komm schon, Steven«, sagte seine Frau. »Das ist nicht fair. Jason ist erwachsen. Er lebt sein eigenes Leben. Aber er ist immer noch unser Sohn.«

  »Wenn es ihm passt.«

  »Was tut er in Leeds?«, erkundigte sich Banks.

  »Er hat einen guten Job«, erwiderte Steven Fox. »Und das können heutzutage nicht viele von sich behaupten. Einen Bürojob in einer Fabrik draußen in Stourton.«

  »Ich nehme an, er hat auch eine Wohnung oder ein Haus in Leeds, oder?«

  »Ja. Eine Wohnung.«

  »Können Sie Detective Constable Gay bitte die Adresse geben? Und den Namen und die Adresse der Fabrik?«

  »Selbstverständlich.« Steven Fox gab Susan die Informationen.

  »Weiß einer von Ihnen, wo Jason vergangene Nacht war?«, fragte Banks. »Oder mit wem er zusammen war?«

  Mrs. Fox antwortete. »Nein«, sagte sie. »Hören Sie, Chief Inspector, können Sie uns bitte sagen, was los ist? Ich mache mir Sorgen. Steckt mein Jason in Schwierigkeiten? Ist ihm etwas passiert?«

  »Ich verstehe, dass Sie besorgt sind«, sagte Banks, »und ich werde alles tun, um die Sache zu beschleunigen. Aber bitte gedulden Sie sich noch einen Moment und beantworten Sie einfach ein paar weitere kurze Fragen. Nur noch ein paar Minuten. In Ordnung?«

  Beide nickten widerwillig.

  »Haben Sie ein aktuelles Foto von Jason?«

  Mrs. Fox erhob sich und holte ein kleines, gerahmtes Foto vom Regal. »Nur dieses hier«, sagte sie. »Er war siebzehn, als es aufgenommen wurde.«

  Der Junge auf dem Foto sah dem Opfer ähnlich, aber es war unmöglich, ihn eindeutig zu identifizieren. Teenager können sich in drei, vier Jahren sehr verändern; zudem richten schwere Stiefel erhebliche Schäden in einem Gesicht an.

  »Wissen Sie, was Jason gestern getan hat? Wo er gewesen ist?«

  Mrs. Fox biss sich auf die Lippe. »Gestern«, überlegte sie. »Er kam gegen zwölf Uhr nach Hause. Wir haben Sandwiches zu Mittag gegessen, dann ging er zum Fußball, wie gewöhnlich.«

  »Wo?«

  »Er spielt für Eastvale United«, erklärte Steven Fox.

  Banks kannte den Verein; es war zwar nur eine Amateurmannschaft, aber er hatte Brian schon ein oder zwei Mal zu einem Spiel mitgenommen, und dabei hatten die Spieler mangelndes Talent mit Leidenschaft wettgemacht. Ihre Spiele waren unter den Einheimischen recht populär geworden, manchmal zogen sie zwei- bis dreihundert Zuschauer an ihren holperigen Platz auf einem brachliegenden Gelände zwischen York Road und Market Street.

  »Er ist Stürmer«, berichtete Mrs. Fox voller Stolz. »In der letzten Saison war er Torschützenkönig in North Yorkshire. In den Amateurligen.«

  »Beeindruckend«, sagte Banks. »Haben Sie ihn nach dem Spiel gesehen?«

  »Ja. Nachdem er mit seinen Kumpels aus der Mannschaft kurz etwas getrunken hatte, kam er zum Tee. Dann ist er so gegen sieben ausgegangen, nicht wahr, Steven?«

  Mr. Fox nickte.

  »Hat er gesagt, ob er zurückkommen wollte?«

  »Nein.«

  »Kommt er an den Wochenenden für gewöhnlich hierher?«

  »Manchmal«, antwortete Mrs. Fox. »Aber nicht immer. Manchmal fährt er zurück nach Leeds. Und manchmal kommt er gar nicht nach Eastvale.«

  »Hat er einen eigenen Schlüssel?«

  Mrs. Fox nickte.

  »Was für einen Wagen fährt er?«

  »O mein Gott, doch kein Autounfall, oder?« Mrs. Fox legte ihre Hände vor das Gesicht. »Oh, bitte sagen Sie mir nicht, dass unser Jason bei einem Autounfall getötet wurde.«

  Wenigstens das konnte Banks ihr ehrlich versichern.

  »Es ist so ein kleiner Renault«, sagte Steven Fox. »Ein Clio. Mit einer furchtbaren Farbe - grellgrün, wie das Hinterteil von manchen Insekten.«

  »Wo parkt er den Wagen, wenn er hier ist?«

  Mr. Fox machte eine Kopfbewegung. »Hinter dem Haus ist eine Doppelgarage. Normalerweise stellt er ihn dort neben unserem Wagen ab.«

  »Haben Sie geschaut, ob der Wagen noch dort ist?«

  »Nein. Ich hatte keinen Grund dazu.«

  »Haben Sie den Wagen letzte Nacht gehört?«

  Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wir gehen normalerweise früh zu Bett. Bevor Jason zurückkommt, wenn er ausgegangen ist. Er bemüht sich immer, leise zu sein, und wir haben beide einen ziemlich tiefen Schlaf.«

  »Wären Sie so nett und zeigen Detective Constable Gray, wo die Garage ist?«, bat Banks Steven Fox. »Und, Susan, falls der Wagen da ist, schauen Sie nach, ob er den Schlüssel stecken gelassen hat.«

  Steven Fox führte Susan zur Hintertür hinaus.

  »Hat Jason eine Freundin?«, fragte Banks Mrs. Fox, während die anderen weg waren.

  Sie schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Vielleicht hat er eine in Leeds, aber ...«

  »Er hat jedenfalls keine erwähnt oder mitgebracht?«

  »Nein. Ich glaube nicht, dass er eine feste Freundin hat.«

  »Hätte er es erzählt, wenn er eine hätte?«

  »Es gibt keinen Grund, warum er es nicht erzählen sollte.«

  »Wie kommen Sie und Jason miteinander aus?«

  Sie wandte sich ab. »Wir kommen gut miteinander aus.«

  Susan und Steven Fox kamen von der Garage zurück. »Er steht dort«, verkündete Susan. »Ein grüner Clio. Ich habe die Nummer notiert. Schlüssel stecken nicht.«

  »Was ist?«, wollte Mrs. Fox wissen. »Wenn Jason nicht Opfer eines Autounfalles geworden ist, hat er dann jemanden angefahren? Hat es einen Unfall gegeben?«

  »Nein«, antwortete Banks. »Er hat niemanden angefahren.« Er seufzte und schaute auf die Landkarte über dem Kamin. Er konnte sie nicht länger im Unklaren lassen. Das Beste, was er tun konnte, war, den Aspekt des Ungewissen hochzuspielen.

  »Ich möchte Sie nicht beunruhigen«, sagte er, »aber vergangene Nacht wurde ein Junge getötet, wahrscheinlich in einem Kampf. Detective Constable Gay hat Ihnen das Bild des Zeichners gezeigt, denn jemand war der Ansicht, dass es Jason ähneln könnte. Deshalb müssen wir wissen, was er getan hat und wo er gewesen ist.«

  Banks wartete auf den Ausbruch, aber er kam nicht. Stattdessen schüttelte Mrs. Fox den Kopf und sagte: »Das kann nicht unser Jason sein. Er würde sich nicht in Kämpfe oder etwas Ähnliches verwickeln lassen. Und aufgrund des Bildes kann man doch nichts sagen, oder?«

  Banks stimmte zu. »Sie werden wohl Recht haben«, sagte er. »Wahrscheinlich ist er mit seinen Kumpels über das Wochenende irgendwohin gefahren, ohne es Ihnen zu sagen. Kinder - manchmal nehmen sie keine Rücksicht, nicht wahr? Würde sich Jason so verhalten?«

  Mrs. Fox nickte. »O ja. Jason erzählt uns nie etwas, nicht wahr, Steven?«

  »Das stimmt«, pflichtete ihr Mr. Fox bei. Doch Banks hörte an seinem Tonfall, dass er nicht ganz so überzeugt davon war wie seine Frau, dass Jason nicht das Opfer war. Er fragte sich, warum. Seiner Erfahrung nach machten Mütter sich häufig mehr Illusionen über ihre Kinder als Väter.

  »Hat Jason Freunde in der Siedlung, mit denen er ausgegangen sein könnte?«, fragte Banks. »Jemand aus der Gegend?«

  Mrs. Fox sah ihren Mann an, ehe sie antwortete. »Nein«, sagte sie dann. »Schauen Sie, wir wohnen erst seit drei Jahren in Eastvale. Wir sind von Halifax hergezogen. Außerdem trinkt Jason nicht. Auf jeden Fall nicht übermäßig.«

  »Seit wann hat er seinen Job in Leeds?«

  »Er hat dort angefangen, kurz bevor wir umgezogen sind.«

  »Verstehe«, sagte Banks. »Er hat hier also nicht viel Zeit verbracht und konnte sich gar nicht eingewöhnen und Freunde finden?«

  »Das stimmt«, bestätigte Mrs. Fox.

  »Hat er andere Verwandte in der Gegend, die er besucht haben könnte? Einen Onkel vielleicht?«

  »Nur meinen Vater«, sagte Mrs. Fox. »Deswegen sind wir im Grunde hierher gezogen - um näher bei meinem Vater zu sein. Meine Mutter starb vor zwei Jahren und er wird nicht jünger.«

  »Wo wohnt er?«

  »Oben in Lyndgarth, er ist also nicht weit weg, im Notfall oder so. Eastvale war die nächstliegende Stadt, in die sich Steven versetzen lassen konnte.«

  »Was machen Sie beruflich, Mr. Fox?«

  »Ich arbeite für die Bausparkasse. Abbey National, die große Filiale an der York Road, gleich nördlich vom Marktplatz.«

  Banks nickte. »Kenne ich. Hören Sie, es ist nur so ein Gedanke, aber verbringt Jason viel Zeit mit seinem Großvater? Könnte er bei ihm vorbeigefahren sein?«

  Mrs. Fox schüttelte den Kopf. »Dann hätte mir mein Dad Bescheid gesagt. Er hat ein Telefon. Zuerst wollte er keines, aber wir haben darauf bestanden. Außerdem, Jasons Wagen ...«

  »Könnte Ihr Vater mehr über Jasons Freunde und seine Gewohnheiten wissen?«

  »Das glaube ich nicht«, sagte Mrs. Fox und fingerte an ihrem Trauring herum. »Sie standen sich einmal nahe, als Jason noch ein kleiner Junge war. Aber Sie wissen ja, wie es ist, wenn die Kinder größer werden.« Sie zuckte mit den Achseln.

  Banks wusste es. Er konnte sich noch gut daran erinnern, dass er, als er jung war, die Gesellschaft seiner Großeltern der seiner Mutter und seines Vaters vorgezogen hatte. Vor allem waren sie nachsichtiger mit ihm und häufig gaben sie ihm ein Sixpencestück für Süßigkeiten, das er meistens in Brausepulver, Bonbons oder einer Wundertüte anlegte. Außerdem mochte er das Pfeifenregal seines Großvaters, den Tabakgeruch in dem dunkel vertäfelten Haus und das angelaufene silberne Zigarettenetui mit der Delle, wo es von einer deutschen Kugel getroffen worden war und seinem Großvater somit das Leben gerettet hatte - auf jeden Fall hatte sein Großvater ihm das erzählt. Er hatte die Geschichten über den Krieg geliebt - nicht über den Zweiten, sondern über den Ersten -, und sein Großvater hatte ihn sogar seine alte Gasmaske tragen lassen, die nach Gummi und Staub roch. Oft waren sie tagelang am Nene spazieren gegangen oder hatten an den Schienen gestanden, um den schnittigen, stromlinienförmigen Flying Scotsman vorbeirauschen zu sehen. Doch all das hatte sich geändert, als Banks ins Teenageralter kam, und er hatte noch heute ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Großvater ein volles Jahr nicht mehr besucht hatte, bevor der alte Mann starb, während Banks im College in London war.

  »Gibt es weitere Familienmitglieder?«, fragte er. »Brüder oder Schwestern?«

  »Nur Maureen, meine Tochter. Sie ist gerade achtzehn geworden.«

  »Wo ist sie?«

  »In der Krankenschwesternschule, oben in Newcastle.«

  »Wäre sie in der Lage, uns mit Jasons Freunden zu helfen?«

  »Nein. Sie stehen sich nicht besonders nahe. Das taten sie nie. Sie sind so verschieden wie Tag und Nacht.«

  Banks schaute zu Susan herüber und gab ihr zu verstehen, dass sie ihr Notizbuch wegstecken konnte. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir einen kurzen Blick in Jasons Zimmer werfen?«, fragte er. »Nur um zu schauen, ob dort etwas ist, was es uns erleichtern könnte herauszufinden, was er vergangene Nacht getan hat.«

  Steven Fox stand auf und ging Richtung Treppe. »Ich zeige es Ihnen.«

  Die Ordentlichkeit des Zimmers überraschte Banks. Er wusste nicht, warum - Klischeevorstellungen wahrscheinlich -, aber er hatte ein typisches Teenagerzimmer erwartet, so wie das seines Sohnes Brian, das normalerweise aussah, als wäre gerade ein Tornado hindurchgefegt. Doch Jasons Bett war gemacht, die Laken waren so straff über die Matratze gezogen, dass man eine Münze auf ihnen hüpfen lassen konnte, und wenn er schmutzige Wäsche herumliegen hatte, so wie es bei Brian immer der Fall war, dann konnte Banks sie zumindest nicht sehen.

  An einer Wand stand ein ähnliches Regal wie im Erdgeschoss, das ebenso mit Langspielplatten und mehreren Reihen Singles vollgestellt war.

  »Jason mag Musik, sehe ich«, bemerkte Banks.

  »Eigentlich sind das meine«, sagte Steven Fox, trat vor das Regal und fuhr mit seinen langen Fingern über eine Reihe Langspielplatten. »Meine Sammlung. Jason ist einverstanden, dass ich den Platz hier nutze, denn er ist ja nicht so häufig da. Hauptsächlich ist es Zeug aus den Sechzigerjahren. Ich habe 1962 zu sammeln begonnen, als >Love me do< herauskam. Ich habe alles, was die Beatles jemals aufgenommen haben, alles Originale, alle in tadellosem Zustand. Und nicht nur die Beatles. Ich habe alles von den Rolling Stones, von Grateful Dead, Doors, Cream, Jimi Hendrix, The Sear-chers ... Wenn man es auf Vinyl kriegen kann, dann habe ich es. Aber ich nehme an, das interessiert Sie überhaupt nicht.«

  Und ob Banks an Mr. Fox' Plattensammlung interessiert war! Zu einer anderen Gelegenheit wäre er mehr als glücklich gewesen, die Platten durchsehen zu dürfen. Dass er Oper und klassische Musik im Allgemeinen liebte, bedeutete nicht, dass er Rock, Jazz oder Blues verachtete - nur Country and Western und Blaskapellen. Banks war sich durchaus bewusst, dass diese Abneigung in Yorkshire als ernsthafte Geschmacksverirrung galt, aber er war sich sicher, dass jeder, der wie er einmal einen Abend mit Blaskapellenversionen von Mozart-Arien erdulden musste, ein gutes Recht dazu hatte.

  Abgesehen von Steven Fox' Plattensammlung war das Zimmer merkwürdig spartanisch, fast wie die Zelle eines Mönchs, und selbst an einem solch warmen Tag schien es die Kälte eines Klosters auszustrahlen. An der Wand hing nur ein gerahmter Druck, auf dem eine Gruppe von drei nackten Frauen zu sehen war. Laut Titel sollte es sich um norwegische Göttinnen handeln, für Banks sahen sie jedoch eher wie gelangweilte Hausfrauen aus. Es gab keinen Fernseher oder Videorecorder, weder Stereoanlage noch Bücher. Vielleicht bewahrte er die meisten seiner Sachen in seiner Wohnung in Leeds auf.

  Steven Fox stand auf der Türschwelle, als Banks und Susan begannen, in den Ecken zu suchen, die picobello sauber waren. Die Schubladen der Kommode waren voll mit Unterwäsche und Freizeitkleidung - Jeans, Sweatshirts, T-Shirts. Neben dem Bett lag ein Satz Gewichte.

  Im Kleiderschrank entdeckte er Jasons Fußballtrikot, zwei sehr konservative Anzüge, beide in Marineblau, und ein paar weiße Oberhemden und schlichte Krawatten. Und das war es dann. Keinerlei Hinweise auf Jasons Leben oder Freunde.

  Im Erdgeschoss lief Mrs. Fox unruhig durch das Wohnzimmer und nagte an ihren Knöcheln. Banks merkte, dass sie nicht länger dazu in der Lage war, die schreckliche Erkenntnis in Schach zu halten, dass ihrem Sohn etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte. Schließlich war Jason nicht nach Hause gekommen, sein Wagen stand noch in der Garage und nun hatte sie die Polizei im Haus. Ein Teil von Banks hoffte, um ihretwillen, dass das Opfer nicht Jason war. Aber es gab nur eine Möglichkeit, es mit Gewissheit herauszufinden.