* ZEHN

 

* I

 

Susan vermutete, dass sich Mark Wood am Samstagmorgen fühlen musste wie eine Maus, die in die Falle getappt war: Sie kann keinen Ausweg finden und beginnt allmählich zu realisieren, dass sie feststeckt. Und selbst wenn die Maus freigelassen wird, dachte Susan, findet sie sich normalerweise weit weg von zu Hause wieder.

  »Ihr Anwalt, Mr. Varney, hat angerufen«, sagte Gristhorpe. »Es tut ihm Leid, aber er war gestern Abend aus. Jetzt ist er auf jeden Fall unterwegs hierher. Was können wir in der Zwischenzeit für Sie tun? Kaffee? Gebäck?«

  Wood streckte seinen Arm aus und nahm sich ein Teilchen. »Bevor er hier ist, muss ich nicht mit Ihnen sprechen«, gab er zur Antwort.

  »Stimmt«, sagte Gristhorpe ruhig. »Aber erinnern Sie sich an die Rechtsbelehrung, die ich Ihnen gestern vorgelesen habe? Wenn Sie jetzt nichts sagen, aber später versuchen, Ihre Geschichte erneut zu ändern, dann könnte es sehr schlimm für Sie werden.«

  »Was wollen Sie damit sagen?«

  »Sie wissen genau, was ich sagen will. Sie sind ein Lügner, Mark. Sie haben uns bereits ein halbes Dutzend Altweibermärchen aufgetischt. Je mehr Lügen Sie erzählen, desto geringer wird Ihre Glaubwürdigkeit. Ich biete Ihnen die Möglichkeit, reinen Tisch zu machen, alle Lügen zu vergessen und ein und für alle Mal die Wahrheit zu sagen. Was geschah, nachdem Sie und Jason Fox am vergangenen Samstagabend das Ju-bilee verlassen haben? Ihr Anwalt wird Ihnen nur den gleichen Rat geben. Erzählen Sie die Wahrheit und ich schalte die Kassettenrecorder an.«

  »Aber ich habe Ihnen schon alles gesagt.«

  Gristhorpe schüttelte den Kopf. »Sie haben gelogen. Die Flasche. Der Fingerabdruck, Mark. Der Fingerabdruck.«

  Susan hoffte inständig, dass Gristhorpe etwas erreichte, bevor Giles Varney eintraf, denn angesichts dessen, was der Fingerabdruck wirklich wert war, ritt er schon viel zu lange darauf herum. Sie konnten nicht sicher sein, dass es Woods Abdruck war, und als die Bänder liefen, hatte sich Gristhorpe nur sehr vorsichtig darüber geäußert und davon gesprochen, dass er Woods Abdruck »auffällig« gleiche und nicht, dass er identisch sei.

  Doch auch »auffällig gleichen« war reichlich übertrieben. Varney würde als Erstes den forensischen Beweis in Augenschein nehmen und seinem Mandanten sagen, wie fadenscheinig er war. Dann würde Wood keinen Ton mehr von sich geben. Susan hatte erst vor wenigen Augenblicken mit dem Labor telefoniert, und ihr war gesagt worden, dass sie spätestens bis zum Mittag mit Ergebnissen rechnen könnten, aber sicherlich nicht vor einer Stunde.

  Selbst dann, so wusste sie, würden dies nur vorläufige Ergebnisse sein. Doch vielleicht könnten die Kollegen im Labor wenigstens ermitteln, ob es menschliches Blut an Woods Kleidung gab und ob es Jason Fox' Blutgruppe war. Auf genauere und verlässlichere Beweise wie die DNA-Analyse würden sie viel länger warten müssen. Doch schon die Bestimmung der Blutgruppe, dachte Susan, zusammen mit einer Identifikation und einer Aussage des Wirts des Jubilee wäre mehr, als sie im Moment in der Hand hatten. Und es könnte ausreichen, um den Richter davon zu überzeugen, Wood eine Weile länger in Untersuchungshaft zu behalten.

  »Niemand außer Ihnen hat die Flasche angefasst, Mark«, fuhr Gristhorpe fort. »Der Fingerabdruck beweist das.«

  »Und was ist mit dem Typ, von dem ich sie gekauft habe? Warum waren seine Fingerabdrücke nicht auf der Flasche?«

  »Das ist unwichtig, Mark. Wichtig ist nur, dass Ihre Fingerabdrücke darauf waren und Jasons nicht. Daran gibt es nichts zu rütteln, Anwalt hin oder her. Wenn Sie mir jetzt die Wahrheit sagen, wird die Sache gut für Sie ausgehen. Wenn nicht... nun, dann werden Sie sich einem Richter erklären müssen. Und manchmal muss man Monate auf ein Gerichtsverfahren warten. Sogar Jahre.«

  »Na und? Ich komme auf Kaution raus und Sie können gar nichts beweisen.«

  Richtig, dachte Susan.

  »Falsch«, entgegnete Gristhorpe. »Ich glaube nicht, dass Sie auf Kaution freikommen. Nicht dafür. Es war ein brutaler Mord. Ein wirklich scheußlicher Mord.«

  »Sie haben gesagt, es muss nicht Mord gewesen sein.«

  »Kommt drauf an. So wie die Dinge jetzt liegen, werden Sie schon gestehen müssen, um uns glaubhaft zu machen, dass es Totschlag war, Mark. Sie müssen uns erzählen, wie es wirklich passiert ist, Sie müssen uns überzeugen, dass es kein Mord war. Beweise zurückhalten, sich nicht bei der Polizei melden, lügen - das macht alles keinen guten Eindruck auf einen Richter.«

  Wood kaute auf seiner Unterlippe. Susan bemerkte die Kuchenkrümel auf seinem Hemd. Er schwitzte.

  »Sie sind doch ein cleverer junger Mann, oder, Mark?«

  »Was meinen Sie damit?«

  »Sie wissen alles über Computer und das Internet und diesen Kram?«

  »Und?«

  »Also, ich kann eine Festplatte nicht von einem Suppenteller unterscheiden, aber was ich unterscheiden kann, ist eine Lüge von der Wahrheit, und ich weiß, dass Sie lügen, und ich weiß, dass Sie nur dann aus dieser Lügenverstrickung herauskommen, in die Sie sich hineinmanövriert haben, wenn Sie mir die Wahrheit sagen. Und zwar jetzt!«

  Schließlich fuhr Wood mit der Zunge über seine Lippen und sagte: »Hören Sie, ich habe niemanden getötet. Okay, ich war dabei. Ich gebe es zu. Ich war dabei, als es anfing. Aber ich habe Jason nicht getötet. Sie müssen mir glauben.«

  »Warum muss ich Ihnen glauben, Mark?«, fragte Gristhorpe sanft.

  »Weil Sie müssen. Es ist wahr.«

  »Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was passiert ist?«

  »Kann ich eine rauchen?«

  »Nein«, sagte Gristhorpe. »Erst nachdem Sie mir alles erzählt haben. Und falls ich Ihnen dann glaube.« Er schaltete den Kassettenrecorder mit den zwei Laufwerken ein und sprach die übliche Einleitung über die Zeit, das Datum und die Anwesenden auf die Bänder.

  Wood schmollte und kaute einen Moment auf seiner Lippe, bevor er begann: »Wir haben das Jubilee kurz nach der Sperrstunde verlassen, genau wie ich gesagt habe. Ich hatte eine Flasche dabei. Jason nicht. Er trank nicht viel. Im Grunde hatte er prinzipiell etwas gegen Alkohol und Drogen. Jason stand auf Gesundheit und Fitness. Egal, wir haben die Abkürzung genommen - jedenfalls hat er mir das gesagt -, vom Stadtkern weg durch ein paar Straßen, und wo die Straßen zu Ende waren, gab es da eine Gasse, die zwischen zwei Wohnblöcken und so einer Müllhalde hindurchführt.«

  »Dem Park.«

  »Wenn Sie das sagen. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren.«

  »Warum sind Sie auch in die Richtung gegangen? Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ihr Wagen stand in der Market Street.«

  »Da stand er auch. Jason hatte mich gefragt, ob ich noch auf einen Drink mit zu ihm komme. Das ist alles. Ich weiß, ich hätte nicht so viel trinken sollen, wo ich mit dem Wagen unterwegs war, aber ...« Er grinste. »Es war so, wie Sie gestern gesagt haben. Wenn ich der Meinung gewesen wäre, ich hätte zu viel, wäre ich die Nacht über dageblieben.«

  »Bei Jason zu Hause?«

  »In dem Haus seiner Eltern, ja.«

  »Fahren Sie fort.«

  »Also, diese Gasse kam mir ein bisschen unheimlich vor, aber Jason ging voraus. Und plötzlich kamen sie auf uns zugestürzt, drei Typen, die hatten auf der anderen Seite gewartet. Auf der Seite dieses Parks.«

  »Drei?«

  »Genau. Asiaten. Ich habe sie wiedererkannt. Jason hatte mit einem von ihnen vorher im Pub etwas Zoff, ganz unbedeutend.«

  »Was geschah dann?«

  »Ich ließ die Flasche fallen und machte mich schnell aus dem Staub. Ich dachte, Jason wäre direkt hinter mir, aber als ich mich umgedreht habe, war er nirgendwo zu sehen.«

  »Sie haben nicht gesehen, was mit ihm passiert ist?«

  »Nein.«

  »Und Sie sind nicht zurückgegangen?«

  »Auf keinen Fall.«

  »Gut. Was haben Sie als Nächstes getan?«

  »Ich bin weitergelaufen, bis ich zu meinem Wagen kam, dann bin ich nach Hause gefahren.«

  »Warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«

  Wood kratzte seinen Nacken und wandte den Blick ab. »Keine Ahnung. Da habe ich gar nicht dran gedacht. Und ich hatte getrunken.«

  »Aber Ihr Freund - Entschuldigung, Ihr Geschäftspartner - war in Gefahr. Man konnte doch damit rechnen, dass er schwere Schläge einstecken musste. Und da hauen Sie einfach ab. Ich bitte Sie, Mark, Sie können doch nicht erwarten, dass ich das glaube. Sie haben doch bestimmt mehr Mumm, so ein kräftiger Junge wie Sie, oder?

  »Glauben Sie, was Sie wollen. Woher sollte ich wissen, dass Jason in Gefahr war? Ich dachte, er ist in die andere Richtung abgehauen. Ich wäre ja ein Vollidiot, wenn ich zurückgegangen wäre, um mir den Schädel eintreten zu lassen.«

  »Sowie Jason.«

  »Ja', gut. Woher sollte ich wissen, dass das passiert?«

  »Haben Sie wirklich geglaubt, dass Jason auch weggelaufen ist?«

  »Das hätte doch sein können, oder?«

  »Gut. Jetzt sagen Sie mir: Wenn Sie nichts Falsches getan haben, warum haben Sie sich dann nicht später gemeldet, nachdem Sie wussten, dass Jason getötet worden war?«

  Mark kratzte seinen Nasenflügel. »Ich wusste es erst, als ich ein paar Tage später davon in der Zeitung gelesen hatte. Und dann dachte ich, dass es komisch aussehen würde, wenn ich mich melde.«

  Gristhorpe runzelte die Stirn. »Komisch aussehen?«

  »Ja. Verdächtig.«

  »Weshalb?«

  »Weil ich vorher nichts gesagt hatte. Wird man nicht durch solche Sachen für die Polizei verdächtig?«

  Gristhorpe spreizte seine Finger. »Mark, wir sind im Grunde schlichte Gemüter. Wir freuen uns riesig, wenn jemand beschließt, uns die Wahrheit zu erzählen.«

  »Ja, gut ... Ich muss zugeben, dass ich nicht besonders stolz auf mich war.«

  »Weshalb? Weil Sie weggelaufen sind? Weil Sie Ihren Kumpel im Stich gelassen haben, als er Ihre Hilfe brauchte?«

  Wood schaute hinab auf seine auf dem Schoß gefalteten Hände. »Ja.«

  »Gab es noch einen Grund, warum Sie sich rausgehalten haben?«

  »Tja, wenn diese Typen Jason getötet haben, ob sie es nun wollten oder nicht ... Ich meine, ich habe Frau und Kind. Wissen Sie, was ich meine? Ich wollte meine Familie durch eine Aussage nicht in Gefahr bringen. Man muss bei solchen Dingen ja mit ... äh, Sie wissen schon ... mit Vergeltung rechnen, oder?«

  »Vergeltung? Durch die drei Angreifer?«

  »Durch sie, ja. Oder Leute wie sie.«

  »Andere pakistanische Jugendliche?«

  »Ja, genau. Ich meine, die halten doch alle zusammen und treten füreinander ein, oder? Ich wollte meine Frau und mein Kind keinem Risiko aussetzen.«

  Gristhorpe schüttelte langsam den Kopf. »Das ergibt für mich keinen Sinn, Mark. Sie sehen wie ein kräftiger Bursche aus. Warum sind Sie nicht dageblieben und haben gemeinsam mit Jason gekämpft und ihn ein bisschen unterstützt?«

  »Wie gesagt, ich habe an Sheri und Connor gedacht. Ich meine, wie würden die beiden ohne mich klarkommen, wenn ich verletzt worden und ins Krankenhaus gekommen wäre?«

  »Wahrscheinlich genauso, wie die beiden ohne Sie klarkommen müssen, wenn Sie ins Gefängnis gehen«, sagte Gristhorpe. »Sie wollen mir weismachen, dass Sie aus Sorge um Ihre Familie weggelaufen sind?«

  Woods Gesicht wurde rot. »Ich behaupte nicht, dass ich sofort daran gedacht habe. Das war instinktiv. Welche Wahl hatte ich denn? Und wie gesagt, ich dachte, Jason wäre gleich hinter mir. Es waren drei gegen zwei.«

  »Nachdem Sie abgehauen sind, waren es drei gegen einen, Mark. Welche Chance hatte Jason allein? Zu zweit hätten Sie es mit den dreien leicht aufnehmen können. Ich hätte mein Geld auf Sie gesetzt.«

  Wood schüttelte den Kopf.

  »Wollen Sie mir erzählen, dass Sie ein Feigling sind, Mark? So ein kräftig aussehender Kerl wie Sie? Ich wette, Sie stemmen Gewichte, oder? Aber kaum kommt es mal drauf an, da hauen Sie ab und lassen Ihren Kumpel einsam und hilflos sterben.«

  »Würden Sie mal damit aufhören?« Wood beugte sich vor und knallte seine Faust auf den Metalltisch. »Der Punkt ist, dass ich nichts getan habe. Es geht nicht darum, ob ich weggelaufen bin. Oder warum ich weggelaufen bin. Es geht nur darum, dass ich Jason nicht getötet habe!«

  »Beruhigen Sie sich, Mark.« Gristhorpe hob beschwichtigend seine Hand. »Sie haben Recht. Theoretisch, jedenfalls.«

  »Was soll das heißen, theoretisch?«

  »Nun, wenn das, was Sie uns erzählt haben, endlich die Wahrheit ist...«

  »Ist es.«

  »... dann haben Sie Jason nicht im gesetzlichen, kriminologischen Sinn des Wortes getötet. Aber ich würde sagen, dass Sie moralisch verantwortlich sind, oder? Sie hätten ihn retten können, Sie haben es aber nicht einmal versucht.«

  »Ich habe gesagt, Sie sollen damit aufhören. Sie können nicht beweisen, dass es etwas gebracht hätte, wenn ich dageblieben wäre. Vielleicht wäre ich auch getötet worden. Hätte davon jemand etwas gehabt? Ich scheiße auf die Moral. Sie können mich wegen nichts anklagen.«

  »Wie wäre es mit Verlassen des Tatortes?«

  »Das ist Schwachsinn, das wissen Sie genau.«

  »Vielleicht«, gab Gristhorpe zu. »Nichtsdestotrotz, Ihren Kumpel so im Stich zu lassen ... Damit werden Sie für immer leben müssen, nicht wahr, Mark?«

  Gristhorpe ging zur Tür und bat die zwei uniformierten Beamten, hereinzukommen und Wood zurück in seine Zelle zu bringen; dann nahmen er und Susan ihren Kaffee, verließen das stickige Verhörzimmer und gingen hoch in Gristhorpes Büro. Dort, auf einem bequemen Stuhl, mit genug Platz und frischer Luft, konnte sich Susan wieder entspannen.

  »Was halten Sie von seiner Geschichte?«, fragte Gristhorpe.

  Susan schüttelte den Kopf. »Er hat schon was von einem Chamäleon, oder? Ich weiß nicht so recht, was ich von ihm halten soll. Aber eines kann ich Ihnen sagen, Sir: Ich glaube, ich habe ihn bei mindestens einer weiteren Lüge erwischt.«

  Gristhorpe hob seine buschigen Augenbrauen. »Ach, ja? Und bei welcher?«

  »Mark hat uns gesagt, dass ihn Jason, nachdem die beiden das Jubilee verlassen haben, nach Hause auf einen Drink eingeladen und ihm sogar angeboten hat, bei ihm zu übernachten. Das hätte Jason niemals getan. Seine Eltern haben ausdrücklich gesagt, dass er nie Freunde mit zu ihnen nach Hause gebracht hat.«

  »Hmmm. Vielleicht sind sie diejenigen, die gelogen haben?«

  »Das glaube ich nicht, Sir. Warum sollten sie? Jason hat doch die meiste Zeit in Leeds verbracht. Er kam nur manchmal an den Wochenenden nach Hause, vor allem, um für United Fußball zu spielen, kurz bei seinen Eltern zu sein, sich seine Wäsche waschen zu lassen und vielleicht seinen Großvater zu besuchen. Er hat keinem von ihnen gesagt, was er in Leeds macht. Es ist ziemlich verständlich, dass er weder von Neville Motcombe erzählen wollte noch Lust hatte zu erklären, warum er in der Plastikfabrik gefeuert worden war. Und deshalb konnte er auch die Computerfirma nicht erwähnen. Er hätte ganz einfach lügen und ihnen erzählen können, dass er die Fabrik aus freien Stücken wegen einer besseren Chance verlassen hat, aber das hat er nicht getan. Ich nehme an, er wollte sich der Frage nicht stellen. Alle weiteren Lügen waren dann eine Folge davon. Wer weiß, was Mark in Gegenwart von Jasons Eltern herausgerutscht wäre.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn nicht Mr. und Mrs. Fox lügen, was ich bezweifle, dann ist es höchst unwahrscheinlich, dass Jason plötzlich aus einer Laune heraus einen seiner Kumpels aus Leeds in sein Elternhaus mitnehmen wollte. Und dann ist da noch etwas. Jason hatte bei seinen Eltern überhaupt nichts zu trinken gehabt. Nach allem, was wir bisher gehört haben, hat er so gut wie nie getrunken.«

  »Vielleicht wollte er Mark den Scotch seines Vaters anbieten?«

  »Das ist möglich, Sir«, erwiderte Susan. »Aber wie gesagt, ich bezweifle es.«

  »Und vielleicht nahm er es nicht ganz so streng, wenn sein Kumpel zu viel getrunken hatte und irgendwo seinen Rausch ausschlafen musste. Das könnte auch erklären, warum Mark von der Market Street zu Jasons Elternhaus nicht mit dem Wagen gefahren ist.«

  »Auch das ist möglich, Sir«, sagte Susan.

  »Aber Sie sind nicht überzeugt. Glauben Sie, dass er es getan hat?«

  »Ich weiß es nicht, Sir. Ich glaube einfach seine Geschichte nicht.«

  »Sagen wir lieber Geschichten. In Ordnung, ich werde mir Ihre Vorbehalte merken. Ich kann auch nicht gerade behaupten, dass mir seine Geschichten besonders gefallen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Wie auch immer, wir kümmern uns jetzt besser um die erneute Vorladung von George Mahmood und seinen Freunden.«

  »Obwohl der forensische Beweis Georges Aussage unterstützt?«

  »Trotzdem.«

  »Das wird Chief Constable Riddle nicht gefallen, Sir.«

  »So wie ich das sehe, Susan, haben wir keine andere Wahl. Mark Wood sagt, er hat gesehen, dass drei Asiaten Jason Fox angegriffen haben. Solange wir nicht beweisen können, dass er lügt, spielt es keine Rolle, was wir denken. Wir müssen sie vorladen.«

  Susan nickte. »Ich weiß, Sir.«

  »Und rufen Sie noch einmal im Labor an. Bitten Sie die Kollegen, etwas Dampf zu machen. Ich wäre im Moment schon zufrieden, wenn sie uns nur erzählen können, dass sie menschliches Blut auf der Kleidung gefunden haben. Denn wenn wir nicht bald etwas in der Hand haben, wird Mark Wood in weniger als einer Stunde hier herausspazieren, obwohl mich noch kein Wort zufrieden gestellt hat, das er uns erzählt hat.«

 

* II

 

Banks schaffte es gerade noch kurz vor neun Uhr hinunter in den Frühstückssaal, wofür er sich einen eisigen Blick von der korpulenten Kellnerin einhandelte. Zuerst schenkte er sich an einem Tisch am Fenster Kaffee ein, dann nahm er Platz und schaute sich um. Über dem mit einer Spitzengardine verhängten Fenster prangte ein großes Nichtraucherschild.

  Während er den starken schwarzen Kaffee trank und wartete, beschäftigte er sich mit dem Kreuzworträtsel der gestrigen Ausgabe der Yorkshire Post. Schließlich kehrte die Kellnerin zurück und stellte mit einem mürrischen Blick ein Glas Orangensaft und einen Teller vor ihm ab. Auf dem Teller lagen ein paar Scheiben kalter Schinken, ein Stück Edamerkäse, ein hart gekochtes Ei, ein paar Brötchen und etwas Butter. Das niederländische Frühstück. Banks griff zu.

  Er war froh, nur einen recht erträglichen Kater zu haben. Der leichte Schmerz hinter seinen Augen war mühelos mit der Hilfe von zwei extrastarken Paracetamol aus seiner Reiseapotheke bezwungen worden, und er vermutete, dass das geringfügige Gefühl der Orientierungslosigkeit, das er verspürte, eher immer noch etwas mit seinem Aufenthalt in einer fremden Stadt zu tun hatte als mit den Nachwirkungen des Alkohols. Doch aus welchem Grund auch immer, er fühlte sich gut. Jedenfalls körperlich.

  Erst als er den Rest seines Kaffees austrank, wurde ihm bewusst, dass er am letzten Abend überhaupt nicht an seine häuslichen Probleme gedacht hatte. Selbst jetzt, im Lichte des Morgens, kam ihm alles äußerst entfernt und schemenhaft vor. Er konnte kaum glauben, dass Sandra wirklich gegangen war. Lag es daran, dass er nicht dort war, um das Kind in den Brunnen fallen zu sehen, oder war es ein Umgang mit der Trauer, den die Psychologen Leugnung der Tatsachen nannten? Vielleicht sollte er seine Freundin, die Psychologin Jenny Füller, fragen, wenn sie aus Amerika zurückkam.

  War er jetzt, wo Sandra ihn tatsächlich verlassen hatte, ein freier Mann? Wie lauteten die Regeln? Am besten nicht weiter darüber nachdenken. Vielleicht würde er noch einmal zu Hause anrufen, bevor er ausging, um zu schauen, ob sie zurückgekommen war.

  Er war der einzige Mensch, der in dem blitzsauberen Saal mit dem dunklen, nach Politur riechenden Holz, den Spitzendeckchen, der tickenden Uhr und dem in jeder Nische drapierten Nippes saß. Wie er gehofft hatte, hatte Burgess anscheinend entweder früher gefrühstückt oder war noch gar nicht aufgestanden. Banks vermutete Letzteres.

  Gott sei Dank war gestern Abend ein Passant stehen geblieben und hatte ihm geholfen, Burgess aus der Gracht zu hieven. Danach hatte Dirty Dick dagestanden, klatschnass von dem modrigen Wasser, und sich lautstark über die niederländischen Kanalbauingenieure beschwert, von denen die meisten, laut Burgess, nur einen Elternteil hatten, nämlich die Mutter, mit der sie unsagbare sexuelle Beziehungen unterhielten.

  Banks konnte ihn schließlich dazu überreden, sich zu beruhigen und zurück ins Hotel zu gehen, da ansonsten unweigerlich die Polizei gekommen wäre und die beiden verhaftet hätte.

  Als sie dort ankamen und durch die Hotelhalle latschten, erregten sie lediglich ein verdutztes Stirnrunzeln bei dem Mann an der Rezeption. Burgess zog beim Gehen immer noch eine Spur schmutzigen Kanalwassers hinter sich her, seine Schuhe machten bei jedem Schritt ein platschendes Geräusch. Er hielt seinen Kopf hoch, versuchte wie W.C. Fields einen nüchternen Eindruck zu erwecken und ging mit so viel Würde, wie er aufbringen konnte. Er marschierte geradewegs in sein Zimmer im zweiten Stock und danach hatte Banks nichts mehr von ihm gesehen oder gehört.

  Nach dem Frühstück stieg Banks hinauf in sein Zimmer und rief erneut zu Hause an. Nichts. Er hatte zwar nicht erwartet, dass Sandra gleich wieder den ersten Zug zurück nehmen würde, aber die Hoffnung starb immer zuletzt. Er hinterließ keine Nachricht für sich.

  Während er vorsichtig die steilen, engen Stufen wieder hinabstieg und auf Zehenspitzen über den Gang vor Burgess' Zimmer schlich, musste er daran denken, wie ihm der gestrige Abend gefallen hatte, wie er, entgegen aller Erwartungen, seinen Abend in Freiheit genossen hatte. Er hatte zwar nichts getan, was er nicht auch sonst getan hätte, außer vielleicht zu viel zu trinken und albern zu werden, aber er hatte sich anders dabei gefühlt.

  Zum ersten Mal ertappte er sich bei der Frage, ob Sandra nicht vielleicht doch Recht hatte. Möglicherweise brauchten beide tatsächlich etwas Zeit, um sich nach den ganzen Veränderungen der letzten Jahre, besonders durch Sandras neuen und arbeitsintensiveren Job in der Galerie und dem Auszug der Kinder, neu zu arrangieren.

  Aber mittlerweile waren es keine Kinder mehr, erinnerte sich Banks. Erwachsene. Er dachte an den Abend im Pack Horse erst vor wenigen Tagen zurück, als er Tracy mit ihren Freunden beobachtet hatte und ihm klar geworden war, dass er sich nicht zu ihr setzen konnte. Dann entsann er sich des Telefonats, das er einst von Weymouth aus mit seinem Sohn in Portsmouth geführt hatte, wobei ihm zum ersten Mal bewusst geworden war, wie weit sich Brian entfernt hatte und wie unabhängig er geworden war.

  Tja, er konnte nichts dagegen tun. Er war machtlos gegen alle diese Entwicklungen. Was er tun konnte, war lediglich, dafür Sorge zu tragen, dass er den Kontakt mit ihnen aufrechterhielt, dass er ihnen half, so gut er konnte, dass er ein Freund für sie wurde und sie nicht verärgerte, indem er sich in ihr Leben einmischte. Er fragte sich, wie die beiden wohl die Nachricht von der Trennung ihrer Eltern aufnehmen würden. Aber wer würde es ihnen sagen? Würde Sandra es tun? Oder war es seine Aufgabe?

  Er ging hinaus auf die Keizersgracht. Die Sonne funkelte auf den am Kai abgestellten Fahrrädern und auf der Gracht, wo sie einen Regenbogen auf einer Öllache zeichnete. In den Wellen der vorbeiziehenden Boote schimmerten sanft die Spiegelbilder der Bäume.

  Sein mysteriöses Treffen war für acht Uhr am Abend angesetzt. Schön, dachte er, dann konnte er diesen herrlichen Tag in der Zwischenzeit also dazu nutzen, nach Herzenslust durch die Stadt zu streifen.

 

* III

 

»Sie müssen zugeben, Superintendent, dass Ihr Beweis ziemlich schwach ist.«

  Giles Varney, Mark Woods Anwalt, saß am späteren Samstagvormittag in Gristhorpes Büro und schaute beim Reden hinaus auf den Marktplatz.

  Der sonnige Morgen hatte eine Menge Touristen auf den belebten Wochenmarkt gelockt, doch mittlerweile zogen Wolken auf, und für Susans geübte Nase roch es nach einem heftigen Schauer noch vor Tagesende. Sie hatte bereits gesehen, wie die Windböen, die später die Regenwolken bringen würden, die Zelte der Marktstände aufgebläht hatten.

  Anders als der Anwalt, mit dem sie im letzten Jahr bei dem Mord an Deborah Harrison zu tun hatten, war Varney kein Anzugtyp. Er war lässig mit Jeans und einem Sporthemd bekleidet, sein teures, leichtes Wolljackett hing an einem Ständer in der Ecke. Er war jung, wahrscheinlich nicht viel älter als Susan mit ihren siebenundzwanzig Jahren, gut in Form und auf eine kantige, sportliche Weise attraktiv. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg zum Drachenfliegen.

  Irgendetwas an ihm gefiel Susan nicht, aber sie konnte nicht genau sagen, was. Eine Arroganz vielleicht, eine gewisse Überheblichkeit. Was auch immer es war, ^s ließ sie auf der Hut sein.

  »Das ist mir bewusst, Mr. Varney«, sagte Gristhorpe, »aber Sie werden unser Problem sicherlich verstehen.«

  Varney lächelte. »Bei allem Respekt, aber es ist nicht « meine Aufgabe, Ihr Problem zu verstehen. Meine Aufgabe ist es, meinen Mandanten aus dem Gefängnis zu holen.«

  Hochnäsiger Schwätzer, dachte Susan.

  »Und unsere Aufgabe ist es«, konterte Gristhorpe, »dem Tod von Jason Fox auf den Grund zu gehen. Ihr Mandant hat zugegeben, am Tatort gewesen zu sein.«

  »Aber nur vor der Tat. Er konnte unmöglich wissen, was geschehen würde.«

  »Ach, ich bitte Sie, Mr. Varney. Wenn drei Jugendliche in einer dunklen Gasse auf Sie losgehen, werden Sie wohl ziemlich genau wissen, was gleich geschehen wird, oder?«

  »Das steht nicht zur Debatte. Und seit wann ist es eine Straftat, seine eigene Haut zu retten? Im Grunde hat sich mein Mandant keines Verbrechens schuldig gemacht. Ich erwarte, dass Sie ihn umgehend freilassen. Sind die wirklichen Täter nicht bereits in Haft?«

  »Sie sind auf dem Weg. Erneut«, brummte Gristhorpe.

  Varney hob eine Augenbraue. »Ja, ich habe gehört, dass Sie diese Kerle schon einmal verhaftet und wieder freigelassen haben, richtig?«

  »Freilassen mussten«, korrigierte Gristhorpe. »Keine Beweise. Sie wären der Erste gewesen, der der Freilassung zugestimmt hätte.«

  Varney lächelte wieder. »Sie haben in letzter Zeit nicht gerade viel Glück mit Beweisen, oder, Superintendent?«

  »Da ist noch eine andere Kleinigkeit«, sagte Gristhorpe unvermittelt.

  Varney schaute verwirrt auf seine Rolex. »Ja?«

  »Ihr Mandant ist nun zu einem wichtigen Zeugen geworden. Ich denke, Sie werden keine Einwände haben, dass er hier bleibt, um die Verdächtigen zu identifizieren, sobald sie da sind, oder?«

  Varney kniff seine Augen zusammen. »Ich habe keine Ahnung, was Sie vorhaben, Superintendent, aber irgendetwas ist faul an der Sache. Dennoch, wie könnte ich Einwände haben? Und ich bin sicher, mein Mandant wird gerne bereit sein, dieses Chaos für Sie zu klären. Sofern er umgehend aus seiner Zelle entlassen und wie ein Zeuge behandelt wird und nicht wie ein Krimineller. Zudem muss er wissen, dass es ihm freisteht, nach Hause zu gehen, wann immer er will.«

  Susan atmete erleichtert auf. Sie wusste, dass Gristhorpe auf Zeit spielte und einen Grund suchte, Mark Wood so lange in Eastvale zu behalten, bis das Labor etwas herausgefunden hatte - oder nichts. Auf diese Weise würden sie mindestens noch eine Stunde mit ihm haben, besonders wenn sie ihn nach der Identifizierung eine offizielle Aussage schreiben lassen würden. Und vielleicht könnten sie noch mehr Zeit gewinnen, wenn sie eine Identifizierungsreihe zusammenstellten, was bedeuten würde, dass ein paar weitere Asiaten von ähnlicher Statur wie George, Kobir und Asim herbeigeschafft werden mussten.

  Doch dann ergab es sich, dass sie nicht länger zu warten brauchten. Gerade als Gristhorpe das Büro verlassen und mit Varney hinuntergehen wollte, um Mark Wood freizulassen, klingelte das Telefon. Gristhorpe entschuldigte sich, nahm den Hörer ab, brummte ein paar Mal und strahlte dann Susan an. »Das Labor«, sagte er. »Sie haben zwischen dem Obermaterial und den Sohlen von Mark Woods Doc Martens Blutspuren gefunden. Die gleiche Blutgruppe wie die von Jason Fox. Tut mir Leid, Mr. Varney, aber wir haben ein paar weitere Fragen an Ihren Mandanten.«

  Varney rümpfte die Nase und setzte sich wieder hin. Gristhorpe nahm den Hörer ab und rief unten an. »Bert? Bringen Sie bitte Mark Wood aus der Zelle nach oben? Ja, ins Verhörzimmer.«

  Giles Varney bestand darauf, vor dem Verhör unter vier Augen mit Mark Wood zu sprechen. Susan wartete mit Gristhorpe in seinem Büro, wo sie alle früheren Aussagen von Wood durchgingen und ihre Strategie planten. Von Schottland waren jetzt Wolkenschleier herangezogen, und die Luft, die durch das teilweise geöffnete Fenster wehte, begann wie ein nasser Hund zu riechen. Susan trat ans Fenster und beobachtete, wie einige der Touristen den Himmel betrachteten und dann in die Pubs oder zu ihren Wagen marschierten.

  »Hunger?«, fragte Gristhorpe.

  »Ich kann warten, Sir«, erwiderte Susan. »Ein paar weniger Kalorien werden mir nicht schaden.«

  »Mir auch nicht«, meinte Gristhorpe grinsend. »Aber in meinem Alter macht man sich darüber nicht mehr so viele Gedanken.«

  Nach einem forschen Klopfen an der Tür kam Giles Varney herein.

  »Fertig?«, fragte Gristhorpe.

  Varney nickte. »Erst einmal. Mein Mandant möchte eine Aussage machen.«

  »Noch eine?«

  »Hören Sie«, sagte Varney mit einem dünnen Lächeln, »der Blutbeweis ist noch nichts Weltbewegendes, wie Sie zugeben müssen, und der Blödsinn mit dem Fingerabdruck noch viel weniger. Sie sollten dankbar sein für das, was Sie kriegen können.«

  »In ein paar Tagen«, entgegnete Gristhorpe, »werden wir eine DNA-Analyse haben. Und ich vermute, Ihr Mandant weiß, dass sie beweisen wird, dass es sich um Jason Fox' Blut handelt. Ich glaube, im Moment haben wir genug, um ihn hier zu behalten.«

  Varney lächelte. »Ich dachte mir, dass Sie das sagen. Was Sie hören werden, könnte Ihre Meinung ändern.«

  »Inwiefern?«

  »Nach kurzer Überlegung und auf Anraten seines Anwalts möchte mein Mandant nun erklären, was genau letzten Samstagabend geschehen ist.«

  »Gut«, sagte Gristhorpe, stand auf und schaute hinüber zu Susan. »Dann legen wir los.«

  Sie gingen in das Verhörzimmer, wo Mark Wood saß und an seinen Fingernägeln kaute, brachten die Einleitung hinter sich und schalteten die Kassettenrecorder an.

  »Na schön, junger Mann«, sagte Gristhorpe. »Mr. Varney hat gesagt, dass Sie eine Aussage machen wollen. Ich hoffe, dass es diesmal die Wahrheit ist. Was haben Sie also zu sagen?«

  Wood schaute Varney an, bevor er den Mund aufmachte. Varney nickte. »Ich habe es getan«, erklärte Wood. »Ich habe Jason getötet. Es war ein Unfall. Ich wollte es nicht.«

  »Warum erzählen Sie uns nicht, was geschehen ist, Mark?«, ermunterte Gristhorpe ihn. »Langsam. Nehmen Sie sich Zeit.«

  Wood schaute Varney an, der nickte. »Wir sind zu ihm nach Hause gegangen, wie ich gesagt habe. Unterwegs ließ sich Jason die ganze Zeit über diese Pakis im Jubilee aus und darüber, was man seiner Meinung nach mit ihnen machen sollte. Wir begannen zu streiten. Ich sagte ihm, dass ich diesen rassistischen Scheiß nicht hören kann. Jason meinte, dass ich in meinem tiefsten Inneren eigentlich auch ein Rassist wäre, genau wie er, und er fragte, warum ich das nicht zugeben wollte und der Gruppe beitrete. Ich lachte und sagte, dass ich nicht in einer Million Jahren diesem Haufen von Wichsern beitreten würde. Ich war mittlerweile schon ziemlich sauer, deshalb habe ich ihm erzählt, dass meine Frau aus Jamaika kommt. Da fing er an, sie zu beleidigen, er nannte sie eine schwarze Schlampe und eine Hure und den kleinen Connor nannte er einen Bastard. Zu dem Zeitpunkt kamen wir in die Nähe der Gasse und Jason machte mich echt fertig. Echt primitives Zeug, was er da von sich gab. Ich hätte die weiße Rasse betrogen, weil ich eine Niggerin geheiratet habe, und so ein Scheiß.« Mark hielt inne und rieb seine Schläfen. »Ich hatte ein paar Drinks intus, mehr, als ich gesagt habe, auf jeden Fall mehr als Jason, und manchmal ... Also, ich kann manchmal ziemlich ausrasten, wenn ich besoffen bin. Ich habe die Beherrschung verloren, das ist alles. Er hat mich wahnsinnig gemacht. Ich hatte die Flasche in der Hand und habe einfach ausgeholt und ihm eins übergezogen.«

  »Und dann?«

  »Er fiel nicht hin. Er legte nur die Hand auf seinen Kopf und fluchte, und dann wollte er auf mich losgehen. Er war stark, Jason war echt stark, aber ich bin wohl stärker. Wir haben jedenfalls angefangen, uns zu prügeln, aber die Kopfwunde hat ihn wahrscheinlich irgendwie geschwächt. Ich konnte ihn niederschlagen. Ich musste daran denken, was er über Sheri und Connor gesagt hat, und habe einfach rot gesehen. Und dann weiß ich nur noch, dass er sich nicht mehr bewegte und ich weggelaufen bin.«

  »Sie haben ihn dort liegen gelassen?«

  »Ja. Ich wusste nicht, dass er tot war, verdammt. Wie konnte ich das wissen? Ich dachte, ich hätte ihn nur für eine Weile ausgeknockt.«

  »Warum haben Sie seine Taschen geleert?«

  »Habe ich nicht. Warum hätte ich das tun sollen?«

  »Weil die ganze Sache vielleicht wesentlich absichtlicher war, als Sie behaupten? Weil Sie es wie einen Raubüberfall aussehen lassen wollten? Sagen Sie es mir, Mark.«

  »Superintendent«, mischte sich Varney ein. »Mein Mandant erklärt sich zu einer freiwilligen Aussage bereit. Wenn er sagt, er hat die Taschen des Opfers nicht geleert, dann würde ich vorschlagen, dass Sie ihm glauben. Er hat in dieser Sache keinen Grund zu lügen.«

  »Das lassen Sie bitte mich entscheiden, Mr. Varney«, entgegnete Gristhorpe. Er wandte sich wieder an Mark.

  Mark schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern, es getan zu haben. Ehrlich.«

  Gristhorpe rümpfte seine Nase und blätterte durch ein paar Papiere vor ihm. »Mark«, sagte er schließlich, »zu Jason Fox' Verletzungen gehören eine Schädelfraktur und eine durchbrochene Milz. Aber Sie wollen ihn lediglich niedergeschlagen haben?«

  »So ist es passiert. Ich gebe zu, dass ich die Beherrschung verloren habe. Ich war wütend, aber ich wollte ihn nicht töten.«

  »Na gut, Mark«, sagte Gristhorpe. »Ist das die Aussage, die Sie machen wollen?«

  »Ja.«

  »Mein Mandant wird sich des Totschlags schuldig ^bekennen, Superintendent«, verkündete Varney. »Und ich glaube, es gibt genug Raum für mildernde Umstände.«

  »Für die Anklage ist später noch Zeit genug«, sagte Gristhorpe. »Zuerst werden wir die Geschichte noch einmal durchgehen.« Gristhorpe wandte sich an Susan und seufzte. »Susan, gehen Sie bitte los und sorgen Sie dafür, dass George Mahmood und seine Freunde sofort freigelassen werden. Die armen Kerle werden gar nicht mehr wissen, wie ihnen geschieht.«

  Susan nickte und stand auf. Als sie das Verhörzimmer verließ, hörte sie Gristhorpe müde sagen: »Nun also, Mark, noch einmal von vorn.«

 

* VII

 

Mit Hilfe des Stadtplans, den er am Nachmittag gekauft hatte, ging Banks zu der Adresse, die Burgess ihm gegeben hatte. Obwohl er sich blöd dabei vorkam, schaute er hin und wieder über die Schulter und nahm eine sehr umständliche Route.

  Es handelte sich um ein Café an einer Straßenecke vor dem Sarphatipark. Der Park, ein dunkles Rechteck, das zwischen Wohnblöcken eingezwängt war, kam ihm bekannt vor. Banks war sich sicher, ihn schon früher mit Sandra gesehen zu haben. Er erinnerte ihn an die Plätze, die man in Bloomsbury oder Edinburgh finden konnte. Das Café war keines der Lokale, die im Reiseführer aufgelistet waren. Das Holz war dunkel und von jahrelangem Zigarettenrauch verfärbt; die meisten Tische waren zerkratzt und hatten hier und dort Brandflecken von Zigaretten.

  An der Theke saßen ein paar Einheimische, ihrer Kleidung nach zu urteilen Arbeiter, die sich umdrehten und Banks anschauten, als er hereinkam und sich an einen hinteren Tisch setzte. Einer von ihnen sagte etwas zu dem Mann hinter der Theke, der mit den Achseln zuckte und lachte, dann schenkten sie ihm keine Beachtung mehr. Nur wenige Tische waren besetzt und nur an einem saß ein junger Mann mit einer Frau. Anscheinend war es eher eine Männerkneipe. Hinter der Theke spielte leise Akkordeonmusik.

  Der Tisch wackelte. Banks nahm einen Bierdeckel und schob ihn unter ein Bein. Das half. Da er keine Wiederholung der letzten Nacht wollte, entschied er, beim Bier zu bleiben und sich auch damit zurückzuhalten. Dieser Genever konnte tödlich sein. Er bestellte ein Amstel, zündete sich eine Zigarette an und wartete mit dem Rücken zur Wand, den Blick auf die Tür gerichtet. Nachdem er den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen war und nur ab und zu auf einen Kaffee und eine Zigarette in einem Café Halt gemacht hatte, war Banks ganz froh, eine Weile seine Beine ausruhen zu können.

  Während er wartete, musste er an das merkwürdige und verstörende Erlebnis denken, das er am Nachmittag gehabt hatte. Bei seinem Stadtbummel war er an einem Coffeeshop an einer Gracht vorbeigekommen, der ihn an seinen Aufenthalt mit Sandra vor all den Jahren erinnerte. Ein Lokal, in dem auch Hasch und Gras verkauft wurden. Der Laden schien sich überhaupt nicht verändert zu haben. Zuerst dachte er, es könne unmöglich derselbe sein, doch er war es. Neugierig drehte er um und ging hinein.

  Im hinteren Bereich, wo es dunkler war, lagen Kissen auf dem Boden verstreut. Man konnte sich hinlegen, seinen Joint rauchen, die Poster an der Wand betrachten und der Musik lauschen. In einer entlegenen Ecke fiel ihm ein Paar auf, und einen unheimlichen Moment lang glaubte er in dem schummerigen Licht auf sich selbst und Sandra in jungen Jahren zu schauen. Und dabei hatte er gar nicht Hasch geraucht.

  Innerlich bebend ging er wieder hinaus. Erst nach fünf oder zehn Minuten wurde er das gespenstische Gefühl los. Er entsann sich, dass er und Sandra mit ein paar Amerikanern genau in diesem Laden Hasch geraucht hatten. Dylans Blonde on Blonde-Album war damals gespielt worden, das lange Stück »Sad-eyed Lady of the Lowlands«. Später hatten sie sich im Vondelpark im Schlafsack geliebt, durch ein paar Büsche von den anderen Nachtschwärmern versteckt. Erinnerungen. Würde er ihnen nie entkommen?

  Gerade als er seine zweite Zigarette anzündete, kam jemand durch die Tür. Und zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Banks das Gefühl, einen Schlag ins Gesicht zu bekommen.

  Wenn er sich nicht täuschte, war es der Mann, den er neulich in Neville Motcombes Haus gesehen hatte: Rupert Francis, der große, schlacksige Tischler.

  Offensichtlich bemerkte er Banks' Überraschung. »Sie können Ihren Mund wieder zumachen, Sir«, sagte er. »Ich bin's wirklich.«

  Banks schüttelte langsam den Kopf. »Das sehe ich. Rupert Francis, richtig? Und wieso >Sir<?«

  »In Wahrheit bin ich Detective Sergeant Craig McKeracher, Sir«, sagte er und reichte ihm die Hand. »Sie sind also mein Vorgesetzter. Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Er lächelte verlegen und nahm Platz. »Tut mir Leid wegen dieser Geheimnistuerei, Sir, aber wenn die herausfinden, wer ich wirklich bin, bringen sie mich um.«

  Banks schüttelte seine Hand und versuchte sich zu sammeln. Der Kellner kam vorbei und Craig bestellte ein Bier.

  »Den >Sir< können Sie aber trotzdem weglassen«, sagte Banks.

  Craig nickte. »Wie Sie wollen. Ich muss zugeben, dass Sie mir den größten Schock meines Lebens eingejagt haben, als ich Sie neulich in Nevs Haus gesehen habe. Ich dachte, jetzt ist das Spiel endgültig aus.«

  »Sie hätten sich nicht zeigen müssen.«

  »Ich weiß. Aber als ich Stimmen hörte, habe ich mir eine Entschuldigung ausgedacht und bin hochgekommen, um zu sehen, was los ist. Schließlich gehört es zu meinem Auftrag, Augen und Ohren offen zu halten. Zum Glück hatten Sie mich noch nie gesehen.«

  »Wie lange arbeiten Sie dort schon verdeckt?«

  »Ungefähr fünf Monate. Nev vertraut mir. »Rupert Francis< hat einen tadellosen Neonazi-Hintergrund. Britische Nationalpartei, Randgruppen, der ganze Kram. Er kennt sich sogar mit Waffen und Sprengsätzen aus. Und dazu hat er ein langes und abwechslungsreiches Vorstrafenregister. Körperverletzung, Einbruch, Drogen. Was Sie wollen. Dem vertraut Nev auch.«

  »Wie kann er Ihr Vorstrafenregister kennen?«

  Craig trank ein paar Schlucke Bier aus der Flasche, bevor er antwortete. Sein Adamsapfel hüpfte in seinem dünnen Hals auf und ab. »Er hat einen Mann bei der Polizei. West Yorkshire. Irgendein Constable, der mit der Sache sympathisiert. Glauben Sie mir, bei der Polizei gibt es eine Menge Typen, die kein Problem mit Neville Motcombes Ansichten haben. Auf jeden Fall macht es ihm keine Schwierigkeiten, Vorstrafenregister zu überprüfen.«

  »Sie wollten also, dass ich herkomme, nicht Bur-gess?«

  »Ja. Nachdem ich Sie gesehen hatte, habe ich so schnell ich konnte Kontakt mit Dirty, äh, mit Superintendent Burgess aufgenommen. Er ist mein Führungsoffizier. Da es in der letzten Zeit ziemlich heiß geworden ist, hatten wir nur die Möglichkeit zu minimalem Telefonkontakt. Und am Telefon muss man verflucht vorsichtig sein. Ich habe ihm jedenfalls gesagt, dass ich so bald wie möglich mit Ihnen sprechen möchte. Vor Ort wollte ich es allerdings nicht riskieren. Dann dachte ich, jetzt wäre die ideale Gelegenheit. Wissen Sie, warum ich hier bin?«

  »Ich habe keinen blassen Schimmer«, sagte Banks.

  »Ich helfe, eine internationale Konferenz zum Thema Rasse und Intelligenz zu organisieren. Starker Tobak, was? Superintendent Burgess meinte jedenfalls, ich sollte mir keine Sorgen machen, er würde ein Treffen arrangieren.« Craig grinste. »Er sagte sogar, es wäre ihm eine Freude. Sie hätten ihn hören sollen, als ich ihm erzählt habe, dass Sie in Nevs Wohnzimmer marschiert sind. Ich nehme an, Sie beide kennen sich? Sie und der Super. Richtig?«

  Banks drückte seine Zigarette aus und trank einen Schluck Bier. »Kann man wohl sagen.«

  »Er mag Sie. Ehrlich. Er respektiert Sie. Das hat er mir gesagt. Ich glaube, er hält Sie für etwas naiv, aber er war froh zu hören, dass Sie den Fox-Fall bearbeiten und nicht jemand anderes.«

  »Vielleicht sollten wir einen Verein zur gegenseitigen Bewunderung gründen.«

  Craig lachte.

  »Aber weshalb das ganze Interesse an der Albion-Liga?«, fragte Banks.

  »Wegen Neville Motcombe und seinen Kontakten zu bekannten internationalen Terroristen. Als er die BNP verließ und sich entschloss, seine eigene Randgruppe zu gründen, hielten wir es für eine gute Idee, ihn im Auge zu behalten.«

  Banks trank von seinem Amstel. »Und, hat er Ihre Erwartungen erfüllt?«

  »In mancher Hinsicht ja. In anderen hat er sie noch übertroffen. Die Albion-Liga ist lange nicht so politisch aktiv, wie wir geglaubt hatten. Wie Combat 18, zum Beispiel. Ich will damit nicht sagen, dass es keine Gewalttaten gegeben hat - die hat es gegeben, und ich habe sogar Gespräche über eine Rohrbombe gehört, mit der man die Eröffnung der Moschee sabotieren will. Jetzt, wo wir davon wissen, können wir die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen und sicherstellen, dass nichts passiert. Aber ansonsten ist die Gruppe, was revolutionäre Aktivitäten angeht, bisher ziemlich zahm gewesen. Im Grunde ist das vor allem ein Club pickliger Jungs.«

  »Das habe ich mich auch schon gefragt. Was hat es mit Motcombe und den ganzen jungen Männern auf sich? Ist er schwul?«

  Der Kellner kam vorbei und sie bestellten zwei weitere Flaschen Bier. Nachdem er wieder gegangen war, fuhr Craig fort. »Nein, nein, Nev ist nicht schwul. Ich muss gestehen, dass ich auch so meinen Verdacht hatte, als ich ihn am Anfang kennen lernte und er mich in seinen Keller einlud, um ihm bei seiner Holzarbeit zu helfen. Man kennt das ja: Willst du nicht mal vorbeikommen und dir meine Briefmarkensammlung angucken oder so. Aber er ist nicht schwul. Wenn überhaupt, dann würde ich sagen, er ist asexuell. Seine Frau hat ihn verlassen. Wenn Sie mich fragen, lag es daran, dass er mehr Zeit damit verbracht hat, Briefumschläge zu lecken als sie. Er ist einfach so. Macht ist ihm wichtiger als romantische oder sexuelle Beziehungen. Der Umgang mit Jugendlichen zieht sich durch sein Leben. Er war früher in Kirchengruppen und Jugendclubs und so weiter. Einmal war er sogar Leiter bei den Pfadfindern. Paramilitärische Organisationen und Uniformen hat er schon immer gemocht.«

  »Und warum hat er aufgehört damit?«

  »Man hat ihn rausgeschmissen, weil er versucht hat, die Jugendlichen für die Nationalpartei zu rekrutieren. Auf jeden Fall haben ihm schon immer die alten britischen Werte und Tugenden am Herzen gelegen: Kriegsspiele in den Pennines, Handwerk, Zelten, Wandern, Überlebenstraining, gesunder Körper und gesunder Geist. Diese Dinge.«

  »Ein Baden-Powell mit Hakenkreuzen?«

  »Wenn Sie wollen. Er vermengt das sogar noch mit ein bisschen Umweltschutz, um die Grünen anzulocken. Die Bewahrung des traditionellen englischen Dorfes vor Umweltverschmutzung und so weiter. Die Sache ist nur die, dass Umweltverschmutzung für ihn nicht nur eine Frage der Zerstörung der Ozonschicht und des Regenwaldes ist, für ihn ist die Existenz aller Nichtarier eine Form von Umweltverschmutzung. Vielleicht wird Nev erst dadurch zu einem Menschen, dass seine vorrangige Eigenschaft Habgier ist.«

  »Wie meinen Sie das?«

  Craig rieb seine Wange und runzelte die Stirn. »Nur so eine Beobachtung von mir. Haben Sie nicht auch schon mal gedacht, dass die Menschen erst durch ihre Laster interessant werden? Als reiner Neonazi wäre Nev durch und durch ein Langweiler. Ein perverser und gefährlicher Langweiler vielleicht, aber dennoch ein Langweiler. Völlig durchschaubar. Die anderen Seiten sind interessant, die Seiten, die wir nicht erwartet haben.«

  »Burgess hat was von Drogen gesagt. Stimmt das?«

  Craig nickte, trank sein Bier aus und schob die Flasche zur Seite. »Gehen wir ein Stückchen?«

  »Warum nicht.«

  Sie zahlten und gingen hinaus. Auf den Straßen waren immer noch eine Menge Leute unterwegs, besonders entlang der Albert Cuypstraat, wo sie durch die Überreste des nachmittäglichen Marktes gingen: welke Salatblätter, eine zerquetschte Tomate, Hühnerknochen, ein Pappschild, auf dem »f4.50« stand. Fischgeruch stand noch in der Luft. Jetzt wusste Banks, warum ihm der Sarphatipark so bekannt vorgekommen war. Er und Sandra waren tatsächlich hier gewesen, sie waren eines Nachmittags ein paar Stunden durch die Marktstände spaziert.

  »Wie gesagt«, nahm Craig den Faden wieder auf, »Nev hat mich in sein Vertrauen gezogen. Ich glaube, ihm gefiel die Tatsache, dass ich meinem Vorstrafenregister zufolge zu allem bereit war, solange es nur gewinnbringend war. Und ich brauchte nicht lange, um festzustellen, dass für Nev Profit über alles geht.«

  »Also geht es ihm um Geld und nicht um Politik?«

  »Mmm, nicht ganz. Vielleicht geht es ihm um beides gleichzeitig, wenn er es unter einen Hut bringen kann. Wenn nicht, dann würde ich sagen, dass Geld eindeutig zuerst kommt. Wie gesagt, Nev ist ein habgieriges Arschloch. Machthungrig und geldgierig. Das Erste, was ich herausfand, als ich mit der verdeckten Ermittlung begann, war, dass er einige seiner jüngeren und dümmeren Rekruten zu Diebesbanden organisiert, die ihre Beute an ihn abgeben müssen. Natürlich zum Wohle der Liga.«

  »Und das machen sie?«

  Craig schnaubte. »Na sicher. Machen wir uns nichts vor, die meisten dieser Kids sind ziemlich beschränkt. Fünf oder sechs gehen in einen Laden, und sobald ...«

  »Blitzüberfälle?«

  »Sie wissen davon?«

  »Ich habe von dem Ausdruck gehört. Und ich weiß, dass es in letzter Zeit zu einem Problem für die Kriminalpolizei von West Yorkshire geworden ist. Neben Überfällen auf Geldautomaten. Ich wusste allerdings nicht, dass Motcombe dahinter steckt.«

  »Nicht hinter allen Vorfällen. Ich bin mir sicher, dass eine Menge Banden auf eigene Faust unterwegs sind. Aber Nev nimmt die Wut dieser Jugendlichen und gibt ihr ein Ventil. Er gibt ihnen Hassobjekte. Er gibt ihrem Zorn eine Struktur und versorgt sie mit echten Zielen statt mit nebulösen Ideen. Am Ende glauben sie dann, sie begehen Diebstahl, Körperverletzung und Vandalismus für eine gute Sache. Im Grunde funktioniert Terrorismus genauso, oder? Dazu trichtert man ihnen ein paar patriotische Werte ein, faselt etwas vom »wahren englischen Heimatland< und vermischt das Ganze mit ein paar grünen Ideen, und schon fühlen sie sich wie verantwortungsbewusste und tugendhafte Bürger, die Einzigen, die sich noch wirklich um ihr Land kümmern.«

  »So wie Sie das sagen, klingt es, als wäre das ein Kinderspiel.«

  Sie bogen nach rechts ab und gingen auf den neogotischen Bau des Rijksmuseums zu, der sich dunkel und mächtig vor dem Abendhimmel abzeichnete. Die Straßenlaternen warfen lange Schatten. Eine Brise kam auf und wehte den modrigen Geruch der Gracht herbei. In der Ferne konnte Banks Musik hören und durch die Vorhänge der Fenster sah er Fernsehbildschirme flimmern.

  Craig zuckte mit den Achseln. »Es ist auch nicht so schwer, wie Sie glauben, das ist ja das Schlimme. Das Rekrutieren macht jedenfalls keine Probleme. Nehmen Sie zum Beispiel Rockkonzerte. Einlass nur mit Einladung. Da fühlen sich die Leute gleich privilegiert und exklusiv. Dann peitschen die Nazibands die Kids mit ihrem Rhythmus und ihrer Energie ein, und jemand wie ich geht durch die Reihen und verklickert ihnen die Theorie. Außerdem nehmen sie sich Schulen vor, vor allem Schulen, in denen es einen großen Ausländeranteil gibt. Sie warten draußen auf der Straße und verteilen Flugblätter, dann veranstalten sie Treffen an verschiedenen Orten. Sie warten auch in den Cafés, die einige Jugendliche auf ihrem Heimweg aufsuchen. Sie fangen ein Gespräch an und zeigen Mitgefühl für die Probleme der Kids mit ihren ausländischen Mitschülern. Auf diese Weise kriegen sie wirklich überraschend viele Jugendliche auf ihre Seite.«

  »Und die organisiert Motcombe dann zu Diebesbanden?«

  »Ja, manche. Aber nicht alle.« Er lachte. »Ein paar Jungs, die Bescheid wissen, haben ihm den Spitznamen «>Fagin< gegeben.«

  Banks hob seine Augenbrauen. »>Du musst ein paar Portemonnaies klauen<«, sang er, eine passable Imitation von Ron Moody in Oliver. »Ich kann mir vorstellen, dass ihm das gut gefallen würde.«

  Craig lächelte. »Jede Wette. Man kann jedenfalls eine Menge Geld machen, so oder so. Überfälle auf Läden und Geldautomaten sind nur ein Teil des Systems. Diese rechten Gruppen finanzieren sich auf vielfältige Weise. Manche handeln zum Beispiel mit Waffen und Sprengstoffen. Dann gibt es den Bereich der Rockmusik. Diese Bands nehmen CDs auf. Die müssen produziert, aufgenommen, hergestellt und vertrieben werden. Das kann ein großes Geschäft sein. Und wo es Rockmusik gibt, sind auch Drogen im Spiel. Und damit kann man einen Haufen Geld machen.«

  »Motcombe wurde schon mal wegen Hehlerei festgenommen, richtig?«

  »Ja. Sein einziger großer Fehler. Ein paar seiner Jungs sind in eine Filiale von Curry's eingebrochen und mit einigen Videorecordern und Stereoanlagen getürmt. Sie hatten Nev nicht gesagt, woher sie das Zeug hatten. Seitdem wird alles nur noch bar abgehandelt. Und er schöpft alles ab. Ich habe gesehen, wie er sich die Scheine in seine Tasche stopft.« Craig schüttelte den Kopf. »Wenn es etwas Schlimmeres als einen Nazi gibt, dann ist es ein korrupter Nazi.«

  »Wie passt Jason Fox in dieses Bild? War er einer der Diebe?«

  Craig blieb stehen und lehnte sich auf das Geländer der Brücke, die sie Richtung Hobbemakade überquerten, und schaute hinab auf die Spiegelungen des Lichts. Banks stellte sich neben ihn und zündete sich eine Zigarette an. Abgesehen von ein paar Autos und dem Surren eines gelegentlich vorbeifahrenden Fahrrades war es jetzt ruhig.

  »Nein, Jason hat an den Überfällen nicht teilgenommen. Das war nicht sein Stil. Er war zu clever. Jason war ein Denker. Das Rekrutieren war seine Sache, Propaganda im Allgemeinen. Jason war im Grunde ein ehrlicher Junge. Ein aufrechter, engagierter Nazi.«

  »Einer dieser langweiligen Faschisten ohne Laster?«

  Craig lachte. »Fast. Aber er war nicht unbedingt langweilig. In gewisser Weise war er in seiner Ernsthaftigkeit naiv und dadurch wurde er fast sympathisch. Fast. Aber er war auch engagierter, getriebener als die meisten anderen. Beängstigend. Verstehen Sie, im Grunde ist Nev nicht viel mehr als ein kleiner Gauner mit einem Hang zur Großspurigkeit. Jason meinte es jedoch vollkommen ernst. Ein echter, eingefleischter Nazi. Wahrscheinlich hat er sogar Mein Kampf gelesen.«

  »Ich dachte, da hätten sich nicht einmal Hitlers fanatischste Anhänger durchquälen können.«

  Craig lachte. »Stimmt.«

  »Können Sie sich vorstellen, warum Jason getötet wurde? War er an diesem Drogenhandel beteiligt?«

  Sie gingen von der Brücke auf die Straße. Banks schnippte seine Kippe ins Wasser und fühlte sich sofort der Umweltverschmutzung schuldig.

  »Nein«, sagte Craig. »Ganz und gar nicht. Jason war total gegen Drogen. Und wenn Sie mich fragen, ist das auch der Punkt, an dem Sie beginnen könnten, nach einem Motiv zu suchen. Denn er wusste eindeutig von diesen Drogengeschäften.«

 

* V

 

»Noch eine Flasche Wein?«

  »Lieber nicht«, sagte Susan und legte ihre Hand über ihr noch halb gefülltes Glas.

  »Warum nicht? Du musst nicht fahren.«

  »Stimmt.«

  »Und du hast gerade einen Fall geknackt. Das solltest du feiern.«

  »Na gut, du Verführer. Mach schon.«

  Gavin grinste, rief den Kellner und bestellte die zweite Flasche Chablis. Susan spürte, wie ihr Herz, genauso wie damals als Teenagerin, als sie bei Bolton Abbey zum ersten Mal in den Strid gesprungen war, einen Satz machte. Das war in dem Augenblick geschehen, als ihre Füße den Boden verlassen hatten und sie über dem tiefen, tosenden Wasser in der Luft geschwebt hatte, denn es war der Moment der Entscheidung gewesen, trotz aller Warnungen zu springen. Zu was aber hatte sie sich entschieden, als sie einer zweiten Flasche Wein zustimmte?

  Sie aß einen weiteren Happen einer mit Brie, Walnüssen und Preiselbeeren gefüllten Teigtasche und spülte ihn mit dem Wein hinunter, der noch in ihrem Glas war. Der Wein hatte nicht einmal Zeit gehabt, im Glas lauwarm zu werden. Sie begann sich bereits etwas benommen zu fühlen - aber auf eine angenehme Weise. Als wäre eine große Last von ihr genommen worden.

  Sie saßen in einem neuen Bistro am Castle Walk, von dem man nach Westen über die Gartenanlagen und den Fluss schauen konnte. Das Licht des hoch stehenden Mondes färbte die wirbelnde Strömung des Wassers silbern und brachte die Spitzen des Laubes an den Bäumen zum Schimmern. Das Restaurant war eines dieser gediegenen Lokale, in denen jeder zu flüstern schien und Essen und Getränke wie von Zauberhand aus der Stille erschienen. Weiße Tischdecken, auf jedem Tisch ein schwimmendes Teelicht in einem Glas. Außerdem war das Restaurant ihrer Meinung nach viel zu teuer für zwei einfache Constables. Doch manchmal muss man ein bisschen über die Stränge schlagen, sagte sie sich, nur um zu sehen, wie weit man gehen kann.

  Sie warf einen verstohlenen Blick auf Gavin, der mit seinem Rehfleisch beschäftigt war. Er bemerkte ihren Blick und lächelte. Sie errötete. Er hatte wirklich hübsche braune Augen, dachte sie, und einen schönen Mund.

  »Und, wie fühlt man sich?«, fragte Gavin und legte sein Besteck nieder. »Nach so einem Erfolg? Ich habe gehört, der Fall wurde vor allem durch deine Initiative aufgeklärt.«

  »Ach, nicht ganz«, sagte Susan. »Es war Teamarbeit.«

  »Wie bescheiden von dir«, neckte er sie. »Aber ernsthaft, Susan. Du hast den Namen des Mörders herausgefunden. Wie hieß er noch ... Mark irgendwas, richtig?«

  »Mark Wood. Ja, aber Superintendent Gristhorpe hat ihn dazu gebracht, ein Geständnis abzulegen.«

  »Ich würde trotzdem sagen, du kriegst einen dicken Orden dafür.«

  Susan lächelte. Der Kellner kam mit ihrem Wein, schenkte Gavin einen Schluck zum Probieren ein, füllte dann beide Gläser und stellte die Flasche in einen Eiskübel. Großer Gott, dachte Susan, ein Eiskübel. In Yorkshire! Was mache ich hier? Ich muss verrückt sein. Sie hatte mittlerweile aufgegessen und nippte an ihrem Wein, während sie die Dessertkarte studierte. Süßigkeiten. Ihre Schwäche. Der Grund, weshalb sie um die Hüften und an den Schenkeln ein paar Pfunde zu viel hatte. Aber sie glaubte nicht, dem Nuss-Karamel-Kuchen widerstehen zu können. Nein, sie konnte es nicht.

  »Chief Constable Riddle ist ziemlich zufrieden«, sagte Gavin später, als sie sich ihren Desserts und Kaffees widmeten. »Ob Sonntag oder nicht, ich wette, er wird morgen bei euch auf der Matte stehen, Orden verteilen und eine Pressekonferenz geben. Ich finde, die Aufklärung des Falles kam gerade noch rechtzeitig, bevor sich Rassenunruhen ausbreiten konnten.«

  »Na ja, er war auf jeden Fall froh, dass heute Nachmittag alles unter Dach und Fach war.«

  »Ich sag dir noch was: Der Goldjunge ist beim Chief nicht gerade angesagt.«

  »Das ist nichts Neues«, erwiderte Susan. »Und ich hatte dich gebeten, ihn nicht so zu nennen.«

  »Wo steckt er übrigens?«, fuhr Gavin fort. »Man munkelt, er hat sich in den letzten Tagen nicht gerade oft blicken lassen. Sieht ihm gar nicht ähnlich, den Schlussakt zu versäumen, oder?«

  »Er hat sich freigenommen.«

  »Ziemlich unpassende Zeit dafür, findest du nicht?«

  »Ich bin mir sicher, dass er seine Gründe hat.« Susan schob ihren leeren Dessertteller zur Seite. »Mmm. Der Kuchen war göttlich.«

  »Sehr mysteriös«, sagte Gavon. »Ist er häufiger so?«

  »Manchmal. Wenn er will, kann er ein bisschen rätselhaft sein, der Chief Inspector. Ich bin jedenfalls froh, dass Jimmy Riddle zufrieden ist, obwohl das nicht gerade eine Aufklärung ist, nach der man sich wirklich großartig fühlt.«

  »Weshalb?«

  »Ich weiß nicht, aber mir tut Mark Wood irgendwie Leid.«

  »Er tut dir Leid? Ich dachte, er soll seinen Kumpel zu Tode getreten haben.«

  »Ja, ich weiß.«

  »Brutaler geht es doch nicht mehr, oder?«

  »Wahrscheinlich. Allerdings ist er provoziert worden. Aber das meinte ich auch nicht. Im Grunde tut nicht er mir Leid, sondern seine Familie. Er hat eine junge Frau und ein Baby. Die armen Teufel. Ich frage mich, wie sie wohl ohne ihn klarkommen werden.«

  »Das hätte er sich überlegen sollen, bevor er Jason Fox umgebracht hat, meinst du nicht?«

  Susan trank einen Schluck Wein. Nach ihrem Dessert schmeckte er wässrig und säuerlich. »Ich weiß«, sagte sie. '»Aber du hättest sehen sollen, wie sie wohnen, Gavin. Das ist ein Loch: dünne Wände, abblätternde Tapeten, feucht, eng. Und es ist ein gefährliches Viertel, besonders für eine allein erziehende Mutter. Banden, Drogen ... Außerdem kam es teilweise nur deshalb so weit, dass er Jason umgebracht hat, weil er seine Frau verteidigt hat, ihre Herkunft.«

  Gavin schüttelte den Kopf. »Ich habe dich nie für rührselig gehalten, Susan. Du kannst es dir nicht erlauben, sentimental zu werden. Er ist ein Verbrecher, und du hast deine Arbeit gemacht. Jetzt können wir nur hoffen, dass ihn das Gericht dahin steckt, wo er hingehört. Armut ist keine Entschuldigung. Eine Menge Leute haben es schwer, trotzdem gehen sie nicht los und treten ihre Kumpels zu Tode. Mein Gott, mein Vater war Zechenarbeiter und oft arbeitslos. Aber das gibt mir noch lange keinen Grund, herumzulaufen und mich wie ein Schläger zu benehmen. Wenn man etwas in seinem Leben erreichen will, dann muss man losgehen und es machen und nicht auf der faulen Haut liegen und darüber jammern, dass man schlechte Karten gezogen hat.«

  »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte Susan. Sie schenkte sich Wein nach und lächelte. »Aber hören wir auf damit. Cheers.«

  Sie stießen an.

  »Cheers«, sagte Gavin. »Auf den Erfolg.«

  »Auf den Erfolg«, wiederholte Susan.

  »Lass uns zahlen und gehen«, schlug Gavin vor und beugte sich vor. Seine Hand berührte die ihre. Sie spürte ein Kribbeln bis hinab in die Zehen. »Ich bringe dich nach Hause.«

  Susan sah ihn einen Augenblick an. Diese sanften, verführerischen braunen Augen. Lange Wimpern hatte er auch. »Gut«, sagte sie und drehte ihre Hand, um seine zu umschließen. »Ja. Das würde mir gefallen.«

 

* VI

 

Nur wenige hundert Meilen entfernt, jenseits der Nordsee, hatten Banks und Craig McKeracher das Rijksmu-seum hinter sich gelassen und gingen durch die stillen Straßen Richtung Prinsengracht.

  »Im Grunde fing alles damit an«, erklärte Craig, »dass Nev in der Türkei diesen rechten Schwachkopf kennen lernte, der eine Ladung Heroin hatte, die er verschieben wollte, und der dachte, Nev könnte ihm dabei helfen. Nev konnte ihm natürlich nicht helfen. Er hat keinen blassen Schimmer vom Drogenhandel. Er kann einen Joint nicht von einer Acidpille unterscheiden. Aber da er einer ist, der sich immer ein Hintertürchen offen hält, hat er dem Typ gesagt, hab ein bisschen Geduld, ich schaue mal, was ich tun kann. Nun kennt er aber nur zwei Leute mit etwas Grips im Kopf, die schon einmal etwas mit Drogen zu tun hatten. Einer ist meine Wenigkeit, der andere Mark Wood.«

  Banks blieb stehen. »Moment. Motcombe kannte Mark Wood?«

  »Ja.«

  »Jasons Geschäftspartner?«

  Craig schnaubte. »Eine schöne Partnerschaft war das. Soweit ich das beurteilen kann, konnten sich die beiden nicht ausstehen.«

  »Ist Mark Mitglied der Liga?«

  Craig schüttelte den Kopf. »Nein, er hat nichts mit ihnen zu tun.«

  »Aber wie ...«

  »Mark und Jason haben sich bei einem Computerkurs kennen gelernt; am Anfang kamen sie gut miteinander aus. Beide waren zudem ziemlich fähig, was Computer angeht. Als der Kurs zu Ende war, konnte Mark jedenfalls keinen Job finden. Ich habe gehört, dass er Frau und Kind hat und in einem Rattenloch draußen in Castleford wohnt. Er war damals also ziemlich verzweifelt. Nev hat Jason diese Computerfirma finanziert - nur weil er wusste, dass er sie langfristig zu seinem Vorteil nutzen konnte -, und da Mark den Kurs als Bester abgeschlossen hatte, hat Jason ihn zu seinem Partner gemacht. Und weil Nev Geld in die Firma gesteckt hat, war er natürlich neugierig auf Mark, so dass Jason ein Treffen arrangiert hat. Ich war nicht dabei, aber ich nehme stark an, dass sich Nev vor dem Treffen über Marks Vorstrafe erkundigt und ihn dann über die Drogensache ausgefragt hat.«

  »Worum ging es denn bei der Sache genau?«

  »Mark war früher Roadie für eine Band aus Leeds, eine Band aus Schwarzen und Weißen wie UB40, und einer der Jamaikaner, ein Typ aus Chapeltown, dealte im großen Stil. Er benutzte dafür den Bandbus und zog Mark in die Sache hinein. Sie wurden erwischt. Ende der Geschichte. Nev hat also herausgefunden, dass Mark einige Kontakte in Chapeltown hat, wodurch er jemanden kennen könnte, der an der Heroinladung interessiert wäre, wenn der Preis stimmt.«

  »Und jetzt kommt ein Kerl namens Devon ins Spiel, richtig?«

  Craig hob seine Augenbrauen. »Genau. Woher wissen Sie von ihm?«

  »Durch die gleiche Quelle, durch die ich von den Blitzüberfällen gehört habe. Nur ein Zufallstreffer. Fahren Sie fort.«

  »Okay. Also, wie gesagt, da er in diesem Rattenloch mit Frau und Kind hauste, war Mark natürlich sehr daran interessiert, zu Geld zu kommen, auch wenn er keinen Fliegenschiss auf Nevs politische Ansichten gab. Aber er war der perfekte Vermittler. Devon und seine Leute hätten es wahrscheinlich nicht besonders lustig gefunden, wenn sie gewusst hätten, dass ihr Lieferant ein faschistisches Arschloch war, der sie am liebsten alle nach Hause schicken wollte, damit sie in der Sonne verrotten. Doch Mark kam mit den Schwarzen gut zurecht und sie schienen ihn zu akzeptieren. Und er war kein Mitglied der Liga.«

  Banks nickte. »Okay. Das macht Sinn.«

  Sie sahen einen Imbiss-Stand an der Straßenecke, und da beide am Abend noch nichts zu sich genommen hatten, kauften sie sich jeder eine Tüte Pommes frites mit Mayonnaise, die Banks daheim in Eastvale niemals gegessen hätte. Doch hier schmeckten sie wunderbar.

  »Aber wie hat Jason das alles mit seinen politischen Überzeugungen in Einklang gebracht?«, fragte Banks, als sie weitergingen. »Sie sagten, er wäre engagiert und ernsthaft bei der Sache gewesen.«

  »Er hat es nicht in Einklang gebracht. Das ist genau der Punkt. Ich komme gleich darauf. Sie müssen wissen, dass Neonazis im Allgemeinen nicht nur Rassisten sind, sie sind auch gegen Drogen und schwulenfeindlich.«

  »Obwohl viele aus Hitlers Haufen Homosexuelle oder Junkies waren?«

  Craig lachte. »Von diesen Scheißkerlen kann man keine Logik oder Konsequenz erwarten. Aber das muss man Nev lassen. Er kann die Vergewaltigung und Ermordung alter Damen hinstellen wie etwas Gutes, das man für die Sache tut. Ein echter Politiker. Ungefähr eine Woche später, als Mark seine Aufgabe erledigt hatte, hatte er ein weiteres Treffen nur mit mir und Jason, bei dem er uns von einer Idee erzählt hat, die ihm gekommen war, nachdem er durch Amerika gereist war und dort mit Kampfgenossen gesprochen hatte. Seine Idee war, dass man durch eine regelmäßige und billige Versorgung mit Heroin das Geflecht der schwarzen Gemeinde schwächen und zerstören könnte, damit sie noch ärmer und verwundbarer sind, wenn der große Tag kommt, bla-bla-bla. Das ist seine Version der mit Pocken verseuchten Decken, die die Weißen den Indianern gegeben haben. Oder, aktueller, die Finanzierung des Crackhandels in South-Central Los Angeles durch die CIA, von der neulich die Zeitungen berichtet haben. Damit werden die Schwarzen zudem zu Mittätern an ihrer eigenen Vernichtung gemacht. Dieser Art von Ironie kann Nev nicht widerstehen. Und nebenbei macht er damit auch noch einen ordentlichen Gewinn. Besser könnte es nicht laufen.«

  »Jason ist auf diesen Schwachsinn reingefallen?«

  Craig kickte eine leere Zigarettenschachtel durch die Straße. »Nicht ganz. Das ist der entscheidende Punkt. Motcombe brauchte einen von uns, jemanden innerhalb der Liga, der Mark im Auge behält und aufpasst, dass alles wie geschmiert läuft. Er vertraute Mark nicht voll. Da Jason Marks Partner war, schien er die logische Wahl zu sein. Aber Jason fand die Idee nicht gut. Jason war nicht an Profit interessiert; er wäre für seine Ideale gestorben. Nev hatte den Idealismus seiner rechten Hand total unterschätzt. Jason hatte für diesen ganzen Schwachsinn über die Schwächung der schwarzen Gemeinde von innen nichts übrig. Er hat den Plan sofort durchschaut - ein Unternehmen zu Nevs persönlicher Bereicherung. Das hat er Nev auch vorgehalten, zwischen den beiden braute sich ein regelrechter Machtkampf zusammen. Sie stritten. Jason sagte, er wüsste, dass die Organisation Geld brauchte, aber diese Sache würde nicht funktionieren. Er war der Meinung, dass es keine Möglichkeit gab, die Drogenverkäufe auf die Schwarzen zu beschränken, dass die Drogen sich auch unter den Weißen verbreiten und deren Kräfte genauso schwächen würden. Er sagte, Drogen wären ein moralisches Übel und ein reiner Arier würde nichts mit ihnen zu tun haben. Er meinte außerdem, dass Heroin die Immigranten nicht zur Rückkehr in ihre Heimat bewegen würde, was ja der Hintergrund des ganzen Unternehmens sein sollte, und dass sie sich lieber darauf konzentrieren sollten, den Scheißkerlen das Leben unbehaglich und unangenehm zu machen, anstatt sie mit Opiaten zu versorgen.«

  »Beeindruckend«, sagte Banks. »Aber Motcombe muss doch vermutet haben, dass er so reagieren würde, oder? Warum hat er Jason überhaupt davon erzählt?«

  »Ich glaube, Nev hat mit dieser heftigen Reaktion von Jason wirklich nicht gerechnet. Außerdem wäre es ziemlich schwer gewesen, eine solche Sache vor ihm geheim zu halten. Auf seine selbstverliebte Weise hielt Nev seine rhetorischen Fähigkeiten für unschlagbar; er dachte, es wäre das Beste, Jason gleich von Anfang an einzulullen. Er hielt es für undenkbar, dass jemand die absolute Perfektion seiner Logik und seiner Ironie nicht verstehen konnte. Zu dem Zeitpunkt wusste er außerdem noch nicht, wie ausgeprägt Jasons ablehnende Haltung zu Drogen war. Das Thema war vorher einfach noch nie aufgekommen.« Craig schüttelte den Kopf. »Ich war dabei. Jasons negative Reaktion hat Nev absolut überrascht.«

  »Was geschah dann?«

  »Sie stritten. Nev konnte ihn nicht überzeugen. Am Ende sagte er, er würde die Idee fallen lassen.«

  »Aber das hat er nicht getan.«

  »Keine Spur. Es ging um zu viel Geld. Er hat Jason einfach ausgeschlossen.«

  »Aber Jason wusste Bescheid?«

  »Ich glaube, dass er damals schon ziemlich genau wusste, dass Nev mögliche gewinnbringende Geschäfte nicht so einfach aufgeben würde.«

  »Also wusste Jason von dem geplanten Drogengeschäft, und Motcombe befürchtete, er könnte zur Polizei gehen.«

  »Die Möglichkeit bestand immer, ja. Aber eine noch größere Bedrohung war, dass er mit anderen hochrangigen Neonazis darüber sprechen könnte. Nevs Gleichgesinnten und Kollegen. Manche von denen hatten genau die gleiche Einstellung zu Drogen wie Jason. Überlegen Sie mal. Wenn Jason sie davon überzeugen würde, dass Nev nichts weiter als ein kleiner Dieb und Drogendealer war, dann würde Nev seine Stellung in der Bewegung niemals behalten können. Er würde geächtet werden. Die Heuchelei regiert in der äußersten rechten Ecke genauso wie fast überall. Aber da war noch etwas anderes.«

  »Was?«

  »Jason hatte Charisma. Er war populär. Nev sah in ihm immer mehr einen Rivalen um die Macht - und Macht bedeutete für Nev Geld. Nev wurde paranoid, was Jason angeht. Es war Jason, der den ersten Kontakt mit den meisten Mitgliedern hergestellt hatte. Es war Jason, an den sie sich wandten, wenn sie ideologische Probleme dabei bekamen, die Scheiße aus einem armen Schwarzen und Asiaten rauszuprügeln. Jason hat sie auf Linie gebracht.«

  »Jason stellte also Ansprüche auf Motcombes Position?«

  »Genau.«

  Banks nickte. Er entdeckte eine Mülltonne und warf seine leere Frittentüte hinein. Mittlerweile befanden sie sich nahe der Keizersgracht, nicht weit vom Hotel entfernt.

  »Was war Ihre Rolle bei der Sache?«

  »Wie gesagt, Nev wollte, dass jemand aus seiner Nähe, jemand innerhalb der Liga, Mark im Auge behält. Da es Jason offensichtlich nicht tun wollte, war ich die nächste logische Wahl. Ich war noch nicht so lange dabei wie Jason, aber ich hatte ein beeindruckendes Vorstrafenregister, zu dem auch Drogendelikte gehörten.«

  »Es läuft also darauf hinaus, dass Motcombe ein ziemlich gutes Motiv hatte, Jason aus dem Weg räumen zu wollen.«

  Craig nickte. »Genau. Deswegen musste ich mit Ihnen reden. Um Sie über die ganzen Sachverhalte ins Bild zu setzen. Ich habe keine Ahnung, wer Jason getötet hat. In diese Sache war ich nicht eingeweiht. Nev achtet ziemlich gut darauf, dass seine linke Hand nicht weiß, was die rechte tut. Aber ich kenne die Hintergründe.«

  Sie blieben auf einer Brücke stehen. Ein junges Paar stand Händchen haltend da und schaute hinab auf die Lichtreflexionen im Wasser. »Wie soll ich mit diesen Informationen umgehen?«, fragte Banks.

  »Wie Sie wollen. Ich habe Sie nicht hergebeten, um Ihnen zu sagen, Sie sollen Ihre Ermittlungen einstellen, wenn Sie das denken. Und es ist kein Wettkampf, kein Rennen. Mir ist es egal, für was wir Motcombe drankriegen können. Superintendent Burgess auch. Deswegen hat er auch zugestimmt, dieses Treffen zu arrangieren. Ich bitte Sie nur darum, erst dann gegen Nev vorzugehen, wenn Sie etwas in der Hand haben, was ihn mit Sicherheit für eine lange Zeit aus dem Verkehr zieht.« Er grinste. »Ach, und ich würde mich freuen, wenn Sie mich nicht auffliegen lassen. Ich hänge an meinem Leben, und ich muss vielleicht noch eine Weile länger dort bleiben, um zu sehen, was er als Nächstes vorhat.«

  »Wann soll dieses Drogengeschäft stattfinden?«

  »Das Heroin ist bereits unterwegs.«

  Sie erreichten die Tür von Banks' Hotel. Er dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »In Ordnung.«

  »Vielen Dank, Sir.«

  »Kommen Sie mit rein?«

  »Nein. Ich muss los. Ich übernachte woanders.«

  »Passen Sie auf sich auf.«

  »Das werde ich. Glauben Sie mir.«

  Sie gaben sich die Hand, dann marschierte Craig an der Gracht entlang davon. Banks schaute die Hotelfassade hinauf. Es war noch früh. Er war nicht müde und er hatte keine Lust, in seinem engen Zimmer zu hocken und niederländisches Fernsehen zu schauen. Außerdem musste er über viele Dinge nachdenken. Er machte gegen die Kühle den Reißverschluss seiner Jacke zu und ging los, um eine ruhige Bar zu suchen.

 

* VII

 

Susan verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf, legte sich zurück aufs Kissen und seufzte.

  »War das ein Seufzer der Zufriedenheit«, fragte Gavin, »oder der Enttäuschung?«

  Sie lachte und knuffte ihn sanft. »Das müsstest du eigentlich wissen. Du hattest etwas damit zu tun.«

  »Ich? Meine Wenigkeit?«

  Noch kaum eine Stunde zuvor hatte sie kalte Füße gehabt. Als sie zu ihrer Wohnung gekommen waren, hatte sie Gavin eingeladen und eines hatte zum anderen geführt, so wie sie es gewusst und gehofft hatte, als sie der zweiten Flasche Wein zugestimmt hatte. Doch als sie an dem entscheidenden Punkt angelangt waren, hatte es einen peinlichen Moment gegeben, da sich herausstellte, dass keiner von beiden ein Verhütungsmittel hatte. Was auf gewisse Weise gut war, dachte Susan. Schließlich bedeutete es, dass er sie nicht für eine Schlampe halten konnte und sie nicht denken musste, er hätte sie nur mit dem Hintergedanken zum Essen eingeladen, später mit ihr im Bett zu landen. Dennoch war es verdammt peinlich gewesen.

  Glücklicherweise gab es in der York Road, nur ein paar hundert Meter entfernt, eine rund um die Uhr geöffnete Apotheke, und Gavin hatte seine Jacke übergeworfen und war losgeeilt. Während er weg war, war Susan nervös geworden und kurz davor gewesen, es sich anders zu überlegen. Doch statt diesen Gedanken nachzugeben, hatte sie sich damit beschäftigt, die Wohnung aufzuräumen, besonders das Schlafzimmer, und das Bett frisch zu beziehen. Als er zurückgekommen war und sie sich geküsst und gestreichelt hatten, hatte sie gemerkt, dass sie noch genauso entschlossen war wie vorher.

  Und'jetzt, während sie sich in dem wonnigen Gefühl danach aalte, war sie froh um ihre Entscheidung. Aus dem Wohnzimmer erklang leise eines von Chopins Klavierkonzerten - welches, wusste sie nicht.

  »Also, ich kann mir keine bessere Art zu feiern vorstellen«, sagte Gavin. Seine Hand streichelte Susans Oberschenkel und glitt langsam ihren Bauch hinauf.

  »Mmmm. Ich auch nicht.«

  »Und ich sage dir noch etwas«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich wette, niemand hat eine so schöne Siegesfeier wie wir. Auch der Goldjunge nicht, wo immer er ist.«

  Bei der Erwähnung von Banks fühlte sich Susan einen Augenblick unbehaglich, genauso wie damals, als sie zu Beginn des Jason-Fox-Falles nackt von Banks' Anruf überrascht worden war. Aber das Gefühl verging. Sie lächelte, streckte sich und fühlte sich nach dem Wein und dem Sex ein wenig schläfrig. »Ach, er wird wahrscheinlich auch keine so schlechte Zeit haben«, sagte sie. »Ihm wird es gut gehen.«

  »Wie kommst du darauf? Du weißt doch gar nicht, wo er ist oder was er macht.«

  »Doch, ich weiß, wo er ist.«

  Gavins Hand ruhte auf ihrer Brust. Er hatte weiche Hände, die ihre warme Haut wie Seide streichelten. Sie spürte, dass ihre Brustwarzen hart wurden. »Du weißt es?« Seine Hand bewegte sich wieder abwärts.

  Susan hielt die Luft an. »Ja. In Amsterdam. Er ist nach Amsterdam geflogen.«

  »Der Glückspilz«, sagte Gavin. Was er dann mit seiner Hand tat, machte Susan bewusst, dass sie doch gar nicht so schläfrig war.