14

Der Regen setzte ein, als sie aus Harpers Ferry herausfuhren.

Na toll. Olivia legte die Fingerspitzen an die kühle Innenseite der Scheibe des Hummer. Es schien fast so, als wüsste Mutter Natur ganz genau, was sie im Sinn hatten, und würde bereits ihren Unwillen kundtun. Wenn sie einen Zauberer töteten, würde das Wetter noch schlechter werden.

Obwohl der Nachmittag erst halb herum war, wurde es draußen bereits grau und trübe.

Sie stellten die Autos im Wald ab, und die Krieger nahmen ihre tierische Gestalt an. Hawke erhob sich in die Lüfte, während die drei wie Hauskatzen aussehenden Krieger die anderen vier durch den Regen begleiteten. Delaney ging neben Olivia her. Sie hatte sich die Kapuze ihrer Regenjacke über den Kopf gezogen. Niall und Ewan bildeten die Nachhut.

»Hast du dir den Dämon richtig anschauen können?«, fragte Delaney, während sie sich einen Weg durchs Unterholz bahnten. Die Miene der Ex-FBI-Agentin gab nur wenig preis, doch in ihren Augen war Furcht zu erkennen. »Skye versuchte, mir einen zu beschreiben, doch irgendwie fehlten ihr die richtigen Worte.«

»Ich habe ihn gesehen. Und Skye hat recht. Dieser Dämon ist ein Albtraum.«

Sie hatte noch nicht viel mit Delaney zu tun gehabt, aber nach sechshundert Jahren war sie eine gute Menschenkennerin geworden, und die Frau hatte sie beeindruckt. Ihr Instinkt sagte Olivia, dass die Frau sowohl einen scharfen Verstand als auch Mitgefühl besaß, beides gepaart mit einem Kampfgeist, der vermuten ließ, dass sie über die Fähigkeit verfügte, mit allem fertig zu werden, mit dem sie konfrontiert wurde.

Olivia ging davon aus, dass Delaney genügend Mut besaß, aber sie fragte sich, ob sie auch über genügend Kraft verfügte. Es hieß, sie wäre unsterblich geworden, aber unsterblich bedeutete nicht unzerstörbar. Würden Verletzungen bei ihr genauso schnell heilen wie bei einem Therianer? Tighe ging wohl davon aus, sonst hätte er sie bestimmt nicht mitkommen lassen.

»Der Dämon hat dich also angegriffen?«, fragte Delaney.

»Ja. Er hätte mich leicht umbringen können.«

»Warum hat er nicht?«

»Ich habe zurückgeschlagen. Ich habe ihn irgendwo oben unter seiner Schulter mit meinem Messer durchbohrt, dann schrie er auf und floh.« Sie glaubte nicht, dass das die ganze Wahrheit war. Sie war sich zwar nicht sicher, hatte aber den Verdacht, dass nicht nur die Messerattacke, sondern auch die Tatsache, dass sie seine Lebenskraft angezapft hatte, Grund für seine Flucht gewesen war.

Sie hatten sich dem Haus fast bis auf Sichtweite genähert, als ein riesiger Bussard zwischen den Baumkronen herabgestürzt kam und vor ihnen wieder menschliche Gestalt annahm. Anders als Jag behielt Hawke seine Kleidung am Körper, wenn er sich verwandelte, und jetzt stand er ganz in Schwarz vor ihnen.

»Wegen des Wetters hält sich niemand im Wald auf. Das Haus ist da vorn das heruntergekommene mit den weißen Schindeln, das wohl unsere Festung der Zauberer ist. Es scheint bewohnt, aber ich konnte keinen Blick hineinwerfen.«

Tighes Stimme hallte in ihrem Kopf wider und bestimmt bei allen anderen auch. Irgendwelche Hinweise auf Zauberer?

»Keine. Kein Wächter in Sicht, weder drinnen noch draußen. Wir könnten wirklich das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben, obwohl wir bei Tage angreifen.«

Ein paar Minuten später kam das Haus in Sicht. Olivia und Hawke blieben stehen, die Reaktion der anderen auf zwei Beinen kam etwas verzögert.

Delaney sah sie verwirrt an. »Was ist los?«

Olivia sah sie eine Sekunde lang an, ehe sie begriff. »Wir sind da. Du kannst das Haus nicht sehen, oder?«

Delaney runzelte die Stirn. »Offensichtlich nicht.«

Olivia warf einen Blick auf ihre Männer. Beide schüttelten den Kopf. Ewans Augen leuchteten auf, als er seinen Blick über ihren Körper gleiten ließ und ganz eindeutig auf eine Einladung von ihr wartete. Sie waren hin und wieder miteinander intim gewesen, wenn beide darauf Lust gehabt hatten und kein anderer da gewesen war. Sie hatte das Zusammensein mit ihm immer als recht angenehm empfunden.

Doch die Vorstellung, dass er sie heute hielt und in sie eindrang wie flüchtig und oberflächlich die Begegnung angesichts der Umstände auch sein würde , ließ sie kalt. Und in Bezug auf Niall ging es ihr nicht anders. Sie konnte ihn noch nicht einmal anschauen, da sie um das Verlangen wusste, das in seinen Augen stehen würde ein Verlangen, das mehr nach emotionaler denn nach körperlicher Nähe suchte. Ein Verlangen, das sie nie würde erwidern können.

Die traurige Wahrheit war, dass ihr Körper jedes Interesse an anderen Männern verloren hatte, seitdem Jag wie eine Urgewalt in ihr Leben getreten war.

Schimmernd und funkelnd nahm auch Tighe voll bekleidet wieder menschliche Gestalt an. Jag trat dazu, nackt wie ein Baby ohne Windeln und eindeutig völlig entspannt trotz dieser Tatsache.

Tighe sah Delaney an und streckte die Hand nach ihr aus, während er sich an Olivia wandte. »Ich versuche Delaney zu helfen. Sorge du währenddessen dafür, dass sich der Geist deiner Männer öffnet, oder schick sie zu den Autos zurück. Blinde Krieger können wir nicht gebrauchen. Wir sind gleich zurück.«

»Ich halte Ausschau nach anderen.« Hawke nahm wieder seine Vogelgestalt an und erhob sich in die Lüfte. Kougar, der immer noch wie ein Hauskätzchen aussah, flitzte in Richtung Haus davon.

Als sich Olivia zu ihren Männern umdrehte, legte Jag ihr den Arm um die Schultern und zog sie fest an sich.

Er stieß ein leises, warnendes Knurren aus. »Besorgt es euch selbst.«

»Jag.« Es gefiel ihr gar nicht, dass er ihre Autorität untergrub, auch wenn sie ihren Männern dasselbe hatte sagen wollen, wenn auch nicht mit den gleichen Worten.

Ewan zuckte die Achseln und ging davon, vermutlich um ungestört irgendwo die Sache in die eigene Hand zu nehmen.

Doch Niall rührte sich nicht von der Stelle und verzog angewidert die Lippen. »Das hat ja wohl Olivia zu entscheiden.«

Shit. Sie kam sich wie ein Knochen vor, um den sich zwei hungrige Hunde stritten. Sie versetzte Jag einen kräftigen Rippenstoß. »Hör auf, dich so besitzergreifend aufzuführen.«

Aber sein Griff um ihre Schultern lockerte sich kein bisschen. Er war zu stark, als dass sie sich mit ihm auf einen Kampf hätte einlassen können, bei dem sie ihm keine Energie entzog, und dieser lästige Kerl würde es sofort merken, wenn sie es versuchte. Er ließ ihr keine andere Wahl.

Mit einem ärgerlichen Schnauben wandte sie sich wieder Niall zu. »Verschaffe dir selber Erleichterung, Niall. Diesmal wirst du mich nicht benutzen.«

Ein harter Zug legte sich um den Mund des Mannes, und er sah sie verletzt an. »Ich habe dich nie benutzt.«

Oh, Niall. Das war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. »Das war von meiner Seite unglücklich formuliert. Aber du weißt, was ich damit sagen will. Sorge dafür, dass sich dein Geist öffnet, und zwar schnell, sonst musst du im Auto auf uns warten.«

Er presste den Kiefer so fest zusammen, dass sie schon dachte, gleich würde ihm ein Zahn abbrechen. »Er zwingt dich.«

Olivia zögerte, dann sagte sie die Wahrheit oder zumindest etwas, das dieser recht nahekam. »Wir sind im Moment zusammen, Niall. Und ich werde mit keinem anderen Mann Sex haben.«

»Mit keinem anderen?« Er sah sie scheel von der Seite an, als würde sie sich nie ausschließlich einem Mann zuwenden.

Damit hatte er wohl recht. Das hatte sie nie getan, denn kein Mann hatte je ihr Interesse dermaßen gefesselt wie Jag. Die Wirkung, die der Krieger auf ihren Körper ausübte, störte sie fast genauso sehr wie der Umstand, dass ihr Leben in seiner Gewalt war. Kein Mann hatte sie je so vollständig gefangen genommen. Ja, er besaß diese bemerkenswerte Gabe mit seinen Händen, doch seine Berührungen erregten sie, lange bevor er Lust in ihren Körper strömen ließ. Allein schon die Berührung seiner Finger ließ wie jetzt Hitze in ihr aufsteigen.

»Geh, Niall«, fuhr sie ihn an, als er sich immer noch nicht rührte.

Niall brummte frustriert, machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte davon, sodass sie mit Jag allein zurückblieb.

Es regnete immer noch, die Tropfen fielen auf ihren Kopf und liefen über ihre Wangen, doch Regen hatte sie noch nie gestört.

Jag hielt sie jetzt nicht mehr ganz so fest, und mit dem Daumen strich er immer wieder über ihre Schulter. »An was hast du beim Mittagessen gedacht? Ich habe doch nur deinen Hals berührt, und trotzdem wurdest du immer erregter.« Er senkte den Kopf, und sein warmer Atem strich über ihre Schläfe.

»An nichts. Lass mich los, Jag.«

Er ließ sie nicht los. Stattdessen bewegte er sich auf ihr Ohrläppchen zu und nahm es vorsichtig zwischen die Zähne. Dabei strömte sein Atem kribbelnd über ihre empfindsame Haut, sodass ein köstliches Beben durch ihren Körper fuhr.

Seine Zähne ließen ihr Ohrläppchen los, und sanft strich er mit der Zunge über die Stelle, die er eben leicht gezwickt hatte, um dann mit seinen Lippen über ihren regennassen Hals zu fahren. Tief im Innern wurde sie ganz warm und weich und feucht. Wieder begann sich die rastlose, pochende Anspannung in ihr auszubreiten.

»Jag, hör auf. Du machst es schon wieder«, keuchte sie und bekam kaum noch Luft. »Du machst es mit deinen Fingern, deinem Mund. Die Hitze. Die Lust.«

Er ließ sie los und drehte sie zu sich um, ohne seinen Griff um ihre Schultern zu lockern, während er ihr ins Gesicht sah. Seine Miene war eine Mischung aus Erheiterung und Befriedigung. In seinen Augen loderte Feuer.

»Gütiger Himmel, du wirst ja schon wieder erregt.« Er schob seine Hände unter ihre Jacke und legte sie um ihre Taille.

Durch den dünnen Stoff ihres Hemds spürte sie einen kühlen Strom, der die Hitze zurückdrängte, und zitterte.

»Das reicht, Jag«, bat sie ihn. »Ich bekomme ja noch einen Temperaturschock.«

Sein Mund verzog sich zu einem leicht amüsierten Lächeln. »Ich errege dich ja schon, wenn ich es gar nicht versuche. So etwas habe ich ja noch nie erlebt.«

»Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich begeistert davon bin.«

Er kicherte leise. »Gar nicht so übel, dass ich genauso gut abkühlen wie erregen kann.«

»Das ist wohl richtig. Das ist eine ziemliche Gabe, die du da hast.«

»Manchmal ist es ganz praktisch.«

»Hast du das mit deinen Händen schon immer machen können?« Sie trat näher an ihn heran; denn seine Wärme zog sie genauso sehr an wie der Mann selbst, und schlang ihre Arme um seine Taille. »Oder ist es eine Gabe, die du erst erlangtest, als du ein Krieger des Lichts wurdest?«

Seine Hände glitten auf ihren Rücken, um sie enger an sich zu ziehen. »Ich habe diese Fähigkeit schon immer gehabt. Als kleiner Junge habe ich Tiere gefangen Hasen, Rehe, Eichhörnchen. Ich beruhigte und zähmte sie, auch wenn du es mir nicht glaubst.«

Sie merkte, dass sie bei der Vorstellung lächeln musste.

»Ich bin nicht immer ein Arschloch gewesen.« In seiner Stimme schwang jetzt eine Härte mit, die sich gegen ihn selbst richtete.

Ihr Lächeln verblasste. Der Mann, zu dem er geworden war, der Jag, den sie kannte, war nicht mehr der kleine Junge, der mit kleinen Tieren gespielt und sie gezähmt hatte. Der Junge war zu einem zornigen und komplizierten Mann herangewachsen. Wegen etwas, das passiert war, wegen etwas, für das er sich die Schuld gab, da war sie sich sicher. Etwas, das mit Cordelia zu tun hatte.

»Jag?«

Sein Kinn strich über ihr Haar. »Was ist?«

Sie sollte die Frage eigentlich nicht stellen. Es ging sie nichts an. »Wer ist Cordelia?«

Er erstarrte, als hätte man ihm ein Messer in den Leib gestoßen. Langsam ließ er sie los.

»Warum?«

»Du hast heute Morgen ihren Namen gesagt, während du schliefst.«

»Sie ist niemand. Nicht mehr.« Er trat zurück und wandte sich ab. »Sie ist tot.«

Argh. »Es tut mir leid, Jag.« Sie wusste, dass sie sich auf gefährlichem Terrain bewegte, doch irgendetwas sagte ihr, dass sie es wissen musste. Wenn sie ihm jemals helfen wollte, musste sie verstehen, was seine Beweggründe waren. Warum sie der Meinung war, sie könnte ihm helfen oder es auch nur wollte , wusste sie nicht recht.

»War sie deine Gefährtin?«

»Nein.« Er drehte den Kopf und sah sie über seine breite, muskulöse Schulter an. In seinen Augen stand uralter Schmerz. »Sie war meine Mutter.«

Ach, Jag.

Er ging weg, als müsste er Abstand von ihr bekommen, von der Wahrheit, die sie ihm entrungen hatte. Sie litt unter dem Schmerz, den sie in seinen Augen gesehen hatte, und war voller Mitgefühl für ihn. Ein Elternteil war tot, und er gab sich die Schuld dafür. Sie kannte diese bittere Erfahrung nur zu gut.

Lange Minuten stand sie einfach nur da, erfüllt von dem Wunsch, Jags Qualen zu lindern. Doch wie, wenn er ihr nicht zuhörte? Wenn er noch gar nicht bereit war zuzuhören?

Schließlich kamen die anderen zurück und erlösten sie von ihren ärgerlich unpassenden Gedanken. Tighe und Delaney traten als Erste Hand in Hand zwischen den Bäumen hervor. Delaneys Wangen waren gerötet, und Tighes Augen schimmerten vor Befriedigung und Liebe ganz warm.

Während Olivia die beiden beobachtete, kam sie nicht umhin, sich zu fragen, wie es wohl wäre, wenn man jemand anders so viel bedeutete. Geliebt wurde. Manchmal erhaschte sie einen ähnlichen Blick in Nialls Augen, wenn er sie beobachtete, doch Nialls Gefühl fehlte die Tiefe, die Tighe für Delaney empfand. Es wirkte schwach und blass. Unglücklich.

Unerwidert. Und vielleicht war das der Unterschied. Liebe konnte nie umfassend und erfüllt sein, wenn sie nur einseitig war.

Niall und Ewan kamen aus unterschiedlichen Richtungen zurück.

»Erfolgreich?«, fragte Tighe.

»Was für eine Bruchbude«, bemerkte Ewan statt einer Antwort.

Niall nickte. Doch der Blick, den er Olivia zuwarf, war äußerst verdrießlich. Niall kannte sie besser als je ein anderer vor ihm, bis auf Jag seltsamerweise. Niall hatte ihre Stimmungen immer überraschend genau gespürt und konnte zweifellos erkennen, dass mit ihrer Beziehung zu Jag irgendetwas nicht stimmte.

Damit würde er sich abfinden müssen.

Hawke und Kougar kamen zurück und nahmen in einem Funkenschauer blinkender Lichter wieder menschliche Gestalt an. Interessanterweise wiesen Hawkes Lichter genau wie Jags viele Farben auf, während Kougars Funken fast farblos waren. Weiß und silber und grau.

»Bericht?«, fragte Tighe.

Die Gruppe war hinter dichte Büsche getreten, wo man sie vom Haus aus nicht sehen konnte, sollte dort jemand aus dem Fenster schauen. Jag stellte sich hinter sie. Und obwohl er sie nicht berührte, spürte sie seine Körperwärme an ihrem Rücken.

»Keine Veränderung«, erwiderte Hawke. »Entweder haben sie keine Ahnung, dass wir hier sind, oder sie warten drinnen auf uns.«

Tighe nickte. »Hoffen wir mal, dass es das Erstere ist, aber wir gehen auf jeden Fall rein. Hawke und Kougar, ihr nehmt euch zusammen mit Olivia die Hintertür vor.«

»Nein«, sagte Jag unvermittelt. »Olivia bleibt bei mir.«

Olivia warf ihm einen fragenden Blick zu. Hatte er Angst, dass sie wieder anfangen könnte, Energie zu saugen und seinen Freunden damit zu schaden? Doch als sie seinem Blick begegnete, entdeckte sie dort nur eine ausgeprägte, verwirrende Fürsorge. Für sie.

Sie drehte sich wieder zu Tighe um. Ihr Herz schlug in einem seltsamen Rhythmus. Jag verwirrte sie eindeutig. Er war der letzte Mensch auf Erden, mit dem sie sich auf etwas einlassen wollte. Aber war es nicht genau das, was passiert war? Hatten sie sich nicht bereits aufeinander eingelassen?

Sie hatte plötzlich ein ganzes komisches Gefühl im Bauch, denn ihr wurde klar, dass natürlich längst eine Beziehung zwischen ihnen bestand, woran sich auch nichts ändern würde. Denn solange er der Einzige war, der ihr Geheimnis kannte, hielt er ihr Leben in seiner Hand.

Verdammt.

Tighes Blick ging zwischen ihr und Jag hin und her. Genau wie bei Niall bemerkte sie auch bei Tighe, dass er nicht recht wusste, was er von dem halten sollte, was zwischen ihnen beiden vor sich ging. Sein fragender Blick fiel auf sie, und sie nickte kurz.

Tighe zuckte die Achseln. »In Ordnung. Kougar, du übernimmst mit mir und Niall den Vordereingang. Ewan und Dee bleiben draußen, um alle aufzuhalten, die zu fliehen versuchen.«

Als Tighe dem Blick seiner Frau begegnete, konnte Olivia sehen, dass keiner von beiden begeistert von der Situation war. Delaney wollte beim Angriff mitmachen. Tighe gefiel die Vorstellung nicht, von ihr getrennt zu sein.

Doch Tighes Weigerung, seine Gefährtin mit hineinzunehmen, fand ihre vollste Zustimmung. Der Kampf mit einem Zauberer, der einen mit einem Bann belegen konnte, erforderte besondere Fähigkeiten, für die man Jahrzehnte brauchte, um sie zu erwerben. Eine Fähigkeit, die kein Mensch besaß. Delaney mochte zwar eine Kämpferin sein, doch ihr fehlte die Ausbildung, die dafür sorgte, dass sie am Leben blieb.

»Hawke, sag Bescheid, wenn du dich mit deinen Leuten postiert hast«, sagte Tighe. »Und jetzt los.«

Die Krieger verwandelten sich alle auf einmal in ihre Tiere, wobei die Katzen wieder Hauskatzengröße annahmen. Der Jaguar ging voraus, und Olivia folgte dicht hinter ihm, als sie tiefer in den Wald vordrangen, um um die Festung herumzugehen. Und immer wenn sie in Sichtweite des Hauses kamen, versteckten sie sich hinter Bäumen.

Es würde auf jeden Fall ein gefährlicher Kampf werden, ob die Zauberer sie nun kommen sahen oder nicht. Im Gegensatz zu ihnen konnten die Zauberer beim Kampf auch Magie einsetzen. Magie, die stark genug war, Seelen zu rauben, drei Geisterdämonen zu befreien, und nur der Himmel wusste, was noch. Schwarze Magie. Vielleicht sogar Dämonenzauber, obwohl das keiner so genau wusste. Sie mussten auf alles gefasst sein.

Der Regen wurde stärker, als sie sich dem Haus von hinten näherten, und Olivia fragte sich aufs Neue, ob Mutter Natur wohl wusste, was sie vorhatten.

Olivia war völlig durchnässt. Haar und Hose klebten an ihrer Haut, und durch die Risse in der Jacke war die Nässe sogar unter die Jacke gelangt. Doch sie war im fünfzehnten Jahrhundert aufgewachsen und hatte jahrelang auf sich allein gestellt ein Leben ohne ein festes Dach über dem Kopf geführt, sodass äußerliche Beeinträchtigungen sie nicht weiter störten. Davon abgesehen hatte sie ihre therianische Wildheit nie ganz verloren. Sie hatte sich in der freien Natur und im Regen immer wohler gefühlt als in trockenen modernen Häusern mit Zentralheizung.

Wenn wir alle unsere Positionen eingenommen haben, ertönte Tighes Stimme in ihrem Kopf, dringen wir schnell und mit aller Härte ein. Die meisten von uns haben viele Male gegen die Zauberer gekämpft, aber ich wiederhole es trotzdem. Trennt ihre Hände vom Körper, ehe sie euch verzaubern können. Tötet die Wächter, wenn es notwendig ist, aber nicht die Zauberer. Wir müssen herausfinden, was sie vorhaben. Und haltet nach Dämonen Ausschau. Wenn wir damit recht haben, dass sie nachtaktiv sind, sollten sie eigentlich kein Problem darstellen. Aber wir können uns nicht sicher sein.

Olivias Team begab sich zur Rückseite des Hauses und rückte ganz dicht heran, während sie auf Tighes Zeichen zum Angriff warteten. Ihr gebannter Blick wanderte zu den beiden dicken Holzpfählen, die im Hinterhof standen, und ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sah, wie wässriges Blut an ihnen herunterfloss.

Was für eine schreckliche Art zu sterben.

Hawke nahm wieder menschliche Gestalt an. Olivia zog fragend eine Augenbraue hoch, und Hawke erklärte: »Vögel sind bei einem Kampf zu nichts nütze. Mit meinen Messern bin ich besser bedient.«

Der kleine Jaguar rieb sich an ihrem Bein, ehe seine magischen Kräfte, die ihre Haut auf angenehme Weise zum Kribbeln brachten, ihn zu seiner vollen Größe heranwachsen ließen. Der wunderschöne, ausgewachsene Jaguar drehte seinen dunklen Kopf und schaute zu ihr auf. In den Augen der Katze sah sie Jags Augen, die sie ohne jede Bitterkeit oder Streitlust anschauten, in denen nur eine warme Eindringlichkeit lag.

Sei vorsichtig da drinnen, Rotschopf.

Das werde ich. Sie dachte, er würde sie warnen, keinen zu verletzen, der zu ihnen gehörte, doch seine nächsten Worte belehrten sie eines Besseren.

Nimm dich vor den Zauberern in Acht, Olivia.

Jetzt!, ertönte plötzlich Tighes Stimme in ihrem Kopf.

Der Jaguar rannte los, und Hawke und Olivia folgten ihm auf dem Fuße.

Jag?, dachte sie leise. Sei du auch vorsichtig. Sie war sich nicht sicher, ob er sie gehört hatte. Sie war nicht geübt in telepathischer Kommunikation.

Doch dann streichelte ein leises Schnurren ihren Geist. Das werde ich, Liv. Das werde ich.

Der Jaguar sprang auf die Veranda und stürzte sich durch das Fenster, dessen Scheibe donnernd zerbarst. Dann war er nicht mehr zu sehen. Doch als Olivia ihm folgen wollte, krachte sie gegen etwas Unsichtbares und Festes, sodass sie rückwärts ins Gras fiel und einen Moment lang keine Luft mehr bekam.

»Ein Schutzwall«, murmelte Hawke neben ihr, eine Sekunde bevor er sich in seinen Vogel verwandelte und direkt hindurchflog. Seine Stimme ertönte in ihrem Kopf, und er ließ sie mithören, was er an Tighe weitergab. Nur in Tiergestalt, Tighe. Der Schutzwall verdammte Scheiße!

Hawke flog durch die zerbrochene Scheibe und verstummte. Olivias Herz fing an zu rasen.

Jag? Jag!

Doch keiner antwortete. Sie schaute auf und sah Delaney, Niall und Ewan um die Ecke des Hauses gerannt kommen.

Delaneys Blick loderte vor Wut und Verzweiflung. »Es ist eine Falle! Sie sind in eine Falle gegangen!«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Doch, das kann ich. Tighe und ich sind miteinander verbunden. Ich spüre Bruchstücke von dem, was er fühlt. Und das ist Schmerz. Gütiger Himmel, es ist Schmerz.«

Olivia schaute mit wild pochendem Herzen zum Haus hin. Sie konnten doch nicht vier Krieger auf einmal verlieren! Tief in ihrem Innern zerbrach etwas bei dem Gedanken, dass Jag da drinnen war. Dass er vielleicht nicht wieder herauskommen würde.

»Es muss einen Weg nach drinnen geben. Wir müssen ihnen helfen.«

Aber kaum hatten die letzten Worte ihren Mund verlassen, kam etwas aus dem Fenster geflogen. Etwas entsetzlich Vertrautes.

Ein Dämon.

»Oh mein Gott«, flüsterte Delaney neben ihr und zog ihre Pistole.

»Verdammte Scheiße.« Niall zog genau wie Ewan sein Schwert.

Blut tropfte von den Klauen des Dämons und lief ihm über Mund und Kinn.

Wessen Blut? Wessen Blut?

So viel dazu, den Kriegern des Lichts helfen zu wollen. Jetzt stand ihr eigenes Überleben an erster Stelle.

Olivia zog ihre Messer. Und betete.