5
Als Jag und Olivia die Stelle erreichten, wo die Flüsse Shenandoah und Potomac wild strudelnd zusammenflossen, dort bei dem kleinen Touristendörfchen Harpers Ferry in West-Virginia, stand die Sonne noch hoch am Himmel, hatte aber bereits ihren Zenit überschritten.
Olivia schaute aus dem Fenster von Jags Hummer, während sie die Uferstraße entlangfuhren, und war wie verzaubert von den Klippen, die die Flüsse einfassten, wo Virginia, Maryland und West-Virginia aufeinandertrafen. So viele Jahre sie auch in den Vereinigten Staaten gelebt haben mochte, war sie doch nie in dieser Gegend gewesen.
Jag hielt vor dem kleinen, malerischen Slumberside-Motel an. »Warte hier, während ich den Zimmerschlüssel hole.«
»Wird hier denn alles überwacht?«, fragte sie überrascht.
»Nein. Aber wir müssen am Tage schlafen können.«
Ein paar Minuten später kam er zurück, fuhr aus der kleinen Stadt und in eine ruhige Wohnstraße, wo er anhielt und parkte.
»Jetzt fängt der Spaß erst an«, murmelte er und bedachte sie mit seinem patentierten teuflischen Grinsen, als er die Fahrertür öffnete und ausstieg. Sie streckte schon die Hand nach ihrem Türgriff aus, als er die hintere Tür aufmachte, auf die Rückbank kletterte und die Tür hinter sich zuzog.
»Was machst du da?«
Er antwortete nicht, sondern zog sich nur das T-Shirt über den Kopf, sodass sie einen perfekten Blick auf harte Muskeln erhielt. Dann begann er, den Gürtel seiner Tarnhose zu öffnen.
»Ich werde mich nicht zu dir nach hinten gesellen, Katze, wenn es das ist, was du im Sinn hast.«
Er zog eine Augenbraue hoch und heftete seinen durchdringenden Blick auf sie. »Ich könnte dich dazu bringen, deine Meinung zu ändern.«
Sie riss eins ihrer Messer heraus und ließ es zwischen den Fingern wirbeln. »Du kannst es ja versuchen.«
Sein Grinsen wurde zu einem Strahlen und breit vor echter Erheiterung, als sie ihn so herausforderte. »Ich gehe auf die Jagd.«
Perfekt. Endlich … das war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte, um Nahrung zu sich zu nehmen, während er unterwegs war.
Dann ging ihr erst auf, was seine Worte eigentlich bedeuteten, und ihre Augen wurden ganz groß.
»Du wandelst deine Gestalt?« Ein leiser Schauer der Erregung durchrieselte sie bei der Aussicht, dass er sich direkt vor ihren Augen in sein Tier verwandelte. Das erste Mal, dass sie gesehen hatte, wie er sich verwandelte, das erste Mal, dass sie überhaupt gesehen hatte, wie ein Krieger des Lichts sich verwandelte, war letzte Woche gewesen, als sie, Ewan und Niall ins Haus des Lichts gekommen waren, um sich mit Lyon zu treffen. Jag hatte sich verwandelt, ohne es zu wollen – Schuld waren Zauberkräfte gewesen. Doch es war schnell gegangen, und sie hatte ihn gerade sowieso ignoriert, weshalb sie nicht in seine Richtung geschaut hatte. Dieses Mal würde sie ihren Blick auf keinen Fall von ihm abwenden.
»Ich dachte immer, Krieger könnten während der Verwandlung ihre Kleidung anbehalten«, murmelte sie. »Aber du kannst es anscheinend nicht, oder?«
»Manche können es. Ich nicht. Der Zauber lässt sie verschwinden.« Jag zog ein Knie hoch, um seinen Stiefel auszuziehen. »Ich kann die Fährte von diesem Dämon nur in meiner tierischen Gestalt aufnehmen. Du kommst mit.«
Keine Chance. »Ich dachte mir, ein bisschen herumzufahren und zu schauen, ob ich etwas Verdächtiges sehe.« Sie spürte von seiner Seite keinerlei Neigung, auf ihren Vorschlag einzugehen. »Davon abgesehen muss ich auch auf die Toilette.«
Als er ihr einen kurzen Blick zuwarf und sie die Resignation darin sah, wusste sie, dass sie ihn hatte.
»Entfern dich nicht zu weit. Ich kann mit dir nur in einem Umkreis von einer halben Meile reden. Ich werde dich informieren, sobald ich etwas finde. Du machst das Gleiche.«
»In Ordnung.« Sie wusste, dass Krieger des Lichts in ihrer tierischen Gestalt auf telepathischem Wege kommunizieren konnten. Bis zu einer halben Meile konnte er sich mit ihr unterhalten. Entfernten sie sich weiter voneinander, brach die Verbindung ab. Sie nahm an, dass das wahrscheinlich auch für seine Fähigkeit galt, zu spüren, wenn sie Nahrung zu sich nahm. Das bedeutete also, dass sie sich als Erstes mehr als eine halbe Meile von ihm entfernen musste.
Jag würde es nicht gefallen, wenn er es herausfand. Sie würde sich eine Entschuldigung ausdenken müssen, wenn er es merkte.
Jag kämpfte sich mühsam aus seiner Hose. Er hatte nicht viel Platz, obwohl das Auto eigentlich groß war, doch es wirkte klein und beengt, wenn darin ein Mann seiner Größe hockte. Sie wusste, dass sie ihn nur zu noch mehr Sex-Gerede animieren würde, wenn sie ihm beim Ausziehen zusah, aber zum Teufel mit dem Stolz, sie wollte sich keine einzige Sekunde davon entgehen lassen.
Mit einem letzten Ruck entledigte er sich seiner Kleidung und setzte sich mit den Händen auf den Knien zurück, während er laut ausatmete.
Heilige Göttin, er war wirklich ein gut aussehender Mann. An der Innenseite seines Oberschenkels befanden sich vier lange Narben, die aussahen, als wären sie ihm von Krallen beigebracht worden. Mit einem leisen Schauer erkannte sie, dass es die Male waren, mit denen er zu einem Krieger des Lichts gezeichnet worden war. Jeder Krieger trug diese Male irgendwo an seinem Körper, wenn der Geist seines Tieres ihn zeichnete.
Interessiert wanderte ihr Blick von den Malen auf seinem Schenkel zu dem Teil seiner Anatomie, der sie am meisten faszinierte. Auf dem weichen Kissen brauner Haare in seinem Schoß lag ein schöner, großer Penis.
Unter ihrem bewundernden Blick begann das Fleisch zu zucken und wurde noch länger und dicker.
»Gefällt dir, was du siehst, Süße?«, fragte Jag mit gedehnter Stimme.
Sie hob den Blick und sah, dass seine Augen vor Erheiterung und wachsender Leidenschaft glitzerten.
»Die Wurzel ist von Wert. Der Baum, an dem sie hängt, aber weniger.«
Sein Mund verzog sich zu einem harten Lächeln, und seine Augen begannen zu funkeln. »Du willst einen Ritt. Denk ja nicht, dass ich das nicht merke, Rotschopf. Ich kann riechen, dass du heiß bist.«
Sie konnte es nicht leugnen. Aber sie würde es leugnen … ihm gegenüber. Vor sich selbst auf keinen Fall. Zu sehen, wie er anschwoll und größer wurde, löste eine Flut feuchter Wärme zwischen ihren Schenkeln aus, während ihre Brüste kribbelten und zu schmerzen anfingen.
»Das Einzige, was du riechst, ist deine eigene Arroganz, Krieger.« Aber sogar in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme gepresst, und ihr war klar, dass er nur allzu genau wusste, was sein Anblick bei ihr auslöste.
Er sah sie eine ganze Weile lang an, und das Versprechen von Leidenschaft und Provokation hing schwer zwischen ihnen. Schließlich schnaubte er kurz, womit er ihr kundtat, dass er sie für einen Feigling hielt, und deutete mit dem Kinn auf das Lenkrad. »Der Schlüssel steckt.« Ohne Vorwarnung begann er in einer Million Farben zu funkeln, und der Mann verschwand. Wo er eben noch gesessen hatte, hockte jetzt ein perfekt gebauter Jaguar, der die Größe einer Hauskatze hatte. Sein Fell war dunkler als das der meisten Jaguare, fast schwarz an Gesicht und Beinen, doch wo das Fell auf Rücken und Schwanz heller war, konnte man die Flecken deutlich erkennen.
Sie musste ein aufgeregtes Keuchen unterdrücken, so fasziniert war sie, etwas derartig Ungewöhnliches, etwas so Magisches zu sehen.
»Du bist etwas klein, nicht wahr?«
Miststück. Sie hörte ihn so klar und deutlich in ihrem Kopf, als hätte er das Wort laut ausgesprochen. Seine Stimme zitterte vor Lachen. Während sie ihn anstarrte, merkte sie, dass er wuchs. Und zwar schnell. Zentimeter um Zentimeter, einen halben Meter, ein Meter, bis er zwei Sitzplätze einnahm und von einer Seite des Wagens bis zur anderen reichte. Ein großer, voll ausgewachsener Jaguar.
Plötzlich begriff sie, warum er ein Auto mit abgedunkelten Fenstern fuhr.
Sein Schwanz zuckte, und die Luft war vom Duft seines warmen Fells erfüllt, der ihre Sinne einnahm. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, teils vor Entzücken, teils vor Angst, einer archaischen, ursprünglichen Angst.
Als würde er ihren erhöhten Pulsschlag hören, drehte er seinen Kopf in ihre Richtung und stieß ein leises Knurren aus, das einen starken Kiefer und scharfe, spitze Zähne enthüllte.
Mit einem Ruck wich Olivia unwillkürlich Richtung Armaturenbrett zurück und griff nach ihrem Messer.
In ihrem Kopf hörte sie sein Lachen: Wer ist hier klein, Rotschöpfchen?
Sie sah ihm in die Jaguaraugen und erkannte spöttische Erheiterung und scharfe Intelligenz, was sie daran erinnerte, dass er kein echter Jaguar, sondern nur ihr nervtötender Partner in einer anderen Gestalt war. Langsam begann sich ihr Herzschlag zu beruhigen.
»Ein Punkt für dich, Krieger. Warum die Mini-Ausgabe?«
Man hält mich unter Umständen für eine Hauskatze, wenn ich kleiner bin.
»Nur jemand, der nicht so genau hinschaut.«
Das dunkle Gesicht mit den Schnurrhaaren ging hoch und runter. Ich werde etwas Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Das tue ich immer. Aber diejenigen, die mich bemerken, werden mich einfach nur für etwas seltsam halten. Es sind Menschen. Was sollten sie sonst denken?
Langsam wurde er wieder kleiner. Als das Tier auf der Rückbank wieder auf einen Sitz passte, sprang er nach vorn auf ihren Schoß. Seine Pfoten drückten sich in ihre Schenkel, und seine Nase senkte sich schnurstracks in ihren Schritt.
Du riechst gut, Rotschopf.
Olivia schob seinen Kopf weg. »Du bist in jeder Gestalt unausstehlich, nicht wahr?«
Wüsste gar nicht, wie ich mich sonst verhalten soll. Öffne die Tür und lass die Fenster unten. Der Hummer hält Drader ab, was bedeutet, dass bei geschlossenem Fahrzeug auch keine Kommunikation mit mir möglich ist.
Mit einer Hand hielt sie seinen Kopf in Schach, und mit der anderen öffnete sie die Beifahrertür. Der kleine Jaguar gab ein leises, zustimmendes Knurren von sich und sprang hinaus.
Bleib da, wo du mich hören kannst, Olivia.
Natürlich, erwiderte sie und wusste ganz genau, dass sie das nicht tun würde. Kannst du mich hören? Sie hatte nur ein einziges Mal auf telepathischem Wege kommuniziert, als sie letzte Woche Lyon im Haus des Lichts kennengelernt hatte. Alles war ein bisschen außer Kontrolle geraten, als mehrere Krieger sich verwandelt hatten, ohne es eigentlich zu wollen, und Lyon hatte die Bitte um Unterstützung von therianischer Seite in ihren Kopf gesendet. Doch sie selbst hatte nie versucht, auf telepathischem Wege mit jemandem zu kommunizieren.
Ich höre dich laut und deutlich.
Ihr kam ein schrecklicher Gedanke. Wenn er ihre Gedanken hören konnte, konnte er dann auch in ihrem Kopf lesen? Vor Furcht bekam sie kaum noch Luft.
Jag?
Was ist, Olivia?, fragte er mit scharfer Stimme.
Verdammt, sie musste ihm wohl ihre Angst vermittelt haben. Beruhige dich, beruhige dich, beruhige dich.
Ich habe mich gerade gefragt, wie es funktioniert. Was von meinen Gedanken bekommst du eigentlich mit?
Sie hörte sein Kichern in ihrem Kopf. Hast du Sorge, ich könnte alle deine Geheimnisse erfahren, Rotschöpfchen? Seine Stimme klang jetzt wieder gedehnt und träge.
Sie holte mehrmals tief Luft und versuchte, ihre Unruhe unter Kontrolle zu bringen. Ich habe mich nur gefragt.
Entspann dich, Schätzchen. Ich kann nur die Gedanken hören, die man an mich richtet. Normalerweise. Aber so wie ich auf dich abfahre, wer weiß? Vielleicht höre ich ja die schrecklichen Sachen, die du mit meinem Körper machen willst.
Olivia strich sich mit leicht zittriger Hand die Haare aus dem Gesicht. Spielte er nur mit ihr? Oder sagte er die Wahrheit? Verdammt. Konnte sie es wagen?
Stöhnend fing sie bei tausend an, rückwärts zu zählen. Alles, alles nur, damit er nicht ihre Gedanken las. Denn wenn er es tat, wenn er ihr Geheimnis erfuhr, galt für sie nur noch eins: Game over.
Jag lief auf allen vieren los, und alle seine Katzensinne waren darauf gerichtet, den widerlichen Geruch aufzuspüren, den er nur zu gut aus der Höhle in Erinnerung hatte, wo die Zauberer die ersten drei Geisterdämonen aus der verzauberten Klinge der Dämonen freigesetzt hatten. Der Geruch hatte ihn an verwestes Fleisch erinnert, nur noch schlimmer. Viel schlimmer. Als hätte das Böse selbst einen Geruch.
Es müsste leicht sein, den Geruch wiederzuerkennen, wenn er ihm unterkam. Leider könnte sich das als ein ziemlich großes »Wenn« erweisen. Harpers Ferry war weit von der Höhle entfernt. Aller Voraussicht nach würden sie nur auf das Werk eines menschlichen Serienmörders stoßen. Das war ein Problem, um das sich die Menschen kümmern mussten, nicht die unsterbliche Brigade.
Er tappte durch Hintergärten und hielt sich in der Nähe von Büschen und Rabatten, wo er vor allzu neugierig spähenden Blicken sicher war.
Zu dumm, dass er Olivia nicht dazu hatte überreden können, ihn zu begleiten. Er hätte ihre Gesellschaft genossen. Die Frau hatte Krallen, hübsch spitze Krallen, die sich immer an den richtigen Stellen in sein Fleisch bohrten. So sehr sie auch zu verbergen versuchte, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, so sehr misslang ihr das. Er sah es in ihren Augen, spürte es an dem üppigen Duft, der von ihrer Haut aufstieg und über seine Lenden strich, sodass er anfing zu pochen, steif wurde und bereit für sie war.
Er liebte Sex, liebte ihn, seitdem er mit vierzehn das erste Mal auf ein Teenagerpärchen im Wald gestoßen war, das es miteinander trieb. Das Mädchen hatte ihn gesehen und angelächelt, hatte ihn angeschaut, bis sie schrie, als die Erlösung kam. Am nächsten Tag war sie allein in den Wald gekommen und hatte ihn in die Welt der Fleischeslust eingeführt – eine Welt, die jungen Therianern verboten war. Doch er hatte nie viel von Regeln gehalten.
Das war nun fast dreihundertfünfzig Jahre her, Hunderte von Bettgespielinnen hatten ihm Gesellschaft geleistet, doch er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so unwiderstehlich zu jemandem hingezogen gefühlt zu haben wie zu Olivia. Wenn er gemeint hatte, von ihr besessen zu sein, ehe er von ihrer Haut gekostet und ihre leidenschaftliche Reaktion auf die Hitze seiner Hände gespürt hatte, war das nichts im Vergleich zu jetzt. Er konnte kaum noch an etwas anderes denken, als sie zu berühren, sie zu schmecken. Zu spüren, wie sie bebend ihre Erfüllung fand.
Natürlich wollte er auch in ihr sein. Das war klar, nur … das war nicht alles. Das war noch nicht einmal die Hälfte.
Normalerweise ging es nur um Sex; wenn er eine Frau begehrte, ging es ihm nur um die eigene Befriedigung. Warum erregte ihn dann der Gedanke, Olivias Lust zu spüren, mehr als der Gedanke an seine eigene Erfüllung?
Er wollte sie unter sich haben, auf sich drauf.
Neben sich.
Auf eine merkwürdige Weise, die er nicht verstand, wollte er ihre Gesellschaft, wollte ihre frostigen Blicke, ihre spitzen Absätze und ihre noch spitzere Zunge. Er liebte es, sich verbal mit ihr zu messen, liebte es, sie dabei zu beobachten, wie sie zu verbergen versuchte, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte.
Verdammt, er liebte es einfach, mit ihr zusammen zu sein.
Was wirklich total daneben war. Seine eigene Gesellschaft reichte ihm vollkommen. Das war schon immer so gewesen.
Die Fährte eines Hundes ließ ihn wieder über die Straße zurücklaufen. Zwar konnte er sich auch als Mini-Jaguar gegen alles behaupten, doch je weniger Aufmerksamkeit er auf sich zog, desto besser.
Ganz bewusst riss er seine Gedanken von Olivia los und konzentrierte sich auf die Fährte, nach der er suchte. Als er ein Weilchen später über einen Friedhof stromerte, stieß er plötzlich auf diesen einzigartigen Hauch von Bosheit und Verfall.
Der Dämon.
Hab ihn gefunden, Rotschopf.
Er gab den Gedanken von sich, ehe er sich die Mühe gemacht hatte, sie mit seinem Geist zu finden.
Rotschopf?
Verdammt, wo zum Teufel war sie? Hatte sie sich aus Versehen außerhalb seiner Reichweite begeben? Oder hatte sie einfach keine Lust mehr gehabt, mit heruntergekurbelten Fenstern herumzufahren?
Keins von beidem. Wenn es eines gab, was er mit Sicherheit über diese Frau wusste, dann, dass sie nichts aus Versehen tat. Nein, wenn Olivia den Radius von einer halben Meile verlassen hatte, in dem sie hatte bleiben sollen, dann war es mit voller Absicht geschehen und aus einem verdammt guten Grund.
Aber was für ein Grund war das, zum Henker? Hatte sie den Dämon erspäht und war ihm gefolgt, ohne es ihm zu sagen? Nein. Sie war ein zu guter Soldat, um so etwas zu tun. Was hatte der kleine Rotschopf vor?
Plötzlich wurde er von einem Paar mittleren Alters, das über den Friedhof spazierte, entdeckt. Der Frau stockte hörbar der Atem.
»Bryan, schau dir die Katze an! Hast du so etwas Seltsames schon mal gesehen? Miez, Miez, komm her, Miez, Miez.«
Verdammte Menschen. Jag rannte weg, ehe die Frau ihn packen konnte. Die Fährte des Dämons führte ihn in den Wald auf der anderen Seite, wo sie immer stärker wurde, je weiter er lief. Ganz allmählich vermischte sich der Geruch mit etwas anderem. Blut. Menschlichem Blut.
Rotschopf, wo bist du? Ich bin dem Dämon auf der Spur, und er ist dabei zu töten. Oder hat gerade getötet.
Die Fährte endete abrupt in einer Geruchsexplosion, die ihm fast die Schleimhäute seiner Katze wegätzte. Seine scharfen tierischen Sinne sagten ihm, dass er allein war, deshalb nahm er nun seine volle Größe an. Wenn er auf dieses Wesen stieß, würde es einen Kampf geben, und da ihm seine Messer nach der Verwandlung genauso wenig zur Verfügung standen wie seine Kleidung, waren Zähne und Klauen seine einzigen Waffen.
Wo bist du, du Mistkerl?
Jag war mit einem Satz beim nächsten Baum und begann hinaufzuklettern, weil er hoffte, von dort die Kreatur zu entdecken. Doch je höher er stieg, desto schwächer wurde der Geruch. Nicht auffällig, aber doch so sehr, dass er es bemerkte. Er streckte sich auf einem dicken Ast in etwa drei Metern Höhe aus und schaute sich um, wobei er die scharfen Sinne seiner Katze alle Richtungen forschend erkunden ließ.
Und in dem Moment erspähte er es. Nicht den Dämon, sondern einen Haufen toter Blätter, der irgendwie seltsam aussah. Als hätte ihn jemand mit Absicht aufgetürmt. Um etwas zu verstecken.
Er sprang vom Baum und nahm dabei wieder seine menschliche Gestalt an, sodass er auf zwei Beinen landete. Er kniete sich neben den Haufen und schob die Blätter zur Seite. Darunter kam eine dunkelblaue Plane zum Vorschein. Der durchdringende Blutgeruch überdeckte fast den des Dämons, und er wusste, dass für dieses Opfer jede Hilfe zu spät kam.
Er zog die Plane weg … und wünschte sich auf der Stelle, es nicht getan zu haben.
Oh, verdammt. Nicht ein Opfer. Mehrere Opfer. Körperteile von mindestens sechs Menschen lagen in der flachen Grube. Köpfe, Arme, Rumpfteile, bei denen kaum noch Fleisch auf den Knochen war.
Himmel.
Er zog die Plane weiter weg und erstarrte, während sich sein Magen krampfhaft zusammenzog.
Nicht Cordelia.
Heilige Göttin. Während er das junge, halb zerstörte Gesicht der Frau anstarrte, legte sich die Erinnerung an ein anderes darüber – ein halbes Gesicht, wo das Fleisch ein letztes Mal versucht hatte, sich über den verkohlten Überresten von Blut und Knochen zu schließen, ehe der therianische Körper schließlich aufgegeben hatte.
Cordelia.
Sein Kopf begann zu pochen, und kalter Schweiß rann ihm über die Schläfen, während ihn wieder das alte Entsetzen packte. Er taumelte zurück, fiel auf die Knie und übergab sich, während sich die Erinnerung wie rot glühender Stahl in ihn bohrte.
Nachdem sich sein Magen völlig entleert hatte, kam er mit zittrigen Beinen hoch, fuhr sich mit den Händen durch die Haare und streckte sich, bis er die Erinnerungen wieder verdrängt hatte. Dann kehrte er zu dem Massengrab zurück.
Er hätte hundert Dollar darauf gewettet, dass er die Menschen gefunden hatte, die in den letzten paar Tagen aus der Stadt verschwunden waren.
Der gottverdammte Dämon, der sich von Schmerzen nährte, war passé.
Doch als er die Plane wieder über die Leichen zog, erstarrte er, als ihm plötzlich ein Gedanke kam.
Sie wussten, dass Geisterdämonen Kreaturen waren, die nicht denken konnten, sondern Tiere waren. Monster. Sie ernährten sich buchstäblich von Ängsten und Schmerzen anderer, so wie Menschen oder Therianer mariniertes Schweinefleisch oder Nackensteaks aßen. Sie entwickelten weder Strategien oder Pläne noch begruben sie ihre Opfer unter Planen und versteckten sie im Wald unter Blätterhaufen.
Doch irgendjemand hatte genau das getan. Irgendjemand, der nicht wollte, dass die Öffentlichkeit … oder die Krieger des Lichts … erfuhr, dass der Dämon hier war.
Tausend Dollar, dass er wusste, wer dahintersteckte.
Die Zauberer.