19
In Jags Kopf dröhnte es, und sein Körper wurde zu Eis, als die Krieger des Lichts sie umkreisten. Aus dem Augenwinkel sah er Olivia schwanken, der Schock über seinen ungewollten Verrat ließ sie taumeln.
Sie wussten, was sie war. Und jetzt umzingelten die fünf Tiere sie, als wollten sie sie erlegen.
Wurdest du von Dradern geküsst, Olivia? Lyons harte Stimme hallte in Jags Kopf wider.
»Ja«, gab die neben ihm stehende Olivia zur Antwort. Da war nur ein leichtes Krächzen in ihrer kräftigen, selbstbewussten Stimme, und er wusste, dass sie genauso entsetzt war wie er.
»Sie stellt keine Gefahr dar, Boss.« Jag packte Olivias Arm und zog sie vor sich, wobei er eine Hand um ihre Taille legte. Sie stand stocksteif da. »Es ist Jahrhunderte her, dass sie von Dradern geküsst worden ist.«
Was hatte er da angerichtet? Er hatte sie verbal angegriffen und instinktiv da zugeschlagen, wo es sie am meisten traf. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es Zuschauer geben würde. Er hatte nicht mit dem hier gerechnet!
Stimmt das, Olivia?, fragte Lyon.
»Ich bin seit mehr als vierhundert Jahren so, Lyon. Ich habe es vollständig unter Kontrolle.« Aber ein Anflug von Zweifel schwang in ihren Worten mit, und er wusste, dass sie an den vergangenen Tag dachte und an die Energie des Dämons, die sie zu stark gemacht hatte. »Lass mich los, Jag.« Sie zog an seinem Arm.
»Nein.« Er würde auf keinen Fall zulassen, dass die anderen sie anfassten.
»Verdammt, ich sagte, lass mich los!«
Er ließ den Arm sinken, und sofort trat sie von ihm weg, als könnte sie seine Berührung nicht ertragen.
Ein Eisklumpen bildete sich in seiner Brust.
Geh, Olivia, sagte Lyon, und das Tier stieß ein wildes, gefährliches Knurren aus. Ehe ich meine Meinung ändere.
Olivia zögerte nur einen Moment, ehe sie auf die Lücke zwischen dem riesigen bengalischen Tiger und dem großen grauen Wolf zuging. Als sie näher kam, setzte sich Tighe auf seine Hinterläufe, und Wulfe tat es ihm nach, sodass sie ungehindert an ihnen vorbeigehen konnte.
Jag wollte ihr folgen, doch der Löwe sprang in den Kreis, den die Tiere bildeten, und stellte sich ihm in den Weg. Mit einem wilden Knurren warfen sich zweihundertfünfzig Kilo wütende Katze auf ihn und rissen ihn zu Boden.
In einem funkelnden Lichterregen verwandelte sich Lyon, behielt aber seine Krallen und Reißzähne. Die Krallen legten sich um Jags Hals und bohrten sich tief in dessen Kehle.
»Wie lange weißt du es schon?«, stieß er zwischen gefährlich blitzenden Zähnen hervor.
»Lange genug.« Durch das Blut in seiner Kehle brachte er die Worte nur gurgelnd heraus.
»Du hast sie ins Haus des Lichts und so alle in Gefahr gebracht. Du hast die Strahlende gefährdert! Und du wusstest es?«
Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er keinen Anflug des üblichen Verlangens, Lyon noch weiter zu provozieren.
»Ich spüre es, wenn sie Nahrung zu sich nimmt, Boss. Jedes Mal. Sie kann keine Energie absaugen, ohne dass ich es merke, und sie würde uns nie etwas tun, auch wenn sie könnte. Sie stellt keine Gefahr dar.«
»Keine Gefahr? Keine Gefahr?! Sie könnte Kara umbringen. Sie könnte jeden von uns umbringen.«
»Wenn sie es sich vornimmt, dann ja. Genau wie Kara Delaney oder Skye töten könnte, indem sie sie ihrer Strahlung aussetzt. Genau wie jeder der Krieger des Lichts egal welche der Frauen umbringen könnte. Keiner von uns ist harmlos, Boss. Wir können alle töten, wenn wir es wollen.«
Lange sah er in die wütenden Augen des Löwen, während ihm das Blut den Hals hinunter in die Kehle lief. Aber er wehrte sich nicht. Er hatte gewusst, dass er würde zahlen müssen, wenn Lyon es herausfand. Und er war mehr als bereit dazu.
Lyon knurrte noch einmal, dann riss er seine Krallen aus Jags Kehle und stand auf.
Jag kam auch hoch und sah seinen Anführer an. »Ich werde ihr hinterhergehen, Boss. Ich liebe sie.« Die Worte erstaunten ihn. Sein Geist versuchte, vor der Erklärung zurückzuschrecken, doch es gelang ihm nicht. Weil er, verdammt noch mal, die Wahrheit gesagt hatte. Tief in seinem Innern knurrte sein Tier zustimmend.
Lyon starrte ihn an, während sich seine Reißzähne wieder zurückbildeten, dann knurrte er: »Die Göttin stehe uns bei.« Aber er verbot ihm nicht, ihr hinterherzugehen, und einer weiteren Aufforderung bedurfte es für Jag nicht.
Er lief auf zwei Beinen los in die Richtung, die Olivia eingeschlagen hatte, denn er wollte seine Hose nicht verlieren und damit die Möglichkeit, sich frei unter Menschen bewegen zu können, es sei denn, es ginge nicht anders.
Olivias Leben war zu Ende, und das war seine Schuld. Gewissensbisse plagten ihn. Er hatte sie zwar nicht verraten wollen, aber verdammt, sie zu verletzen hatte schon in seiner Absicht gelegen. Sie hatte ihm Dinge gesagt, die er nicht hatte hören wollen, und deshalb hatte er sie angegriffen.
Denn das, was sie sagte, hatte ihm wehgetan, weil er tief im Innern wusste, dass sie recht hatte. Cordelias Tod hatte ihm schwer zu schaffen gemacht. Er kam nicht darüber hinweg. Er hasste sich für das, was er damals getan hatte.
Und jetzt konnte er sich bis an sein Lebensende dafür hassen, was er heute getan hatte.
Cordelia hätte nie einen Preis für die weltbeste Mutter gewonnen, aber auf ihre Art hatte sie ihn geliebt.
Und jetzt behauptete auch Olivia, dass er ihr etwas bedeutete.
Doch er hatte alles zerstört.
Das Schuldgefühl, das ihn erfasst hatte, war fast mehr, als er ertragen konnte. Aber dann vernahm er wieder Olivias Worte, die in seinem Kopf widerhallten.
Du bist so unglaublich selbstsüchtig gewesen, hast jeden in deiner unmittelbaren Nähe schlecht behandelt, um dich selber zu strafen.
Und das war der entscheidende Punkt, oder? Es war genau das, was sein Anführer vor all den Jahren zu ihm gesagt hatte, als er ihn einen selbstsüchtigen, kaltherzigen Mistkerl nannte. Er war nicht kaltherzig. Aber vielleicht selbstsüchtig? Ja. Über wie viele Leben hatte er Trübsinn durch seine Unfähigkeit gebracht, damit aufzuhören, sich in seinen Schuldgefühlen zu suhlen? Wie viele Leben hatte er damit zerstört?
Aber jetzt nicht. Dieses Mal nicht. Der Jag, der er gewesen war, ehe Olivia in sein Leben getreten war, wollte sich davonstehlen und sich selber dafür geißeln, dass er – zum zweiten Mal – einen Fehler gemacht hatte und dadurch der wichtigsten Frau in seinem Leben Schaden zugefügt hatte. Aber dieser Jag war er nicht mehr.
Olivia brauchte ihn. Ausnahmsweise ging es mal nicht um ihn. Es ging um sie. Weil er sie liebte. Und weil er wirklich absolut keine Lust mehr hatte, sich für alles zu hassen.
Er folgte ihrer Fährte durch einen Garten nach dem anderen der Eine-Million-Dollar-Anwesen. Ein Hund bellte. Jag knurrte, und der Hund jaulte auf, um dann in eine andere Richtung davonzulaufen.
Erst als er die Klippen hoch über dem Potomac erreichte, erspähte er sie endlich.
Im Gehen schaute sie zurück, als würde sie ihn spüren. Auf ihrem Gesicht lag ein gehetzter Ausdruck.
Seine Hände ballten sich zu Fäusten, während er sich danach sehnte, sich das Herz herauszureißen, weil er ihr das angetan hatte. Der Selbstekel tobte in seinem Innern und versetzte ihm mit spitzen Krallen schmerzhafte Wunden. Doch er kämpfte dagegen an. Er musste mit dem, was er getan hatte, fertigwerden. Schau nach vorn, nicht zurück. Er konnte nicht ungeschehen machen, was passiert war; und die Göttin wusste, dass er es nicht wieder in Ordnung bringen konnte, aber er konnte zumindest an ihrer Seite bleiben. Er konnte sie verdammt noch mal beschützen.
Tief in seinem Innern heulte das Tier vor Schmerz.
Es war ihr Schmerz. Denn ihr Schmerz war jetzt auch seiner.
Früher hatte sich bei seinen Schuldgefühlen immer alles um ihn selbst gedreht. Selbstsucht in Vollendung. Doch dieses Mal konnte er nur an sie denken.
Er holte Olivia ein, als sie sich mit flachem, unregelmäßigem Atem über den Fels schleppte. Ihr Gesicht war weiß wie Schnee.
Wieder wollten Schuldgefühle in ihm aufsteigen, doch er rang sie nieder. Es ging jetzt nicht mehr um ihn.
»Olivia. Liv. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass das passiert. Das weißt du.«
Genauso gut hätte er mit dem Wind reden können, denn der hätte ihm auch keine Antwort gegeben. Er verdiente keine Antwort. Er verdiente überhaupt nichts von ihr. Es war sein Fehler, sein eigener gottverdammter Kardinalfehler.
Es geht nicht um mich!
Vielleicht nicht. Aber er hasste sich trotzdem.
Olivia kletterte zum höchsten Punkt des Felsens, und einen Moment lang fragte er sich, ob sie wohl einfach weitergehen würde, um sich in den kalten, gefährlichen Potomac zu stürzen, der tief unten toste. Doch sie setzte sich auf einen schmalen Sims, zog die Knie an und schlang die Arme darum, während sie nach unten in den tobenden Strom schaute.
Er wusste, dass sie stark war, doch in diesem Augenblick wirkte sie klein, zart und unglaublich zerbrechlich. Sein Kopf dröhnte, weil er nicht wahrhaben wollte, dass er ihr Geheimnis verraten hatte, ob nun unbeabsichtigt oder nicht. Ja, sie war stark, aber er hatte sie auf tausenderlei Art zum Tode verurteilt.
Die Furcht vor jenen, die von Dradern geküsst worden waren, war in der Seele der Therianer tief verankert. Tausende von Jahren hatte man sich Geschichten über therianische Dörfer erzählt, die in einer einzigen Nacht ausgelöscht wurden, während die Therianer im Schlaf, ohne auch nur einmal aufzuwachen, ausgesaugt worden waren; ohne auch nur zu ahnen, dass einer unter ihnen war, der anderen die Lebenskraft raubte.
Die meisten waren so vernünftig zu erkennen, dass solche Massentode fast immer unbeabsichtigt geschahen, weil der gerade verwandelte Therianer nicht wusste, dass er eine Gefahr darstellte, bis es zu spät war. Doch dieses Wissen änderte nichts. Die Furcht blieb bestehen.
Sobald sich die Kunde darüber, was Olivia war, verbreitete, würde manch einer losziehen, um sie trotz des Erlasses, der zur Toleranz aufrief, zu töten. Keiner würde sie in seine Nähe, in die Nähe seiner Angehörigen und der Dörfer lassen. Ihren Platz in der therianischen Wache würde sie verlieren.
Durch seine Wut und Achtlosigkeit hatte er ihr alles genommen. Alles.
Jag sank hinter ihr auf den Fels und vergrub das Gesicht in den Händen.
Sie verstand ihn besser als je ein anderer zuvor. »Du hast recht, Liv. Sosehr ich es auch geleugnet haben mag, ist doch alles, was du über mich gesagt hast, richtig. Ich hasse mich selber. Ich hasse mich dafür, dass ich Cordelia nicht gerettet habe. Dafür, dass ich sie überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte.«
Sie sagte nichts. Aber damit hatte er eigentlich auch gar nicht gerechnet. Er saugte den Anblick ihres lodernden Haares, ihres zierlichen, gebeugten Halses auf, während sie nach unten ins Wasser starrte.
»Ich werde nicht zulassen, dass einer dir etwas tut, Liv. Keiner wird dir etwas tun. Ich kann das, was passiert ist, nicht ungeschehen machen, aber ich kann dafür sorgen, dass du nie wieder allein bist. Ich werde die Krieger des Lichts verlassen. Ich werde bei dir bleiben und mit dir hingehen, wohin du willst. Keiner wird dir je etwas tun.«
Langsam drehte Olivia den Kopf zu ihm um, und sogar jetzt, nach allem, was er ihr angetan hatte, strahlten ihre Augen mehr Kraft aus, als er besaß.
»Verschwinde, Jag. Ich will dich nicht mehr in meinem Leben haben. Ich brauche dich nicht.«
Er begegnete ihrem Blick und sah noch nicht einmal einen Hauch des Hasses, der eigentlich in ihm liegen müsste. Nicht das kleinste Anzeichen, dass er ihr überhaupt etwas bedeutete. In ihrem Blick lagen nur eine abgrundtiefe Erschöpfung und eine Traurigkeit, die ihm das Herz zerriss.
»Doch, du brauchst mich, Liv. Sie werden dich jagen. Wenn nicht die Krieger des Lichts, dann jemand anders.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Und du würdest dein Leben und deine Arbeit hier opfern, um mich zu beschützen?«
»Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand etwas tut.«
»Jemand anders als du, meinst du?«
Die Worte bohrten sich wie eine stumpfe Klinge in sein Herz. »Das habe ich verdient. Ich wollte dich nicht verraten, Olivia.«
»Nein. Du wolltest nicht hören, was ich zu sagen hatte, und dann hast du es mir gegeben, weil ich es trotzdem gesagt habe. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Sie wandte sich wieder ab. »Nichts spielt mehr eine Rolle.«
»Olivia … du bedeutest mir auch etwas. Ich glaube, ich bin dabei, mich in dich zu verlieben.«
Langsam hob sie den Kopf und sah ihn über die Schulter an, doch in ihrer Miene lag keine Freude.
»Du glaubst mir nicht.«
»Ich weiß es nicht, Jag«, erwiderte sie erschöpft. »Vielleicht empfindest du tatsächlich etwas. Aber es ist unwichtig. Deine Sorge um mich, sogar deine Liebe, bringt uns beiden nichts, solange du dich nicht selber liebst. Du wirst dich einfach nur weiter strafen und mir wehtun. Erst wenn du gelernt hast, dir selbst zu vergeben, und einen Weg gefunden hast, trotz deiner Fehler das Gute in dir zu sehen, wirst du bereit sein, jemand anders zu lieben.«
Sie strich ihr Haar zurück und stützte den Ellbogen auf den Knien auf. »Es ist nichts dabei, manchmal Fehler zu machen. Das tun wir alle. Das Entscheidende ist, dass du dir selber zutraust, zu versuchen, das Richtige zu tun. Und dir zu verzeihen, wenn dir das gelegentlich misslingt. Solange du das nicht tust, werden Schuldgefühle und Selbsthass dich innerlich vergiften, Jag.«
Olivia drehte sich wieder zum Fluss um und kehrte ihm den Rücken zu. »Und jetzt verschwinde und lass mich in Ruhe.«
Jag starrte auf ihren Hinterkopf, den schmalen Rücken, der sogar jetzt Kraft ausstrahlte, und kämpfte mit einem Schmerz, den er kaum ertragen konnte. Er konnte sie nicht verlassen. Er würde eher sterben, ehe er zuließ, dass irgendwer ihr noch einmal wehtat.
Und das galt auch für ihn selber.
Er wusste nicht, wie lange er so dagesessen, der aufgehenden Sonne zugesehen und versucht hatte, sich nicht zu hassen, als er den Schrei das erste Mal hörte. Der Angstschrei eines Kindes.
Sein Kopf fuhr herum, und er erspähte sie sofort. Ein nicht mehr als neun oder zehn Jahre altes Mädchen, das durch den Wald auf die Klippe zugerannt kam, auf der sie saßen. Sie hatte Jeans und ein Mickey-Mouse-Sweatshirt an, das am Hals eingerissen war. Tränen strömten ihr über das verängstigte Gesicht.
Jag sprang auf und rannte auf sie zu.
Das Kind sah ihn und kam direkt auf ihn zugelaufen. »Hilfe! Er will mir wehtun.«
Jag knurrte vor Wut.
»Mistkerl«, zischte Olivia neben ihm.
Jag hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihm gefolgt war, und sah ihr jetzt in die Augen. Einen flüchtigen Moment lang herrschte wieder völlige Übereinstimmung zwischen ihnen.
Gemeinsam kamen sie die Klippe heruntergeklettert, als das Mädchen sie erreichte. Es streckte seine Hände aus, und Jag ergriff die eine Hand, während Olivia die andere nahm. Keiner würde ihm etwas tun.
Ein seltsames, fast schon hinterhältiges Lächeln verzog den Mund des Kindes. Dann schaute es zu ihnen auf, und Jag erstarrte. Er sagte sich noch, dass er seine Hand wegreißen sollte, aber da war es schon zu spät. Der Bann der Verzauberung legte sich über seinen Geist, während er in ein Augenpaar sah, dessen Iriskreise von einem Kupferring eingerahmt wurden.
Die Augen einer jungen Zauberin.