21

Die beiden großen Geländewagen verließen einen wenig befahrenen Abschnitt der Landstraße, fuhren an einer eingestürzten Scheune vorbei und dann an einer Stelle mitten in den Wald, die weniger als eine Meile von der Festung der Zauberer bei Harpers Ferry entfernt war.

»Hawke, erkunde mal ein bisschen die Gegend«, sagte Lyon, als Hawke den Motor ausstellte.

Hawke nickte, öffnete die Tür, verwandelte sich in seinen Vogel und erhob sich in die Lüfte. Die anderen Krieger stiegen ebenfalls aus dem Fahrzeug aus, und das zweite Team, zu dem auch die Frauen gehörten, kam vom Hummer zu ihnen herüber.

Die Luft roch nach Regen und Frühling, der Wald strahlte Ruhe und Frieden aus. Doch Jag umgab nichts Friedliches. Kaum hatte er die Füße auf den Boden gesetzt, als er sich die Kleider vom Leib riss und sich in seinen Jaguar verwandelte.

Olivia? Liv!

Aber er bekam keine Antwort. Würde sie antworten, wenn sie verwandelt worden war? Würde sie ihn zu sich locken?

Wenn sie nun überhaupt nicht hier draußen war? Wenn man sie nun ganz woanders hingebracht hatte und er sie nie wiederfand?

Verdammt, er ertrug diese Unsicherheit nicht.

Die schwere Last der Schuld wollte sich wieder auf seine Schultern senken, doch er ließ es nicht zu. Er würde sie finden. Das war alles, was er tun konnte. Alles, was jetzt wichtig war.

Er streifte in seiner tierischen Gestalt umher und suchte nach ihrer Fährte, doch ohne Erfolg. Aber er würde sie ohnehin nicht aufspüren, wenn sie mit einem Auto hergebracht worden war. Dass keine Fährte von ihr da war, bedeutete also nicht, dass sie nicht hier irgendwo in der Nähe festgehalten wurde.

Kurz darauf kehrte Hawke zurück, landete in dem kleinen Wäldchen und nahm wieder menschliche Gestalt an.

»Das Haus sieht genau wie beim letzten Mal aus. Die Fensterläden sind geschlossen und nirgends eine Spur von Zauberern.«

»Wir gehen alle zusammen rein«, sagte Lyon mit grimmiger, aber entschlossener Miene. »Wenn wir wieder in die gleiche Situation wie letztes Mal geraten, werden wir voneinander getrennt werden und müssen einzeln gegen die Dämonen kämpfen, doch dieses Mal sind wir vorbereitet. Bleibt in eurer tierischen Gestalt und kämpft euch bis in die Mitte des Hauses vor. Irgendwo muss der Schutzwall aufhören. Wenn wir weit genug vordringen, kommen wir durch. Aber bevor es losgeht, müssen wir so stark wie möglich sein.«

Er hob die Hand, und Kara trat zu ihm, sodass er seinen Arm um ihre Schulter legen konnte. »Wir beschwören einen Lichtkreis herauf und beginnen mit der Strahlung. Skye, von dir möchte ich auch, dass du deine Zauberkräfte heraufbeschwörst. Wir werden jeden Vorteil brauchen, den wir kriegen können.«

Lyons Blick fiel auf Vhyper. »Wenn die Frauen fertig sind, will ich, dass du mit allen Nicht-Kriegern wieder in den Hummer steigst, wo du weder von Zauberern noch von Dämonen überrascht werden kannst. Hawke, du wirst diesmal draußen bleiben und über dem Haus kreisen.«

Vhyper verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich würde lieber bei der Erstürmung dabei sein. Ich werde dir nicht wieder in den Rücken fallen, Boss.«

»Wenn ich diesen Verdacht hätte, würde ich dich nie auf die Strahlende aufpassen lassen. Aber das bedeutet nicht, dass ich bereit bin, dich wieder in die Nähe von Zauberern zu lassen.« Lyon warf Skye einen schnellen Blick zu. »Anwesende ausgenommen. Vhype, du weißt genauso wenig wie wir, ob sie nicht noch irgendwie Macht über dich besitzen. Wir können dieses Risiko nicht eingehen.« Er klatschte in die Hände. »Lasst uns den Kreis bilden. Macht euch bereit für das Ritual.«

Während die Krieger ihre Hemden abstreiften, sang Kougar die Worte, die mitten in dem Wäldchen einen Kreis heraufbeschworen, in den kein Mensch hineinsehen konnte noch in der Lage war zu hören, was darin vorging. Jag nahm wieder seine menschliche Gestalt an und streifte seine Hose über.

Der Kreis war groß genug für alle, doch nur die Krieger versammelten sich um Kara und berührten sie, während sie Lyons Hände hielt. Alle standen mit bloßem Oberkörper da, sodass die goldenen Armreifen zu sehen waren, die jeder Einzelne von ihnen am Oberarm trug und die die von Kara heraufbeschworene Energie weiterleiteten.

Jag stand neben Kara und hatte seine Hand auf ihren Unterarm gelegt, als sie die Strahlung herbeirief, die die Kraft als warme Woge durch seinen Körper strömen ließ. Mehr als eine Minute lang nahmen sie die Energie auf, die sie ihnen gab, dann ließ sie die Strahlung wieder verlöschen. Alle ließen sie los, und sie trat zur Seite. Die Krieger vergrößerten den Kreis, und Skye nahm den Platz in der Mitte ein.

Skye war eine zarte, zierliche Frau, die ein hauchdünnes, blaues Kultgewand trug. Das dunkle Haar war sehr kurz und die von einem kupferfarbenen Ring umgebenen Augen der Zauberer waren auf Paenther gerichtet. Nicht in einer Million Jahre hätte Jag damit gerechnet, dass Paenther eine Zauberin zur Frau nehmen würde. Andererseits war Skye keine gewöhnliche Zauberin, sondern eine Circe, die eine seltene und starke Verbundenheit zu Tieren besaß – auch zu jenen, die sich in Menschen verwandelten.

Kougar gab den Gesang vor, während sie sich alle nacheinander mit einer von Kougars Klingen einen Schnitt auf der Brust beibrachten. Als Jag an der Reihe war, schlitzte er sich die Haut an der Brust auf, legte die flache Hand auf die Wunde, um sie dann um das Blut zur Faust zu ballen, und hob die Faust hoch in die Luft.

Alle acht Krieger legten gleichzeitig den Kopf in den Nacken und brüllten zum Baldachin der Bäume hinauf, sodass es wie ein Sturm durch den Wald brauste: »Geister erwachet. Versammelt euch und versorgt die Tiere unter diesem Himmel mit eurer Kraft!«

»Tanz, meine Schöne«, drängte Paenther sie.

Als sich die zarte Zauberin zu drehen begann und dabei die Arme hoch über den Kopf hob, setzte ein mystisches Donnergrollen ein, und der Boden unter ihren Füßen begann zu beben. Lichtkreise waren an bestimmten heiligen Stätten dem Fels der Göttin und auf der Lichtung hinter dem Haus des Lichts für gewöhnlich stärker und wirksamer. Doch Karas Strahlung und Skyes Gabe gewährten den Kriegern einen Zugriff auf die Kraft der Erde, wie sie es noch nie erlebt hatten.

»Versorgt den Löwen mit Kraft!«

»Den Panther!«

»Den Jaguar!«

Einer nach dem anderen beschworen die Krieger des Lichts den Geist und die Kraft ihrer Tiere herauf.

Dieses Mal spürte Jag statt des üblichen Energieschubs ein angenehmes Kribbeln durch seinen Körper strömen. Eine allumfassende Ruhe und Freude, als hätte Skye sie in den Himmel versetzt.

Als es vorbei war, grinste jeder Einzelne von ihnen, sogar Jags Lippen verzogen sich für eine halbe Sekunde zu einem Lächeln, ehe die Furcht um Olivia wieder alle anderen Empfindungen auslöschte.

»Auf geht’s!« Lyons Ruf ließ auch das letzte Lächeln verschwinden, und die sechs Krieger brachen auf. Völlig lautlos huschten sie auf zwei Beinen durch den Wald, während sich Hawke in die Lüfte erhob.

Lyon sah Jag an, und mit einem Nicken übernahm Jag die Führung. Er hatte die baufällige Festung der Zauberer als Erster entdeckt, und er war der Einzige, der spürte, wenn Olivia Nahrung zu sich nahm. Er musste sie anführen, das wussten alle.

Während er durch den Wald lief, quälte ihn eine Frage, die ihm keine Ruhe ließ. Wie sollte er es über sich bringen, sie zu töten, wenn sie umgewandelt worden war? Sie war die Luft, die er zum Atmen brauchte, das Herz, das in seiner Brust schlug. Wie konnte er sie vernichten, wenn er wusste, dass es unter Umständen die Möglichkeit gab, dass sie doch noch irgendwo da drin war, ihre Seele nicht zerstört, sondern nur geknechtet, wie es bei Vhyper der Fall gewesen war?

Mit jeder Faser seines Seins brannte er darauf, sie zu retten, sie zu beschützen, und dem Geist des Tieres, mit dem er den Körper teilte, ging es ebenso.

Doch seine Pflicht und Ergebenheit den Kriegern des Lichts gegenüber verlangte, dass er sie vernichtete, ehe sie sie vernichtete. Und er hegte keinen Zweifel daran, dass sie es auf die Krieger des Lichts abgesehen haben würde. Wie sollte er mit dem Bewusstsein der Schuld leben, wenn sie einen oder mehrere von seinen Gefährten tötete, weil er es versäumt hatte, sie aufzuhalten?

Er fing gerade erst an zu begreifen, wie seine Schuldgefühle wegen Cordelias Tod, den er ja nicht absichtlich herbeigeführt hatte, ihn über Jahrhunderte zerrüttet hatten. Wie sollte er da mit Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten von Toten leben, die er bewusst, bereitwillig, in Kauf genommen hatte?

Er würde es nicht tun, so einfach war das. Er konnte es nicht geschehen lassen. Falls es zu spät war, wenn er sie fand, falls sie bereits umgewandelt war, würde er sie töten.

Er hatte keine andere Wahl. Die Göttin stehe ihm bei. Er würde ihr das Leben nehmen und dabei wahrscheinlich seines auch verlieren. Das einzig Gute daran war, dass er nicht ohne sie würde weiterleben müssen.

Als er die dreckige, weiße Hausverkleidung erspähte, von der die Farbe abblätterte, blieb er stehen.

»Sie ist nicht da drin.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte Lyon ihn.

»Ich weiß es nicht.« Leicht verwirrt sah er Tighe an. Aus irgendeinem Grund war er sicher, dass der Tiger-Gestaltwandler es verstehen würde. »Da ist so eine Helligkeit in mir. Ein Glühen, wenn sie in der Nähe ist.«

Tighe nickte, und sein Blick sagte ihm, dass er tatsächlich verstand. »Die Ansätze von Partnerbindung. Und das ist nicht mehr da?«

»Ja.«

Tighes Miene veränderte sich, Mitgefühl trat in seinen Blick, und Jag wusste, dass er ihn falsch verstanden hatte.

»Das Glühen ist nicht weg, Streifentier. Das meinte ich nicht.« Sie war nicht tot, der Göttin sei Dank. »Ich fühle es immer noch. Es ist nur nicht hier.«

Tighes Gesichtsausdruck, seine ganze Haltung änderten sich. Nun war er wieder der Jäger. »Kannst du sie darüber aufspüren?«

»Nein. Dafür ist es nicht stark genug.« Doch als er sich abwandte, um weiterzusuchen, hielt Lyon ihn auf.

»Wir greifen die Festung der Zauberer an, Jag.«

Jags Hände ballten sich zu Fäusten. »Ich muss Olivia finden!« Das Bedürfnis danach fraß ihn bei lebendigem Leibe auf.

Tighe legte Jag eine Hand auf die Schulter. »Wenn wir einen der Zauberer gefangen nehmen und zum Reden bringen können, finden wir sie unter Umständen viel schneller.«

Alles in ihm lehnte sich gegen den Vorschlag auf. Er musste sie jetzt finden. Doch Tighe hatte recht. Er hatte keine Ahnung, wo er nach ihr hätte suchen sollen.

Lyon begann bereits, Befehle auszugeben. »Schwärmt aus und umzingelt das Haus. Wenn wir angegriffen werden und wieder menschliche Gestalt annehmen müssen, soll sich kein Krieger in Reichweite von Messerklingen oder Klauen befinden. Verwandelt euch und nehmt eure Positionen ein!«

Jag streifte wie Lyon und Wulfe seine Kleider ab, und dann verwandelten sich alle in ihre Tiere. Während Hawke über dem Haus seine Kreise zog, liefen die anderen auf vier Beinen ums Haus herum und gingen auf ihre Plätze.

Jags Magen zog sich vor Ungeduld zusammen, denn er wollte das alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Olivia war nicht hier. Und sie brauchte ihn!

Jetzt!, ertönte Lyons Stimme in seinem Kopf.

Durch einen Schleier heftigen Schmerzes hörte Olivia, wie sich die Kellertür öffnete. Wie lange wurde sie nun schon festgehalten? Doch das war unwichtig. Sie würde den Menschen keine Lebenskraft entziehen. Auf gar keinen Fall!

Mühsam zog sie die Augenlider hoch und sah Mystery mit einer dunklen Kugel in der Hand, die knackte und aufleuchtete, als würden sich darin echte Blitze entladen. Es handelte sich um eine Energiekugel, die denen glich, welche unter der Regenrinne des Hauses der Zauberer gehangen hatten, als sie und Jag das Haus entdeckt hatten. Hinter Mystery traten zwei weitere Zauberer in den Raum, von denen der eine einen Stapel Schüsseln trug und der andere eine kleine, brennende Fackel in der Hand hielt.

Mit verschwommenem Blick und wachsendem Unbehagen nahm sie wahr, dass die beiden Männer die Schüsseln im Kreis um ihren zylindrisch geformten Käfig aufstellten und etwas darin entzündeten. Gleich darauf war sie von mehr als einem Dutzend Feuern umgeben, Feuer, die bestimmt für irgendeinen Zauber benutzt werden sollten.

Das war nicht gut.

Jag!

Keine Antwort. Sei nicht tot, Jag. Sei nicht tot. Lyon? Tighe!

Doch keiner der Krieger des Lichts schien so nah, dass er sie hören konnte, oder wenn doch, war jedenfalls gerade keiner in seiner tierischen Gestalt. Oder vielleicht unterband der Käfig, der sie daran hinderte, Nahrung zu sich zu nehmen, auch die Kommunikation mit jenen, die sich draußen befanden.

Sie klammerte sich an die vage Hoffnung, dass die Krieger sie fanden, ehe es zu spät war. Dass Jag noch am Leben war.

Mystery hob die Hände, und die Energiekugel schwebte genau über die Teströhre, die gefangenen Lichter sprühten und funkelten.

Der Hunger raste durch Olivias Eingeweide, versengte ihr Fleisch, und der Schmerz war wie etwas, das in ihr lebte und atmete. Ein Krampf breitete sich in ihrem Kiefer aus, so fest biss sie die Zähne zusammen, um nicht den Schrei auszustoßen, der durch ihren Kopf dröhnte.

Die Menschen standen immer noch vor ihr, verzaubert, Olivia ihrer beider Leben anbietend.

Nein, sie boten es nicht an.

Mystery sang in einer Sprache, bei der Olivia sicher war, dass sie aus alten Zeiten der Zauberer stammte. Als die Männer in den Gesang einfielen, kniff Olivia sofort die Augen zu, aber gegen den Klang vermochte sie nichts auszurichten. Die Stimmen hallten in ihrem Kopf wider und wiederholten in einem fort die gleiche Folge von Worten.

Der Raum füllte sich mit immer mehr Energie, die um sie herumwirbelte und ihr bereits brennendes Fleisch durchbohrte. Immer stärker begann sie schließlich, in jede einzelne Pore einzudringen, sich wie glühende Kohle durch ihren Körper zu schlängeln, um die Flammen ihres Hungers zu schüren. Wie ein Geschwür breitete sich die schwarze Magie aus und entfaltete ihre Wirkung, indem sie von ihren Innereien, den Organen, ihrem Geist Besitz ergriff und an ihrer mühsam aufrechterhaltenen Selbstbeherrschung zerrte.

»Nein!« Das Wort brach wie ein Schrei aus ihr hervor.

»Doch, du, die du anderen die Lebenskraft raubst«, sagte Mystery tonlos. »Du wirst dich uns nicht mehr widersetzen.«

Mit aller Macht versuchte Olivia standzuhalten, doch nicht einmal ihre ausgeprägte Willenskraft konnte es mit Magie aufnehmen. Ein sengender Feuerstoß und die Kontrolle über ihre Selbstbeherrschung wurde ihr entrissen.

Und sie begann, Nahrung zu sich zu nehmen.

Sie riss die Augen auf. Wut und Entsetzen erfüllten ihren Geist, während ihr Körper frohlockte. Sie saugte die Lebenskraft ein, die ihre Sinne seit, wie es ihr schien, Stunden gequält hatte. Sie hörte noch nicht einmal auf zu saugen, als die Menschen anfingen zu schwanken, noch nicht einmal, als sie sah, wie sie zusammenbrachen. Sie saugte so lange, bis es keine Lebenskraft im Käfig mehr gab außer ihrer eigenen. Und trotzdem wollte sie noch mehr, brauchte sie noch mehr.

Während der vom Hunger ausgelöste Schmerz schwächer wurde, erfasste das Entsetzen darüber, was sie getan hatte, bereits Herz und Verstand.

Sie hatte sie umgebracht.

Zwar nicht aus freien Stücken. Auf gar keinen Fall aus freien Stücken.

Aber nichtsdestotrotz waren die Menschen tot.

»Es ist so weit.« Mystery trat an die Plexiglastür und öffnete sie. »Du bist bereit.«

Olivia starrte sie an. »Bereit für was?« Aber sie fürchtete, dass sie es bereits wusste. Sie saugte mit aller Kraft, in dem Bemühen, Mystery zu überwältigen, doch die Zauberin war darauf vorbereitet.

Sie packte Olivias Arm, und diese hatte mit ihrer geschwächten Willenskraft der Frau nichts entgegenzusetzen.

»Du bist bereit, uns dabei zu helfen, die Krieger des Lichts zu vernichten.«

Ehe Olivia auch nur Atem holen konnte, um zu widersprechen, wurde vor ihren Augen alles schwarz, und ihr Geist verdunkelte sich, als sich der Zauberbann über sie legte.

Die Krieger des Lichts setzten sich alle auf einmal in ihrer tierischen Gestalt in Bewegung, sprangen auf die Veranda und drangen von hinten in das Haus ein, wobei sie alle Fenster des baufälligen weißen Hauses zerbrachen.

Jag stürzte durch die Hintertür ins Haus und landete nicht wie schon einmal im schwarzen Loch eines Schutzwalls, sondern in einer alten heruntergekommenen Küche. Der Geruch von vergammeltem Fleisch stieg ihm widerlich beißend in die Nase. Es war richtiges Fleisch. Diesmal ging der Gestank nicht von einem Dämon aus.

Wolf und Tiger schlossen sich ihm an.

Diesmal gibt es keinen Schutzwall, meinte Tighe. Hier stinkt’s.

Lyon kam auf vier Tatzen durch die Küchentür herein. Leichen. Schwärmt aus. Sucht zu zweit.

Fünf lange Minuten später kamen die Krieger jetzt wieder in ihrer menschlichen Gestalt draußen zusammen. Jag ging auf und ab. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper zuckte vor Verlangen loszurasen.

»Vier tote Menschen verwesen in einem der oberen Schlafzimmer, sonst war nichts zu finden«, berichtete Paenther. »Die Zauberer scheinen abgezogen zu sein.«

»Wir müssen Olivia finden«, stieß Jag zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Lyon schaute ihn an. »Sieh in dich hinein. Wenn du tatsächlich angefangen hast, eine Partnerbindung zu ihr aufzubauen, bist du der Einzige, der sie finden kann. Hör auf deine innere Stimme.«

Tighe trat neben Lyon. »Ich spüre die Bindung zu Delaney in meinem Innern. Es ist wie ein heller Faden. Bei dir könnte es anders sein, aber überprüf es einfach mal. Schau, ob es dich irgendwohin zieht.«

Jag schloss die Augen. Es würde nicht klappen. Er mochte das Glühen zwar noch spüren, weil er sie liebte, doch jegliche Beziehung, die sich zwischen ihnen angebahnt haben mochte, war von ihm zerschlagen worden.

Olivia!, rief er, obwohl er wusste, dass sie nicht antworten würde.

Jag?

Jags Herz setzte einen Schlag aus und fing dann an zu rasen. Liv? Liv! Wo bist du?

Komm nicht her, Jag. Komm nicht her.

Wo bist du? Sag mir, wo du bist! Liv!

Aber die Stimme in seinem Kopf sagte nichts mehr.

Jag riss die Augen auf. »Sie hat mit mir gesprochen. Sie hat gesagt, dass ich nicht kommen soll, aber nicht, wo sie gerade ist.«

»Dann ist sie ganz in der Nähe. Hawke«, stieß Lyon hervor.

»Ich kümmere mich drum.« Der Gestaltwandler erhob sich in die Lüfte.

Tighe packte Jags Schulter. »Fühle sie. Denk nicht darüber nach, wo sie sein könnte, sondern fühle nur.«

Tief in seinem Innern begann sich das warme Glühen, das Olivia war, zu drehen. Langsam erst, dann immer schneller, bis er das Gefühl hatte, als würde es wie ein außer Kontrolle geratener Kompass in seiner Brust herumwirbeln. Würde es irgendwann aufhören und in die Richtung zeigen, in die er gehen musste?

»Tighe «

»Konzentrier dich, Jag. Fühle.«

Schaut hoch, brüllte plötzlich Hawkes Stimme in seinem Kopf. In allen Köpfen. Dämonen!

»Da!« Wulfes Klauen und Reißzähne traten hervor, während er zu den Bäumen hinter dem Haus schaute.

»Verdammt«, stieß Tighe hervor. »Alle drei.«

Jag drehte sich um und starrte die drei Monster mit einer Mischung aus Frustration und abgrundtiefer Erleichterung an. Frustration, weil die Suche nach Olivia jetzt warten musste, und Erleichterung, dass die Dämonen hier und nicht bei ihr waren.

Die drei Dämonen sahen fast identisch aus die gleichen fließenden, umhangähnlichen schwarzen Leiber, das gleiche schwarze, schlangenartige Haar. Alle mit schrecklichen Fratzen voller Reißzähne, die jedoch trotzdem eine verstörende Individualität aufzuweisen schienen. Die drei wischten schnell zwischen den Bäumen etwa drei Meter über dem Boden durch die Luft. Dabei sahen sie zwar zu den Kriegern hin, machten aber keine Anstalten anzugreifen, sondern setzten einfach nur ihren Weg fort, als hätten sie ein bestimmtes Ziel.

Tighe gab einen angeekelten Laut von sich. »Wo wollen die hin?«

»Meinst du, dass die Angst vor uns haben?«, fragte Wulfe.

Keiner antwortete. Keiner wusste eine Antwort darauf.

»Auf geht’s«, sagte Lyon. »Wir müssen diese Bestien vernichten.«

»Wenn es uns gelingt, sie einzufangen«, murmelte Tighe.

Als sie losliefen, hörte das Drehen in Jags Brust plötzlich auf, und er begriff.

»Ich kann Olivia spüren. Ich weiß jetzt, in welcher Richtung sie sich befindet.«

Lyon sah ihn an. »Wir teilen uns auf.«

Jag schüttelte den Kopf. Das Herz war ihm bis in die Kniekehlen gerutscht. »Das brauchen wir nicht. Die Dämonen bewegen sich genau in ihre Richtung.«