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Olivia saß allein am großen Tisch im Esszimmer der Krieger und verschlang das Essen, das sich auf ihrem Teller häufte. Es war fast Mittag und damit der Zeitpunkt, auf den man sich geeinigt hatte, um zu essen und dann jeweils getrennt Jagd auf die Dämonen zu machen. Da sie nicht wirklich über Geisterdämonen Bescheid wussten, waren sie unsicher, ob sie nachtaktiv waren wie die Drader oder sich auch am Tage frei bewegen konnten. Außerdem hatten sie keine Ahnung, wo sie während des Tages unterkrochen, sollten sie doch nachtaktiv sein.
Deshalb hatte man beschlossen, dass die Teams am helllichten Tag zu einer Jagd aufbrachen, die unter Umständen tagelang dauerte.
Sie schnitt noch ein großes Stück Schinken ab und schob es sich in den Mund. Es überraschte sie, dass ihr Magen so viel aufnehmen konnte. Nach ihrem frustrierenden Zusammentreffen mit Jag am frühen Morgen kurz vor Tagesanbruch hatte sie einen ganzen Teller mit Essen verschlungen, der im Kühlschrank gestanden und fast nur aus Fleisch bestanden hatte. Dann war sie in ihr Zimmer zurückgekehrt, wo sie endlich dem Bedürfnis nachgegeben hatte, sich von der schrecklichen sexuellen Anspannung, die Jag in ihr hervorgerufen hatte, zu erlösen. Wie sie sich schon gedacht hatte, brauchte sie sich nur ein paarmal mit den Fingern zu streicheln, bis sie Erfüllung in einem überwältigenden Orgasmus fand.
Fast sofort danach war sie in einen tiefen, sechsstündigen Schlaf gefallen – und ausgehungert wieder aufgewacht. Ihr Körper verbrannte das Essen in einer besorgniserregenden Geschwindigkeit.
Pink bereitete den Tisch für die restlichen Bewohner des Haushalts, die jeden Moment eintreffen sollten, vor und stellte eine Platte mit dicken Scheiben Toastbrot hin. Olivia lächelte die rosa gefiederte Vogelfrau an und nahm sich ein paar Scheiben, die sie schnell aufaß. Die anderen sollten lieber bald kommen, sonst würde für sie nichts mehr da sein.
Wonach es sie verlangte und was sie brauchte, war Lebensenergie. Es konnte ihr gar nicht schnell genug gehen, von Jag fortzukommen.
Sie hatte entschieden, dass Niall zusammen mit ihm ein Team bilden sollte. Niall war von den beiden Männern der deutlich Ruhigere, der sich von Jags feindseligen Bemerkungen wohl nicht zu einem Kampf provozieren lassen würde. Zwar sagte ihr ihr Gefühl, dass Jag niemals absichtlich einen von ihren Männern umbringen würde, doch ein Krieger des Lichts stellte mit seinen Klauen und Zähnen sowohl für Sterbliche als auch für Unsterbliche eine tödliche Bedrohung dar. Kein Therianer würde jemals einen Krieger des Lichts besiegen … außer er ließ es zu.
Oder jemand hatte – wie in ihrem Fall – einen unfairen Vorteil.
Sie vertraute darauf, dass Niall ein paar Tage mit Jag fertig wurde, und mehr Zeit würden sie wohl nicht brauchen, um die Dämonen aufzuspüren und zu töten.
Der Klang von Männerschritten und leises Stimmengemurmel hinter der Tür zum Esszimmer warnte sie vor, dass sie gleich Gesellschaft bekommen würde. Einen Augenblick später betraten Ewan und Niall in Uniform den Raum. Beide hatten fast die gleichen schwarzen Hosen und Stiefel an wie sie und trugen dazu dunkelrote T-Shirts.
Ewan war ein blonder Hüne von Mann, dessen Hals so kräftig war wie ihr Oberschenkel, Niall dagegen schlank und drahtig und so dunkel wie Ewan hell war. Nialls Augen blickten viel sanfter als Ewans, zumindest wenn sie auf ihr ruhten.
Beide Männer befolgten alle ihre Anweisungen ohne Widerrede, ansonsten hätten sie auch nicht unter ihrem Befehl gestanden. Doch sie und Niall kannten sich bereits seit mehr als dreihundert Jahren und waren während dieser Zeit immer mal wieder miteinander intim gewesen. Das war nichts Ungewöhnliches, doch sie wusste, dass Niall mehr von ihr wollte. Eine Beziehung. Verbindlichkeit. Nichts, was sie ihm jemals geben würde.
Man musste ihm zugute halten, dass er sie nicht bedrängte, aber er wusste auch, dass sie ihn dann sofort neu zugeteilt hätte.
Sie hörte Jag nicht ins Zimmer kommen, spürte jedoch seine Gegenwart sofort. Der Krieger bewegte sich auch in seiner menschlichen Gestalt so leise wie sein animalisches Gegenstück. Jag trug ein schwarzes T-Shirt über einer anderen grünen Armee-Cargohose. Während Niall und Ewan sich zu beiden Seiten von ihr hinsetzten, beanspruchte Jag für sich den ihr genau gegenüberliegenden Stuhl. Natürlich.
Sie wappnete sich gegen weitere anzügliche Bemerkungen und sehnte sich danach, ihn zu ignorieren. Doch wenn sie mittlerweile eines gelernt hatte, dann, dass er sich durch ihre gespielte Gleichgültigkeit noch mehr herausgefordert fühlte. Als hätte sie ihm davon nicht bereits genug geboten.
Sie begegnete seinem Blick nur mit einem kurzen Nicken, doch der Mutwille, der in seinen Augen blitzte, ließ sie innerlich stöhnen.
Jetzt geht das schon wieder los!
Jag nahm sich von der Platte, auf der dicke Scheiben blutigen Roastbeefs aufgetürmt waren. Dabei spielte ein Lächeln um seine Lippen, während er überlegte, wie er Olivia wohl am besten dazu brachte, mit ihm ein Team zu bilden, statt ihm einen ihrer Männer ans Bein zu binden, wie sie es vorhatte. Er hegte keinen Zweifel daran, dass dies ihre Absicht war.
Sein Sex-Gerede gestern im Besprechungsraum hatte ihre beiden Bodyguards eindeutig gegen ihn aufgebracht, doch es waren brave kleine Soldaten, die sich zurückgehalten hatten, als sie es ihnen mit einer schnellen Handbewegung bedeutet hatte. Was brauchte es wohl, damit sie nicht mehr zu halten waren?
Ah, das wäre ein Spaß, das herauszufinden.
Sein Blick glitt über Olivias hübsches Gesicht, senkte sich auf ihre Schultern und dann noch tiefer, ehe er ihr wieder in die Augen sah. »Hast du von mir geträumt, Süße?«
»Warum sollte ich von dir träumen, Jag? Dazu müsstest du mir erst einmal in den Sinn kommen.«
Sein Lächeln war Ausdruck echter Erheiterung. Sich verbal mit ihr zu messen machte Spaß. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so viel Spaß gehabt hatte. »Aber, Süße, ich habe von dir geträumt: Was für ein Gefühl es wohl ist, wenn du unter mir liegst; deine erregten leisen Schreie zu hören, kurz bevor du zum Höhepunkt kommst.«
Niall presste die Lippen fest aufeinander, aber ansonsten ließ er es sich nicht weiter anmerken, dass er zuhörte. Ewan schien es völlig egal zu sein. Aber warum hätte es sie auch kümmern sollen? Die beiden Männer nahmen wahrscheinlich an, dass er Olivia in sein Bett gelockt hatte.
Schade, dass das nicht stimmte.
Zur Hölle mit der Wahrheit. Er musste noch etwas dicker auftragen.
Er verzog den Mund in unangenehmer Weise und lehnte sich nach vorn. »In meinem Traum waren es nicht meine Finger, die ich in deine nasse Spalte schob, als ich dich heute früh am Morgen im Fernsehraum zu fassen bekam, Rotschopf … es war mein Schwanz.«
Tief in seinem Innern knurrte sein Tier missbilligend, das verdammte Vieh. Alle waren ständig voller Kritik.
Olivia zuckte zusammen und starrte ihn angesichts der dreisten Lüge schockiert an.
Niall und Ewan sprangen wie ein Mann mit gezückten Messern auf.
Da, schau an. Seine kleine List hatte wie geschmiert geklappt.
»Er lügt«, raunzte Olivia.
Jag grinste sie nur an. »Meine Finger pochen immer noch, weil sie von deiner engen, nassen Muschi so fest zusammengepresst worden sind, Rotschopf.«
Niall ging um den Tisch herum, als wollte er ihre Ehre verteidigen. Aber der Blick, mit dem Olivia ihn durchbohrte, ließ Jag sich fragen, ob sie nicht selber Hackfleisch aus ihm machen würde.
Olivia sprang auf. »Niall, zurück!«
Lüge oder nicht – Jags Worte waren von einer anzüglichen Respektlosigkeit, die ihre Männer nicht hinnehmen würden. Olivia ballte die Hände auf dem Tisch zu Fäusten. Sie wusste ihre Ergebenheit zu schätzen. Wirklich! Aber verdammt noch mal! Ein Kampf würde nur in einer Katastrophe enden. Jag mochte zwar der Anstifter sein, aber er gehörte hierher und sie nicht. Sie hegte keinen Zweifel daran, wer vor die Tür gesetzt werden würde, wenn es Ärger gab.
Die Therianer.
Und sie war nicht bereit, diese eine Gelegenheit, mit den Kriegern des Lichts zusammenzuarbeiten, zu verlieren.
Zur Hölle mit Jag!
Träge stand er von seinem Stuhl auf, wobei die Muskeln unter seinem T-Shirt spielten.
Olivia sah ihn finster an. »Du bist so ein verkorkster Wichser.«
Der Mistkerl zwinkerte ihr zu. Er zwinkerte! Aber in seiner Haltung oder in seinen Augen war keinerlei Trägheit zu entdecken, während er beobachtete, wie Niall um den Tisch herumkam. Man sah es seinem Körper förmlich an, wie er auf diesen Kampf brannte.
»Niall, zurück.« Als er nicht reagierte, schlug sie mit beiden Fäusten auf den Tisch, sodass das Porzellan klirrte. »Sofort!«
Olivias letzte Hoffnung, Jag zu entkommen, zerstob wie ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Aus Richtung Tür ertönte ein tiefes, dunkles Knurren, und als Olivia sich umdrehte, sah sie Lyon und Kara und hinter ihnen Tighe und Delaney hereinkommen. Lyons Blick glitt von Niall, der jetzt stocksteif einen Meter von Jag entfernt stand und sein Messer umklammerte, zu Jag. Lyons Miene verfinsterte sich wie eine Wolke aus Dradern.
Niall schob das Messer in die Scheide und kehrte schnell zu seinem Stuhl zurück, als wäre die geknurrte Warnung an ihn ergangen. Olivia war sicher, dass nicht er gemeint gewesen war. Lyon machte sich nichts vor. Er wusste, dass sein Jaguar-Krieger der Unruhestifter war.
Die Verärgerung und Resignation, die Lyons Blick umwölkten, als er Jag ansah, bestätigten das. Sie hatte Mitleid mit dem Anführer der Krieger des Lichts. Wie sollte man mit einem Mann wie Jag umgehen? Einem Mann, der so versiert darin war, andere gegen sich aufzubringen. Einem Mann, den man im Team behalten musste, weil die Umstände, die außer Kontrolle geraten waren, einen dazu zwangen. Zurzeit gab es nur acht Krieger des Lichts auf der Erde. Acht Männer, die die Kraft und Energie besaßen, um gegen die Zauberer zu kämpfen, die Satanan und seine Horden befreien wollten. Was blieb einem in der Situation anderes übrig, als sich damit zu arrangieren, wenn einer von diesen acht nun mal zufälligerweise ein Arschloch war, das immer nur Ärger machte?
Genau wie ihr nichts anderes übrig blieb, als mit dem Mistkerl ein Team zu bilden. Welchen ihrer Männer sie auch mit ihm losschickte – es würde in einer Katastrophe enden. Niall mochte vielleicht der Gelassenere von beiden sein, aber nicht, wenn es um sie ging. Die Gefühle, die er für sie hegte, waren so deutlich zu erkennen gewesen wie eine Leuchtboje bei Nacht, als er auf Jag losgegangen war. Und Jag hatte das auch gesehen. Da war sie sich sicher.
Ob sie Jag nun Niall oder Ewan zur Seite stellte – er würde sie so lange reizen, bis sie ihn angriffen. Daran hegte sie keinen Zweifel. Das Ganze könnte sich als tödlicher Fehler erweisen. Aber nicht für Jag.
Verdammt, ich werde selber mit Jag ein Team bilden müssen.
Olivia seufzte. Das war der Preis, den man zahlte, wenn man die Verantwortung trug. Obwohl ihre Lage deutlich komplizierter war, als nur mit einem ruppigen Krieger auskommen zu müssen.
Jag stellte eine Gefahr für sie dar, wie er es für keinen anderen war, weil er spüren konnte, wenn sie Nahrung zu sich nahm. Das bedeutete, dass sie eine Möglichkeit finden musste, regelmäßig von ihm wegzukommen. Entweder das, oder sie würde am Ende ganze Stunden des Tages damit verbringen, Essen in sich hineinzuschaufeln, was ihn ebenso misstrauisch machen würde.
Als sich die anderen zu ihnen gesellten, sah Tighe sie über den Tisch hinweg an. »Olivia, ich hätte gern, dass du dich Delaney und mir anschließt, wenn du damit einverstanden bist.«
Olivia musste unwillkürlich in Jags Richtung schauen. Er lachte sie mit seinen schimmernden Augen aus, denn er wusste, dass er sie in die Ecke gedrängt hatte. Und genau das war seine Absicht gewesen.
»Ich schicke Ewan mit dir mit, Tighe. Ich selber werde mit Jag ein Team bilden.«
Sie spürte die schweigende Missbilligung ihrer Männer, doch sie besaßen nicht die Respektlosigkeit, ihre Position laut infrage zu stellen.
Tighe sah sie schief an. »Bist du dir sicher? Er ist ein Arsch.«
Olivias überraschter Blick glitt zu Delaney, die neben ihm saß, und die beiden Frauen teilten einen Moment gemeinsamer Erheiterung. Tighe hatte keine Scheu, Dinge beim Namen zu nennen.
»Das ist mir bewusst, Tighe. Ich werde mit ihm fertig.«
Sie sah Jag an und forderte ihn mit ihrem Blick förmlich heraus, eine weitere unpassende Bemerkung von sich zu geben.
Doch diesmal schwieg der Gestaltwandler ausnahmsweise einmal und strahlte selbstgefällig vor sich hin. Er hatte genau das erreicht, was er wollte.
»Niall wird mit Hawke ein Team bilden«, fuhr Olivia fort und sah wieder Tighe an.
Der Tiger-Gestaltwandler nickte und in seinem Blick lag eine Mischung aus Sorge und Respekt. Und auch kein geringes Maß an Mutmaßungen. Dachte er womöglich, sie hätte Interesse an dem Jaguar? Gab es eine Frau mit so geringem Selbstwertgefühl, dass sie sich bereitwillig einem derartig dominanten männlichen Wesen unterwarf? Es gefiel ihr nicht, dass er sie unter Umständen für eine solche Frau hielt.
Aber was spielte es für eine Rolle, was die anderen über sie dachten, solange sie nur ihre Gründe hatte? Und die hatte sie.
Tighe nickte. »Na, dann ist ja alles klar. Sobald wir gegessen haben, brechen wir auf.«
Jag zeigte ein durch und durch selbstzufriedenes Lächeln, als sie sich wieder hinsetzte. »Ich sorge dafür, dass alle deine Träume wahr werden, Süße.«
Der neben ihr sitzende Niall stieß ein leises, bedrohliches Knurren aus.
»Da wirst du wohl recht haben, Jag«, erwiderte Olivia gelassen. »Da in all meinen Träumen Messer vorkommen. Und Blut.«
Mehrere Krieger schnaubten, während einige kicherten.
»Sie spricht deine Sprache, Katze«, meinte Wulfe und zog die Worte genüsslich auseinander.
Olivia hätte erwartet, zumindest ein wütendes Funkeln in Jags Augen aufblitzen zu sehen, als sie ihn daran erinnerte, was heute Morgen wirklich passiert war, aber er enttäuschte sie. Es war zwar ein hartes Lächeln, das auf seinem Gesicht lag, doch es war echt.
»Versuch’s doch mal.«
Ein bisschen später saß Jag am Steuer seines Hummers und lenkte ihn Richtung Harpers Ferry, als er der neben ihm sitzenden Olivia einen Blick zuwarf. Sie trug ihre schwarze Hose und hatte eine Lederjacke über ihr Tank Top gezogen – kein braves, tailliertes Jäckchen, sondern ein Kleidungsstück, das deutlich erkennbar schon einiges mitgemacht hatte. Sie mochte zwar immer noch eine hochnäsige Eisprinzessin sein, aber sie sah jetzt auch eindeutig nach einer Kriegerin aus.
Heilige Göttin … sie machte ihn richtig an.
Sie hatten die Vororte schnell hinter sich gelassen und fuhren nun schmale Straßen entlang, die sich durch kleine Städte, an Gehöften und Weinbergen vorbeizogen.
»Warum will sich so ein hübsches, kleines Mädchen wie du die Hände dreckig machen, indem es mit Dradern kämpft? Das will mir einfach nicht in den Kopf.«
Sie zuckte zwar mit keinem einzigen Muskel, doch er spürte ihre Verärgerung darüber, dass er sie kleines Mädchen genannt hatte. Er genoss es, sie zu ärgern, genoss es, wenn ihre Augen vor Wut aufblitzten.
Leider sprang sie auf seine Bemerkung nicht an.
»Woher kommt der schottische Akzent? In Wortwahl und Satzstellung ist nichts zu bemerken.«
Wieder antwortete sie nicht, und er nahm an, dass sie einfach beschlossen hatte, ihn wegzuekeln. Er wusste nicht recht, warum er wollte, dass sie mit ihm sprach, aber so war es nun einmal.
»Ich bin ein Arschloch, Olivia. Das wissen wir beide. Aber ich würde trotzdem gern ein bisschen mehr über dich wissen.«
Sie musterte ihn mit einem abschätzenden Blick. Nachdenklich. Dann drehte sie den Kopf langsam wieder nach vorn. »Ich bin in Schottland geboren und habe dort mehrere hundert Jahre gelebt. Aber die Hälfte des neunzehnten und das ganze zwanzigste Jahrhundert habe ich in englischen Enklaven, vornehmlich Boston und New York, verbracht. Vor sechs Jahren wurde ich zur Gruppenleiterin befördert und wieder der britischen Wache zugewiesen.«
Ihre Stimme besaß eine Klangtiefe, ein weibliches Timbre, das wie weichster Satin über seine Haut glitt. Und der Akzent verlieh ihr noch das nötige Maß an Wärme und Charakter.
»Und jetzt bist du wieder da.«
»Das bin ich.«
»Warum hast du dich der Wache angeschlossen?« Er stellte fest, dass sie ihn ehrlich interessierte. Nicht nur ihr Körper – auch wenn dieses Interesse immer wieder wie Feuerwerk in seinem Blut explodierte –, sondern auch sie als Mensch. Olivia. Sie faszinierte ihn mehr als jede andere Frau seit sehr langer Zeit.
Aber jetzt schwieg sie wieder so lange, dass er nicht mehr annahm, sie würde noch antworten. Als sie es schließlich doch tat, überraschten ihn ihre Worte.
»Meine Mutter wurde von Dradern getötet, als ich sieben war. Man könnte also sagen, ich habe noch eine Rechnung zu begleichen.«
»Wenn du das schon seit Jahrhunderten machst, würde ich doch mal annehmen, dass diese Rechnung schon hundertmal beglichen worden ist.«
»Du irrst dich, Krieger. Diese Rechnung wird erst beglichen sein, wenn es keine Drader mehr auf dieser Welt gibt.«
Er hörte die Überzeugung, die in ihren Worten mitschwang, spürte sie bis ins tiefste Innere bei sich widerhallen.
»Ich bin gut in dem, was ich mache«, erklärte sie schlicht. »Und ich genieße es.«
»Das verstehe ich. Es geht mir genauso«, fügte er hinzu und überraschte sich selber mit seiner Ehrlichkeit.
Überraschte sie beide. Sie zog die Augenbrauen hoch, während sie ihn mit einem neugierigen Blick bedachte. »Es gefällt dir also, ein Krieger des Lichts zu sein? Du hast eine seltsame Art, das zu zeigen, Jag.«
Aber ja … er war gern ein Krieger des Lichts. Es gefiel ihm, gegen Drader und Zauberer zu kämpfen. Das war das Einzige, was seinem Leben Sinn gab. Aber das würde er ihr gegenüber nie zugeben. Sentimentales Bettgeflüster war eindeutig nicht sein Ding.
»Dadurch habe ich Sex, Süße. Du weißt doch, dass alle Mädchen einen Krieger des Lichts flachlegen wollen.«
Sie verdrehte die Augen. »Bei dir läuft immer alles auf Sex hinaus, nicht wahr?«
»Befiehlst du deinen Männern eigentlich manchmal, dich zu lecken, Rotschopf? Ich frage mich die ganze Zeit, ob du da unten Sommersprossen hast.«
Er rechnete damit, dass sie sich angewidert abwenden und wieder anfangen würde, ihn zu ignorieren. Oder dass sie vielleicht – wenn er Glück hatte – die Beherrschung verlieren und ihm eine runterhauen würde. Stattdessen drehte sie sich ganz zu ihm um, ohne jedoch etwas zu sagen.
Er sah sie kurz an, weil er annahm, dass sie ihn wütend anstarren würde, doch sie musterte ihn, als wäre er irgendein Objekt, das sie unter ein Mikroskop geschoben hatte.
»Was ist?«, fuhr er sie an. Dieser ruhige, gelassene Blick begann ihn nervös zu machen.
»Weißt du eigentlich, warum du das machst?«
»Was mache?«
»Alle bis aufs Blut reizen?«
Jag zuckte die Achseln. »So bin ich einfach, Süße. Wie ich schon mal sagte: Ich bin nicht nett.«
»Siehst du, das ist genau das, was ich nicht glaube.«
Er riss den Blick von der Straße los und sah sie fassungslos an. Sie lehnte sich jetzt bequem mit einer Schulter gegen den Sitz, als würde sie sich auf eine längere Unterhaltung einstellen. Verdammt. Er richtete den Blick wieder auf die Straße.
»Ich habe dich mit Pink im Besprechungsraum gesehen, Jag. Sie war bei Weitem die Verletzlichste von allen im Zimmer, ein leichtes Opfer, doch du hast sie verteidigt. Mit vollem Körpereinsatz. Und sie war noch nicht einmal direkt angegriffen worden. Trotzdem würdest du es nie zulassen, dass jemand ihre Gefühle verletzt.«
Jag machte ein finsteres Gesicht. »Pink hat viel durchmachen müssen.«
»Genau das meine ich. Sie wäre das leichteste Opfer, wenn es dir darum ginge, zu verletzen. Und auf Kara und Skye gibst du auch nie deine Giftpfeile ab. Nur auf Delaney und mich, aber uns beide kannst du mit deinen anzüglichen Bemerkungen nicht treffen, und ich glaube, das weißt du auch.«
Sie fing an ihn zu nerven. »Ich bin nicht darauf aus, dich zu verletzen, Rotschopf. Ich will dich nur um den Verstand vögeln.«
»Du benutzt dieses ganze Sex-Gerede als Schutzmauer, weißt du das eigentlich?«
»Sie können jetzt die Klappe halten, Sigmund Freud.«
Olivia zuckte noch nicht einmal mit der Wimper. Und die Klappe hielt sie auch nicht, verdammt noch mal.
»Den Verletzlichen tust du nichts, Jag. Du bist nur darauf aus, Leute gegen dich aufzubringen – die anderen Krieger des Lichts, meine Männer. Mich. Du willst uns wütend machen. Du brauchst das. Weißt du, warum?«
Er umfasste das Lenkrad fester und warf ihr einen finsteren Blick zu, der Männer, die dreimal so groß wie sie waren, zum Zittern gebracht hätte. Und trotzdem wusste er, dass er damit bei ihr nichts erreichte. »Du wirst es mir bestimmt gleich sagen.«
Es überraschte ihn, als sie sich daraufhin wieder von ihm abwandte und den Kopf zurücklegte, bis er am Sitzpolster lehnte. Eine ganze Weile lang war sie still, sodass er schon dachte, sie wäre endlich mit ihm fertig. Aber als sie dann doch wieder sprach, fühlte er sich an einen Ort versetzt, an dem er nicht sein wollte.
»Vor Jahren ist etwas passiert, für das ich mir selber die Schuld gab und heftige Vorwürfe machte, Jag. Ich hasste mich dafür, ich hasste alles an mir.« Sie sprach leise, und ihre Stimme war völlig emotionslos. Trotzdem waren die Emotionen da, so tief vergraben, dass er spürte, wie sie an dem Loch in seiner Brust zerrten, wo sein Herz gewesen war. »Ich ließ mich von anderen verletzen. Ich flehte sie förmlich darum an. Damals verstand ich nicht, warum ich das tat. Erst Jahre später begriff ich endlich, dass mein Selbsthass diese Bestrafung für mich gewählt hatte. Es hätte mich fast umgebracht. Die Sache ist die: Nachdem ich mit dieser Art von Schuld gelebt habe, völlig eingenommen davon war und darunter litt, besitze ich jetzt die Fähigkeit, sie bei anderen zu erkennen.«
Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Ich erkenne sie bei dir.«
Heilige Göttin, er brauchte diesen verdammten Mist nicht. »Ich mag mich eigentlich ganz gern, Olivia.«
»Wirklich?« Sie ließ die Frage im Raum stehen, und ihr Tonfall sagte ihm deutlich, dass sie ihm nicht glaubte. Was für eine verdammt nervige, kleine Psychoanalytikerin.
»Meiner Meinung nach kannst du es nicht ertragen, wenn jemand dich mag. Du willst, dass alle dich genauso sehr hassen, wie du dich selbst hasst. Also ist es deine ganz persönliche Form der Strafe, alle zu reizen und gegen dich aufzubringen. Tief im Innern bist du anständig, Jag. Eigentlich verletzt du keinen richtig – du machst keine Sachen von irgendjemandem kaputt, tötest keins der Haustiere, an dem jemand hängt. Du schlägst ja noch nicht einmal jemandem ins Gesicht. Stattdessen nimmst du sie in die Zange, bis sie diejenigen sind, die dir ins Gesicht schlagen. Bis du in ihren Augen den gleichen tiefen Hass siehst, den du selber für dich empfindest.«
»Wie lange kennst du mich?«, fragte er spöttisch. »Woher zum Teufel willst du wissen, dass ich nicht das Spielzeug der anderen Kinder zerbreche oder ihren Hamstern den Hals umdrehe?«
»Ich weiß es einfach.«
Heilige Göttin! Ihre Besserwisserei ging ihm tierisch auf die Nerven.
Okay, vielleicht machte er diese Dinge tatsächlich nicht, aber in Bezug auf alles andere hatte sie unrecht. Sie lag völlig daneben. Er war kein bisschen anständig. Und er war auch nicht so ein verkorkster, sich selbst hassender Loser. Er war einfach nur er selbst.
»Eine nette, kleine Theorie, Süße. Aber ich habe keine Lust mehr, dir beim Reden zuzuhören.«
Er packte ihren Arm, schloss seine Finger um ihr Handgelenk und presste seine raue Handfläche gegen ihre Haut, ließ Hitze in seine Hand strömen, erfüllte sie mit sinnlicher Glut.
Olivia schnappte nach Luft und versuchte sich loszureißen, obwohl sich ihre Brüste bereits anspannten und sie den Rücken in einer berauschend leidenschaftlichen Bewegung durchdrückte. Ihr Kopf fiel nach hinten, und er wusste, dass sie die Lust, die warme, pochende Glut bis nach tief unten spürte.
»Jetzt will ich dir beim Schreien zuhören. Komm für mich, Rotschopf.«
Ihr leidenschaftliches Stöhnen erregte seine Sinne und ließ das Blut schneller durch seine Adern fließen, sodass es sich in einem rasenden Strudel zusammenballte. Gütige Göttin, aber er wollte so gerne hören, wie sie ihre Erlösung fand. Letzte Nacht hatte sie so kurz davor gestanden, dass er fast gemeint hatte, den Geschmack auf der Zunge zu haben.
Und jetzt stand sie wieder ganz kurz davor …
Er sah das Messer erst auf seine Hand zukommen, als es zu spät war. Ihre Klinge schnitt durch Muskeln und Sehnen, und es tat höllisch weh.
Als sie ihr Messer wieder zurückzog, riss er seine blutende Hand weg. »Zur Hölle mit dir!«
»Du lernst es nie, nicht wahr?« Doch in ihrer heiseren, sinnlichen Stimme schwang Erheiterung mit.
Er schnaubte. Ein Punkt für den Rotschopf. »Wo zur Hölle hast du es gelernt, so schnell zu sein?«
Er rechnete mit keiner Antwort, deshalb war er überrascht, als er doch eine bekam. »Viele Therianer besitzen noch Fähigkeiten aus den Zeiten, als wir alle Gestaltwandler waren.«
Ihr leicht abwehrender Tonfall sagte ihm, dass er eine empfindliche Stelle getroffen hatte. Das war ja mal interessant!
Das Brennen in seiner Hand ließ immer mehr nach, bis sich die Wunde geschlossen hatte. Als er sie ansah, stellte er fest, dass sie ihn mit einem kühlen Blick ansah. Ein kühler Blick, der ihre innere Glut nur schlecht verhüllte. Heilige Göttin, aber er begehrte sie.
Umso besser, dass sie ihn auch begehrte.
»Du weißt, dass ich in diesem Spiel gewinnen werde, Rotschopf. Früher oder später wirst du die Beine für mich breitmachen und mich bitten, dich zu nehmen. Du verschwendest nur deine Zeit, wenn du dich dagegen wehrst.«
Olivia stieß einen langen Seufzer aus. »Wir verschwenden beide Zeit, wenn wir uns nicht voll darauf konzentrieren, diese Dämonen einzufangen, Jag.« Sie fuhr sich mit beiden Händen ins Haar und strich die roten Locken mit einer eindeutig unsicheren Bewegung aus dem Gesicht. »Es wäre klug, wenn wir das nicht vergessen würden.«
Er richtete seinen Blick wieder auf die Straße, während seine Lippen vor Befriedigung zuckten. Oh ja, er ging ihr unter die Haut. Genauso heftig wie sie ihm.
Aber sie hatte recht. Sie hatten einen Job zu erledigen, und wenn es etwas gab, das er nie tat, dann, sich vor einer Aufgabe zu drücken.
Es stand zu viel auf dem Spiel.
Das bedeutete aber nicht, dass sie miteinander fertig waren. Verflucht noch mal. Nein. Früher oder später würde sie ihn anflehen, ihr genau das zu geben, was sie beide wollten: heißen, verschwitzten Sex, der sie beide um den Verstand brachte.
Vielleicht würde er dann endlich von ihr loskommen. Allmählich bekam er das Gefühl, als könnte das nicht früh genug passieren.