* DREI

 

* I

 

Die Seitenwinde auf der A1 südlich von Aberford fegten Banks fast von der Straße. Als es ihm schließlich gelang, zwischen den beiden Schwerlastern auszuscheren, die ihn eingekeilt hatten, und die Ausfahrt Wakefield Road zu nehmen, war er erleichtert.

  Es war erneut einer dieser wechselhaften Tage mit orkanartigen Böen, die eine Reihe Gewitter aus dem Westen mit sich brachten. Doch zwischen den Regengüssen heiterte sich der Himmel zuweilen auf, und nahe der Ausfahrt nach Ripon hatte Banks sogar einen doppelten Regenbogen gesehen.

  Obwohl auf der Wakefield Road viel Verkehr herrschte, konnte sich Banks nach der Tortur auf der A1 ein wenig entspannen. Er hatte eine Kassette von Clifford Brown gehört, dessen Trompetenklänge ihm zum Wetter zu passen schienen, aber er hatte sich so auf die Straße konzentrieren müssen, dass er kaum zuhören konnte. Für diese Fahrt, auf der ihm die schweren Lastwagen unaufhörlich schmutzigen Regen auf seine Windschutzscheibe gespritzt hatten, wäre »Der Ritt der Walküren« angemessener gewesen. Doch jetzt war »Gertrude's Bounce« eine schöne Begleitung für den Wind, der das Laub von den entfernten Bäumen blies.

  Es war Montagmorgen, und Banks war auf dem Weg nach Leeds, um mit Jason Fox' Arbeitgeber zu sprechen. George Mahmood und seine Freunde befanden sich im Eastvaler Revier in Haft, wo sie noch für weitere sechs oder sieben Stunden festgehalten werden konnten. Alle drei fühlten sich diskriminiert und weigerten sich, etwas zu sagen.

  Obwohl sie Banks Leid taten, besonders George, irritierte ihn ihre Haltung. Und wenn jemand Mitgefühl verdiente, dann Jason Fox, erinnerte er sich, nicht die feigen Kerle, die ihn zu Tode getreten hatten. Wenn sie es getan hatten. Banks konnte sich George Mahmood nicht als Mörder vorstellen; andererseits musste er zugeben, voreingenommen zu sein. Und George hatte sich verändert. Trotzdem, ehe kein Augenzeuge oder forensischer Beweis das Pendel in die eine oder andere Richtung schlug, wollte er sich nicht festlegen. In der Zwischenzeit musste er mehr über Jason Fox' Leben in Erfahrung bringen, angefangen mit seinem Arbeitsplatz und seinem Wohnort. Er hätte in der Fabrik anrufen können, doch er wollte persönlich mit jemandem sprechen, der etwas über Jason wusste.

  Banks erreichte das Industriegebiet im Südosten von Leeds. Er stellte Clifford Brown leiser und konzentrierte sich auf die Ampeln und Wegweiser, als er Richtung Stourton fuhr.

  Direkt an der Pontefract Road entdeckte er die lange, eingezäunte Auffahrt, die zu der Plastikfabrik führte, in der Jason gearbeitet hatte. Am Horizont vor ihm erstreckte sich ein Gewirr aus Fabrikgebäuden und Lagerhäusern. Eine Reihe Kühltürme eines Kraftwerkes, deren Sanduhrform Banks immer an alte Korsettreklamen erinnerte, spuckten einen grauen Rauch in die bereits graue Luft. Zwischen den Fabriken und dem Kraftwerk floss der Aire, der seine Ladung Industrieabwasser in die Humbermündung und die Nordsee weiterleitete.

  Banks wies sich beim Pförtner am Tor aus und fragte, wo er die Personalabteilung finden könnte. »Human Resources«, berichtigte ihn der Pförtner und zeigte den Weg. »Dort drüben.«

  Er hätte es wissen müssen. Vor ein paar Jahren hatte man noch Personalabteilung gesagt, doch jetzt gab es selbst bei der Polizei von North Yorkshire eine Abteilung für »Human Resources«. Warum der Namenswechsel? War »Personal« plötzlich eine Beleidigung für die eine oder andere Interessengruppe geworden und deshalb auf die eisige Müllhalde des politisch Inkorrekten verbannt worden?

  Ungefähr hundert Meter weiter hielt Banks vor dem dreistöckigen Bürogebäude an.

  Das Büro für Human Resources sah aus wie beinahe jedes andere Büro: unaufgeräumte Schreibtische, Computer, Aktenschränke und ständig klingelnde Telefone. Als Banks eintrat, schaute eine dunkelhaarige junge Frau auf und lächelte ihn an.

  »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

  »Das hoffe ich.« Banks zeigte ihr seinen Dienstausweis.

  Wenn sie überrascht war, dann ließ sie es sich nicht anmerken. »Worum geht es?«, fragte sie. »Mein Name ist übrigens Mary. Mary Mason.«

  »Ich bin wegen einem Ihrer Angestellten gekommen. Ein junger Mann namens Jason Fox. Wenn es geht, würde ich gerne mit seinem Chef und seinen Kollegen sprechen.«

  Mary Mason runzelte die Stirn. »Der Name sagt mir nichts. Aber wir haben eine Menge Mitarbeiter und ich bin noch ziemlich neu hier.« Sie lächelte. »Wissen Sie, in welcher Abteilung er arbeitet?«

  So genau waren die Angaben der Foxes nicht gewesen, erinnerte sich Banks. Er wusste nur, dass Jason in einem Büro arbeitete.

  »Na gut«, sagte Mary, »damit können wir den Ladenbereich immerhin schon mal ausschließen. Einen Augenblick.« Sie tippte in ihren Computer. Wenig später drehte sie sich vom Monitor weg. »Nein«, sagte sie, »es lag nicht nur an mir. Hier arbeitet kein Jason Fox.«

  Banks hob ungläubig die Augenbrauen. »Sind Sie sicher?«

  »Auf der Lohnliste steht er nicht.«

  »Computer können Fehler machen.«

  Mary lachte. »Das können Sie laut sagen. Meine Maus macht des Öfteren, was sie will. Bisher hat noch niemand herausgefunden, woran es liegt, aber man nennt sie schon die »verrückte Maus<. In diesem Fall kann man dem Computer jedoch glauben. Wissen Sie mit Sicherheit, dass er zum Büropersonal gehört?«

  Banks kratzte die Narbe neben seinem rechten Auge. Im Moment war er sich keiner Sache mehr sicher. »Das wurde mir gesagt. Wäre es ein großer Aufwand, alle Angestellten zu überprüfen?«

  Mary schüttelte den Kopf. »Nein. Das würde nur wenig länger dauern. Einer der Vorteile von Computern. Sie sind so schnell, dass man den Rest der Zeit seine Fingernägel lackieren kann.«

  »Sie sagen es.«

  Mary tippte auf ein paar Tasten und schob ihre Maus umher, die heute, soweit Banks das beurteilen konnte, nicht machte, was sie wollte, klickte dann ein paar Mal auf die Knöpfe und schielte auf den Monitor.

  »Nee«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »In der ganzen Firma gibt es keinen Jason Fox. Hat er vielleicht für eine andere Filiale gearbeitet?«

  »Es gibt noch andere Filialen?«

  »Ja, in Rochdale, Coventry und Middlesbrough.«

  »Nein. Seine Eltern haben ausdrücklich gesagt, dass er in Leeds wohnte und arbeitete. Hören Sie, gibt es vielleicht alte Personalakten, die Sie überprüfen könnten, nur um sicherzugehen?« Wahrscheinlich war es zwecklos, aber da er schon einmal hier war, wollte er nichts unversucht lassen.

  »Ich kann in den Akten der letzten Jahre nachschauen, wenn Sie noch etwas Geduld haben.«

  Banks lächelte. »Bitte, wenn Sie das tun würden. Ich habe eine Menge Geduld.«

  Mary widmete sich wieder ihrem Computer. Banks ertappte sich dabei, beim Warten mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen. Er hatte Lust auf eine Zigarette. Unmöglich hier drinnen, man musste nur die Luft schnuppern.

  Schließlich pfiff Mary mit zerfurchter Stirn durch die Zähne. »Also, hat der Mensch Töne ...«

  »Sie haben ihn gefunden?«

  »Tatsächlich.«

  »Und?«

  »Jason Fox. Zwei kann es nicht geben, nehme ich an?«

  »Das bezweifle ich.«

  »Gut, laut unserer Personalakten hat er die Firma vor zwei Jahren verlassen, nachdem er nur ein Jahr für uns gearbeitet hatte.«

  Jetzt legte sich Banks' Stirn in Falten. »Er hat die Firma verlassen? Verstehe ich nicht. Warum?«

  Mary starrte auf den Monitor und presste nachdenklich ihre Lippen zusammen, dann sah sie Banks mit ihren warmen, dunklen Augen an und lächelte. »Schauen Sie«, sagte sie, »mir ist bewusst, dass Sie Polizeibeamter sind und sogar ein ziemlich hochrangiger. Mir ist auch bewusst, dass diese Sache wichtig sein könnte, obwohl Sie mir nichts verraten haben. Aber Personalakten unterliegen dem Datenschutz. Leider darf ich nicht einfach so jedem Menschen alle Informationen aushändigen, selbst wenn er einen Dienstausweis hat. Ich bin mir sicher, Sie kriegen eine gerichtliche Erlaubnis, wenn Sie es wirklich wissen wollen. Tut mir Leid. Ich darf Ihnen nichts sagen, selbst wenn ich wollte.«

  »Verstehe«, sagte Banks. »Können Sie mir überhaupt etwas über seine Zeit hier erzählen, über seine Freunde?«

  Sie schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, das war, bevor ich hier anfing. Ich habe nie von ihm gehört.« Sie drehte sich zu den anderen im Büro um. »Kann sich jemand an einen Jason Fox erinnern, der mal hier gearbeitet hat?«

  Als Antwort erhielt sie nur leere Blicke und Kopfschütteln. Außer von einer Frau. »Der Name kommt mir bekannt vor«, erklärte sie.

  »Du denkst doch an Jason Donovan«, sagte jemand anderes, und alle lachten.

  »Können Sie mir wenigstens sagen, in welcher Abteilung er gearbeitet hat?«, fragte Banks.

  »Das kann ich«, sagte Mary. »Er war im Verkauf. Inland. Sie finden die Abteilung in dem alten Bürogebäude, gleich über den Hof. Und«, fügte sie lächelnd hinzu, »Sie werden dort bestimmt ein paar Leute finden, die noch mit ihm zusammengearbeitet haben. Fragen Sie zuerst nach David Wayne. Er ist jetzt einer der regionalen Verkaufsleiter.«

  »Einen Augenblick«, ließ sich eine Stimme aus dem Hintergrund vernehmen. »Jason Fox, sagten Sie? Jetzt erinnere ich mich. Es liegt schon ein paar Jahre zurück. Ich habe damals gerade erst in der Firma angefangen. Es gab Ärger, eine Art Skandal. Irgendetwas wurde vertuscht.«

 

* II

 

Das Geräusch des anhaltenden Wagens weckte Frank aus seinem Nachmittagsschläfchen. Langsam versuchte er, das Bewusstsein wiederzuerlangen, was jedes Mal länger zu dauern schien, so als würde sich das Bewusstsein selbst allmählich immer weiter von ihm entfernen. Dann ging er hinüber zum Fenster. Da waren sie, alle drei, und kämpften sich gegen den Wind den Pfad hinauf. Er hatte erwartet, dass sie irgendwann kommen würden; Josie hatte bereits angerufen und ihm erzählt, was mit Jason geschehen war.

  Auf ihr Klopfen hin öffnete er die Tür, ließ sie herein und sagte ihnen, sie sollten es sich bequem machen, während er in die Küche ging, um den Kessel aufzusetzen. Der gute, alte englische Brauch, erst einmal eine schöne Tasse Tee zu trinken, hatte den Menschen schon häufig geholfen, viele peinliche Momente zu umgehen, dachte er. Nicht dass ihnen peinlich sein sollte, was geschehen war, das nicht, aber insbesondere den Leuten aus Yorkshire fehlten häufig die Worte, wenn intensive Gefühle ins Spiel kamen.

  Josie umarmte ihn stumm, als er von der Küche zurückkam, und nahm dann Platz. Irgendwie passte die Trauer zu ihr, dachte er, in seinen Augen hatte sie immer ein bisschen verhärmt ausgesehen. Mit diesem Make-up, den sichtbaren Haarwurzeln und diesen figurbetonten Sachen, die sie trug, hatte sie in letzter Zeit zudem begonnen, auf jung zu machen. Und das in ihrem Alter. Ihre Mutter würde sich für sie geschämt haben.

  Steven sah farblos aus wie immer. Josie hätte jemanden mit etwas mehr Courage auswählen sollen, dachte er wie so manches Mal.

  Dann war da Maureen. Die gutmütige, strebsame, hart arbeitende, vernünftige Maureen. Für ihn die Beste des ganzen Haufens. Außerdem war sie ein richtig prächtiges Mädel, die mit ihren strahlenden Augen und ihrem Lächeln und ihrem blonden, bis zur Hüfte fallenden Haar bald ein paar Herzen brechen würde. Na ja, jetzt nicht mehr. Aber so hatte er sie im Gedächtnis. Gleich nachdem sie mit der Schwesternschule begonnen hatte, hatte sie sich ihr Haar kurz schneiden lassen. Was wirklich ein Jammer war, dachte er.

  »Wann ist die Beerdigung?«, fragte er.

  »Am Donnerstag«, antwortete Josie. » Oh, du hättest sehen sollen, was sie ihm angetan haben, Dad.« Sie schniefte. »Unser armer Jason.«

  Frank nickte. »Lass gut sein, Mädel. Hat die Polizei schon was rausgefunden?«

  »Selbst wenn«, schniefte Josie, »uns erzählen sie doch nichts.«

  Das Wasser im Kessel kochte. Frank wollte sich erheben, doch Maureen sprang auf. »Ich hole ihn, Opa. Bleib sitzen.«

  »Danke, Mädel«, sagte er und sank zurück in seinen Sessel. »Was haben sie euch denn erzählt?«

  »Sie haben ein paar Jungens verhaftet«, sagte Josie. »Pakistanis.« Sie schniefte. »Die Polizei glaubt, dass es als Streit in einem Pub begonnen haben könnte und dass diese Jungens unserem Jason gefolgt sind oder in der Gasse auf ihn gewartet und ihn dann verprügelt haben. Die Polizei meint, dass sie ihn wahrscheinlich nicht töten wollten.«

  »Und was glaubt ihr?«, fragte Frank,

  Maureen kam mit der Teekanne zurück und hob angesichts der Frage die Augenbrauen. »Wir hatten wirklich noch keine Zeit, darüber nachzudenken, Opa«, sagte sie. »Aber ich bin mir sicher, dass die Polizei weiß, was sie tut.«

  »Mmm.«

  »Was ist?«, wollte Steven Fox wissen, der zum ersten Mal etwas sagte. »Glaubst du nicht, dass sie gute Arbeit leisten?«

  »Kann ich nicht beurteilen«, antwortete Frank.

  »Was ist dann?«, wiederholte Josie Fox die Frage ihres Mannes. Maureen begann, Milch und Tee in die Becher zu gießen und Zucker hineinzulöffeln.

  »Nichts«, sagte Frank. Er griff nach dem gefalteten, zerknitterten Blatt in seiner Hemdtasche und zog es hervor.

  »Was ist das, Opa?«, fragte Maureen.

  »Das habe ich mit der Post bekommen.«

  Maureen runzelte die Stirn. »Aber was ... ich ...«

  »Ach, verdammt noch mal«, donnerte Frank los, der die Geduld mit ihnen verloren hatte. »Wisst ihr nicht, was passiert ist? Wisst ihr denn gar nichts? Habt ihr einfach alle weggeschaut?« Er wandte sich an Mau-reen. »Was ist mit dir?«, blaffte er. »Von dir hätte ich mehr erwartet.«

  Maureen begann zu weinen. Frank spürte den vertrauten Schmerz, fast schon wie einen alten Freund, der seine Brust zusammenschnürte. Mit zitternder Hand warf er das Blatt in Josies Richtung. »Na los«, sagte er. »Lies das.«

 

* III

 

Banks überquerte den Fabrikhof und wich den Pfützen aus, auf denen sich ölige Regenbögen abzeichneten. Vor den langen, einstöckigen Gebäuden mit den verrosteten Wellblechdächern waren Kisten und alte Maschinenteile aufgestapelt. Aus den Gebäuden drang lauter Maschinenlärm. Mit Paletten beladene Gabelstapler rollten kreuz und quer über den unebenen Hof. Es roch nach Dieselöl und verbranntem Plastik.

  Schnell fand er das alte Bürogebäude, das früher, bevor die Firma expandierte, wahrscheinlich angemessen gewesen war. Es gab keinen Pförtner, sondern lediglich ein Großraumbüro mit Schreibtischen, Computern, Telefonen und Angestellten. Vor den Wänden standen Aktenschränke. Am anderen Ende des Raumes gab es mehrere kleine Einzelbüros, deren Trennwände im unteren Bereich aus Holz, ab Hüfthohe aber aus Glas bestanden.

  Mit ein paar Ordnern unter dem Arm eilte eine Frau an Banks vorbei zur Tür. Als er sie fragte, ob David Wayne anwesend wäre, nickte sie und zeigte auf das mittlere Büro. Banks ging durch die Reihen der Schreibtische hindurch, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen, und klopfte dann auf die Tür, an der das Namensschild DAVID C. WAYNE angebracht war.

  Der Mann, der ihn hereinbat, war jünger, als Banks erwartet hatte: Ende zwanzig, höchstens Anfang dreißig. Er trug ein weißes Hemd mit einer knallbunten Krawatte, über seinen Kragen fiel welliges braunes Haar. Er hatte eine hohe Stirn mit kleinen, glänzenden Dellen an beiden Seiten, was den Eindruck machte, sein Haaransatz würde vorzeitig zurückgehen, und er roch nach Old Spiee. Über der Lehne seines Stuhls hing ein dunkles Sportjackett.

  Als er Banks' Dienstausweis betrachtete, runzelte er die Stirn, dann deutete er auf den Besucherstuhl. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

  Banks setzte sich. »Ich stelle Nachforschungen über Jason Fox an«, sagte er. »Meiner Kenntnis nach hat er einmal hier gearbeitet.«

  Waynes Stirnfalten wurden tiefer. »Das ist schon eine Weile her.«

  »Aber Sie erinnern sich an ihn?«

  »O ja. Ich erinnere mich sehr gut an Jason.« Wayne lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte seine Füße auf den Schreibtisch. Das Telefon klingelte, aber er beachtete es nicht. Durch die dünne Trennwand konnte Banks im Hintergrund den Lärm des Großraumbüros hören. »Warum wollen Sie das wissen?«, fragte Wayne.

  Eigentlich hasste es Banks, Informationen weiterzugeben, aber in diesem Fall würde es nicht schaden, dachte er, und es könnte Wayne dazu bringen, sich schneller zu öffnen. Er konnte bereits spüren, dass etwas nicht ganz stimmte, und die Frau in der Abteilung für Human Resources hatte von einer Art Vertuschung gesprochen. Also erzählte er Wayne, dass Jason tot aufgefunden worden war und dass seine Eltern gesagt hatten, er würde für diese Firma arbeiten.

  »Nach all der Zeit.« Wayne schüttelte langsam den Kopf. »Unglaublich.«

  »Warum hat er gekündigt?«

  »Er hat nicht gekündigt. Nicht wirklich.«

  »Wurde er gefeuert?«

  »Nein.«

  »Wegrationalisiert?«

  »Nein.«

  Banks seufzte und rutschte auf seinem Stuhl umher. »Hören Sie, Mr. Wayne«, sagte er. »Ich bin nicht hergekommen, um Ratespielchen zu machen. Ich bin gekommen, um Informationen zu erhalten, die für eine wichtige polizeiliche Ermittlung von Bedeutung sein können.«

  »Entschuldigen Sie«, sagte Wayne und kratzte sich am Kopf. »Das ist alles noch ein bisschen peinlich, verstehen Sie.«

  »Peinlich? Inwiefern?«

  »Ich war damals noch nicht Verkaufsleiter. Ich war lediglich einer von Jasons Kollegen. Ich hatte allerdings mehr Erfahrung als er. Im Grunde war ich derjenige, der ihn ausgebildet hat.«

  »War er ein schlechter Arbeiter?«

  »Ganz im Gegenteil. Er hat seinen Job sehr gut gemacht. Er war intelligent, einsatzbereit und hat schnell gelernt. Zeigte eine außerordentliche Begabung für Computer, wenn man bedenkt, dass er auf diesem Gebiet keine formale Ausbildung hatte. Doch das kommt häufiger vor.«

  »Was hat dann ...«

  »Die Arbeit ist nicht alles, Chief Inspector«, fuhr Wayne rasch fort. »Sie ist natürlich wichtig, das muss ich zugeben. Wenn jemand so gut ist, wie Jason es war, kann man sich mit einer Menge Eigenarten abfinden. Hier sind schon einige schwierige Typen durchgegangen, aber wenn es kompetente, hart arbeitende Leute sind, findet man sich im Großen und Ganzen mit ihnen ab.«

  »Aber bei Jason war das anders?«

  »Ja.«

  »Inwiefern?«

  »Es war seine Einstellung«, erklärte Wayne. »Seine politische Einstellung.«

  »Und die war?«

  »Kurz gesagt, Jason war ein Rassist. Die Überlegenheit der weißen Rasse und so weiter. Und es brauchte nicht viel, um ihn auf sein Steckenpferd zu bringen. Es reichte schon irgendein Artikel in der Zeitung, irgendeine neue Meinungsumfrage oder Verbrechensstatistik.«

  »Was genau hat er gesagt?«

  »Nun, Asiaten und Kariben waren seine Hauptziele. Jason war der Meinung, dass die Immigranten, wenn nicht bald etwas getan wird, das Land übernehmen und zu Grunde richten würden. Die Folge wäre Anarchie. Chaos. Das Gesetz des Urwaldes. Er sagte, man müsse sich nur umschauen, um zu sehen, welchen Schaden sie bereits angerichtet hätten. Aids, Drogen, Arbeitslosigkeit. Das alles führte er auf die Immigranten zurück.«

  Wayne schüttelte wieder den Kopf. »Manche Dinge, die er von sich gegeben hat, waren widerlich, richtig krank.«

  »Hat er deswegen gekündigt?«

  Wayne nickte. »Aber wie gesagt, er hat nicht wirklich gekündigt. Es war eher eine Trennung im gegenseitigen Einvernehmen, wenn sie auch von unserer Seite mehr gewünscht war als von seiner. Die Firma hat ihm eine anständige Abfindung gezahlt, um ihn loszuwerden. Und sein Zeugnis fiel makellos aus. Ich nehme an, dass, wer auch immer ihn danach eingestellt hat, ziemlich schnell herausgefunden hat, wie der Kerl tickt. Ich meine, von mir aus kann man ab und zu mal einen Ausländerwitz machen. Das tun wir doch alle, oder? Aber Jason war es ernst. Was diese Dinge anging, hatte er keinerlei Humor. Nur Hass. Einen spürbaren Hass. Wenn er sprach, merkte man, wie es in ihm brodelte. Man sah es in seinen Augen.« Wayne schüttelte sich.

  »Wissen Sie, woher er das hatte?«

  »Keine Ahnung. Woher kriegen Leute solche Flausen? Sind sie so geboren worden? Müssen wir den Eltern die Schuld geben? Den Schulkameraden? Der Wirtschaftsrezession? Der Gesellschaft?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich allem ein bisschen. Aber ich weiß, dass es in Jason immer ganz knapp unter der Oberfläche war, wenn es nicht gerade ausbrach. Und wir haben natürlich eine ganze Reihe von asiatischen und karibischen Mitarbeitern.«

  »Hat er mal jemanden direkt und persönlich beleidigt?«

  Wayne rieb seine Stirn und schaute weg von Banks, hinaus auf die geschäftige Betriebsamkeit hinter seinem Fenster. »Meistens hat er ihnen nur ein unbehagliches Gefühl vermittelt«, sagte er. »Aber einmal ist er zu weit gegangen. Bei einer unserer Sekretärinnen. Milly. Nette Frau. Aus Barbados. Jason hat sie normalerweise auf Abstand gehalten. Wie auch immer, sie wurde schwanger, und als man es sehen konnte, hat Jason - so sagte sie - ein paar Bemerkungen darüber gemacht, dass ihresgleichen nichts anderes könne, als Bälger in die Welt zu setzen, und dass es schon viel zu viele von ihnen geben würde. Milly war bestürzt, verständlicherweise, und sie drohte damit, ihn bei der Behörde für Rassenbeziehungen zu melden. Tja, das wollten die Direktoren vermeiden ... Verstehen Sie ... das ganze Unternehmen unter der Lupe, Rassismus am Arbeitsplatz und so weiter ... Und deshalb haben sie Jason gebeten zu kündigen.«

  »Sie boten ihm Geld?«

  »Eine faire Regelung. Er bekam genau die Summe, die ihm zugestanden hätte, wenn man ihn aus Rationalisierungsgründen hätte entlassen müssen.«

  »Und er ging ohne Aufhebens?«

  Wayne nickte.

  »Könnte ich mit Milly sprechen?«

  »Sie arbeitet nicht mehr in der Firma.«

  »Haben Sie ihre Adresse?«

  »Ich nehme an, ich kann sie Ihnen geben. Eigentlich dürfte ich das nicht, aber unter diesen Umständen ...« Er stand auf, zog eine Akte aus einem der Schränke vor der Wand und nannte Banks die Adresse. Dann setzte er sich wieder hin.

  »Wissen Sie, wohin Jason nach der Kündigung gegangen ist?«, fragte Banks.

  Wayne schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Er hat sich nie wieder gemeldet, und ich kann nicht gerade behaupten, dass ich erpicht darauf war, ihn ausfindig zu machen.«

  »Nachdem er hier weg war, ist er also aus Ihrem Leben verschwunden?«

  »Genau.«

  »Hatte er Freunde unter den Kollegen?«

  »Eigentlich nicht. Ich stand ihm auch nicht besonders nahe. Er war im Grunde ein Einzelgänger. Über seine sonstigen Interessen hat er nicht gesprochen, Familie, Freundin und so weiter. Er hatte keinen Sinn für die üblichen Bürogespräche. Außer wenn es um Fußball ging. Er redete liebend gern über Fußball. Montags sprach er immer so lange über die Spiele vom Wochenende, dass man ihn manchmal kaum zum Arbeiten bringen konnte.«

  »Dann haben ihm die Leute zugehört? Die gleichen Leute, die von seinem Rassismus angewidert waren?«

  Wayne breitete seine Arme aus. »Was soll ich sagen? Es gibt nichts Besseres als die Begeisterung für Sport, um eine Person menschlicher erscheinen zu lassen. Und bei unseren Sportidolen lassen wir ja auch eine Menge durchgehen, oder? Ich meine, schauen Sie sich Gazza an. Der Kerl verprügelt seine Frau und ist trotzdem ein Nationalheld.«

  »Hatte er Feinde?«

  Wayne hob die Augenbrauen. »Wahrscheinlich alle Immigranten im Land. Auf jeden Fall diejenigen, die wussten, welche Ansichten er hatte.«

  »Jemand Bestimmten?«

  »Mir fällt niemand ein.«

  »Wie war er als Mensch? Wie würden Sie ihn beschreiben?«

  Wayne legte einen Stift vor seine Lippen und dachte einen Augenblick nach. »Jason war einer dieser Menschen«, sagte er dann, »die einem mit ihrer Intensität Angst einjagen können. Ich meine, meistens war er zurückgezogen, ruhig, in seiner eigenen Welt. Auf den ersten Blick schien er ziemlich schüchtern zu sein, aber wenn er aus sich herausging, ob er nun über ein Fußballspiel redete oder irgendeinen politischen Artikel in der Zeitung kommentierte, dann wurde er sehr leidenschaftlich, sehr hitzig. Er hatte Charisma. Man konnte ihn sich als Redner vorstellen, als einen, der die Massen bewegt.«

  »Also ein angehender Hitler? Interessant.« Banks schloss sein Notizbuch und stand auf. Ihm fielen keine Fragen mehr ein. »Danke für Ihre Auskünfte«, sagte er und streckte seine Hand aus. »Vielleicht muss ich wegen dieser Sache noch einmal mit Ihnen sprechen.«

  Wayne schüttelte seine Hand und nickte. »Zu Ihren Diensten.«

  Und dann ging Banks durch das geschäftige Großraumbüro, zurück auf den trostlosen Fabrikhof und zu dem Ölgeruch, dem Maschinenlärm, den überfüllten Containern und den Regenbögen auf den Pfützen. Kaum war er in seinen Wagen gestiegen, klingelte sein Handy.

 

* IV

 

»Nein, Gavin, heute Abend kann ich wirklich nicht mit dir ausgehen. Wir haben eine Menge zu tun.«

  »Der Wunderknabe lässt dich also Überstunden machen?«

  »Bitte rede nicht so über ihn.«

  Susan hörte Gavin durch die Leitung leise in sich hinein lachen. »Wen hat er denn diesmal eingelocht? Einen Parlamentsabgeordneten? Irgendein hohes Tier?« Er lachte erneut.

  Susan spürte, dass sie rot wurde. »Das ist überhaupt nicht komisch.« Sie hasste es, wenn Gavin sich über Banks lustig machte.

  »Wie steht's mit Samstag? Wir könnten ...«

  »Vielleicht«, unterbrach Susan ihn. »Vielleicht Samstag. Mal sehen. Ich muss mich jetzt an die Arbeit machen, Gavin.«

  »Okay. Dann bis Samstag.«

  »Ich habe vielleicht gesagt. Einen Augenblick ... was ist denn da los?« Susan hörte Schreie und Geräusche eines Handgemenges, und es schien aus dem Erdgeschoss zu kommen. »Ich muss los, Gavin«, sagte sie. »Ich rufe dich zurück.«

  »Susan, was ist...«

  Susan legte den Hörer auf, ging hinaus und trat an die Treppe. Unten herrschte totales Chaos. Sämtliche Asiaten Eastvales - es waren neun oder zehn - versuchten sich durch die Eingangstür zu drängeln: George Mahmoods Eltern, Ibrahim Nazur, der Besitzer des Himalaya und eine Handvoll Studenten vom Eastvaler College. Eine Reihe uniformierter Beamter hielt sie zurück, doch sie forderten, mit den Ermittlern zu sprechen, und Susan war im Moment die einzige Beamtin der Kriminalabteilung im Revier.

  »Würden Sie bitte nicht alle auf einmal reden!«, rief Susan, die die Treppe halb hinabgegangen war.

  »Was haben Sie mit unseren Kindern vor?«, wollte ein wütender Charles Mahmood wissen. »Sie können sie nicht einfach so ohne Grund einsperren. Das ist purer Rassismus. Wir sind britische Staatsbürger, denken Sie daran.«

  »Bitte glauben Sie mir, Mr. Mahmood«, sagte Susan und stieg die Treppe weiter hinab. »Wir behalten sie nur so lange hier, bis wir ...«

  »Nein!«, schrie Ibrahim Nazur. »Das ist ungerecht. Es gibt ein Gesetz für die Weißen und ein anderes Gesetz für uns.«

  Damit löste er einen Chor der Zustimmung aus und die Gruppe drängte weiter nach vorn.

  Plötzlich ging die Eingangstür auf und eine laute Stimme blaffte: »Was geht denn hier vor, in Gottes Namen?« Die Stimme besaß genug Autorität, um die Menge zum Schweigen zu bringen. Dann sah Susan den glänzenden, kahlen Kopf von Chief Constable Jeremiah »Jimmy« Riddle und zum ersten Mal in ihrem Leben war sie dankbar für seinen Anblick.

  »Sergeant Rowe«, hörte sie Riddle sagen, »würden Sie bitte dafür sorgen, dass Ihre Beamten diese Leute aus dem Polizeirevier entfernen? Sagen Sie ihnen, wenn sie so nett wären, draußen zu warten, werden wir in wenigen Minuten ein paar Neuigkeiten für sie haben.« Dann schritt Riddle durch die schweigende Menge, die sich vor ihm teilte wie das Rote Meer vor Moses.

  »Ja, Sir«, brummte Sergeant Rowe hinter ihm. Dann befahl er drei Constables, die Gruppe hinaus auf die Straße zu geleiten. Die Leute gingen ohne Protest.

  »Schon besser«, sagte Riddle, als er sich Susan näherte. »Detective Constable Gay, nicht wahr?«

  »Ja, Sir.«

  »Wo ist Detective Chief Inspector Banks?«

  »In Leeds, Sir. Er stellt Nachforschungen an.«

  »>Er stellt Nachforschungen an<, ja? Ich glaube eher, er macht Einkäufe. In Leeds ist doch sein geliebter Klassikplattenladen. Ist sonst jemand hier?«

  »Nein, Sir. Nur ich.«

  Riddle deutete mit seinem Kopf nach oben. »Nun gut. Gehen wir.«

  Susan drehte sich um und begann die Treppe hochzugehen, wobei sie sich fühlte wie ein Delinquent auf dem Weg zu seiner Verurteilung.

  Es konnte wirklich kaum einen schlechteren Zeitpunkt geben, um Jimmy Riddle zu verärgern.

  Vor mittlerweile fast einem Jahr hatte Susan den ersten Teil des Sergeantexamens bestanden, die schriftliche Prüfung. Aber die Beförderung bei der Polizei war ein langwieriger Prozess. Die nächste Stufe war die mündliche Prüfung, die von einem stellvertretenden Chief Constable und einem Chief Superintendent des Bezirkspräsidiums abgenommen wurde.

  Das war nun sechs Monate her, doch Susan bekam immer noch Schweißausbrüche, wenn sie sich an den Tag der Prüfung erinnerte.

  Wochenlang hatte sie Bücher über Polizeipraktiken, nationale Richtlinien und Chancengleichheit gelesen, doch nichts davon hatte sie auf das vorbereitet, was hinter der Tür auf sie wartete. Natürlich hatte man sie eine gute halbe Stunde auf dem Flur warten lassen, um sie zusätzlich nervös zu machen, bevor der Chief Superintendent herausgekommen war, ihre Hand geschüttelt und sie hereingebeten hatte. Und sie hätte schwören können, dass er dabei gegrinst hatte.

  Zuerst hatten sie ihr ein paar persönliche Fragen gestellt, um sich ein allgemeines Bild von ihrer Haltung, ihrem Selbstvertrauen und ihrem Ausdrucksvermögen zu machen. Ihrer Meinung nach hatte sie klare Antworten gegeben, ohne sich zu verhaspeln oder zu stottern. Unruhig geworden war sie erst, als sie gefragt wurde, was ihre Eltern von ihrer Berufswahl hielten. Sie war sich sicher, rot geworden zu sein, doch ehe sie durch Erklärungsversuche ins Schwimmen geraten konnte, hatte sie einfach einen Moment innegehalten, um sich zu sammeln, und gesagt: »Sie heißen sie nicht gut, Sir.«

  Als Nächstes kamen die Fallbeispiele. Und dabei entwickelten ihre Prüfer ausgesucht komplizierte Fälle, deren Umstände sie spontan veränderten. Im Grunde taten sie alles, was sie konnten, um Susan zu verwirren oder dazu zu bringen, ihre Meinung zu ändern.

  »Einer der Männer in Ihrer Schicht erscheint morgens regelmäßig zu spät«, begann der stellvertretende Chief Constable, »was eine Belastung für seine Kollegen darstellt. Wie verhalten Sie sich?«

  »Ich suche ein persönliches Gespräch mit ihm, Sir, und frage ihn, warum er zu spät kommt.«

  Der stellvertretende Chief Constable nickte. »Seine Mutter liegt im Sterben und benötigt eine kostenintensive Pflege. Mit seinem Beamtengehalt allein kann er sich diese Aufwendungen nicht leisten; deshalb spielt er bis spät in der Nacht in einer Jazzband, um etwas dazuzuverdienen.«

  »Dann würde ich ihm sagen, dass er eine Erlaubnis benötigt, um außerhalb seiner Dienstzeiten zu arbeiten, und rate ihm, sich auf der Suche nach Hilfe und Unterstützung an unsere Sozialabteilung zu wenden, Sir.«

  »Er bedankt sich für Ihren Rat, spielt jedoch weiter in der Band und kommt auch künftig zu spät.«

  »Dann würde ich ein Disziplinarverfahren für angemessen halten, Sir.«

  Der stellvertretende Chief Constable hob seine Augenbrauen. »Wirklich? Aber seine Mutter stirbt an Krebs. Er braucht ein zusätzliches Einkommen. Und sein Nebenjob ist doch ein vernünftiger Weg, oder? Schließlich nimmt er ja weder Bestechungsgelder an noch verwickelt er sich in andere Straftaten.«

  Susan gab nicht nach. »Er verursacht seinen Kollegen Probleme, Sir, und er missachtet die Vorschriften. Wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, halte ich ein Disziplinarverfahren für unumgänglich.«

  Und sie hatte bestanden. Für ihre offizielle Beförderung musste sie in der nächsten Woche vor dem Polizeichef erscheinen. Und das war natürlich Chief Constable Riddle.

  Doch als sie nun in das kleine Büro ging, das sie sich mit Sergeant Hatchley teilte, sagte sie sich, dass Riddle ihre Beförderung im Grunde nicht behindern konnte. Sie hatte alle Prüfungen bestanden, der nächste Schritt war eine reine Formalität. Außer sie vermasselte wirklich etwas. Dann würde er tun können, was immer er wollte. Er war schließlich der Chief Constable. Und auf jeden Fall konnte er ihr das Leben schwer machen.

  Mit Riddle schien das Büro überfüllt zu sein. Die rastlose Energie des Mannes beanspruchte Platz und verbrauchte Sauerstoff wie ein loderndes Feuer. Susan setzte sich auf ihren Stuhl und Riddle hockte sich auf die Kante von Hatchleys Schreibtisch. Er war ein großer Mann und schien sie um Längen zu überragen.

  »Wer hat die Verhaftung angeordnet?«, fragte er.

  »Die jungen Männer sind im Grunde nicht verhaftet, Sir«, antwortete Susan. »Sie sind lediglich zum Verhör in Gewahrsam genommen worden.«

  »Na schön. Wer hat angeordnet, sie in Gewahrsam zu nehmen?«

  Susan hielt einen Augenblick inne. »Ich glaube Detective Chief Inspector Banks, Sir«, sagte sie dann leise.

  »Banks. Ich wusste es.« Riddle erhob sich und begann, auf und ab zu marschieren, und als er merkte, dass der Platz dafür nicht ausreichte, setzte er sich, etwas röter geworden, wieder hin. Banks sagte immer, am Farbton seines Glatzkopfes könne man erkennen, wie wütend Riddle sei, und Susan musste ein Kichern unterdrücken, weil sie glaubte, ihn glühen zu sehen. Er sah aus wie einer dieser Ringe, welche die Stimmung anzeigten und die in ihrer Kindheit in Mode gewesen waren - nur dass sich Riddles Stimmung nie zu einem friedlichen Grün und einem ruhigen, kühlen Blau erweichen ließ.

  »Aufgrund welcher Beweislage?«, fuhr Riddle fort.

  »In dem Pub, im Jubilee, hat es vor dem Mord Ärger gegeben, Sir. Der Sohn der Mahmoods und das Opfer, Jason Fox, waren daran beteiligt. Als Detective Chief Inspector Banks George Mahmood dazu befragte, weigerte er sich zu kooperieren. Seine Freunde ebenso. Sie wollten einen Anwalt.«

  »Und haben sie einen bekommen?«

  »Nein, Sir. Auf jeden Fall nicht bis heute Morgen. Es war ja Sonntag.«

  »Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?«

  »Nein, Sir.«

  Riddle fuhr mit einer Hand über seinen Kopf. »Gut, man muss schon für das Geringste dankbar sein. Wissen Sie eigentlich, wer Ibrahim Nazur ist?«

  »Der Besitzer des Himalaya, Sir.«

  »Nicht nur das. Ihm gehört eine ganze Kette von Restaurants, in ganz Yorkshire, und das Himalaya ist nur das neueste. Außerdem ist er ein höchst respektables Mitglied der moslemischen Gemeinde und einer der wichtigsten Unterstützer dieses neuen Moscheenprojektes da unten bei Bradford.«

  »Aha«, sagte Susan.

  »Genau, >aha<. Gibt es schon Laborergebnisse?«

  »Noch nichts Endgültiges, Sir. Noch nicht.«

  »Zeugen?«

  »Keine, Sir. Bisher noch nicht. Wir suchen noch danach.«

  Riddle stand auf. »Na gut. Ich möchte, dass die drei freigelassen werden. Sofort. Haben Sie verstanden?«

  Susan stand auch auf. »Ja, Sir«, sagte sie.

  »Und sagen Sie Banks, dass ich ein Wörtchen mit ihm zu reden habe.«

  Susan nickte. »Ja, Sir.«

  Und damit strich Jimmy Riddle seine Uniform glatt und marschierte nach unten, um vor sein Publikum zu treten.

 

* V

 

Es war später Nachmittag, als Banks an die Theke des Black Bull in Lyndgarth ging und einen doppelten Bell's für Frank Hepplethwaite und ein halbes Pint Theakston's Bitter für sich bestellte.

  Laut Susan, die Banks vorher angerufen hatte, war Hepplethwaite Jasons Großvater, und er meinte, Informationen über Jason zu haben. Er bestand darauf, mit dem »verantwortlichen Beamten« zu sprechen. Banks hatte Frank angerufen und, da dieser keinen Wagen besaß, zugestimmt, ihn im Black Bull zu treffen.

  Bevor er zurück nach Swainsdale aufgebrochen war, hatte Banks die Adresse in Leeds angerufen, die ihm Jason Fox' Eltern gegeben hatten, und herausgefunden, dass Jason seit mindestens achtzehn Monaten nicht mehr dort wohnte. In der Wohnung lebte nun eine Studentin namens Jackie Kitson, die noch nie von Jason Fox gehört hatte. Damit endete die Spur.

  Der Barmann des Black Bull war ein dünner, gebeugter Kerl mit hängenden Schultern in einem von Motten zerfressenen, schlecht sitzenden Pullover. Das schmierige schwarze Haar und der Bart verdeckten den größten Teil seines Gesichts, nur die Augen nicht, deren starrer Blick an Fotos von Charles Manson erinnerten. Er servierte die Drinks ohne ein Wort und nahm dann Banks' Bestellung von einer Pastete mit Huhn und Pilzen sowie einer Old-Peculier-Casserole auf. Der Black Bull bildete eine der seltenen Ausnahmen zu der Kein-Essen-nach-zwei-Uhr-Regel, welche die meisten Pubs allmählich zugrunde richtete.

  Banks nahm die Getränke und setzte sich zu Frank an einen runden Tisch neben der Tür. An der Theke begann ein Mann dem Barkeeper eben darzulegen, wie viel gemütlicher es doch geworden sei, jetzt, wo die Touristen verschwunden waren. Er sprach mit dem schleppenden Dialekt des Südens und senkte verächtlich seine Stimme, als er »Touristen« sagte. Der Barmann, der genau wusste, dass nur das Geschäft mit den Touristen den Laden am Leben erhielt, brummte zustimmend, ohne von dem Glas aufzusehen, das er gerade abtrocknete.

  Zwei weitere Stammgäste auf Barhockern lösten ein Kreuzworträtsel und schienen überglücklich zu sein, als sie herausgefunden hatten, dass »Episcopal« ein Anagramm von »Pepsi Cola« war. Auf der linken Seite, im hinteren Bereich des Lokals, wo die Billardtische standen, stopften zwei amerikanische Paare Münzen in den Spielautomaten und wechselten gelegentlich zum gegenüber stehenden Trivial-Pursuit-Videospiel.

  »Sie kennen bestimmt Mr. Gristhorpe, junger Mann, oder?«, sagte Hepplethwaite, nachdem er Banks für den Drink gedankt hatte.

  Banks nickte. »Er ist mein Chef.«

  »Er wohnt hier in Lyndgarth. Aber ich nehme an, das wissen Sie. Kann nicht sagen, dass ich ihn besonders gut kenne. Ich bin ein ganzes Stück älter und er ist häufig weg gewesen. Aber die Gristhorpes sind eine gute Familie. Auf jeden Fall haben sie in der Gegend einen guten Ruf.« Er nickte zu sich selbst und nippte an seinem Bell's.

  Frank Hepplethwaite hatte ein mageres Gesicht voller Falten, die alle senkrecht verliefen, und schönes graues Haar. Seine Haut war blass und seine Augen flaschengrün und trübe. Er sah aus, als hätte er einmal wesentlich mehr Fleisch auf den Knochen gehabt, aber aufgrund einer Krankheit kürzlich an Gewicht verloren.

  »Jedenfalls danke«, sagte er, »dass Sie den ganzen Weg hier rausgekommen sind. Ich bin in letzter Zeit nicht mehr so ganz auf dem Posten.« Er klopfte auf seine Brust. »Angina pectoris.«

  Banks nickte. »Tut mir Leid. Kein Problem, Mr. Hepplethwaite.«

  »Sagen Sie Frank zu mir. Natürlich«, fuhr er fort und tippte an sein Glas, »dürfte ich mir das hier eigentlich nicht genehmigen.« Er zog eine Grimasse. »Aber ein kranker Mann kann sich ja nicht alles abgewöhnen.« Er schaute auf den Tisch, auf dem Banks unbewusst seine Zigaretten und sein Feuerzeug abgelegt hatte. »Sie dürfen gerne rauchen, junger Mann. Ich mag den Geruch von Tabak. Und gegen Passivrauchen kann man nichts sagen.«

  Banks lächelte und zündete sich eine Zigarette an.

  »Ein schöner Zustand«, sagte Hepplethwaite, »wenn ein Mann sich seinen Lastern nur noch per Stellvertreter hingeben kann.«

  Banks hob seine Augenbrauen. Die Worte kamen ihm bekannt vor, er konnte sie jedoch nicht einordnen.

  »Raymond Chandler«, erklärte Hepplethwaite mit einem verschmitzten Grinsen. »General Sternwood am Anfang von Der große Schlaf. Einer meiner Lieblingsfilme. Bogey als Philip Marlowe. Den muss ich mindestens zwanzig Mal gesehen haben. Ich kenne ihn in- und auswendig.«

  Daher also. Banks hatte sich den Film erst vor wenigen Monaten im Fernsehen angeschaut, aber nie das Buch gelesen. Eines mehr auf der immer länger werdenden Liste. In der Regel las er keine Krimis, außer Sherlock Holmes, doch er hatte gehört, dass Chandler ein guter Schriftsteller war. »Tut mir Leid, was mit Ihrem Enkelsohn passiert ist«, sagte er.

  Die Augen des alten Mannes trübten sich. »Tja, nun... niemand verdient, so zu sterben. Er muss furchtbar gelitten haben.« Er zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Tasche und reichte es Banks. »Deswegen habe ich Sie gebeten herzukommen.«

  Banks nickte. Er nahm das Blatt, faltete es auseinander und breitete es auf dem Tisch vor sich aus. Es sah professionell gedruckt aus, aber durch die Möglichkeiten zur Formatierung von Texten am Computer und die Verbreitung von Laserdruckern sahen heutzutage fast alle Texte so aus. Banks konnte sich noch an die Zeiten erinnern - und so lange waren sie gar nicht her -, als alle Kopien im Polizeirevier im so genannten Lichtpausverfahren auf diesen alten Maschinen erstellt wurden, von denen man tintenverschmierte Finger bekam. Selbst jetzt, in der Erinnerung, meinte er noch den Ammoniakgeruch dieser Kopien in der Nase zu haben.

  Die Überschrift in fett gedruckten Großbuchstaben lautete: DIE ALBION-LIGA. Darunter stand in kursiver Schrift: »Im tapferen Kampf für dich und dein Vaterland.«

  Banks zog an seiner Silk Cut und begann zu lesen.

  Vreunde, habt ihr euch jemals den heutigen Zustand unserer einst großen Nation angeschaut und euch gefragt, wie es zu einer solch fürchterlichen Entartung kommen konnte? Könnt ihr noch glauben, dass diese Nation einmal Großbritannien genannt wurde? Und was sind wir jetzt? Unsere feigen Politiker haben es zugelassen, dass Massen von Parasiten in dieses einst großartige Land eingefallen sind. Man sieht sie überall - in den Schulen, in den Fabriken und selbst in der Regierung. Sie schwächen unsere Kraft und zersetzen die Struktur unserer Gesellschaft. Wie konnte das zugelassen werden? Vor vielen Jahren hat Enoch Powell diese Zeichen vorausgesehen und unsere zukünftigen Blutströme geahnt. Aber hat jemand auf ihn gehört? Nein ...«

  Und Zeile für Zeile ging dieser rassistische Blödsinn weiter. Er endete folgendermaßen:

  Und so bitte ich euch, das wahre englische Volk, Erben König Arthurs und des heiligen George, sich unserem Kampf anzuschließen, uns zu helfen, dieses großartige Land von den parasitären Immigranten zu befreien, die in unseren Städten ihr Unwesen treiben und uns durch ihre Machenschaften schaden - vom widerwärtigen, verräterischen Juden, der unsere Wirtschaft für seine eigenen Zwecke missbraucht, vom abartigen Homosexuellen, der unsere Kinder verderben will, und vom Missgebildeten und Geisteskranken, für den es in der neuen Ordnung der Starken und Rechtschaffenen keinen Platz gibt. Unser Ziel ist es, unsere Rasse zu reinigen und das neue Albion wiederherzustellen in dem Land, das rechtmäßig unseres ist, und dieses Land wieder zu unserem Heimatland zu machen.

  Banks legte das Blatt auf den Tisch. Selbst ein großer Schluck Theakston's konnte den widerlichen Geschmack in seinem Mund nicht beseitigen. Widerwillig widmete er sich wieder dem Pamphlet, konnte aber keine Adresse entdecken, auch keinen Hinweis auf einen Versammlungsort. Anscheinend musste jeder, der sich der Albion-Liga anschließen wollte, sie erst einmal suchen. Am Ende des Pamphlets konnte er jedoch eine mit winziger Schrift in die äußerste rechte Ecke gedruckte Zeile erkennen: http://www.alblg.com/index.html. Eine Internetadresse. Jeder hatte heutzutage eine. Als Nächstes untersuchte er den Umschlag und sah, dass er letzten Donnerstag in Bradford abgestempelt worden war.

  Was sie bestellt hatten, wurde serviert, und sie setzten ihr Gespräch beim Essen fort.

  »Warum glauben Sie, dass Jason Ihnen dieses Papier geschickt hat?«, fragte Banks, auf das Blatt tippend.

  Frank Heppelthwaite wandte sich ab und schaute auf die dunkle Holztrennwand zwischen ihrem Tisch und der Tür. Einer der Amerikaner beschwerte sich soeben lautstark, dass sich zu viele Fragen des Trivial-Pursuit-Spiels um den englischen Sport drehten. »Woher zum Teufel soll ich denn wissen, welcher Spieler 1976 von Tottenham Hotspurs zu Sheffield Wednesday gewechselt ist? Welches Spiel spielen die überhaupt? Und was ist denn das für ein Name für ein Sportteam? Sheffield Wednesday?« Er schüttelte den Kopf. »Diese Briten.«

  Frank wandte sich wieder an Banks. »Weil der Brief nur ein paar Tage nachdem mir etwas herausgerutscht ist, ankam«, sagte er, »wofür ich Gott um Vergebung bitte.«

  »Was ist Ihnen herausgerutscht?«

  »Zuerst einmal müssen Sie wissen«, fuhr Frank fort, »dass sich Jason und ich, als er noch ein kleiner Junge war, sehr nahe standen. Manchmal kamen sie in den Sommerferien hier hoch, er, Maureen und meine Tochter Josie. Jason und ich sind oft lange spazieren gegangen, wir haben uns die wilden Blumen am Flussufer angeschaut und die Brachvögel über Fremlington Edge beobachtet. Manchmal sind wir hinauf zum Wasserreservoir Angeln gegangen und haben einen der Bauernhöfe in der Nähe besucht, wo wir für einen Nachmittag mitgearbeitet, Eier eingesammelt oder Schweine gefüttert haben. Und jedes Mal haben wir zugeschaut, wie die Schafe geschoren wurden. Der kleine Jason hat die Ferien hier immer sehr genossen.«

  »Sie erwähnten seine Mutter und Schwester. Was ist mit seinem Vater?«

  Frank steckte sich einen Happen Casserole in den Mund, kaute, schluckte und machte ein finsteres Gesicht. »Dieser lange Lulatsch? Um ehrlich zu sein, junger Mann, ich hatte nie viel für ihn übrig und er hat sich nie besonders um Jason gekümmert. Wissen Sie, dass er diese Platten, die er sammelt, nie anhört? Er hört sie nie an! Die sind alle noch eingeschweißt. Ich frage Sie, was soll man von einem Kerl halten, der Platten kauft und sie nie anhört?«

  Nicht viel, dachte Banks, der gerade auf einem besonders sehnigen Stück Huhn herumkaute. Frank würde seine Geschichte offensichtlich in seinem eigenen Tempo erzählen, auf seine Art. »Aber ich wollte Sie nicht unterbrechen«, sagte er. »Was ist zwischen Sie beide getreten?«

  Frank schöpfte einen Augenblick Atem, bevor er fortfuhr: »Vor allem die Zeit. Mehr nicht. Ich bin alt geworden. Zu alt, um lange Spaziergänge zu machen. Und Jason begann sich für andere Dinge zu interessieren und kam nicht mehr zu Besuch.«

  »Kam er überhaupt nicht mehr vorbei?«

  »Doch, ab und zu. Aber es war dann immer nur ein flüchtiger Besuch, eher so etwas wie eine Pflichtübung.«

  »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

  »Vorletztes Wochenende war er hier. Genau eine Woche, bevor er starb.«

  »Hat er mal von seinem Leben in Leeds erzählt? Von seiner Arbeit? Von Freunden?«

  »Eigentlich nicht. Einmal hat er gesagt, er würde was über Computer lernen. Natürlich habe ich keine Ahnung davon, deshalb haben wir bald das Thema gewechselt.«

  »Hat er gesagt, wo er etwas über Computer lernt?«

  »Nein.«

  »Seine Eltern haben mir gesagt, dass er in einem Büro gearbeitet hat.«

  Frank zuckte mit den Achseln. »Könnte sein. Ich kann mich nur daran erinnern, dass er mal erwähnt hat, er würde was mit Computern machen.«

  »Und bei all seinen Besuchen«, fuhr Banks fort, »hat er nie über solche Dinge gesprochen?« Er klopfte mit dem Knöchel auf das Pamphlet.

  Frank schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Nie. Deswegen war es ja auch so ein Schock.«

  »Warum hat er Ihrer Meinung nach nie darüber gesprochen?«

  »Das kann ich nicht beantworten. Vielleicht dachte er, ich wäre dagegen, bis mir diese Sache rausgerutscht ist und ich ihm einen Auslöser gegeben habe ... Vielleicht dachte er auch, ich wäre ein alter Mann, bei dem sich eine Bekehrung nicht lohnt. Immerhin bin ich sein Großvater und wir hatten eine Art Beziehung. Wenn wir uns in den letzten Jahren gesehen haben, haben wir nicht viel geredet. Ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging. Meistens kam er nur kurz vorbei, gab mir einen Drink aus und erkundigte sich, ob es mir gut ginge, bevor er sich zum Fußballspielen oder sonstwohin aufmachte.«

  Banks aß seine Pastete auf. »Warum glauben Sie, dass Sie Jason den Auslöser gegeben haben, Ihnen dieses Pamphlet zu schicken?«, fragte er. »Was haben Sie gesagt?«

  »Na gut ... Einmal saßen wir hier, genauso wie Sie und ich jetzt.« Frank senkte seine Stimme. »Der Wirt hier heißt Jacob Bernstein. Nicht der Kerl dort. Jacob ist gerade nicht da. Egal, ich machte eine Bemerkung darüber, dass Jacob ein knauseriger alter Jude ist.«

  »Was hat Jason gesagt?«

  »Nichts. Jedenfalls nicht gleich. Er hat nur komisch gelächelt. Es war halb ein Lächeln, halb ein spöttisches Grinsen. Kaum hatte ich es gesagt, wusste ich, dass es falsch gewesen war. Aber so etwas rutscht einem manchmal raus, oder? Solche Sprüche wie: Juden und Schotten haben kurze Arme und tiefe Taschen. Man meint das doch nicht beleidigend, oder? Man meint damit nichts Böses. Wie auch immer, einen Augenblick später sagte Jason, er glaube, er könnte da etwas Interessantes für mich haben, und wenige Tage darauf lag dieser Müll in meiner Post. Wer sollte das sonst geschickt haben?«

  »In der Tat, wer sonst?«, sagte Banks und erinnerte sich daran, was ihm David Wayne am Morgen in Leeds erzählt hatte. »Haben Sie mal jemanden aus Jasons Kreis kennen gelernt?«

  »Nein.«

  »Also besteht keine Möglichkeit, dass Sie uns helfen können herauszufinden, wer ihn getötet hat?«

  »Ich dachte, Sie hätten die Kerle bereits, die es getan haben?«

  Banks schüttelte den Kopf. »Ob sie es waren, wissen wir noch nicht. Nicht mit Sicherheit. Im Moment halten wir uns alle Optionen offen.«

  »Tut mir Leid, junger Mann«, sagte Frank. »Dann sieht es nicht so aus, als ob ich Ihnen helfen könnte, oder?« Er hielt inne und schaute hinab in sein Glas. »Es war ein richtiger Schock«, sagte er, »als ich das Zeug gelesen habe und mir klar wurde, dass unser Jason dafür verantwortlich war. Ich habe im Krieg gekämpft, müssen Sie wissen. Ich habe nie viel Aufhebens davon gemacht, und das will ich auch jetzt nicht. Es war meine Pflicht und ich habe sie erfüllt. Ich würde es jederzeit wieder tun.«

  »Wo haben Sie gedient?«

  »Bei der Royal Air Force. Ich war Bordschütze.«

  Banks pfiff durch die Zähne. Sein Vater war Funker bei der Air Force gewesen; deshalb hatte er gehört, wie gefährlich die Aufgabe des Bordschützen gewesen war und wie viele von ihnen umgekommen waren.

  »Genau«, sagte Frank. »Aber wie gesagt, ich will kein Aufhebens davon machen. Ich habe etwas absolut Falsches über jemanden gesagt, den ich als Freund betrachte, und deshalb schäme ich mich; aber es beschämt mich noch mehr, dass mein Enkelsohn glaubte, ich könnte etwas mit diesem Müll anfangen. Ich habe gegen die verfluchten Nazis gekämpft, verdammt nochmal. Und wozu? Damit mein Enkel auch einer von ihnen wird?«

  Tränen standen in seinen Augen und Banks machte sich Sorgen um sein Herz. »Beruhigen Sie sich, Mr. Hepplethwaite«, sagte er und legte eine Hand auf Franks mageres Handgelenk.

  Frank schaute ihn durch einen Tränenschleier an, nickte dann knapp und trank einen Schluck Bell's. Er hustete, klopfte auf seine Brust und rang sich ein Lächeln ab. »Keine Sorge, junger Mann«, sagte er. »Nein, Gentlemen, noch ist die Zeit für den alten Kauz nicht gekommen.«

 

* VI

 

Für diesen Montagabend war eine Sondersitzung der Albion-Liga einberufen worden. Natürlich war nicht jeder eingeladen, sondern nur die Zellenführer und ein paar von Neville Motcombes derzeitigen Lieblingen wie Craig. Alles in allem waren es fünfzehn Mitglieder, die aus Leeds und Bradford kamen, aus Halifax, Keighley, Cleckheaton, Heckmondwike, Batley, Dewsbury, Brighouse und Eiland. Zum größten Teil handelte es sich um Skinheads im Alter zwischen sechzehn und vierundzwanzig Jahren, durch die Bank Rassisten.

  Und diese fünfzehn waren handverlesen, wusste Craig. Jede Zelle hatte zwischen fünf und zwölf Mitglieder. Das waren die Drohnen, Fußballhooligans und andere gewalttätige Skins, mit denen Motcombe, außer bei Kundgebungen und anderen großen Versammlungen, wo er sich aus der Ferne an sie wandte, kaum in Kontakt kam. Er verließ sich hauptsächlich auf seine Zellenführer, wenn es darum ging, seine Befehle weiterzugeben und ausführen zu lassen und, was vielleicht noch wichtiger war, dafür Sorge zu tragen, dass der Geldfluss nicht verebbte. Schließlich war die Unterhaltung der Liga eine kostspielige Angelegenheit.

  Sie trafen sich im oberen Raum eines Pubs in Bingley, und während er an seinem Bier nippte, fragte sich Craig, ob der Wirt eigentlich genau wusste, was hier oben vor sich ging. "Wenn er es wüsste, dann hätte er ihnen wohl nicht so schnell den Raum zur Verfügung gestellt. Andererseits konnte die Aussicht auf zusätzlichen Umsatz an einem flauen Montagabend selbst die integersten Bürger dazu verleiten, ihre Moralvorstellungen und politischen Überzeugungen über Bord zu werfen. Mittlerweile überraschte Craig kaum noch etwas. Nicht, nachdem ihn Motcombe in diese Sache hineingezogen hatte.

  Obwohl das Fenster halb geöffnet war, war der Raum völlig verqualmt. Draußen konnte Craig den Regen auf die Straße prasseln hören. Durch den feuchten Schleier schimmerte das blasse Licht einer Straßenlaterne. Gelegentlich preschte ein Wagen durch die sich ansammelnden Pfützen.

  In der Zwischenzeit war Nev persönlich, Führer der Liga, wie üblich in seiner glänzenden Lederjacke, aufgestanden, um seine Mitglieder auf Kurs zu bringen. Er musste dazu nicht schreien und mit seinen Armen herumfuchteln wie Hitler, in seiner normalen Sprechstimme lag genug Überzeugungskraft. Vor allem aber waren es seine Augen; mit seinen Blicken konnte er einen festnageln und nicht wieder loslassen, bis er sich der Loyalität des Betreffenden sicher war. Am Anfang hatten diese Blicke selbst Craig ein paar Mal einen Schauer über den Rücken gejagt, doch er beherrschte seinen Job zu gut, um sich wirklich davon beeindrucken zu lassen.

  »Ermordet«, wiederholte Motcombe mit Entrüstung und Ungläubigkeit in der Stimme. »Einer von uns. Drei von denen. Drei gegen einen. Eines von seinen Augen soll aus der Augenhöhle gehangen haben, nachdem die Pakischweine mit ihm fertig waren.«

  Empörte Unruhe und Gemurmel machten sich unter den Versammelten breit. Ein Skinhead trommelte mit seinem Glas auf den Tisch. Motcombe brachte ihn mit einer sparsamen Handbewegung zur Ruhe, zog dann ein Blatt Papier aus seiner Tasche und begann zu lesen.

  »George Mahmood«, sagte er mit der Betonung auf mood. »Asim Nazur.« Dieses Mal klang der Name wie ein spöttisches Lachen. Die Leute begannen zu kichern. »Und Kobir Mukhtar. Der klingt richtig, oder? Mucky-tar.«

  Kriecherisches Gelächter von den Zellenführern.

  »Und wisst ihr, was passiert ist?«

  Einige Zuhörer, Craig eingeschlossen, schüttelten den Kopf.

  »Die Polizei hat sie laufen lassen. So sieht das aus.«

  Entrüstete Rufe.

  »Ja, das haben sie getan. Heute Nachmittag. Unser ruhmreicher Kämpfer Jason liegt nun wahrscheinlich auf irgendeinem Tisch in der Leichenhalle und wird von oben bis unten aufgeschnitten, während die drei Schweine, die ihn dorthin gebracht haben, die drei schwarzen Schweine, frei herumlaufen.« Er schlug auf den Tisch. »Was sollen wir davon halten?«

  »Das ist unfair«, schaltete sich einer der Zellenführer ein.

  »Typisch«, behauptete ein anderer. »Die kommen heutzutage sogar mit einem Mord davon.«

  »Was sollen wir machen?«, fragte ein weiterer.

  Craig zündete sich eine Zigarette an und beugte sich vor. Jetzt versprach es interessant zu werden. Seiner Meinung nach war Jason Fox ein übler, kleiner Idiot gewesen, der verdient hatte, was ihm zugestoßen war.

  »Zuerst einmal«, sagte Motcombe, »möchte ich, dass schnellstens eine Sonderausgabe des Mitteilungsblattes erscheint. Mit schwarzen Balken und allem Drum und Dran. Und ich will, dass Herzblut in den Texten steckt. Ray?«

  Einer der Zellenführer aus Leeds schaute von seinem Pint auf und nickte.

  »Du kümmerst dich darum«, fuhr Motcombe fort. »Jetzt, wo Jason nicht mehr unter uns weilt, müssen wir uns wohl oder übel auf deinen eher nüchternen Schreibstil verlassen. Aber du schaffst das, Ray, ich bin mir sicher, du schaffst das. Du weißt, was ich lesen will. Empörung, ja, aber sorge dafür, dass du heraushebst, warum das alles passiert ist, die eigentliche Sache, für die wir stehen. Und sorge dafür, dass die Namen der Pakis erwähnt werden. Wir werden jedem von ihnen eine Ausgabe schicken. Wenn sie erfahren, dass die gesamte Nationalsozialistische Allianz weiß, wer sie sind, werden sie ein paar schlaflose Nächte haben. Okay?«

  Ray lächelte und nickte.

  »Und drucke zusätzliche Ausgaben. Als Nächstes möchte ich, dass Geoff und Keith damit beginnen, ein Gedächtniskonzert für Jason zu organisieren. Eine große Party. Ihr habt die Kontakte, also wählt ein paar angemessene Bands aus, vier oder fünf, mietet einen großen Saal und arrangiert alles. Sobald wie möglich, okay?«

  Geoff und Keith nickten und machten sich Notizen.

  »Und sobald ich weiß, wann und wo die Beerdigung stattfindet«, fuhr Motcombe fort, »werde ich einige Mitglieder kontaktieren, damit sie mich als Ehrengarde für unseren gefallenen Helden begleiten. Denn machen wir uns nichts vor: Jason Fox ist ein Märtyrer und seine Ermordung sollte für uns Anlass sein, uns zu sammeln. Wir haben hier die Möglichkeit, das Unglück zu einer Chance zu machen, wenn wir die Gelegenheit nutzen. Selbstverständlich werden wir unseren verlorenen Kameraden betrauern und beklagen - und trauern müssen wir -, aber lasst uns außerdem, so wie er es gewünscht hätte, seinen Tod dazu nutzen, um uns zu größeren Zielen anzuspornen, zur schnelleren Verbreitung unserer Ideale. Ihr habt Jason gekannt. Ihr wisst, wofür er stand. Machen wir seinem Andenken alle Ehre.«

  Ein paar Zuhörer nickten und brummten zustimmend. »Werden wir auch ein paar Köpfe einschlagen?«, wollte dann der Zellenführer aus Brighouse wissen.

  Zustimmende Rufe ertönten, doch Motcombe brachte sie erneut zum Schweigen. »Abwarten«, sagte er. »Dafür wird gesorgt werden. Zu gegebener Stunde. Aber im Moment wollen wir einfach ihre Namen veröffentlichen und es dabei belassen. Wir müssen an unsere langfristige Mission denken und wir müssen diese einmalige Gelegenheit nutzen, um ein bisschen öffentliche Sympathie zu erhalten. Denkt an all die Burschen, die jetzt zu Hause sitzen und sich nicht trauen, Partei zu ergreifen. Sie wissen, dass wir Recht haben, aber sie trauen sich nicht, diesen letzten Schritt zu gehen und es zuzugeben. So etwas könnte die Zahl unserer Mitglieder erheblich erhöhen. Ein guter, arischer Junge, der das ganze Leben noch vor sich hatte, ermordet von pakistanischem Einwandererpack. Das treibt die Unentschlossenen in unser Lager.«

  Einige Mitglieder murmelten beifällig. »Aber wir können den Mord an Jason doch nicht ungerächt lassen, oder?«, sagte einer von ihnen. »Man wird uns für feige halten.«

  »Manchmal muss man seine Rache zugunsten größerer Ziele aufschieben, Mick. Mehr sage ich nicht. Und darin liegt Stärke und nicht etwa Feigheit oder Schwäche. Glaubt mir. Die Zeit der Rache wird kommen. Denkt daran, die Schweine, die Jason ermordet haben, sind davongekommen, weil unser korruptes Justizsystem auf ihrer Seite steht. Aber was würde passieren, wenn jetzt jemand von uns geschnappt wird, weil er einen Paki fertig gemacht hat? Hä? Beantwortet mir diese Frage.« Niemand tat es. Sie schauten alle, als würden sie die Antwort bereits kennen. Motcombe sah auf seine Uhr. »Ich muss jetzt gleich los, ich habe eine Menge zu erledigen, aber es spricht nichts dagegen, dass ihr hier bleibt und Totenwache für Jason haltet, wenn ihr wollt. Ihr habt alle eure Befehle bekommen. Die Versammlung ist beendet.«

  Dann kippte Motcombe den Rest seines Orangensaftes hinunter. Craig war aufgefallen, dass er im Gegensatz zu den anderen nie Alkohol trank oder rauchte. Die Leute standen auf und gingen durch den Raum, manche machten sich auf den Weg hinab an die Theke, um mehr Pints zu holen. Das Letzte, was Craig von Motcombe sah, war, dass er mit zwei Zellenführern aus Bradford den Raum verließ, jeweils einen Arm auf die Schultern der beiden gelegt, vertieft in ein leises Gespräch.

  Nev mochte persönliche Unterredungen und hielt die linke Hand immer von der rechten getrennt. Was auch immer er mit ihnen beredete oder sie zu tun bat, man konnte darauf wetten, dass es nichts damit zu tun hatte, was er und Craig während der letzten Wochen besprochen hatten.

  Craig warf seine Zigarette aus dem Fenster in die verregnete Nacht, holte tief Luft und ging hinüber, um Jasons Tod mit Ray aus Leeds und Dogface Russell aus Horsforth zu betrauern.

 

* VII

 

Es war bereits spät am Abend, als Banks, nach einem kurzen Stopp im Revier auf dem Rückweg von Lynd-garth, nach Hause kam. Er war müde.

  Sandra saß an einem Tisch im Wohnzimmer, ihr langes, blondes Haar hinter die Ohren geklemmt, und sortierte Dias, die sie der Reihe nach vor die Schreibtischlampe hielt, jedes einzelne genau betrachtend.

  »Auch einen Drink?«, fragte Banks.

  Sie schaute nicht auf. »Nein, danke.«

  Schön. Banks ging zum Cocktailschrank und schenkte sich einen kleinen Laphroaig ein, dachte einen Moment nach und fügte dann noch einen Schluck hinzu. Er nahm die Abendzeitung vom Couchtisch und setzte sich aufs Sofa.

  »Harter Tag?«, fragte er.

  »Geht so«, sagte Sandra, ohne das Dia aus den Augen zu lassen, das sie gerade hochhielt. »Viel zu tun.«

  Banks schaute ein paar Minuten in die Zeitung, ohne etwas aufzunehmen, und ging dann hinüber zur Stereoanlage. Er wählte eine CD mit Arien von Angela Gheorghiu. Die erste hatte kaum begonnen, da schaute Sandra stirnrunzelnd herüber. »Muss das sein?«

  »Was ist?«

  »Musst du das jetzt hören?«

  »Was hast du dagegen?«

  Sandra seufzte und wandte sich wieder ihren Dias zu.

  »Im Ernst«, setzte Banks nach. »Ich will es wissen. Was hast du dagegen? Ist es zu laut?«

  »Nein, es ist nicht zu laut.«

  »Was ist dann das Problem?«

  Sandra legte das Dia etwas heftiger als nötig auf den Tisch. »Es sind Opernarien, verdammt nochmal, das ist das Problem. Du weißt genau, dass mir Oper manchmal auf die Nerven geht.«

  Es stimmte, dass Sandra einmal einen Magneten an eines seiner Bänder mit der Götterdämmerung gehalten hatte. Aber das war Wagner gewesen und der war nur etwas für Kenner. Wer konnte jedoch etwas gegen Angela Gheorghiu haben, die Verdi sang? Sandra hatte ihn letzten Monat sogar begleitet, um La Traviata zu sehen, und sie hatte behauptet, es habe ihr gefallen.

  »Dass sie dir so auf die Nerven geht, hätte ich nicht gedacht«, sagte Banks und ging zurück zur Stereoanlage.

  »Nein, lass es«, sagte Sandra. »Du hast die Musik aufgelegt. Du hast deinen Standpunkt klargemacht. Lass sie einfach an.«

  »Welchen Standpunkt?«

  »Welchen Standpunkt? Das weißt du genau.«

  »Nein, weiß ich nicht. Sag es mir!«

  Sandra schnaubte. »Oper. Die Scheißoper. Die wichtigste Sache auf deiner Tagesordnung. Wahrscheinlich in deinem ganzen Leben.«

  Banks setzte sich und nahm seinen Scotch. »Ach, geht das jetzt wieder los?«

  »Ja, jetzt geht das wieder los.«

  »Gut, dann mach weiter.«

  »Was weitermachen?«

  »Schütte dein Herz aus.«

  »Das gefällt dir, was?«

  »Was?«

  »Es gefällt dir, wenn ich mein Herz ausschütte. Lass die Kleine ein paar Minuten herumbrüllen, damit du deinen Kumpels erzählen kannst, was für ein blödes Weibsbild sie ist. Tue so, als wenn du zuhörst, sei reuig, und mach danach einfach so weiter, als sei nichts geschehen.«

  »Das stimmt doch gar nicht«, protestierte Banks. »Wenn du ein Problem hast, dann sag es mir. Lass uns darüber reden.«

  Sandra nahm ein Dia und schob ein paar lose Haarsträhnen hinter ihre Ohren. »Ich will nicht darüber reden. Es gibt nichts zu reden.«

  Angela Gheorghiu sang mittlerweile »Aubade« aus Chérubin, doch die Schönheit der Musik erreichte Banks nicht.

  »Hör zu, es tut mir Leid«, sagte er. »Mir war nicht klar, dass es dir so wichtig war.«

  Sandra schaute ihn von der Seite an. »Das ist alles, oder was?«, fauchte sie.

  »Was?«

  »Es ist immer das Gleiche. Du denkst nie darüber nach, wie wichtig mir etwas sein könnte. Deine Bedürfnisse kommen immer zuerst. Wie die Scheißoper. Hast du mich jemals gefragt, was ich hören möchte? Du legst einfach deine bescheuerte Oper auf, ohne einen Gedanken an mich zu verschwenden.«

  Banks stand wieder auf. »Ich habe gesagt, es tut mir Leid. Okay? Ich mache die Musik aus, wenn sie dich so sehr stört.«

  »Lass es. Es spielt sowieso keine Rolle mehr. Es ist zu spät.«

  »Zu spät für was?«

  »Ach, Alan, hör doch endlich auf. Siehst du nicht, dass ich arbeiten muss?« Sie deutete auf die über den Tisch verteilten Dias.

  »Wunderbar«, sagte Banks. »Wunderbar. Du bist sauer, aber du willst nicht darüber sprechen. Du hasst die Oper, aber du willst, dass ich die CD laufen lasse. Ich bin derjenige, der sich nicht um deine Bedürfnisse und Gefühle kümmert, aber in diesem Moment musst du arbeiten. Dann ist ja alles in bester Ordnung, verdammt nochmal.«

  Banks kippte den Rest des Laphroaigs hinunter, nahm seinen Mantel vom Garderobenständer im Flur und schlug die Haustür hinter sich zu.