6

Olivia verließ Harpers Ferry, wo Jags außergewöhnliche Sinne sie nicht mehr erspüren konnten, und fuhr auf dem Highway Richtung Westen. Sie hoffte, ein Restaurant oder eine Bar zu finden, irgendeinen Ort, wo ein paar mehr Menschen zusammenkamen. Bei Menschen musste sie vorsichtig sein. Schon früh hatte sie gelernt, dass sie sie zu schnell aussaugte, wenn sie versuchte, ihre Nahrung nur über vier oder fünf Menschen zu sich zu nehmen.

Sie wusste von keinem, den sie je umgebracht hätte zumindest nicht unabsichtlich , aber ein paar hatten dabei das Bewusstsein verloren, als sie noch jung war.

Große Menschenmengen waren auf jeden Fall besser.

Als sie den großen Supermarkt entdeckte, lächelte sie. Sie parkte den Hummer, schlenderte in den Laden und öffnete sich, um endlich unbeobachtet und vorsichtig Nahrung zu sich zu nehmen. In der Elektronikabteilung hielten sich die meisten Leute auf, deshalb ging Olivia dorthin und wanderte an Reihen von Regalen mit DVDs und Videospielen vorbei, wobei sie von jedem Menschen, an dem sie vorbeiging, eine dünne Schicht Lebenskraft abschöpfte. Die Menge der entwendeten Energie war allerdings so gering, dass sie sie nicht vermissen würden, wo ihr doch so viele Menschen zur Verfügung standen, von denen sie zehren konnte. Die entnommene Menge würden sie schnell wieder ersetzen können.

Eine kleine Gruppe von Menschen im Gang mit den iPods strahlte viel Energie ab. Es handelte sich um zwei Männer mittleren Alters mit vorstehenden Bäuchen und zwei junge Mädchen, die von dem Interesse der beiden Männer nicht sonderlich begeistert schienen.

»Sie ist ein niedliches, kleines Ding, nicht wahr?«, meinte der eine mit der Baseballkappe und sah das Mädchen mit den dunkleren Haaren lüstern an.

Die beiden Mädchen warfen einen kurzen Blick auf die beiden Typen, ließen sich aber nicht weiter stören, während sie sich mit der Auslage in den Regalen beschäftigten. Das flegelhafte Benehmen der beiden Männer schien ihnen zwar unangenehm zu sein, aber sie machten sich anscheinend keine echten Sorgen.

Olivia fragte sich, ob sie das vielleicht hätten tun sollen. Sie nahm weiter Nahrung in kleinen Mengen zu sich und hielt sich bereit, um eventuell einzugreifen.

Doch dann entdeckte der zweite Rüpel sie, und seine Augen leuchteten auf.

»Ich habe eine Vorliebe für Rotschöpfe«, sagte er und rückte seine Hose unter dem vorstehenden Bauch zurecht.

Olivia sagte nichts, sondern hielt einfach nur seinen Blick fest, während sie eins ihrer Messer, das sie in einer Scheide unter der Jacke trug, zog, es einmal in der Hand drehte und es dann wieder verschwinden ließ.

Die Augen des Mannes wurden ganz groß, und er wurde bleich, während er einen Schritt zurückwich.

»Lass uns gehen, Earl.«

»Was? Warum?«

Aber der andere packte nur seinen Arm und zerrte ihn aus dem Gang.

»Blödmänner«, murmelte eines der Mädchen, als sie weg waren.

Olivia musste ihm zustimmen. Während sie weiterging, hörte sie noch die Stimmen der Mädchen, die sich aufgeregt über iPods, Geburtstage und Promis unterhielten.

Sie merkte, dass sie lächelte, denn die Freude der beiden war ansteckend, doch dann verblasste ihr Lächeln wieder. Die Menschen wussten so wenig über das Bescheid, was wirklich in ihrer Welt vor sich ging.

Sie betete zur Göttin, dass die Krieger des Lichts und andere Unsterbliche dafür sorgen konnten, dass es so blieb. Wenn es Satanan und seinen Dämonenhorden jemals gelang freizukommen, wäre das Leben, das die Menschen kannten, vorbei. Die mächtigeren Dämonen, die in der Lage waren zu denken, würden wie schon einmal vor fünftausend Jahren die Menschen zu Tausenden vor allem Kinder zusammentreiben und sie foltern und quälen, um von ihrem Schmerz und ihrer Angst zu zehren. Schon bald würden in der Welt nur noch Panik und Entsetzen herrschen.

Olivia ging weiter und nahm noch ein paar Minuten lang Nahrung zu sich, bis sie sich satt und stark fühlte und auf die Tür zusteuerte. Als sie nach draußen in die Sonne trat, fragte sie sich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie wieder Hunger bekam. Sie war fast vierundzwanzig Stunden ohne Nahrung ausgekommen. Würde sie das nächste Mal länger durchhalten? Es war fast sicher, dass sie Jag morgen wieder irgendwann würde entkommen müssen. Wenn es so weit war, würde sie sich einen anderen Vorwand ausdenken müssen.

Sie ging zum Hummer, bestrebt, wieder in Harpers Ferry zu sein, ehe Jag merkte, dass sie weggewesen war. Weiter vorn sah sie die beiden Rüpel, die gerade eine andere Frau auf dem Parkplatz anmachten.

Der eine rückte seine Baseballkappe zurecht, während der andere seine Hose hochzog. Dann erstarrten plötzlich beide, und ihre Arme hingen schlaff herunter.

Olivias Augen wurden ganz schmal, und in ihrem Kopf läutete eine Warnglocke. Als sie an den dreien vorbeiging, musterte sie die attraktive Frau mit den braunen Haaren, dann wandte sie den Blick schnell ab, und ihr Herz fing an zu rasen. Die grünen Augen der Frau hatten einen kupferfarbenen Ring gehabt.

Die Augen einer Zauberin.

Das bedeutete, dass die beiden Männer wirklich verzaubert waren.

Warum? Was sollte ein Zauberer schon mit Menschen anfangen und gerade mit solch zwei armseligen Vertretern ihrer Spezies?

Sie ging lässig und entspannt weiter und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie die drei in den roten Pick-up stiegen, vor dem sie gestanden hatten. Die Männer bewegten sich wie Maschinen.

Olivia stieg in den Hummer und tat so, als würde sie sich im Rückspiegel betrachten, während sie beobachtete, wie der Pick-up ganz langsam davonfuhr.

Sie ließ den hellgelben Wagen an und folgte dem Pick-up, wobei sie wünschte, sie würde in einem weniger auffälligen Auto sitzen. Offensichtlich gehörten heimliche Verfolgungsjagden selten zu Jags Arbeit. Wenn sie sich doch nur mit ihm in Verbindung setzen könnte, um ihm mitzuteilen, dass sie eine Zauberin und deren Opfer verfolgte.

Doch sie befand sich außerhalb seiner Reichweite und war auf sich allein gestellt. Bis auf Weiteres galt das für sie beide.

Sie folgte dem Wagen bis nach Harpers Ferry, verlor ihn dann aber, als dieser nach links abbog und sie nicht hinterherkam, weil zu viel Gegenverkehr herrschte. Als auch sie endlich abbiegen konnte, war der Pick-up nicht mehr zu sehen.

Olivia?

Der Klang von Jags Stimme in ihrem Kopf ließ ihren Puls seltsam hüpfen.

Ich bin hier.

Wo zum Teufel bist du gewesen?

Der Göttin sei Dank hatte sie eine geeignete Erklärung. Ich habe eine Verdächtige gesehen und bin ihr gefolgt. Eine Zauberin hat zwei Männer in ihren Bann geschlagen. Ich habe versucht, ihrem Pick-up zu folgen, bin aber abgehängt worden.

Shit.

Was sollte eine Zauberin mit Menschen anfangen wollen, Jag?

Ich fürchte, ich ahne es. Komm zurück und hol mich, dann werde ich dir das Neueste berichten. Wir sind da über etwas Größeres als nur einen frei herumlaufenden Geisterdämon gestolpert, Rotschopf. Das weitet sich zu einer richtig widerlichen Sache aus.

Wenn Zauberer daran beteiligt waren, tat es das immer.

»Wo tust du das alles hin? Das ist doch größer als du selbst.«

Olivia biss wieder von ihrem Jumbosandwich ab, das mit allem belegt war, was darauf passte, als sie mit einem Achselzucken auf Jags fassungslosen Blick reagierte. »Ich habe halt einen gesunden Appetit.« Und sie hatte keine Ahnung, wann sie wohl wieder auf die ihr eigene Art Nahrung zu sich nehmen würde.

Jag hatte sich drei Sandwiches gekauft, und sie hätte sich gern auch noch ein zweites besorgt, aber dann wäre er wirklich misstrauisch geworden.

Sie saßen einander in einer der hinteren Nischen eines Restaurants nicht weit von Harpers Ferry in Charles Town gegenüber. Jag hatte sich gescheut, in der Stadt zu essen, denn er wusste nicht, wie viele Zauberer unter Umständen dort unterwegs waren, von denen vielleicht einer wusste, dass er ein Krieger des Lichts war. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die grüne Armeejacke zu tragen, die er hinten im Hummer verwahrte, wenn er unter Menschen ging, damit keiner seinen Armreif sah. Jetzt mussten sie erst einmal herausfinden, was die Zauberer im Sinn hatten, ehe diese überhaupt merkten, dass sie da waren.

Nachdem sie ihn ins Auto gelassen und er sich wieder in einen Menschen verwandelt und angezogen hatte, waren sie auf der Suche nach dem roten Pick-up durch jede einzelne Straße der Stadt gefahren, während sie einander auf den neuesten Stand der Dinge brachten. Den Pick-up konnten sie allerdings nirgends entdecken.

»Woher wissen wir, dass die Zauberer den Dämon nicht wieder eingesperrt haben, wie sie es in der Höhle gemacht haben?«, fragte sie. »Ich dachte, ihr glaubt, der Geisterdämon wäre nicht zu lenken.«

»Ich weiß nicht, was die Zauberer machen oder inwieweit sie in das Ganze verwickelt sind. Ich weiß nur, dass ich überall diese Dämonenfährte aufnehme. Diese Kreatur läuft eindeutig frei herum.«

»Hätten die Zauberer einen Grund, ihm die ganze Zeit hinterherzulaufen und das Chaos zu beseitigen, das er hinterlässt? Und wenn der Dämon sich seine Nahrung selber sucht, warum haben sie dann heute Nachmittag diese beiden Männer verzaubert und mit einem Bann belegt?«

»Das sind alles gute Fragen, und ich kann keine einzige beantworten. Die Fährte ist alt. Mindestens einen Tag. Als wäre er gestern Abend das letzte Mal durch die Gegend gestreift.«

»Du hältst ihn also für nachtaktiv.«

»Jap. Das haben wir schon die ganze Zeit vermutet, und die Fährte stützt diese Theorie.«

Olivia schluckte den letzten Bissen von ihrem Sandwich herunter, knüllte das Papier zusammen, in das es eingewickelt gewesen war, und beobachtete voller Neid, wie Jag mit Appetit in sein drittes Sandwich biss.

»Was tun wir als Nächstes?«, fragte sie.

»Sobald es dunkel ist, gehe ich auf die Jagd.«

Sie merkte, dass er im Singular sprach. »Ich komme mit.«

»Einen Teufel wirst du tun, Rotschopf. Du hast gehört, was Lyon von Kougar und Hawke erzählt hat, die in den Bergen einen Zusammenstoß mit einem ganzen Schwarm Dradern hatten. Es waren fast vierzig. Ich bin zwar gut, aber nicht einmal ich kann es mit vierzig auf einmal aufnehmen. Vielleicht willst du ja deinen hübschen kleinen Hintern riskieren und sterben, aber ich nicht. Und deshalb bleibst du bis Tagesanbruch im Hummer.«

»Du machst wohl Witze.« Was hätte sie darum gegeben, ihm die Wahrheit sagen zu können dass die Drader ihr nichts anhaben konnten. Allerdings »Für was hältst du die therianische Wache eigentlich, Krieger? Wir mögen zwar nicht alle den Vorteil haben, unsere Gestalt ändern zu können, aber du bist ganz sicherlich nicht der Einzige, der in der Lage ist, gegen Drader zu kämpfen.«

Mit vor Wut blitzenden Augen beugte er sich nach vorn. »Gegen wie viele kämpfst du in Schottland auf einmal? Bestimmt nicht gegen vierzig. Ja, nicht einmal die Hälfte davon.«

Sie verkniff sich eine scharfe Erwiderung, denn er hatte recht. Sie konnte es zwar mit mehr Dradern aufnehmen als jedes andere Mitglied der Wache, doch das schaffte sie nur, weil sie sie während des Kampfes schwächte, indem sie von ihnen zehrte.

Hier würde sie das nicht tun können. Nicht wenn Jag in der Nähe war. Sie würde nur mit ihren Messern gegen sie kämpfen können. Und da wären dann vierzig bei Weitem zu viel.

Trotzdem wurmte sie die Vorstellung, die ganze Nacht im Hummer eingesperrt zu sein. Aber das musste sie ja gar nicht, oder? Sie musste sich nur weit genug von Jag entfernen, um dann so viel zu jagen und Nahrung zu sich zu nehmen, wie sie wollte.

»Ich bin gut in dem, was ich mache, Jag.« Jetzt wahrte sie nur noch den Schein und diskutierte, weil er es von ihr nicht anders erwartete.

»Ich habe nie etwas anderes behauptet.«

Sie schüttelte den Kopf und stieß ein ärgerliches Schnauben aus. »Ach ja? Aber trotzdem soll ich den Chauffeur für eine Katze spielen? Mehr nicht?« Ob es nur noch ums Schein-Wahren ging oder nicht sie war wütend. Ehrlich! Was für einen Nutzen hatte die therianische Wache denn, wenn die Krieger des Lichts darauf bestanden, dass sie nachts hinter Schutzwällen blieben?

In seine Augen trat ein verschmitzter Ausdruck, als er den Blick gemächlich zu ihren Brüsten wandern ließ. »Oh, mir würde da schon noch mehr einfallen, was du tun könntest.«

»Nicht witzig. Warum bin ich hier, Jag? Und könntest du dabei bitte einmal auf sexuelle Anspielungen verzichten?«

Er verzog die Lippen, aber der anzügliche Blick verschwand, als er nickte. »Wenn ich die Fährte des Dämons finde, werden wir ihr am Tage folgen. Wenn die Zauberer mit im Spiel sind, werde ich auf jeden Fall Hilfe brauchen, Olivia. Nur die Göttin weiß, über was wir da gestolpert sind.«

Ihre Blicke begegneten sich diesmal, ohne dass sexuelle Anspannung sie für alles andere blind gemacht hätte. In seinen Augen sah sie den hartherzigen Krieger, den Mann, der entschlossen war, diesen Gegner egal um welchen Preis aufzuspüren und zu vernichten. Ausnahmsweise einmal erlaubte er ihr einen Blick hinter die Maske, und in ihr regte sich etwas. Sie sah eine verwandte Seele.

»In Ordnung?«, fragte er.

Sie nickte langsam. »Ja.« Sie wusste, dass er meinte, sie würde zustimmen, die Nacht im Hummer zu verbringen, weil er ihr versprochen hatte, morgens mit ihr zusammen der Fährte zu folgen.

Aber er würde seine Unterstützung früher als erwartet bekommen. Und nicht ganz genau so, wie er es plante. Denn er würde nicht der Einzige sein, der heute Nacht Drader und Dämonen jagte.

Und wenn sie sehr vorsichtig vorging, würde er es nie erfahren.

Kougar fuhr Hawkes Yukon auf dem Skyline Drive Richtung Norden, während Hawke neben ihm saß und auf seinem Laptop Polizeiberichte durchging.

»Keine Berichte von Morden in der Gegend«, sagte Hawke. »Was wahrscheinlich nur bedeutet, dass bisher keiner die Opfer gefunden hat.«

Kougar musste ihm zustimmen. Sie hatten letzte Nacht so kurz davor gestanden, einen der Dämonen zu fangen. Sie hatten den Mistkerl gehabt. Er war da gewesen, direkt über dem Weiher, zu dem er sich offensichtlich hingezogen gefühlt hatte. Aber der Zauber, der ihn eigentlich hätte bannen sollen, hatte nicht gewirkt.

Seine Hände umklammerten das Lenkrad fester, als er sich noch einmal den Moment in Erinnerung rief, in dem er die Kreatur das erste Mal gesehen hatte, als er das erste Mal nach fünftausend Jahren wieder einen Dämon gesehen hatte. Zwar mochte Kougar nicht mehr fähig sein, Emotionen zu empfinden, doch sein Geist war durchaus in der Lage, die entsetzliche Tragweite des Augenblicks zu erfassen. Nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen hätte er sich ausgemalt, jemals den Tag zu erleben, an dem die Dämonen wieder Angst und Schrecken in der Welt verbreiteten.

Der Dämon der letzten Nacht hatte sich wie geplant von der Falle anlocken lassen. Aber er war nur mehrere Sekunden lang darübergeschwebt, um dann wieder wegzufliegen, statt in den Weiher hineingezogen zu werden. Der Zauber hatte nicht gewirkt.

Die beiden Krieger des Lichts hatten die Verfolgung aufgenommen; Kougar auf dem Boden und Hawke in der Luft, doch die Kreatur war ihnen entwischt, und schließlich hatten sie die Fährte ganz verloren. Dämonen konnten fliegen und waren deshalb außerordentlich schwer zu jagen.

»Hast du eine Ahnung, warum die Falle nicht funktioniert hat?«, fragte Hawke.

»Wir brauchen Ilina-Blut. Und Ilina-Magie. Ich hatte gehofft, dass wir ohne auskämen, aber offensichtlich geht das nicht.«

»Die beiden Dinge, die wir möglicherweise nicht bekommen können«, meinte Hawke in einem Tonfall, dem zu entnehmen war, dass ihn das Thema faszinierte. Er hob den Kopf und schaute aus dem Fenster. »Ich habe mich intensiv mit den Ilinas beschäftigt, obwohl nur wenig über sie geschrieben wurde. Sie waren den schönen Künsten und der Musik zugetan, dem Tanz und der Musik. Ein friedliebendes Volk, das plötzlich aggressiv wurde. Wie die Sirenen der Mythologie begannen sie, Männer, Menschen und Unsterbliche mit ihrer Schönheit und ihrem Gesang ins Kristallreich zu locken, wo sie die Gefangenen bis ans Ende ihres kurzen Lebens folterten und versklavten. So erzählt es die Legende.«

Hawke drehte sich zu ihm um. »Du kennst die Wahrheit.«

»Keiner weiß, was aus ihren Opfern wurde, nachdem sie im Kristallreich verschwunden waren. Es gibt nur Spekulationen.«

»Weil keiner zurückkehrte, um zu berichten.«

»Weil keiner überlebte. Denn kein Geschöpf mit einem Körper, ob nun sterblich oder unsterblich, kann dort lange existieren. Doch alles andere, was du gesagt hast, ist so, wie ich es in Erinnerung habe.«

Hawke nickte. »Die meisten nehmen an, dass sie vom bösen Geist infiziert wurden; dass Königin Ariana ihr Volk vernichtete, weil sie erkannte, was aus ihnen geworden war.«

Kougar sagte nichts dazu. Er kannte die Antwort selber nicht. Er wusste nur, dass sich die Schönheiten, die sie einst alle bewundert hatten, in bösartige Biester verwandelt hatten, die unbeschreibliche Gräueltaten begingen, ehe sie ihren Untergang vortäuschten und verschwanden. Er war wie alle anderen darauf hereingefallen. Erst vor ein paar Jahren hatte er die Wahrheit erfahren dass sie nie untergegangen waren.

Hawke gab einen Laut von sich, in dem seine ganze Enttäuschung mitschwang. »Dann scheiden Fallen also aus.«

Es war keine Frage, und Kougar antwortete auch nicht. Denn noch wollte er die Versuche mit den Fallen nicht aufgeben. Sie stellten ihre mit Abstand größte Chance dar, die Dämonen zu fangen, ohne dass Krieger des Lichts dabei verletzt oder getötet wurden. Er musste nur für die richtigen Zutaten sorgen.

Sobald die Nacht hereinbrach, würde er auf die Jagd gehen.

Auf Ilinas.

Jag stieg aus dem Hummer, streifte seine Kleidung ab und warf sie hinten in den Wagen. Es war schon eine Stunde lang finstere Nacht. Die Drader müssten jetzt jederzeit herauskommen, und mit etwas Glück auch der Dämon.

Olivia saß mit vor der Brust verschränkten Armen vorn im Auto. Hatte sie wirklich erwartet, dass er sie mitnehmen würde? Er wusste, wie es als Therianer ohne gestaltwandlerische Fähigkeiten war, Drader zu jagen. Er hatte es selber Hunderte von Malen getan. Es war verdammt gefährlich. Das war an Orten gewesen, wo nie mehr als zehn bis zwölf Drader auf einmal auftauchten. Nur der Himmel wusste, was sie hier erwartete.

»Wenn ich dir Niall zugeteilt hätte, würdest du ihm dann erlaubt haben, mit auf die Jagd zu gehen?«

»Kann er seine Gestalt wandeln?«

»Das war nicht meine Frage.«

»Das ist die einzige, die ich stelle. Wer seine Gestalt wandeln kann, darf mitkommen.«

»Du bist unerträglich.«

»Ja, als ob ich das nicht wüsste. Also verklag mich, weil ich dafür sorge, dass du am Leben bleibst. Bleib, wo du bist, bis ich nach dir rufe, Rotschopf. Das ist ein Befehl.« Er knallte die Tür zu, um sie daran zu hindern, weitere Einwände vorzubringen.

Das musste er ihr zugestehen sie hatte wirklich Mut. Aber sie würde heute Nacht nicht da draußen sterben, mehr war dazu nicht zu sagen.

Er konzentrierte sich auf die Kraft in ihm, die Kraft des Jaguars. In einem Rausch purer Lust verwandelte er sich in sein Tier und lief los. Heute Nacht hatte sein Jaguar seine volle Größe. Dadurch würde er schneller vorankommen, denn es bestand keine Gefahr, dass jemand ihn in der Dunkelheit wirklich zu Gesicht bekam.

Die Sehkraft der Krieger des Lichts war bei Dunkelheit fast so gut wie am Tage. Das galt für Menschen nicht.

Er streifte durch die Wälder und Straßen von Harpers Ferry, fand jedoch nur alte Fährten. Wenn das so weiterging, würde es eine verdammt lange Nacht werden. Er war bereits ein oder zwei Stunden unterwegs, als seine Gedanken zu Olivia zurückkehrten.

Denkst du gerade an mich, Süße?

Er rechnete mit einer scharfen Erwiderung, bei der es um Voodoopuppen und Nadeln in seinen Lenden ging. Doch er bekam keine Antwort, sondern spürte nur Furcht. Sein Herz fing vor Angst und Sorge zu rasen an.

Du kannst ihn sehen, nicht wahr, Rotschopf? Du siehst den Dämon.

Ja.

Shit. Bleib im Hummer. Ich bin gleich da.

Heilige Göttin, wenn diese Kreatur nun stark genug war, um die Türen aufzureißen? Er rannte bereits mit aller Kraft den Weg zurück, den er gekommen war, als sie antwortete.

Ich bin nicht im Hummer, Jag. Ich bin etwa eine Meile weiter den Shenandoah hoch.

Mitten im Sprung änderte er die Richtung und lief nach Westen weiter, während er versuchte, sich über das, was sie gesagt hatte, klar zu werden. Sie war nicht in dem verdammten Hummer.

Du bist echt mies im Zuhören, Rotschopf, weißt du das? Hat der Dämon dich gesehen?

Er schwebt etwa sechs Meter vor mir und starrt mich an. Jag hörte das Beben, das sie zu verbergen versuchte. Ein Beben, das ihren Geist und ihr Denken beherrschte. Sie war außer sich vor Angst. Und sie war nicht die Einzige.

Verdammt. Verdammt! Er rannte so schnell es seine vier Beine hergaben, befürchtete aber, es trotzdem nicht rechtzeitig zu schaffen. Seine Brust wurde ganz eng, und ein reißender Schmerz nahm ihm fast den Atem.

Bleib ganz ruhig, Rotschopf. Ich bin nicht weit weg von der Stelle. Ich bin auf dem Weg zu dir.

Beeil dich, Jag.

Sie würde nicht sterben. Verdammt, Olivia würde nicht sterben.

Aber er wusste, wozu Dämonen in der Lage waren.

Und er hatte Angst, dass er zu spät kommen würde.

Kalter Schweiß lief Olivia über die Schläfen, als sie sich die Nase wegen des widerlichen Gestanks zuhielt und das grausige Ding vor sich anstarrte; das Monster, das zehnmal schlimmer war als alles, was sie sich je in ihrer Fantasie hätte ausdenken können. Ein Dämon. Ein gottverdammter Dämon.

Ihr Atem rasselte, ihre schweißnassen Hände umklammerten die Messer so fest, dass ihre Finger schmerzten, während ihr Blick über die verzerrte Fratze des Wesens glitt. Seine Züge waren genauso verschwommen wie die eines Draders, als bestünde das Gesicht aus Wachs, das zu lange in der Sonne gelegen hatte. Spitze, unregelmäßige Reißzähne ragten aus dem schiefen Mund, und die Fingernägel sahen wie dolchähnliche Klauen aus. Dicke Strähnen schwarzen Haars hingen von seinem Schädel und schimmerten furchterregend; das Wesen war in einen langen, schwarzen Umhang gehüllt, der seinen schwebenden Körper verbarg.

Nachdem Jag sie beim Hummer zurückgelassen hatte, war sie ihm einen Moment später zu Fuß gefolgt, aber schnell abgehängt worden. Sie mochte zwar schnell sein, doch der Jaguar war schneller. Also hatte sie ihre Sinne geschärft, jene, mit denen sie Drader aufspüren konnte, um festzustellen, ob sie vielleicht eine Energiespur empfing. Und dann hatte sie tatsächlich ein Kribbeln auf der Haut gespürt, als sie sich dem Shenandoah näherte. Sie war der Spur gefolgt, die immer heißer und intensiver wurde und sie direkt zum Dämon führte.

Als er näher heranschwebte, stellte sie sich breitbeinig hin, um einen sichereren Stand zu haben, und umklammerte ihre Messer noch fester, während sie ihren eigenen, dröhnenden Herzschlag hörte. Sie öffnete sich und sog die wirbelnde dämonische Energie ein. Wenn Jag nah genug war, um davon etwas mitzubekommen, würde sie es auf den Dämon schieben.

Aber dann musste sie sich beinahe übergeben. Die Energie war keine echte Lebenskraft, sondern irgendetwas anderes. Etwas Widerliches. Fauliges.

Der Dämon zischte, ein bedrohlicher, unmenschlicher Laut der Wut, als hätte er sie gespürt. Er kam näher, die bösartigen Klauen ausgestreckt. Ein riesiges Geschöpf, das wohl fast so groß wie Jag war. Schweiß rann ihr zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter, während sie sich für den Kampf ihres Lebens wappnete.

Als sich der Dämon auf sie stürzte, stieß sie zu, holte mit einem Messer nach seiner ausgestreckten Hand aus, wirbelte herum und bohrte ihm das zweite Messer in die Schulter, ehe sie wieder wegsprang.

Der Dämon kreischte. Es war ein grässlicher, schriller Laut.

Olivia wunderte sich über die Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der sie sich gerade bewegt hatte, schneller, als sie sich je zuvor bewegt hatte. Lag es am Adrenalin? Oder an der dämonischen Energie? Das Letztere war es. Sie konnte sie in ihrem Innern spüren, wie sie wirbelte und ihr Kraft gab. Das Zeug mochte vielleicht widerlich schmecken, aber ihm wohnte viel Kraft inne. Wieder öffnete sie sich und nahm noch mehr davon auf.

Der Dämon zischte und schlug zu, wobei er ihr mit einer Klaue über den linken Arm fuhr und Jacke und Haut zerfetzte. Schmerz schoss durch ihren Körper – der Schmerz der ihr beigebrachten Wunde und noch etwas anderes. Als hätte er ihr nicht nur die Haut aufgeschlitzt, sondern auch noch Säure darübergeschüttet. Sie unterdrückte den Schrei, der in ihr hochkommen wollte, und entzog sich mit einer Drehung, während sie sich seine Energie noch schneller zuführte.

Doch die Säure raste durch ihr Blut und wirkte der Kraft der dämonischen Energie entgegen, sodass sie langsamer wurde.

Der Dämon schlug ein zweites Mal zu. Sie wirbelte herum und wich den bösartigen Klauen, die es auf ihr Gesicht abgesehen hatten, aus, indem sie sich duckte. Und spürte, wie ihr das Fleisch auf dem Rücken aufgerissen wurde.

Der Schrei entrang sich ihrer Kehle, gerade als sie hochkam und dem Dämon das Messer an der Stelle in den Leib rammte, wo eigentlich sein Bauch hätte sein sollen. Aber ihr Messer traf nur auf Luft. Was zum Teufel war unter diesem Umhang? Sie stach hoch oben in seine Brust, und dieses Mal fand ihre Klinge zwischen dem rechten Schulterblatt und Schlüsselbein Halt. Etwas Nasses, Klebriges spritzte auf ihre Hand.

Der Dämon gab einen schrillen, entsetzlich wütenden Laut von sich, als würde man mit den Nägeln über eine Tafel kratzen, und floh. Während er zum Himmel aufstieg, strömte die Säure durch ihren Körper, bis sie vor Schmerzen kaum noch atmen konnte.

Sie sank auf die Knie, weil sie nicht mehr in der Lage war sich aufrecht zu halten. Würde er zurückkommen, um ihr den Todesstoß zu versetzen?

Oder war sie, die Göttin stehe ihr bei, bereits so gut wie tot?