* SIEBEN

 

* I

 

Es-war schon lange her, dass Frank einen Anzug getragen hatte, und die Krawatte schien ihm den Hals zuzuschnüren. Auf das Wetter war Verlass, pünktlich zur Beerdigung klarte es auf. Es war wieder Altweibersommer, die warme Luft war mit diesem süßen, rauchigen Hauch des herbstlichen Verfalls versetzt, die Sonne schien, kein Wind wehte. Und er saß auf der Rückbank des Wagens neben seiner Tochter Josie, die ganz in Schwarz gekleidet war und auf deren Stirn trotz des geöffneten Fensters der Schweiß perlte.

  Die Fahrt von Lyndgarth, wo ihn Steven abgeholt hatte, nach Halifax dauerte lange. Und kaum hatte man Skipton hinter sich gelassen, wurde die Strecke zudem eine verdammt hässliche, dachte Frank, als sie durch Keighley fuhren, vorbei an diesen dunklen, teuflischen Fabriken.

  Er hatte sich gefragt, warum sie den Jungen nicht einfach in Eastvale begraben konnten und es damit gut sein ließen; doch Josie hatte auf die Verbindungen von Stevens Familie zur St. Lukes Kirche hingewiesen, wo seine Vorfahren seit Jahrhunderten begraben worden waren. Scheiß auf diesen Nichtsnutz und seine Vorfahren, dachte Frank, aber er hielt den Mund.

  Während der Fahrt wurde kaum gesprochen. Josie schniefte hin und wieder leise und hielt ein weißes Taschentuch vor ihre Nase, Steven - der trotz all seiner Unzulänglichkeiten ein guter Fahrer war - konzentrierte sich auf die Straße, und Maureen saß steif mit verschränkten Armen neben ihm und schaute aus dem Fenster.

  In Frank kamen Erinnerungen hoch: Jason, vier oder fünf Jahre alt, unten an den Leas, den Flussauen, an einem Frühlingsnachmittag, ganz aufgeregt, weil er mit einem Netz aus einer alten Gardine und einem dünnen Stock seinen ersten Stichling gefangen hat. Die beiden beim Eiskaufen an einem warmen, windstillen Sommertag in dem kleinen Laden mitten im Nirgendwo am Hang des Fremlington-Berges, das schmelzende, über ihre Hände tropfende Eis. Ein Herbstspaziergang auf einem Weg nahe Richmond, Jason, der vorneweg läuft und die Laubhaufen aufwirbelt, das Rascheln, wenn er durch die Blätter pflügt. Die beiden frierend im Schnee in Ben Rhydding, wo sie zuschauen, wie die Skifahrer das Ilkley Moor hinabgleiten.

  Was auch immer aus Jason geworden war, dachte Frank, er war einmal ein unschuldiger Junge gewesen, genauso gebannt und ergriffen von den Wundern der Natur und der Menschheit wie jedes andere Kind. So werde ich ihn in Erinnerung behalten, sagte er sich, nicht den verdrehten, törichten Menschen, der Jason geworden war.

  Sie erreichten das Bestattungsunternehmen am Stadtrand von Halifax ein wenig zu früh. Frank wartete draußen und beobachtete den vorbeirauschenden Verkehr. Die dünne Luft in den Beerdigungsinstituten hatte er noch nie ertragen können, genauso wenig den Gedanken an all die Leichen in den Särgen, an die Schminke auf ihren Gesichtern und das Formaldehyd in ihren Adern. Jasons Gesicht, vermutete er, würde eine Menge kosmetischer Zuwendung benötigt haben.

  Schließlich war der Leichenzug fertig. Alle vier drängten sich in die elegante schwarze Limousine des Instituts und folgten dem Leichenwagen durch die mit dunklen Steinhäusern gesäumten Straßen zum Friedhof. In der Ferne schauten zwischen den Bergen die hohen Fabrikschornsteine hervor.

  Nach einem kurzen Gottesdienst strömten alle hinaus für die Zeremonie am Grab. Frank lockerte seine Krawatte, damit er etwas leichter atmen konnte. Der Pfarrer sprach mit monotoner Stimme: »In der Mitte des Lebens sind wir im Tod: Bei wem finden wir Trost, wenn nicht bei Dir, o Herr, wer sonst vergibt uns unsere Sünden? Nur Du kennst, o Herr, die Geheimnisse unserer Herzen ...« Eine Fliege, die wohl irrigerweise annahm, es wäre immer noch Sommer, summte vor seinem Gesicht herum. Er verscheuchte sie.

  Steven trat einen Schritt vor, um eine Hand voll Erde auf den Sarg zu werfen. Der Pfarrer fuhr fort: »Sosehr es den allmächtigen Gott in seiner unermesslichen Gnade erfreut, die Seele unseres verstorbenen, lieben Bruders zu empfangen ...« Josie hätte die Erde werfen sollen, dachte Frank. Steven war nie gut mit dem Jungen ausgekommen. Josie hatte ihren Sohn wenigstens einmal geliebt, bevor sie sich auseinander gelebt hatten, und sie musste noch immer Mutterliebe für ihn empfinden, Liebe, die mit Sicherheit über alles Verständnis hinausging und eine Vielzahl von Sünden vergab.

  Plötzlich bemerkte Frank, dass Josie über ihre Schulter schaute und mit Tränen in den Augen die Stirn runzelte. Er drehte sich um und sah, was ihre Reaktion hervorgerufen hatte: Vor der Baumreihe standen ungefähr zehn junge Männer, alle trugen schwarze Pullover mit Polokragen aus einem glänzenden Material, Gürtel mit Silberschnallen und trotz der warmen Temperaturen schwarze Lederjacken. Mehr als die Hälfte hatten kahl geschorene Schädel. Skinheads. Einige trugen Sonnenbrillen. Der Große, Hagere sah älter aus als die anderen und Frank vermutete in ihm sofort den Anführer.

  Sie mussten sich nicht vorstellen. Frank wusste, wer sie waren. So sicher, wie er wusste, dass Jason tot in seinem Grab lag. Er hatte das Traktat gelesen. Als der Pfarrer zum Ende des Gottesdienstes kam, hob der Anführer seinen Arm zum Hitlergruß und die anderen folgten seinem Beispiel.

  Frank konnte nicht anders. Bevor er darüber nachdenken konnte, was er tat, hastete er zu ihnen hinüber und packte den Anführer. Der Mann lachte nur und schüttelte ihn ab. Dann, als Frank versuchte, wenigstens einen Schlag abzugeben, wurde er von ihnen umzingelt und wie ein Ball hin und her geschubst und geschoben. Als würden sie Blinde Kuh auf einer Kinderfeier spielen. Und während sie ihn schubsten, lachten sie lauthals und nannten ihn »Opa« und »alter Knacker«.

  Frank schlug wild um sich, doch er kam nicht frei. Er sah nur einen Strudel grinsender Gesichter, geschorener Köpfe und sein eigenes Spiegelbild in ihren dunklen Brillengläsern. Die Welt drehte sich zu schnell, er verlor die Kontrolle. Ihm war zu heiß. Obwohl er sie gelockert hatte, schnürte seine Krawatte wieder seinen Hals zu. Plötzlich setzte der Schmerz in seiner Brust ein, als würde ein Schraubstock sein Herz umklammern und zudrücken.

  Er stolperte von der Gruppe weg, packte an seine Brust. Der Schmerz breitete sich wie brennende Nadeln über seinen linken Arm aus. Er glaubte, er würde Maureen mit einem Stock auf einen der Jugendlichen losgehen sehen. Er konnte sie durch das Klingeln und Summen in seinen Ohren hören: »Lasst ihn in Ruhe, ihr brutalen Schweine! Lasst ihn in Ruhe, ihr faschistischen Arschlöcher! Seht ihr nicht, dass er ein alter Mann ist? Seht ihr nicht, dass er krank ist?«

  Dann geschah etwas Seltsames. Frank lag jetzt auf dem Boden und spürte, wie er sanft und langsam begann, über dem Schmerz zu schweben, oder eher, von ihm fortzutreiben, tiefer in sich selbst hinein, ganz erhaben und schwerelos. Ja, das war es, tiefer in sich selbst hinein. Er schwebte nicht über der Szene und schaute hinab auf das Chaos, sondern bewegte sich weit in sein Inneres hinein und sah Bilder von sich aus lange vergangenen Zeiten.

  Eine Reihe von Erinnerungen schoss durch seinen Kopf: das Flakfeuer, das den Bomber umgab wie helle, in der Nacht aufblühende Blumen, während Frank schwerelos in seiner Gefechtskanzel in der Luft zu hängen schien; der Tag, an dem er Edna auf dem Heimweg im Regen vom Frühlingsfest in Helmthorpe einen Heiratsantrag gemacht hatte; die Nacht, in der seine einzige Tochter Josie im Allgemeinen Krankenhaus in Eastvale geboren wurde, während Frank in Lyndgarth feststeckte, noch ohne Telefon damals, abgeschnitten von der Außenwelt durch einen unbarmherzigen Schneesturm.

  Doch seine letzte Erinnerung war eine, die ihm seit Jahrzehnten nicht mehr in den Sinn gekommen war. Er war fünf Jahre alt. Er hatte seinen Finger in der Eingangstür eingeklemmt und saß weinend auf der frisch gescheuerten Steintreppe und schaute zu, wie sich das dunkle Blut unter seinem Fingernagel sammelte. Er konnte die Wärme der Steinstufe an seinen Oberschenkeln spüren und die Hitze der Tränen auf seinen Wangen.

  Dann ging die Tür auf. Wegen des grellen Sonnenlichts konnte er kaum mehr als eine Silhouette erkennen, doch als er eine Hand über seine Augen legte und aufschaute, wusste er, dass es die liebende, mitfühlende, alles wieder gutmachende Gestalt seiner Mutter war, die sich zu ihm hinabbeugte, um ihn hoch in ihre Arme zu nehmen und allen Schmerz wegzuküssen.

  Danach wurde alles schwarz.

 

* II

 

»Ah, Banks. Da sind Sie ja endlich.«

  Kaum hatte er auf dem Weg von der Kaffeemaschine zurück in sein Büro die Stimme hinter sich gehört, bekam Banks ein flaues Gefühl im Magen. Aber was soll's, dachte er, einmal musste es ja passieren. Bringen wir es hinter uns. Augen zu und durch. Wenigstens befand er sich auf seinem eigenen Territorium.

  Ihre Feindschaft reichte schon einige Zeit zurück; im Grunde, dachte Banks, hatte sie in dem Moment begonnen, in dem sie sich das erste Mal gesehen hatten. Riddle war einer der jüngsten Chief Constables des Landes gewesen, er war auf schnellem Weg die Karriereleiter hinaufgeklettert und von Anfang an bevorzugt befördert worden. Auch Banks war ziemlich jung Detective Chief Inspector geworden, doch er war auf dem steinigen Weg dahin gelangt: harte Arbeit, eine gute Fallaufklärungsquote und ein natürliches Talent für die Ermittlungsarbeit. Er gehörte weder irgendwelchen Clubs an noch verfügte er über finanzstarke Kontakte oder einen Universitätsabschluss. Alles, was er hatte, war ein Diplom in Wirtschaftswissenschaften von einer Technischen Hochschule - und das stammte aus der Zeit, bevor Hochschulen zu zweitrangigen Universitäten degradiert worden waren.

  Für Riddle war es immer nur darum gegangen, die richtigen Kontakte zu knüpfen und die korrekten Modeworte von sich zu geben; er war ein Erbsenzähler und dann am glücklichsten, wenn er Haushaltspläne durchschauen oder in »Look North« oder »Calendar« die Kriminalstatistiken ins Positive verdrehen konnte. Soweit Banks wusste, hatte Jimmy Riddle in seinem ganzen Leben noch keinen Tag echte Polizeiarbeit geleistet.

  Mit einer Hand auf dem Türgriff wandte sich Banks um. »Sir?«

  Riddle kam näher. »Sie wissen, wovon ich spreche, Banks. Wo haben Sie sich in den letzten Tagen herumgetrieben? Haben Sie versucht, mir aus dem Weg zu gehen?«

  »Auf den Gedanken würde ich nie kommen, Sir.« Banks öffnete die Tür und machte einen Schritt zur Seite, um Riddle zuerst eintreten zu lassen. Überrascht durch die höfliche Geste hielt der Chief Constable einen Moment inne, bevor er ins Büro marschierte. Wie üblich setzte er sich nicht hin, sondern begann durch den Raum zu stapfen, Sachen anzufassen, den Kalender gerade zu hängen, den unordentlichen Stoß Papiere auf dem Aktenschrank zu mustern und alles mit seiner missbilligenden Erbsenzählermentalität zu begutachten.

  Er war tadellos gekleidet. Anscheinend hatte er für jeden Tag eine saubere Uniform, dachte Banks, der sich hinter seinen wackeligen Metallschreibtisch gesetzt hatte und nach seinen Zigaretten griff. Egal wie streng die Antirauchergesetze in letzter Zeit geworden waren, noch machten sie vor dem Büro eines Chief Inspectors Halt und dort konnte ihm auch kein Chief Constable Einhalt gebieten.

  Man musste Riddle hoch anrechnen, dass er es auch nicht versuchte. Er protestierte nicht einmal wie sonst. Stattdessen ging er direkt dazu über, den Unmut abzulassen, der sich seit Montag in ihm aufgestaut haben musste. »Was hat Sie bloß dazu veranlasst, diese asiatischen Kinder mitzunehmen und in die Zellen zu werfen?«

  »Meinen Sie George Mahmood und seine Freunde?«

  »Sie wissen verdammt genau, wen ich meine.«

  »Tja, Sir«, sagte Banks, »ich hatte guten Grund zu dem Verdacht, dass sie etwas mit dem Tod von Jason Fox zu tun hatten. Sie wurden dabei gesehen, wie sie sich am Tatabend mit ihm und seinem Kumpel im Jubilee stritten, und als ich von George Mahmood wissen wollte, was geschehen war, verlangte er einen Anwalt und sagte keinen Ton mehr.«

  Riddle fuhr mit einer Hand über seinen glänzenden Schädel. »Mussten Sie gleich alle drei einsperren?«

  »Ich glaube schon, Sir. Ich habe mich strikt an die Richtlinien gehalten. Keiner von ihnen wollte mit uns reden. Wie gesagt, sie waren berechtigt Verdächtige, und ich wollte sie unter Beobachtung haben, während im Labor die Untersuchungen an ihrer Kleidung durchgeführt wurden. Zur gleichen Zeit hat Detective Sergeant Hatchley versucht, Zeugen des Überfalles zu finden.«

  »Aber war Ihnen denn nicht klar, welchen Ärger Ihr Vorgehen verursachen würde? Haben Sie nicht nachgedacht, Mann?«

  Banks trank einen Schluck Kaffee und schaute auf. »Ärger, Sir?«

  Riddle seufzte und lehnte sich, mit einem Ellbogen auf dem Papierstapel, gegen den Aktenschrank. »Sie haben die gesamte asiatische Gemeinde in Eastvale gegen uns aufgebracht, Banks. Haben Sie noch nie von Ibrahim Nazur gehört? Ist Ihnen nicht klar, dass die Eintracht der Kulturen die vorrangige Aufgabe der modernen Polizei ist?«

  »Das ist komisch, Sir«, antwortete Banks. »Ich dachte, wir wären dazu da, Kriminelle zu fassen.«

  Riddle drückte sich mit seinem Ellbogen vom Aktenschrank weg, beugte sich vor und legte die Hände flach auf den Schreibtisch, sein Gesicht genau vor Banks. Sein kahler Schädel schien auf höchster Alarmstufe zu leuchten. »Kommen Sie mir nicht klugscheißerisch, Mann. Ich behalte Sie im Auge. Ein falscher Schritt, ein weiterer Patzer, die kleinste Fehleinschätzung und Sie sind am Ende, verstanden? Ich schicke Sie zurück zur Verkehrspolizei.«

  »Na schön, Sir«, sagte Banks. »Heißt das, Sie wollen mir den Fall wegnehmen?«

  Riddle trat wieder zurück an den Aktenschrank und schnippte lächelnd einen imaginären Fussel von seinem Revers. »Den Fall wegnehmen? Das hätten Sie wohl gern. Nein, Banks, ich werde Ihre Kastanien noch ein bisschen länger im Feuer lassen.«

  »Was genau wollen Sie dann, Sir?«

  »Vor allem will ich, dass Sie sich endlich wie ein Chief Inspector benehmen und nicht wie ein verdammter Constable in der Probezeit. Und ich möchte, dass Sie mich informieren, bevor Sie einen Schritt unternehmen, der höchstwahrscheinlich wieder die ganze Polizei in Verlegenheit bringt. Über jeden Schritt. Ist das klar?«

  »Der letzte Teil ja, Sir, aber ...«

  »Was ich sagen will«, fuhr Riddle fort und ging wieder auf und ab und fasste alles an, »ist, dass Ihr Input als erfahrener, hochrangiger Polizeibeamter nützlich sein könnte. Aber lassen Sie Ihre Untergebenen die Laufarbeit machen. Sollen die sich in Leeds herumtreiben und auf Jagd gehen. Glauben Sie, ich wüsste nicht, warum Sie jede Gelegenheit ergreifen, um nach Leeds abzuhauen?«

  Banks schaute Riddle in die Augen. »Und warum, Sir?«

  »Diese Frau. Die Musikerin. Und erzählen Sie mir nicht, Sie wüssten nicht, von wem ich spreche.«

  »Ich weiß genau, von wem Sie sprechen, Sir. Ihr Name ist Pamela Jeffreys und sie spielt Bratsche bei der English Northern Philharmonia.«

  Riddle winkte ungeduldig ab. »Wie auch immer. Sie denken wahrscheinlich, Ihr Privatleben geht mich nichts an, aber wenn Sie Ihre Dienstzeiten dazu benutzen, es auszuleben, geht es mich sehr wohl etwas an.«

  Banks überlegte einen Moment, bevor er antwortete. Das ging wirklich zu weit. Riddle unterstellte ihm im Grunde, eine Affäre mit Pamela Jeffreys zu haben und während der Dienstzeiten für Rendezvous mit ihr nach Leeds zu fahren. Das entsprach natürlich nicht der Wahrheit, aber jeder Versuch, es zu leugnen, würde Riddles Überzeugung im Moment nur verstärken. Banks war sich der aktuellen Richtlinien nicht sicher, aber er hatte das Gefühl, dass dieses Verhalten die Befugnisse des Chief Constables bei weitem überschritt. Neben dem Vorwurf, die Zeit der Polizei zu missbrauchen, war es ein persönlicher Angriff.

  Aber wie sollte er reagieren? Sein Wort stand gegen Riddles. Und Riddle war der Chef. Also nahm er den Affront hin, legte ihn zu den Akten, entgegnete nichts und war entschlossen, es dem Arschloch eines Tages heimzuzahlen.

  »Was soll ich stattdessen tun, Sir?«, fragte er. __ »Sitzen Sie in Ihrem Büro, rauchen Sie sich dumm und dämlich und lesen Sie Berichte, so wie es sein sollte. Und halten Sie sich von den Medien fern. Überlassen Sie die Medien Superintendent Gristhorpe und mir persönlich.«

  Banks zuckte zusammen. Er hasste es, wenn Leute »mir persönlich« sagten und ihnen ein einfaches »mir« nicht mehr genügte. Er drückte seine Zigarette aus. »Ich bin noch nicht einmal in der Nähe der Medien gewesen, Sir.«

  »Dann sorgen Sie dafür, dass es dabei bleibt.«

  »Sie wollen wirklich, dass ich lediglich am Schreibtisch sitze und Berichte lese? Ja?«

  Riddle hörte einen Moment auf herumzustreifen und sah Banks an. »Um Himmels willen, Mann! Sie sind ein Detective Chief Inspector. Es ist nicht Ihre Aufgabe, überall herumzuspringen und Leute zu befragen. Koordinieren Sie. Hier gibt es eine Menge wichtigerer Aufgaben für Sie, hier in Ihrem Büro.«

  »Sir?«

  »Was ist zum Beispiel mit dem neuen Etat? Sie wissen, dass wir heutzutage für jeden Penny Rechenschaft ablegen müssen, den wir ausgeben. Und es wird Zeit, dass der jährliche Haushaltsplan für nächstes Jahr erstellt wird. Dann sind da die Verbrechensstatistiken. Wie kommt es, dass die Verbrechensraten im Rest des Landes fallen, in North Yorkshire aber steigen? Hä? Das sind die Fragen, mit denen Sie sich beschäftigen sollten, statt nach Leeds zu fahren und den Leuten auf die Füße zu treten.«

  »Einen Moment, Sir«, sagte Banks. »Auf wessen Füße? Erzählen Sie mir nicht, Neville Motcombe gehört auch zu Ihrer Geheimloge.«

  Kaum hatte Banks die Worte ausgesprochen, bereute er es. Der Wunsch, es Riddle heimzuzahlen, war mehr als berechtigt, aber das war nicht der richtige Weg. Er war überrascht, dass Riddle einfach in seiner Tirade innehielt und fragte: »Wer zum Teufel ist Neville Motcombe?«

  Banks zögerte. Jetzt hatte er sich so weit aus dem Fenster gelehnt, dass er aufpassen musste, nicht hinauszufallen. »Er ist ein Kollege von Jason Fox. Einer der Leute, mit denen ich gestern in Leeds gesprochen habe.«

  »Hat dieser Motcombe irgendetwas mit dem Tod des Jungen zu tun?«

  Banks schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Sein Name kam lediglich im Verlauf der Ermittlungen auf und ...«

  Riddle begann wieder hin und her zu rennen. »Schwafeln Sie nicht herum, Banks. Ich habe gehört, dass dieser Jason Fox zu einer rechten Rassistengruppe gehörte. Stimmt das?«

  »Ja, Sir. Der Albion-Liga.«

  Riddle blieb stehen und kniff seine Augen zusammen. »Hat dieser Neville Motcombe irgendetwas mit der Albion-Liga zu tun?«

  So schnell legte man Jimmy Riddle nicht rein. »Genau genommen«, sagte Banks, »ist er ihr Anführer.«

  Einen Augenblick schwieg Riddle, dann ging er zurück und nahm seine Pose am Aktenschrank wieder ein. »Hat das alles überhaupt etwas mit dem Fall Jason Fox zu tun oder kämpfen Sie nur wieder wie üblich gegen Windmühlen?«

  »Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete Banks. »Aber eben das versuche ich herauszufinden. Dieser Umstand könnte George und seinen Freunden ein Motiv zum Angriff auf Jason gegeben haben.«   »Haben Sie irgendeinen Beweis dafür, dass die drei Asiaten von Jason Fox' Mitgliedschaft in der Albion-Liga wussten?«

  »Nein. Aber ich habe herausgefunden, dass Jason George Mahmood kannte. Das ist ein Anfang.«

  »Das ist überhaupt nichts, verdammt noch mal.«

  »Wir arbeiten noch daran.«

  Riddle seufzte. »Haben Sie richtige Verdächtige?«

  »Die Asiaten sind immer noch die wahrscheinlichsten Verdächtigen. Das Labor hat die Substanz an Georges Turnschuhen aufgrund der starken Vermischung mit anderen Stoffen noch nicht identifizieren können, aber es ist noch nicht ausgeschlossen, dass es sich um Blut handelt.«

  »Hmmm. Was ist mit diesem anderen Jungen, der mit Jason Fox im Pub gewesen sein soll?«

  »Wir suchen noch nach ihm.«

  »Schon eine Ahnung, wer es ist?«

  »Nein, Sir. Auch daran habe ich in ...«

  »Dann finden Sie es raus, verdammt. Und zwar schnell.« Riddle ging mit großen Schritten zur Tür. »Und denken Sie an das, was ich gesagt habe!«

  »Welchen Teil davon, Sir?«

  »Dass Sie sich auf Ihre Aufgaben als Chief Inspector konzentrieren sollen.«

  »Sie wollen also, dass ich herausfinde, wer Jasons Kumpel war, während ich gleichzeitig Haushaltsberichte und Kriminalstatistiken lese?«

  »Sie wissen genau, was ich meine, Banks. Nehmen Sie nicht alles wörtlich. Delegieren Sie!«

  Und dann marschierte er hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

  Banks seufzte erleichtert auf. Aber zu früh. Die Tür ging wieder auf. Riddle steckte seinen Kopf herein, richtete drohend seinen Finger auf Banks und sagte: »Und egal, was Sie von mir denken mögen, Banks, wagen Sie nie wieder anzudeuten, dass ich oder einer meiner Logenbrüder freundschaftlichen Verkehr mit Faschisten pflegen. Ist das klar?«

  »Ja, Sir«, sagte Banks, als sich die Tür wieder schloss. Freundschaftlichen Verkehr mit Faschisten pflegen. Er musste zugeben, dass es hübsch klang. Fast eine Alliteration.

  In der auf Riddles Rückzug folgenden friedlichen Ruhe trank Banks seinen Kaffee und grübelte darüber nach, was ihm gerade gesagt worden war. Er wusste, dass Riddles Bemerkungen über die Art und Weise, wie er seinem Job nachging, nicht ganz aus der Luft gegriffen waren, und das machte ihn gewiss nicht glücklicher. Als Detective Chief Inspector musste er sich mehr um die administrativen und leitenden Aspekte der Polizeiarbeit kümmern. Er musste tatsächlich mehr Zeit an seinem Schreibtisch verbringen.

  Nur dass er genau das nicht wollte.

  Als er noch Detective Inspector in London gewesen war und mit seiner Versetzung nach Eastvale zum Chief Inspector befördert worden war, war ihm sowohl durch Detective Superintendent Gristhorpe als auch durch Chief Constable Hemmings, Jimmy Ridd-les Vorgänger, das Zugeständnis gegeben worden, dass er bei wichtigen Fällen eine aktive Rolle bei den Ermittlungen übernehmen konnte. Selbst der mittlerweile pensionierte stellvertretende Chief Constable hatte dieser Übereinkunft zugestimmt.

  In letzter Zeit, wo man in den oberen Etagen in Erwägung gezogen hatte, den Rang des Chief Inspectors abzuschaffen, war Banks eher bereit, bei gleichem Gehalt wieder Inspector zu werden, als sich um die Beförderung zum Superintendent zu bemühen, was ihn höchstwahrscheinlich noch mehr an den Schreibtisch fesseln würde. Aber so weit war es bisher nicht gekommen; der einzige Rang, der abgeschafft worden war, war der des stellvertretenden Chief Constables.

  Und jetzt wollte ihn Jimmy Riddle trotzdem an den Schreibtisch binden.

  Was konnte er tun? War die Zeit tatsächlich reif für einen weiteren Umzug?

  Aber er konnte nicht lange über diese Angelegenheiten nachdenken. Kaum zwei Minuten nachdem Riddle gegangen war, klingelte das Telefon.

 

* III

 

Susan kam zehn Minuten zu spät zum Treffen ins Queen's Arms, wo beim Mittagessen und einem Drink die Spuren und Meinungen zum Jason-Fox-Fall besprochen werden sollten. Eine informelle Brainstor-ming-Sitzung.

  Banks und Hatchley hatten sich bereits an einem Tisch mit geriffelter Kupferplatte zwischen Kamin und Fenster niedergelassen, als Susan hereineilte. Beide machten einen äußerst bedrückten Eindruck, fiel ihr auf.

  An der Theke bestellte sie ein Wasser und ein Salatsandwich und ging dann zu den beiden an den Tisch. Vor Hatchley stand ein fast leeres Pintglas, während Banks trübsinnig in sein kleines Bier starrte. Sie rutschten mit ihren Stühlen zur Seite, um ihr Platz zu machen.

  »Tut mir Leid, dass ich zu spät komme, Sir«, sagte sie.

  Banks zuckte mit den Achseln. »Kein Problem. Wir haben schon bestellt. Wenn Sie auch was essen wollen ...«

  »Schon in Ordnung, Sir. Sie machen mir ein Sandwich.« Susan schaute vom einen zum anderen. »Entschuldigen Sie, wenn ich blöd frage, aber es kann doch nicht am Wetter liegen, dass Sie beide so lange Gesichter machen, oder? Stimmt irgendetwas nicht? Es kommt mir vor, als wäre ich in eine Beerdigung geplatzt. «

  »Damit liegen Sie gar nicht so verkehrt«, sagte Banks. Er zündete sich eine Zigarette an. »Kennen Sie Frank Hepplethwaite, Jasons Großvater?«

  »Ja. Auf jeden Fall weiß ich, wer er ist.«

  »War. Ich habe gerade einen Anruf von der Polizei in Halifax erhalten. Er ist bei Jasons Beerdigung tot umgefallen.«

  »Weshalb?«

  »Herzinfarkt.«

  »O nein«, sagte Susan leise. Sie hatte den alten Mann nie kennen gelernt, aber sie wusste, dass Banks von ihm beeindruckt gewesen war, und das genügte ihr. »Wie ist das geschehen?«

  »Motcombe ist mit neun oder zehn von seinen Schwarzhemden auf dem Friedhof gewesen und Frank hat sich darüber aufgeregt. Ist auf sie losgegangen. Er war tot, noch ehe seine Enkelin sie dazu bringen konnte, von ihm abzulassen.«

  »Also haben sie ihn getötet?«

  »Kann man so sagen.« Banks schaute zu Hatchley, der Sein Pint leerte, den Kopf schüttelte und an die Theke ging, um ein neues zu holen. Banks lehnte sein Angebot ab, ihm ein zweites kleines Bier mitzubringen. Der Rauch seiner Zigarette zog gefährlich nah an Susans Nase; sie wedelte mit ihrer Hand, um ihn zu vertreiben.

  »Entschuldigung«, sagte Banks.

  »Macht nichts. Hören Sie, Sir, es fällt mir etwas schwer, das Ganze zu verstehen. Für mich hört sich das nach Totschlag an. Werden wir Anklage gegen Motcombe erheben oder nicht?«

  Banks schüttelte den Kopf. »Dafür ist die Polizei von West Yorkshire zuständig. Und die erhebt keine Anklage.«

  »Wieso nicht?«

  »Weil Frank Hepplethwaite Motcombe angegriffen hat und sein Haufen sich nur selbst verteidigt hat.«

  »Zehn Leute? Gegen einen alten Mann mit einem kranken Herzen? Das geht doch nicht.«

  »Ich weiß«, sagte Banks. »Aber anscheinend haben sie ihn weder geschlagen noch getreten. Sie haben ihn einfach weggestoßen. Sie haben sich vor ihm geschützt.«

  »Es klingt trotzdem nach Totschlag.«

  »Die Polizei in West Yorkshire glaubt nicht, dass sie die Staatsanwaltschaft dazu kriegt, die Sache strafrechtlich zu verfolgen.«

  Susan wusste, dass die Staatsanwaltschaft für ihre Zurückhaltung bei der Verfolgung von solchen Straftaten vor Gericht bekannt war. »Also kommen Motcombe und seine Spießgesellen ungeschoren davon?«

  Hatchley kehrte von der Theke zurück. Fast gleichzeitig kam Glenys, die Frau des Wirtes, mit dem Essen an den Tisch: Susans Sandwich, Scholle mit Pommes frites für Hatchley und ein großes Stück Wildpastete für Banks.

  »Nicht ganz«, sagte Banks und drückte seine Zigarette aus. »Auf jeden Fall nicht sofort. Sie wurden zur Befragung mitgenommen. Ihre Aussage lautete, dass sie einfach an der Beerdigung eines gefallenen Kameraden teilgenommen hatten, als dieser Verrückte sie zu attackieren begann, wodurch sie gezwungen waren, ihn aus reinem Selbstschutz wegzustoßen. Die Tatsache, dass Frank ein alter Mann war, macht für eine mögliche Anklage keinen großen Unterschied. Manche alten Männer sind ziemlich kräftig. Und dass er herzkrank war, wussten sie nicht.«

  »Können wir denn gar nichts tun?« Susan wandte sich an Hatchley.

  Er schüttelte den Kopf, ein Stück panierte Scholle auf seiner Gabel balancierend. »Sieht nicht so aus.« Dann blickte er zu Banks, der von seiner Pastete aufschaute und nickte. »Und es wird noch schlimmer«, fuhr Hatchley fort. »Wir sind anscheinend nicht in der Lage, Motcombe anzuklagen, aber Motcombe hat Maureen Fox, Jasons Schwester, wegen eines tätlichen Angriffes angezeigt. Offensichtlich hat sie ihn und seine Kumpels mit einer schweren Latte attackiert, die sie von der Grabstelle genommen hat, und auf ein paar Köpfe eingeschlagen, einschließlich Motcombes.«

  Susans Kinnlade fiel herunter. »Und sie zeigen sie an?«

  »Ja«, sagte Hatchley. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass viel dabei herauskommt, aber das ist genau die Art, wie Motcombe und seinesgleichen sich über die Leute lustig machen.«

  »Und über die Justiz«, fügte Banks hinzu. - Es gab Zeiten, musste Susan zugeben, da war ihr die Justiz zuwider, obwohl sie wusste, dass das englische Justizsystem wahrscheinlich das beste der Welt war. Die Justiz war nie vollkommen und in manchen anderen Ländern war sie es noch viel weniger. Trotzdem gab es immer wieder Vorfälle, die selbst sie empörten, obwohl sie als Polizistin schon einiges erlebt hatte. Sie konnte nur den Kopf schütteln und in ihr Salatsandwich beißen.

  Im Hintergrund klimperte die Registrierkasse, ein paar Ladenangestellte, die Mittagspause machten, lachten über einen Witz. Und am Spielautomaten hatte jemand ein paar Münzen gewonnen.

  »Gibt es noch mehr gute Nachrichten?«, fragte Susan.

  »Ja«, sagte Hatchley. »Das Labor hat sich endlich wegen des Zeugs bei uns gemeldet, das an George Mahmoods Turnschuhen gefunden wurde.«

  »Und?«

  »Tierblut. Er muss auf einen toten Spatzen oder so was getreten sein, als er durch den Park gegangen ist.«

  »Tja«, sagte Susan, »das ist alles ziemlich deprimierend, aber ich glaube, ich habe wenigstens eine kleine gute Nachricht.«

  Banks hob die Augenbrauen.

  Susan erzählte von der E-Mail, die sie an FoxWood Designs geschickt hatte. »Deswegen bin ich eben auch zu spät gekommen«, sagte sie. »Als ich nachgeschaut hatte, war noch keine Antwort gekommen; deshalb dachte ich, ich warte noch fünf Minuten.«

  »Und?«, fragte Banks.

  »Und wir hatten Glück. Na ja, auf jeden Fall ist es ein Anfang.«

  Susan nahm das gefaltete Blatt Papier aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch. Banks und Hatchley beugten sich vor, um die schwarz umrandete Nachricht zu lesen.

 

Werter Kunde,

  vielen Dank für Ihr Interesse an der Arbeit von FoxWood Designs. Leider müssen wir unsere Tätigkeit wegen eines Trauerfalles zeitweilig einstellen. Wir hoffen, Sie haben etwas Geduld und werden in der nahen Zukunft erneut mit Ihrem Auftrag an uns herantreten. Zugleich entschuldigen wir uns für jede Unannehmlichkeit, die Ihnen dadurch entstehen könnte.

Mit freundlichen Grüßen Mark Wood

 

»Mark Wood. Jetzt haben wir also einen Namen«, stellte Banks fest.

  Susan nickte. »Wie gesagt, viel ist es nicht, aber es ist ein Punkt, an den man anknüpfen kann. Dies könnte der junge Mann sein, der mit Jason im Jubilee war. Auf jeden Fall war er Jasons Geschäftspartner. Er müsste etwas wissen.«

  »Vielleicht«, meinte Banks. »Aber es könnte auch sein, dass er überhaupt nichts mit dem Fall zu tun hat.«

  »Aber egal, wer er ist, finden Sie es nicht auch ein bisschen faul, dass er sich bisher noch nicht gemeldet hat?«

  »Ja«, sagte Banks. »Aber Liza Williams hat sich auch nicht gemeldet. Jasons Nachbarin in Rawdon. Sie sah keine Veranlassung dazu. Motcombe auch nicht.«

• »Trotzdem, Sir«, fuhr Susan fort, »ich glaube, wir sollten so schnell wie möglich versuchen, ihn zu finden.«

  »Da stimme ich Ihnen zu.« Banks griff nach seiner Tasche. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Susan, ich bin nur wegen der Sache mit Frank Hepplethwaite ein bisschen durch den Wind.«

  Susan nickte. »Verstehe ich.«

  »Es gibt jedenfalls eine Sache«, sprach Banks weiter, »die wir gleich überprüfen können. Ich habe ein Fax von Ken Blackstone mit der Auflistung von Motcombes Grundbesitz und Mietern bekommen. Ich hatte noch keine Zeit, mir die Liste genau anzuschauen.« Er zog die Blätter hervor und überflog sie. »Sieht so aus, als würde ihm einiges gehören«, sagte er nach ein paar Augenblicken. »Vier Häuser neben seinem eigenen - zwei davon in Wohnungen und möblierte Zimmer unterteilt -, die Doppelhaushälfte, in der Jason Fox wohnte, sowie ein Laden mit darüber liegender Wohnung in Bramley. Und wie wir richtig annahmen, gehört ihm auch der alte Gemüseladen, in dem die Albion-Liga arbeitet.« Ein paar Sekunden später schüttelte er schließlich enttäuscht den Kopf. »Auf der Mieterliste gibt es keinen Mark Wood. Das wäre wohl auch zu einfach gewesen.«

  »Ich frage mich, woher Motcombe sein Geld hat«, sagte Susan.

  »Mitgliedergebühren?«, warf Hatchley ein.

  »Ziemlich unwahrscheinlich«, antwortete Banks mit einem grimmigen Lächeln. »Vielleicht hat er es geerbt? Ich werde mich wieder mit Ken in Verbindung setzen. Mal sehen, ob er uns mit weiteren Hintergrundinformationen über Mr. Motcombe versorgen kann.«

  »Sie glauben nicht, dass er es getan hat, oder?«, fragte Susan.

  »Jason getötet? Nein. Vor allem scheint er kein Motiv zu haben. Und selbst wenn er etwas damit zu tun hätte, dann hat er es mit Sicherheit nicht selbst getan. Ich bezweifle, dass er den Mumm dazu hat. Oder die Kraft. Denken Sie daran, Jason war ziemlich gut in Form. Aber wir werden ihn trotzdem genauer unter die Lupe nehmen. Ich kann den Kerl nicht leiden, seine Ansichten auch nicht; deshalb können wir ihm meinetwegen so viel Scherereien wie möglich machen. Und wenn es nur ein Strafzettel ist. Außerdem würde ich ziemlich blöd dastehen, wenn wir etwas Offensichtliches übersehen, oder? Und das ist das Letzte, was ich im Moment gebrauchen kann.«

  »Der Chief Constable?«, fragte Susan vorsichtig.

  Banks nickte. »Höchstpersönlich. Ich gehe also besser an meinen Schreibtisch zurück und koordiniere.«

 

* IV

 

Banks war hundemüde, als er an diesem Abend kurz nach sechs Uhr nach Hause kam. Er war immer noch bedrückt über Frank Hepplethwaites sinnlosen Tod, sein Konflikt mit Jimmy Riddle machte ihm weiterhin zu schaffen und der Mangel an Fortschritten im Jason-Fox-Fall nagte an seinem Selbstvertrauen. Gut, er hatte bisher sein Bestes gegeben. Wenn nur die Leute im Labor oder Vic Manson irgendetwas herausfinden würden.

  Sandra war nicht zu Hause. In gewisser Weise fühlte er sich dadurch erleichtert. Er hatte im Moment nicht die Kraft, einen weiteren Streit ertragen zu können. Oder ihre kalte Schulter.

  • Er machte sich ein Käseomelett. Da es keinen richtigen Käse im Kühlschrank gab, nahm er eine Scheibe Schmelzkäse. Es schmeckte gut. Kurz nach acht, als sich Banks bei Cosi fan tutte und einem kleinen La-phroaig entspannte, kehrte Sandra zurück. Aus Angst vor einer weiteren Szene drehte Banks die Stereoanlage ganz leise.

  Aber Sandra schien die im Hintergrund spielende Oper nicht wahrzunehmen. Auf jeden Fall sagte sie nichts. Sie machte einen zerstreuten Eindruck, dachte Banks, als er versuchte, sie in ein Gespräch über die Ereignisse des Tages zu verwickeln.

  Als er vorschlug, sie zum Essen auszuführen - das Omelett hatte ihn nicht annähernd so satt gemacht, wie er gehofft hatte -, sagte sie, sie hätte nach der Sitzung des Kulturausschusses bereits mit ein paar Freunden gegessen und wäre nicht hungrig. Alle Gesprächsversuche Banks trafen auf taube Ohren. Selbst als er von Jimmy Riddles törichten Vorhaltungen erzählte, löste er kein Fünkchen Mitgefühl bei ihr aus. Schließlich sah er sie an und fragte: »Was ist los? Ist es wegen neulich? Bist du deswegen immer noch sauer auf mich?«

  Sandra schüttelte den Kopf. Das blonde Haar tanzte über ihre Schultern. »Ich bin nicht sauer«, sagte sie. »So etwas passiert ständig zwischen uns. Das ist das eigentliche Problem. Oder willst du mir weismachen, dass dir nicht aufgefallen ist, wie selten wir uns in letzter Zeit sehen? Dass wir beide getrennte Wege zu gehen scheinen und unterschiedliche Interessen pflegen? Wie wenig wir gemeinsam haben? Besonders seit Tracy weg ist.«

  Banks zuckte mit den Achseln. »Das ist doch noch gar nicht so lange her«, sagte er. »Ich war sehr beschäftigt. Und du auch. Hab ein bisschen Geduld.«

  »Ich weiß. Aber darum geht es nicht. Wir sind immer beschäftigt.«

  »Was willst du damit sagen?«

  »Arbeit. Deine. Meine. Aber das ist gar nicht das Problem. Damit sind wir vorher auch immer zurechtgekommen. Du hast nie von mir verlangt, dass ich den ganzen Tag pflichtbewusst zu Hause bleibe und koche, putze, bügele, Knöpfe annähe und so weiter, und dafür bin ich dir dankbar. Aber selbst darum geht es nicht.« Sie nahm eine von seinen Zigaretten, was sie in letzter Zeit so selten getan hatte, dass es ihn beunruhigte. »Ich habe seit unserem letzten Streit viel nachgedacht, und was ich sagen will, ist wohl, dass ich mich einsam fühle. Ich meine in der Beziehung. Ich habe einfach nicht mehr das Gefühl, Teil deines Lebens zu sein. Oder dass du Teil meines Lebens bist.«

  »Aber das ist doch Unsinn.«

  »Ja? Wirklich?« Sie sah ihn stirnrunzelnd an, ihre schwarzen Augenbrauen bogen sich in die Falte ihrer Stirn. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Das glaube ich nicht, Alan. Worum ging es denn am Samstag? Oder neulich Abend? Ich glaube, wenn du ehrlich zu dir bist, wirst du mir Recht geben. Dieses Haus fühlt sich leer an. Kalt. Es fühlt sich nicht mehr wie ein Zuhause an. Es fühlt sich wie ein Ort an, den zwei Menschen, die getrennte Leben führen, zum Schlafen und Essen benutzen. Gelegentlich treffen sie sich auf dem Treppenabsatz und sagen Hallo. Und wenn die Zeit reitht, kommen sie mal für einen schnellen Fick zusammen.«

  »Das ist ungerecht, das weißt du genau. Ich denke, du bist einfach nur deprimiert, weil die Kinder erwachsen sind und das Nest verlassen haben. Es braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen.«

  »Und gleich wirst du noch behaupten, ich wäre nur so empfindlich, weil ich meine Tage habe«, sagte Sandra. »Aber du hast Unrecht. Darum geht es auch nicht.« Sie schlug mit der Faust auf die Sessellehne. »Du hörst mir nicht zu. Du hörst mir nie richtig zu.«

  »Ich höre zu, aber ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was ich höre. Bist du sicher, dass das nicht alles noch wegen letzten Samstag ist?«

  »Nein, verdammt, es ist nicht wegen letzten Samstag. Okay, ich gebe zu, dass ich wütend war. Ich dachte, du könntest doch wenigstens einmal deine heilige Oper ausfallen lassen, um etwas zu machen, das ich für wichtig halte. Etwas für meine Karriere. Aber das hast du nicht getan. Gut. Und neulich abends legst du dann schon wieder eine Oper auf. Du bist immer egoistisch gewesen. Aber das war ein Egoismus, mit dem ich umgehen konnte. Jetzt ist es etwas anderes.«

  »Was?«

  »Was ich dir zu sagen versucht habe. Wir sind beide unabhängige Menschen. Das waren wir schon immer. Deswegen hat unsere Ehe auch so gut funktioniert. Ich habe nicht jammernd zu Hause gewartet, bis du von der Arbeit zurückgekommen bist, und mir Sorgen gemacht, dass dein Essen kalt werden könnte oder dass dir etwas passiert sein könnte. Obwohl ich mir natürlich immer Sorgen gemacht habe. Ich habe nur versucht, es dich nicht spüren zu lassen. Und wenn ich unterwegs war und es gab kein Essen oder dein Hemd war nicht gebügelt, dann hast du dich nie beschwert. Du hast es selbst gemacht. Vielleicht nicht besonders gut, aber du hast es gemacht.«

  »Ich beschwere mich immer noch nicht, wenn das Essen nicht fertig ist. Ich habe mir gerade ein Omelett mit Schmelz...«

  Sandra hob ihre Hand. »Lass mich ausreden, Alan. Verstehst du nicht, was passiert ist? Was einmal unsere Stärke gewesen ist - unsere Unabhängigkeit -, treibt uns jetzt auseinander. Wir führen schon so lange getrennte Leben, dass es für uns ganz selbstverständlich geworden ist, wenn eine Beziehung so läuft. Solange du deine Arbeit hast, deine Musik, deine Bücher und ab und zu einen Abend mit den Kollegen im Queen's Arms, bist du vollkommen zufrieden.«

  »Und was ist mit dir? Bist du zufrieden mit deiner Galerie, deiner Fotografie, deinen Ausschusssitzungen, deinen Empfängen?«

  Sandra machte eine lange Pause, lange genug für Banks, um beiden einen ordentlichen Laphroaig einzuschenken, bevor sie antwortete. »Ja«, sagte sie schließlich mit leiser Stimme. »So ist es wohl. Vielleicht bin ich damit zufrieden. Eine Zeit lang habe ich gedacht, diese Dinge wären alles, was ich habe. Du bist einfach nicht hier gewesen, Alan. Auf jeden Fall nicht für mich.«

  Banks hatte das Gefühl, als wäre eine Hand aus Eis über sein Herz geglitten. Das Gefühl war so real, dass er seine Hand auf die Brust legte. »Gibt es einen anderen?«, fragte er. Aus den Lautsprechern hörte man Fiordiligi leise davon singen, standhaft wie ein Felsen zu sein.

  Plötzlich lächelte Sandra und fuhr mit einer Hand durch ihr Haar. »Oh, du dummer Kerl«, sagte sie. »Nein, es gibt niemand anderen.« Dann trübte sich ihr Blick und schweifte ab. »Es hätte jemanden geben können ... vielleicht ... aber es gibt niemanden.« Sie zuckte mit den Achseln, als wollte sie eine schmerzliche Erinnerung abschütteln.

  Banks schluckte. »Was dann?«

  Sie hielt inne. »Wie gesagt, ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass wir getrennte Wege gehen sollten. Auf jeden Fall für eine Weile.« Sie beugte sich vor und nahm seine Hand, während sie sprach, was ihm, wie das Lächeln, unangebracht erschien. Was war los, verdammt?

  Banks riss seine Hand weg. »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte er. »Wir sind seit über zwanzig Jahren verheiratet und plötzlich willst du einfach auf und davon gehen?«

  »Ich meine es wirklich Ernst. Und es kommt nicht plötzlich. Denk darüber nach. Du wirst mir zustimmen. Das hat sich seit langer Zeit aufgebaut, Alan. Wir sehen uns sowieso kaum noch. Warum sollen wir weiter in einer Lüge leben? Du weißt, dass ich Recht habe.«

  Banks schüttelte den Kopf. »Nein. Weiß ich nicht. Ich finde immer noch, dass du übertrieben auf Tracys Auszug und auf Samstagabend reagierst. Hab ein bisschen Geduld. Vielleicht sollten wir verreisen?« Jetzt beugte er sich vor und nahm ihre Hand. Sie fühlte sich schlaff und klamm an. »Lass uns verreisen, wenn dieser Fall vorbei ist, nur du und ich. Wir könnten für ein paar Tage nach Paris fahren. Oder irgendwo ins Warme. Vielleicht wieder nach Rhodos?«

  Er konnte Tränen in ihren Augen sehen. »Alan, du hast mir nicht zugehört. Du machst es wirklich schwierig. Ich habe schon seit Wochen versucht, den Mut aufzubringen, um dir das zu sagen. Ich habe mir das nicht spontan ausgedacht. Eine Reise wird unsere Probleme nicht lösen.« Sie schniefte und wischte ihre Nase mit dem Handrücken ab. »Ach, Scheiße«, sagte sie. »Schau mich an. Ich wollte das alles nicht.« Sie nahm erneut seine Hand und hielt sie fest. Diesmal riss er sie nicht weg. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Das eisige Gefühl kehrte zurück und schien jetzt in seine Knochen und Eingeweide zu kriechen.

  »Ich werde für eine Weile weggehen«, erklärte Sandra. »Das ist die einzige Möglichkeit. Die einzige Möglichkeit, damit wir beide Zeit zum Nachdenken haben.«

  »Wo willst du hin?«

  »Zu meinen Eltern. Mamas Arthritis macht ihr wieder zu schaffen, und sie würde sich freuen, wenn sie etwas Hilfe im Haus hat. Aber das ist nicht der Grund. Wir brauchen Abstand voneinander, Alan. Zeit, um zu entscheiden, ob es noch etwas gibt, das sich zu retten lohnt oder nicht.«

  »Du denkst also nur an eine zeitweilige Trennung?«

  »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall ein paar Wochen. Ich weiß nur, dass ich weg muss. Weg von dem Haus, weg von Eastvale, weg von dir.«

  »Was ist mit dem Gemeindezentrum, mit deiner Arbeit?«

  »Die kann Jane so lange übernehmen, bis ich weiß, was ich mache.«

  »Dann kann es sein, dass du nicht zurückkommst?«

  »Alan, ich habe dir gesagt, dass ich es nicht weiß. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mach es mir nicht noch schwerer. Ich bin am Ende mit meiner Weisheit. Für mich ist es das einzig Vernünftige, wenn ich weggehe. Dann ... nach einer Weile ... können wir darüber reden. Und entscheiden, was wir als Nächstes tun.«

  »Weshalb können wir nicht jetzt reden?«

  »Weil hier alles zu eng ist. Deshalb. Es drängt alles auf mich ein. Bitte glaube mir, ich möchte dir nicht wehtun. Ich habe Angst. Aber wir müssen so handeln. Das ist die einzige Chance, die wir haben. So können wir nicht weitermachen. Verdammt, wir sind beide noch jung. Zu jung, um uns mit einem faulen Kompromiss zufrieden zu geben.«

  Banks nippte an seinem Laphroaig, aber der konnte die eisige Hand nicht wärmen, die jetzt über seinen Rücken kroch. »Wann willst du gehen?«, fragte er mit eigenartig flacher Stimme.

  Sandra wich seinem Blick aus. »So bald wie möglich. Morgen.«

  Banks seufzte. In der Stille hörte er die Klappe des Briefkastens auf- und zugehen. Merkwürdig, um diese Zeit. Aber es war eine gute Entschuldigung, um für einen Augenblick das Zimmer zu verlassen, bevor er selbst anfing zu heulen oder Dinge sagte, die er später bereuen würde. Also ging er nachschauen, was es war. Auf der Fußmatte lag ein Umschlag, auf dessen Vorderseite sein Name getippt war. Er machte die Tür auf, doch es war still draußen auf der Straße, niemand war zu sehen.

  Er öffnete den Umschlag. Er enthielt ein Flugticket vom Flughafen Leeds and Bradford nach Amsterdam Schiphol für den nächsten Vormittag, eine Reservierung für ein Hotel in der Keizersgracht sowie ein einzelnes Blatt Papier, auf dem folgende Worte getippt waren: »JASON FOX: PSSST.«