* ELF

 

* I

 

Jimmy Riddle den Teppich im Eastvaler Polizeirevier durchwetzen zu sehen hatte ungefähr die gleiche Wirkung auf Banks' Magen wie die holprige Landung.

  Das Flugzeug hatte sich abrupt geneigt und war in dichte Wolken getaucht. Als Banks die Landebahn gesehen hatte, befanden sie sich praktisch schon auf ihr, immer noch in einem ungünstigen Winkel, und für einen, den Magen umdrehenden Moment war er sicher gewesen, dass der Pilot zu steil hereinkam und die Maschine mit dem Flügel zuerst auf den Boden krachen würde. Doch rechtzeitig kam sie ins Gleichgewicht, und abgesehen von etwas mehr Holpern und Schlingern als sonst, war die Landung ohne Zwischenfall vorübergegangen.

  Und jetzt, anderthalb Stunden später, setzte das gleiche Rumoren in seinem Magen ein.

  Es war später Nachmittag. Banks' Flugzeug hatte Verspätung gehabt, er war erst um drei Uhr auf dem Flughafen Leeds and Bradford gelandet und hatte noch nicht zu Mittag gegessen. Nun hatte er auch keine Möglichkeit mehr, einen Happen zu sich zu nehmen. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, auf dem Revier vorbeizuschauen, doch als er sich Eastvale genähert hatte, fühlte er sich außerstande, sofort zurück in das leere Haus zu fahren.

  »Ah, Chief Inspector Banks«, sagte Riddle. »Auf Sie habe ich gewartet. Nett, dass Sie mal reinschauen.«

  »Tut mir Leid, Sir«, murmelte Banks, während Riddle ihm in sein Büro folgte.

  Riddle zog seine Hose an den Knien hoch, um seine Bügelfalten zu schonen, setzte sich auf die Tischkante und schaute auf Banks hinab. Banks vermutete, dass er diese Position einnahm, weil er glaubte, sie würde ihm einen psychologischen Vorteil verschaffen. Wie wenig er doch wusste.

  »Und unterlassen Sie dieses Grinsen, Mann«, sagte Riddle. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, in welchen Schwierigkeiten Sie stecken?«

  »Schwierigkeiten, Sir?«

  »Ja, Banks. Und zwar ernsthafte Schwierigkeiten diesmal. Sie hauen mitten in einer wichtigen Ermittlung für ein Wochenende nach Amsterdam ab und lassen Ihre Untergebenen die Arbeit für Sie machen. Und die klären, während Sie weg sind, auch noch den Fall auf.« Er lächelte. »Ich muss zugeben, dass ich dabei eine gewisse Genugtuung verspüre.«

  »Mit allem Respekt, Sir ...«

  »Mit allem nichts, Banks.« Riddle reckte seinen Hals. Die Sehnen spannten sich an und die Haut seines Halses wurde rot. »Was haben Sie sich dabei gedacht, verdammt nochmal? Können Sie mir das beantworten?«

  Auf dem Rückflug hatte Banks versucht, sich auf einen solchen Moment vorzubereiten. Aber im Grunde hatte er mit einer Auseinandersetzung mit Gristhorpe gerechnet und nicht mit Riddle. Und das war ein großer Unterschied. Es war nicht so, dass er Riddle nicht vertraute. Der Mann war keine Spur korrupt. Es war auch nicht so, dass er Riddle verdächtigte, »er pflege freundschaftlichen Verkehr mit Faschisten«. Das war nur ein Witz gewesen. Und ein schlechter dazu. Doch während Gristhorpe Banks' Erklärung ohne Nachforschungen akzeptiert und die Sache auf sich hätte beruhen lassen, war Riddle zu misstrauisch, um das zu tun.

  Wenn Banks ihm erzählen würde, was er von Craig McKeracher erfahren hatte, würde Riddle in null Komma nichts am Telefon hängen, um seine Freunde in allen wichtigen Positionen zu der Sache zu befragen. Wenn es eine Möglichkeit gab, aus dieser Situation etwas Ruhm abzuschöpfen, würde er seinen gebührenden Anteil daran haben wollen. Und ein falsches Telefonat könnte ernsthafte Konsequenzen für Craig haben. Sollte Riddle andererseits merken, dass er aus der Sache für sich nichts herausholen konnte, würde er Banks befehlen, mit seinen Informationen herauszurücken und sie an West Yorkshire weiterzugeben. Riddle war nicht Chief Constable, weil er die Wahrheit mit allen Mitteln verfolgte. Das Problem war, dass aus der Polizei von West Yorkshire bereits Informationen zu Motcombe durchgesickert waren.

  Ein echtes Dilemma.

  Banks wusste außerdem, dass der Fall nach Riddles Auffassung aufgeklärt war. Höchst befriedigend aufgeklärt.

  Aus diesen Gründen beantwortete er die Frage mit sorgsam abgewägten Worten, war sich aber, schon während er es tat, bewusst, dass es nicht funktionieren würde. »Ich kann Ihnen leider nichts sagen, Sir«, erwiderte er. »Auf jeden Fall im Moment noch nicht. Es ist sehr delikat. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass meine Reise im direkten Zusammenhang mit dem Jason-Fox-Fall stand.«

  Riddle schüttelte den Kopf. »Delikat? Zu delikat für einen' wie mich? Nein, Banks. Das genügt nicht. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass der Jason-Fox-Fall in Ihrer Abwesenheit aufgeklärt worden ist.«

  »Ich weiß, Sir. Ich habe davon in der Morgenzeitung gelesen.« Am Flughafen Schiphol hatte Banks eine Ausgabe von The Independent gekauft und den vollständigen Bericht über die Verhaftung und das Geständnis von Mark Wood für den Mord an Jason Fox gelesen. Einschließlich eines Zitats von Riddle, wonach »Fox in einem Streit nach Alkoholkonsum von einem Freund getötet wurde. Ich bin sehr froh, sagen zu können, dass zwar Alkohol eindeutig ein Auslöser war, nicht aber Rassenkonflikte.« Banks hatte nicht einen Moment daran geglaubt. »Ich bin mir aber nicht sicher, dass es so geschehen ist«, fuhr er fort.

  »Ach«, sagte Riddle. »Sie sind sich nicht sicher, dass es so geschehen ist, ja? Wenn Sie hier gewesen wären, um Ihrer Arbeit nachzugehen, wüssten Sie vielleicht besser darüber Bescheid, was vor sich geht. Sie können mir glauben, Banks, dass es ganz genau so geschehen ist. Ihre Kollegen haben ein Geständnis von Mark Wood erhalten. Während Sie sich vermutlich bei einem Bummel durch den Rotlichtbezirk vergnügten.«

  Das ging für Banks' Geschmack ein bisschen zu weit unter die Gürtellinie. »Bei aller Fairness, Sir ...«

  Riddle stand auf und lehnte sich gegen den Aktenschrank, nicht ohne ihn zuerst nach Staub zu überprüfen. »Erzählen Sie mir nichts von Fairness, Banks. Ich bin so fair zu Ihnen gewesen, wie ich nur konnte. Ich habe Ihnen mehr Raum gelassen und mehr Freiheit gegeben, um Ihren diversen Hirngespinsten hinterherzu-rennen, als jedem anderen Beamten, der mir untersteht. Und was haben Sie mit dieser Freiheit angestellt? Sie haben sie missbraucht, das haben Sie getan. Ausflüge nach Leeds, um Klassikplatten zu kaufen und nebenbei ihre Freundin zu treffen, und jetzt ein Wochenende in Amsterdam mitten in einer wichtigen Ermittlung.«

  »Wenn ich mal etwas sagen dürfte, Sir«, schaltete Banks sich ruhig ein. »Erstens war der Grund meiner Reise einzig und allein der Fall und zweitens haben Sie den Jason-Fox-Fall nicht aufgeklärt.«

  Riddles Glatze nahm die rote Alarmfarbe an. »Und ich sage Ihnen, dass der Fall geklärt ist. Haben Sie mich verstanden, Banks?«

  »Aber ...«

  »Wer hat denn für die Reise gezahlt, wenn ich fragen dürfte?«

  Scheiße. Wenn Banks ihm erzählte, dass es Scotland Yard war, würde er ihm entweder nicht glauben oder er würde versuchen, über das Telefon herauszufinden, wer genau dahinter steckte, und dabei so viel Alarmsirenen auslösen wie eine wahnsinnige Kuh, die durch ein kambodschanisches Minenfeld trampelt. Außerdem war Dirty Dick Burgess, der Einzige, der neben Craig für ihn bürgen könnte, im Urlaub, »irgendwo in den Tropen«.

  »Das kann ich nicht sagen, Sir«, antwortete er.

  »Ich nehme also an, Sie haben nicht selbst dafür gezahlt, nicht aus eigener Tasche?«

  »Nein, Sir.«

  »Dachte ich mir. Und Ihre Frau? Hat sie Sie auf dieser geheimnisvollen, fallbezogenen Mission begleitet?«

  »Nein, Sir.«

  »Ihre Geliebte vielleicht? Oder waren Sie dort, um die einheimischen Mädchen zu bumsen?«

  Banks stand mit wachsender Verärgerung auf. »Hören Sie, Sir, diese Unterstellungen beginnen mir zu missfallen. Auch wenn Sie mein Vorgesetzter sind, muss ich mir von Ihnen keine persönlichen Beleidigungen bieten lassen.«

  Riddle trat einen Schritt vor und reckte sein Kinn wie den Bug eines Schiffes. »Sie werden sich bieten lassen, was immer ich Ihnen sage, mein Junge, und im Moment sage ich Ihnen, dass Sie suspendiert sind.«

  »Was?«

  »Sie haben mich verstanden, Banks. Ich suspendiere Sie vom Dienst und Ihr Verhalten wird ein Disziplinarverfahren zur Folge haben.«

  »Das können Sie nicht tun.«

  »Und ob ich das tun kann. Lesen Sie die Richtlinien. Ich denke, wenn ein Beamter während einer wichtigen Ermittlung ein langes Wochenende blaumacht, ist das Grund genug für eine Untersuchung. Pflichtversäumnis. Mein Gott, Mann, Sie sind Detective Chief Inspector. Sie sollten ein Vorbild sein.«

  Banks setzte sich wieder, eine bleierne Last in seiner Brust. »Verstehe. Und das ist offiziell?«

  »Offizieller geht es nicht mehr.«

  Banks konnte kaum glauben, was er da hörte. Innerlich kochte er vor Wut. Er sah rot. Alles ging den Bach runter. Seine Ehe. Nun sein Job. Aus irgendeinem Grund hatte es dieser Idiot auf ihn abgesehen. Für Riddle spielte es überhaupt keine Rolle, ob es im Jason-Fox-Fall noch unbeantwortete Fragen geben könnte; er hatte seine Scheuklappen aufgesetzt und würde sie nicht wieder abnehmen. Zweifellos hatte er gleichzeitig die moslemische Gemeinde und die allgemeine Öffentlichkeit zufrieden gestellt.

  »Das war es dann also?«, fragte er. »Ich kann gehen?«

  »Ja. Ich befehle Ihnen sogar zu gehen.« Riddle grinste. »Sie sind suspendiert, Banks.«

  »Gut. Anscheinend haben Sie bereits einige Zeit auf diesen Moment gewartet.«

  Riddle nickte. »Oh, ja.«

  Banks stand auf, steckte seine Zigaretten in die oberste Tasche seiner Jacke und nahm sie von der Garderobe. Dann ergriff er seine Tasche, blieb aber auf dem Weg zur Tür vor Riddle stehen und legte sie wieder auf den Schreibtisch. »Ist das Ihr letztes Wort zu diesem Thema, Sir?«, fragte er.

  »Ja.«

  Banks nickte. Dann holte er mit seinem Arm so weit aus, wie er konnte, und schlug heftig zu. Er traf Riddle genau auf den Mund. Riddle taumelte zurück gegen den wackeligen Schreibtisch und rutschte auf den Boden. Und dort lag er dann, schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken Blut von seinem Mund, als Banks sagte: »Und darauf habe auch ich schon lange gewartet, Sir. Auf Wiedersehen.« Dann verließ er mit schmerzenden und blutenden Knöcheln das Revier.

 

* II

 

Als Susan erhobene Stimmen über Amsterdam streiten hörte, schlich sie wie ein neugieriges Schulmädchen auf Zehenspitzen zum Lauschen in den Flur. Dann hörte sie einen lauten Krach und sah Banks aus seinem Büro marschieren und das Gebäude, ohne in ihre Richtung zu schauen, durch den Notausgang verlassen.

  Der Chief Constable aber war nicht gegangen. Verdutzt überquerte Susan den Flur und schob die Tür von Banks' Büro auf. Dann blieb sie stehen. Chief Constable Riddle erhob sich gerade vom Boden, wischte Staub von seiner Uniform und betupfte seinen Mund mit einem blutgetränkten Taschentuch.

  Als er sie in der Tür stehen sah, deutete er mit dem Finger auf sie und sagte: »Gehen Sie zurück in Ihr Büro, Detective Constable Gay. Es ist nichts passiert, Sie haben nichts gesehen, verstanden?«

  »Ja, Sir. Ah ... was ist mit Detective Chief Inspector Banks?«

  »Detective Chief Inspector Banks ist suspendiert.«

  Susan Kinnlade fiel hinab.

  »Zurück in Ihr Büro!«, verlangte Riddle erneut. Sie bemerkte, dass einer seiner Vorderzähne angeschlagen war. »Und denken Sie daran: Wenn irgendjemand davon erfährt, dann weiß ich genau, woher er es hat, und Ihre Karriere ist keinen Pfifferling mehr wert, Sergeantprüfung hin oder her.«

  »Ja, Sir.«

  Zurück in ihrem Büro lehnte sich Susan an ihren Schreibtisch, holte tief Luft und versuchte die Gedanken zu sammeln, die ihr plötzlich unkontrolliert durch den Kopf schwirrten. Hatte sie wirklich gerade gesehen, dass sich Jimmy Riddle in Banks' Büro vom Boden erhoben und Blut von seinem Mund abgewischt hatte? Ja, sie hatte es gesehen. War Banks deshalb suspendiert worden?

  Doch Riddle wollte, dass sie es für sich behielt; es musste also einen anderen Grund geben. Wenn er Banks wegen eines tätlichen Angriffs auf einen Vorgesetzten aus dem Polizeidienst werfen wollte, müsste der Vorfall öffentlich gemacht werden.

  Im Grunde konnte sie seinen Wunsch nach Stillschweigen verstehen - er würde wie ein Waschlappen dastehen, wenn er einen seiner Detective Chief Inspectors öffentlich der Körperverletzung anklagte. Schließlich war die Polizei, wie Susan nur zu gut wusste, noch immer eine Männerwelt, und körperliche Stärke war wichtig für Männer. Riddle fühlte sich durch das, was gerade geschehen war, bestimmt gedemütigt; es war sicherlich ein Schlag für sein Machoego. Das Letzte, was er an die Öffentlichkeit kommen lassen wollte, war, dass Banks, der zehn bis fünfzehn Zentimeter kleiner und schmächtiger gebaut war als er, ihn niedergeschlagen hatte. Wenn das herauskam, würden die Leute in der gesamten Region sich noch mehr hinter seinem Rücken über ihn lustig machen als schon jetzt.

  Er musste Banks also aus einem anderen Grund suspendiert haben.

  Amsterdam? War das der Grund?

  Und dann wurde ihr etwas bewusst. Zuerst war es nur eine dunkle Ahnung, dann fügten sich die Teile zusammen, eines unerbittlich nach dem anderen. Schließlich machte es Klick, und die Sache war klar.

  Susan schaute auf ihre Uhr. Kurz nach fünf.

  Zuerst fuhr sie die kurze Strecke zu Banks' Haus. Während der Fahrt nagte sie an ihrer Unterlippe und fragte sich, ob sie das Richtige tat. Sie wünschte, Superintendent Gristhorpe wäre hier und könnte ihr einen Rat geben, aber er war am Morgen für zwei Wochen nach Bramshill aufgebrochen, um dort an der Polizeischule einen Kurs zu geben. Sie wusste nicht einmal, was sie Banks sagen sollte. Er war immerhin ihr Vorgesetzter. Wie konnte sie ihm schon helfen?

  Aber es gab ein paar Dinge, die sie wissen musste. Sie arbeitete schon seit mehreren Jahren mit Banks zusammen und kannte seine Launen mittlerweile ziemlich gut., Sie hatte ihn wütend erlebt, traurig, verletzt und frustriert, aber so hatte sie ihn noch nie erlebt. Zudem hätte sie ihn nie für einen Menschen gehalten, der so töricht und impulsiv war, Jimmy Riddle zu schlagen.

  Vielleicht war es weibliche Intuition, ein Begriff, vor dem sie wesentlich mehr Respekt hatte, als sie vor einer Ansammlung männlicher Kollegen zugeben würde, aber sie hatte das Gefühl, dass hier etwas ganz ernsthaft im Argen lag. Und das hatte nicht nur mit Riddle zu tun. Das Einzige, was ihr einfiel, war, dass in Amsterdam etwas geschehen sein mussste. Aber was?

  Sie ging auf Banks Doppelhaushälfte zu. Vor der Tür holte sie tief Luft, zählte bis drei und klingelte.

  Nichts geschah.

  Sie klingelte erneut.

  Immer noch nichts.

  Sie wartete ein paar weitere Minuten, versuchte es mit Klopfen und Klingeln gleichzeitig. Immer noch keine Reaktion. Wo war er, verdammt? Als sie sich umschaute, konnte sie seinen Wagen nirgendwo sehen.

  Sie lief zurück und sprang in ihren Golf. Jetzt begann sie wütend zu werden, kein guter emotionaler Zustand zum Autofahren, aber die Wut würde sie wenigstens antreiben und ihr helfen zu tun, was sie tun musste. Sie verließ die Stadt und jagte mit gefährlicher Geschwindigkeit durch die in der Dämmerung liegende Landschaft, überquerte die A1 und fuhr weiter Richtung Südosten, raste dann durch die Dunkelheit, durch Dörfer, in denen es sich Familien gerade zum Tee und einem Abend vor dem Fernseher gemütlich machten.

  Bald war sie in den Außenbezirken von Northallerton und hielt schließlich vor Gavins bescheidenem Reihenhaus an.

  Gavin öffnete nach dem ersten Klingeln und lächelte, als er Susan sah. »Komm rein«, sagte er und trat zur Seite. »Das ist eine schöne Überraschung.«

  Susan ging in den Flur, und Gavin beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. Sie zuckte zurück und schlug ihm heftig ins Gesicht. Gavin taumelte ein paar Schritte nach hinten. »Du Scheißkerl«, fauchte Susan. »Du Scheißkerl. Wie konntest du das tun?«

  Gavin sah sie erschrocken an. Er hielt eine Hand auf den roten Striemen auf seiner Wange. »Was denn? Warum hast du das getan, verdammt?«

  »Das weißt du ganz genau.«

  »Nein, weiß ich nicht. Zieh deine Jacke aus und komm mit ins Wohnzimmer. Dann kannst du mir erzählen, was dich so aufregt.«

  Susan folgte ihm ins Wohnzimmer, zog aber ihre Jacke nicht aus. »Ich bleibe nicht lange«, erklärte sie. »Ich werde nur sagen, was ich zu sagen habe, und dann gehen.«

  Gavin nickte. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand. Er trug Hausschuhe mit Schottenmuster, fiel Susan auf, und sah lächerlich aus. Irgendwie half das.

  »In Ordnung«, sagte er. »Ich höre. Aber nach dem, was du gerade getan hast, solltest du dir schon etwas Gutes einfallen lassen.«

  »Oh, keine Sorge«, erwiderte Susan. »Ich habe eine Weile gebraucht. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich blöd, vielleicht bin ich eine Idiotin, aber am Ende bin ich draufgekommen.«

  »Tja, du bist ja auch Polizeibeamtin. Aber ich weiß immer noch nicht, wovon du sprichst. Würdest du so nett sein, von vorne anzufangen?«

  Susan schüttelte den Kopf. »Du bist so verdammt cool, nicht wahr, Gavin? Du hast mich benutzt. Darum geht es.«

  »Ich habe dich benutzt? Ich dachte, es hätte dir auch gefallen ...«

  »Ich rede nicht von Sex. Ich rede von Informationen. Jedes Mal, wenn wir ausgegangen sind, all die Dinge, die ich dir im Vertrauen erzählt habe, den ganzen Reviertratsch - das hast du alles an Jimmy Riddle weitergegeben, nicht wahr? Sogar was ich dir am Samstag im Bett erzählt habe.«

  »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

  Aber er wich ihrem Blick aus und schaute hinab auf seine Hausschuhe. Susan hatte dieses schuldbewusste Verhalten bei genug Kriminellen gesehen, um zu wissen, dass Gavin log. »Doch, du weißt es verdammt genau«, fuhr sie fort. »Woher sonst konnte Riddle alles wissen? Ich hätte es schon viel früher kapieren müssen, dann wäre das wahrscheinlich alles nicht passiert.«

  »Was denn?«

  »Riddle hat heute Nachmittag Banks suspendiert. Erzähl mir nicht, dass du es nicht wusstest.«

  Gavin zuckte mit den Achseln. »Ach, das. Das liegt an Chief Constable Riddles Vor...«

  »Erzähl mir keinen Quatsch. Du hast mich dazu gebracht, unter vier Augen von Banks zu reden. Tratsch. Ich war es, die dir erzählt hat, dass er gerne in den Klassikplattenladen geht, wenn er nach Leeds muss. Als Riddle vor ein paar Tagen mir gegenüber davon sprach, habe ich mich nicht einmal gefragt, woher er das wissen konnte. Ich war es auch, die dir von Pamela Jeffreys erzählt hat, der Bratschistin, die vor ein paar Jahren in einen Fall verwickelt war und wegen der Banks noch heute ein schlechtes Gewissen hat. Und Samstagnacht, im Bett, habe ich dir erzählt, dass Banks in Amsterdam war. Ich habe selbst Schuld, dass ich so dumm war. Vielleicht lag es am Wein. Aber du ... du ... das ist nicht zu entschuldigen.«

  »Okay«, sagte Gavin und starrte sie kühl an. »Der Chief Constable wollte darüber informiert sein, was in Eastvale vor sich geht. Na und? So ist er nun einmal. Anders als sein Vorgänger weiß er gerne Bescheid. Aber mal ehrlich. Für dich ist es einfach. Du musst nicht tagein, tagaus mit ihm zusammenarbeiten, oder?« Er deutete mit dem Daumen auf seine Brust. »Aber ich muss es. Und wir müssen uns alle um unsere Karriere kümmern, oder? Was ist so falsch daran?«

  Obwohl es genau das war, was sie erwartet hatte, konnte Susan kaum glauben, was sie da hörte. »Du gibst es also zu? Einfach so? Du hast mich benutzt, um meine Kollegen auszuspionieren?«

  »Tja, da du den Beweis hast, kann ich nicht mehr viel sagen, oder? Ich kann es kaum leugnen. Ja. Mea culpa.«

  »Ich verstehe es nicht, Gavin. Wie konntest du das tun?«

  Gavin zuckte mit den Achseln. »Ich hatte nie gedacht, dass es so weit kommen würde«, sagte er. »Mein Gott, es waren nur Kleinigkeiten, nichts Wichtiges. Wie gesagt, Riddle wollte nur informiert werden. Aber deswegen habe ich dich nicht angesprochen. Das kam erst später. Als er herausfand, dass wir beide miteinander ausgehen. Und glaube mir, ich habe es ihm nicht erzählt. Riddle hat ein ganz gutes Netzwerk.« Er zuckte wieder mit den Achseln. »Ich dachte wirklich nicht, dass es Schaden anrichten würde.«

  »Wollte er über Eastvale im Allgemeinen informiert werden oder speziell über Detective Chief Inspector Banks?«

  Gavin trat von einem Fuß auf den anderen. »Tja, er hat speziell nach Banks gefragt. Er hat nie viel von Banks gehalten. Er hielt ihn für eine Art Einzelgänger, um die Wahrheit zu sagen.«

  »Das weiß ich«, sagte Susan. »Er hat ihn nie gemocht, von Anfang an nicht. Ich erinnere mich noch ,gut an den Deborah-Harrison-Fall, als Banks ein paar von Riddles wichtigen Freunden verärgert hat. Er hat nur etwas gesucht, was er gegen ihn benutzen kann. Und du hast mich benutzt, um es ihm zu beschaffen. Und das kann ich dir nicht verzeihen.«

  »Wie gesagt, ich habe wirklich nicht gedacht, dass ich irgendwelchen ...«

  »Ach, halt den Mund, Gavin. Deine Ausreden interessieren mich nicht. Du hast mich benutzt, um Banks' Karriere zu zerstören, und das ist alles, was mich interessiert.«

  »Wenn du es so sehen willst.«

  »Kann man es denn anders sehen?«

  »Ich nehme an, dann ist es zwischen uns aus, oder?«

  Susan konnte ihn nur anschauen und den Kopf schütteln. Dann drehte sie sich um und ging.

  »Was ist los, Susan?«, rief Gavin hinter ihr her. »Bist du scharf auf ihn, oder was? Du solltest mal hören, wie du über ihn sprichst. Wie eine verliebte Teenagerin. Glaube mir, es war nicht schwer, dich dazu zu bringen, über ihn zu reden. Viel schwerer war es, dich zum Schweigen zu bringen. Selbst im Bett.«

  Susan schlug die Tür hinter sich zu und stieg in ihren Wagen. Sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht einmal den Schlüssel im Zündschloss herumdrehen. Sie konnte nur dasitzen, ihre Hände umklammerten das Lenkrad, zitternd. Sie holte ein paar Mal tief Luft.

  Und dann tat Susan etwas, was sie sonst sehr selten tat, und wenn es passierte, dann hasste sie sich selbst dafür. Sie begann zu weinen. Tiefe, krampfartige Schluchzer. Denn, Scheiße, sagte sie sich, Gavin hatte Recht. Sie hatte es sich nie eingestanden, aber sie wusste es seit Ewigkeiten. Sie interessierte sich tatsächlich für Banks, sie hatte ihn mehr als gern. Und, verdammt, er war ein verheirateter Mann, er war ihr Vorgesetzter, er würde sie im Leben nicht in Betracht ziehen. Sie war nur eines dieser dummen Mädchen, die in ihren Chef verliebt sind, und es gab nun keine Möglichkeit mehr, in Eastvale zu bleiben, nicht nach alledem.

 

* III

 

Es war schon lange dunkel, als Banks nach Hause kam. Stundenlang, so schien es ihm, war er durch die Dales gefahren und hatte kaum gewusst, wo er war oder welche Musik sich im Kassettenrecorder ständig wiederholte. Seine Knöchel schmerzten noch, aber das innere Beben hatte aufgehört. Hatte er das wirklich getan? Hatte er wirklich Jimmy Riddle geschlagen? Er wusste, dass er es getan hatte, und er wusste außerdem, dass er in dem Moment, als er voller Wut explodiert war, an Sandra gedacht hatte und nicht an seinen verdammten Job.

  Das Haus war still und leer. Die Stille und die Leere hatten eine andere Qualität als früher. Zuerst machte er einen Rundgang, um zu sehen, ob etwas fehlte. Sandra hatte nicht viel mitgenommen. Die meisten ihrer Kleidungsstücke hingen noch im Schrank, die Kissen dufteten noch nach ihrem Haar und ihr Foto des dunstigen Sonnenuntergangs über Hawes hing noch über dem Kamin im Wohnzimmer.

  Bei dem Anblick musste er daran denken, dass er erst am Sonntag, gestern also, im Regen von einem Amsterdamer Museum zum anderen gewandert war, wie ein Pilger, und im Rijksmuseum staunend vor Rembrandts Nachtwache gestanden hatte, verstört vor den Krähen im "Weizenfeld im Van-Gogh-Museum und schließlich begeistert vor den hellen, wunderlichen Chagalls im Stedelijk Museum.

  Und die ganze Zeit hatte er daran gedacht, wie Sandra diese Ausstellungen lieben würde und wie gerne er sie zu einem Wochenendbesuch im Frühling einladen würde, vielleicht als verspätetes Geburtstagsgeschenk.

  Aber Sandra war gegangen.

  Er bemerkte das rote Licht, das am Anrufbeantworter aufblinkte. Mit dem Gedanken, es könnte Sandra sein, stand er auf und drückte auf die Abspieltaste. Ein Anrufer war Vic Manson, zwei hatten gleich wieder aufgelegt, doch die folgenden viermal war es Tracy. Bei ihrem letzten Versuch sagte sie: »Dad, bist du da? Es ist jetzt Sonntag. Ich habe das ganze Wochenende versucht, dich zu erreichen. Ich mache mir Sorgen um dich. Wenn du da bist, dann geh doch bitte dran. Ich habe mit Mami gesprochen, und sie hat mir erzählt, was geschehen ist. Es tut mir so Leid. Ich liebe dich, Daddy. Bitte ruf mich zurück.«

  Einen Augenblick lang blieb Banks vor dem Telefon stehen, den Kopf in den Händen, Tränen brannten in seinen Augen. Dann tat er, was jeder vernünftige Mann in einer solchen Situation tun würde. Er drehte Mozarts Requiem so laut auf, wie er es ertragen konnte, und betrank sich nach Strich und Faden.