KAPITEL 16

Am liebsten Mozart, nachts um zwölf

Als Ebba aus dem Bad kam, hatte sie nur noch ihren Seidenkimono an. In weichen Wellen fielen ihre Haare auf die Schultern. Sie sah plötzlich weniger streng aus, wirkte jünger, zarter, verletzlicher.

Edward hatte sie noch nie so gesehen, und wie Ebba so dastand, nur vom Licht beschienen, das von hinten aus dem Badezimmer auf ihren Körper fiel, musste er unwillkürlich an die Venus von Sandro Botticelli denken. Nur die Muschel fehlte.

Er lag nackt auf dem Bett. Unverschämt die Jugend, dachte Ebba heiter, hat die Arme hinter dem Kopf verschränkt, als könne ihn nichts und niemand verletzen, tarnt sich weder mit dem Laken noch mit einem letzten Kleidungsstück, einer Unterhose beispielsweise, weil er sich makellos fühlt, guckt mich an, frech und erwartungsvoll, als wäre diese Szene hier die normalste von der Welt. Dabei bin ich doppelt so alt und die beste Freundin seiner Mutter und habe ihn schon als Baby an meine Brust gedrückt. If they could see me now, my little dusty group: Ebba fühlte sich wie Shirley MacLaine in dem Musical Sweet Charity. Aber ich habe es ja so gewollt, genau so, und seit einem Jahr darauf gewartet, dann soll es auch so sein.

Sie kam zu ihm. Edward nahm die rechte Hand hinter dem Kopf hervor und breitete seinen Arm aus. Ebba legte sich zu ihm, schmiegte sich in seine Armbeuge. Er roch nach Minze und nach Vanille, nach Zitrone und Moos, wie damals, als er in der Küchentür der Alberti-Wohnung vor ihr gestanden hatte und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben hatte. Mit den Fingerkuppen glitt er so sanft über die Haut ihres Armes, als küsse sie ein Schmetterling. Ebba erregte das, und Edward war trotz seiner Jugend erfahren genug, dass er es merkte. Beide drehten die Köpfe zueinander und sahen sich an. Sein Atem kitzelte sie an der Nasenspitze. Sie zog ihren Kimono aus und drückte sich gegen ihn. Mit ihrer freien Hand strich sie ihm über die Brust, fuhr langsam über seine Rippen und die Taille, verharrte dort. Edwards Haut war zart und weich wie die eines Kindes. Sie bildete sich für einen Sekundenbruchteil ein, er wäre noch unberührt. Sie strich über seine Schamhaare und umfasste seinen Schwanz. Sie spürte in ihrer Hand das Pulsieren. Sein Atem wurde heftiger. Er öffnete seinen Mund, mit seiner Zungenspitze berührte er ihre Lippen, befeuchtete sie, bedrängte sie, bis Ebba nachgab. Sie küssten sich. Ebba rollte sich auf ihn, er streichelte ihren Rücken, tastete mit dem Finger, langsam den Druck verstärkend, an ihrem Rückgrat entlang, bis er zu ihrem Po kam, den er nun mit beiden Händen packte. Sie richtete sich auf, half ihm, in sie einzudringen. Es war der schönste Sex, den sie seit langem gehabt hatte.

Am nächsten Morgen erwachte sie vom Klappern von Geschirr und dem Duft von Kaffee. Sie schaute auf ihren elektronischen Wecker auf dem Nachttisch. Es war erst halb neun. Eigentlich war sie eine Frühaufsteherin, halb sieben, das war ihre Zeit, am Wochenende schlief sie schon mal bis acht.

Er hatte sich den alten, schönen Seidenmorgenmantel übergezogen, den sie vor langer Zeit für Steven gekauft hatte und der seitdem wie ein Erinnerungsstück unbenutzt im Badezimmer gehangen hatte. Auf einem Tablett trug er das Frühstück herein: Mit der Espressomaschine hatte er Kaffee zubereitet, der, in großen weißen Tassen, von einer Haube Milchschaum gekrönt war; im Gefrierfach hatte er Croissants entdeckt und knusprig aufgebacken; es gab englische Orangenmarmelade und den Rest des Johannisbeergelees, das Frau Merk eingekocht und das Anne ihr geschenkt hatte, ein Stück Käse, an dessen Herkunft sich Ebba ebenso wenig erinnerte wie an einen kleinen Keramiktopf mit Entenleberpastete, dazu zwei Gläser mit Grapefruitsaft und einen Teller mit blauen Trauben. Sogar die Frankfurter Allgemeine hatte er aus dem Briefkasten geholt.

«Morgen!», sagte er fröhlich, stellte das Tablett auf der freien Hälfte des Bettes ab, ging ans Fenster und zog schwungvoll die Vorhänge beiseite. Draußen regnete es, es war stürmisch, kalte Luft zog durch das Schlafzimmer. Edward machte das Fenster zu und kam zu Ebba.

«Ich muss aussehen wie Inge Meysel!», meinte Ebba, sprang aus dem Bett und lief ins Bad. «Aber meine Zähne sitzen noch!»

Nach fünf Minuten kehrte sie zurück. Sie war nie eine der Frauen gewesen, die lange brauchte, um sich herzurichten, dazu hatte sie niemals Zeit gehabt. Sie verstand auch nicht, warum und womit Frauen sich Stunden dort beschäftigen konnten. Klo, Zähneputzen, kaltes Wasser ins Gesicht, eine Minute unter die heiße Dusche springen, in dreißig Sekunden die Haare kämmen und einlegen, das Gesicht mit dramatically different moisturizing lotion eincremen, einen Hauch Parfüm aufsprühen, fertig. Das Schminken gehörte für sie zum Anziehen, und damit hielt sich Ebba auch nicht lange auf.

Edward saß im Schneidersitz auf dem Bett, schlürfte den Milchkaffee und las im Wirtschaftsteil der Zeitung, die er vor sich ausgebreitete hatte.

«In Franken hätte man investieren müssen!», sagte er und biss von seinem Croissant ab.

Ebba setzte sich zu ihm, betrachtete das Tablett. «Herrlich!» Sie trank einen Schluck Saft, nahm dann die Tasse in beide Hände, als fröre sie. «Franken? Das ist eine Minderheitenveranstaltung. Dollar, damals, rechtzeitig: das wäre es gewesen.»

Sie fachsimpelten eine Runde und frühstückten dabei. Immer wieder kamen sie dabei vom Thema ab und sahen sich an, schweigend, als suche jeder beim anderen die Antwort auf die Frage: ist das wirklich wahr? Dann ließen sie das Frühstück Frühstück sein und liebten sich wieder. Am frühen Nachmittag – sie hatten die ganze Zeit über im Bett zugebracht – wehte Ebba kurz die Sehnsucht nach ihrem Staubsauger an, aber dann sagte sie sich: Ebba, du bist bekloppt, nimm dich zusammen! Dieser Junge ist ein Geschenk Gottes, er ist klug und hübsch und geil, und er legt dir sein Leben zu Füßen, und du willst ihn raussaugen. Schluss. Ändere dich. Genieße ihn. Mach was draus!

Und das tat sie. Auf dem Weg nach Hause erlaubte sie ihm, ihren Porsche zu fahren, und machte ihm einen großartigen Vorschlag. Schon lange hatte er sich nicht mehr so gut gefühlt. Jaaa! So muss es sein! Neben dir sitzt die geilste Frau der Welt und sie will dich! Denk nicht zu lange nach, sonst überlegt sie es sich noch anders. Besser kann es gar nicht kommen. Sag ja!

Und das tat er. Als sie vor Pauls Villa hielten, stellte er den Motor ab, sah sie an und lächelte: «Okay! Ich bin dabei.» Er streckte ihr die Hand entgegen, sie nahm sie und er zog sie zu sich heran und küsste sie.

«Wenn das die Mama sieht!», meinte Ebba atemlos.

Es regnete noch immer. Cats and dogs, sagen die Engländer. Bindfäden heißt es bei uns, oder: in Strömen. Alles passte. Der Regen prasselte auf das Autodach, er prasselte auf die Straße, auf den Gehweg. Es goss, es schüttete, es schiffte. Der Regen bildete Pfützen und Bäche, er ließ die ersten Blätter, die von den Bäumen gefallen waren, sich wie Kinderkarusselle drehen, riss sie mit in schmalen, schmutzigen Flüssen, bis hin zu den Sielen, die überquollen und auf deren Gittern und Deckeln sich kleine Seen formten. Die Bäume beugten sich unter seinem Beschuss, die Erde wurde weich, die letzten Herbstblumen knickten ab, sanken zu Boden. Schwarz war der Himmel, kein Vogel sang mehr es gab kein Geräusch mehr außer dem gleichförmigen Prasseln, Patschen, Schmatzen, Gurgeln.

Die Scheiben des Autos beschlugen. Ebba machte die Klimaanlage an. Sie drückte den Knopf des Zigarettenanzünders ein, nahm aus dem Ablagefach ein Päckchen Zigaretten, zog zwei heraus, steckte sie in den Mund und zündete sie an. Sie reichte eine zu Edward hinüber, der das Lenkrad umfasst hielt, als wolle er das Steuer nicht aus der Hand geben.

«Ich rauche doch nicht!»

«Okay. Dann höre ich auch auf. Ab heute!», erwiderte Ebba, ließ die Fensterscheibe herunter und warf die Zigaretten in hohem Bogen hinaus. «Gott! Die Sintflut!» Schnell ließ sie die Scheibe wieder hochsurren.

«Willst du mit rein, Ebba?»

«Bin ich Masochistin?», fragte sie zurück. «Bis ich im Haus bin, sind meine Klamotten bis auf die Haut nass ...»

«Stelle ich mir geil vor!»

«Und was soll ich dann bei euch? Deiner Mutter alles beichten? Nein, nein, ich fahre zurück. Grüß sie einfach von mir.»

Er nickte.

«Wirst du es ihr sagen?», hakte sie nach.

«Sollte ich?»

«Nein.»

«Dann mach ich's auch nicht.»

Freundschaft kommt ohne ein gewisses Maß an Unaufrichtigkeit nicht aus. Zwischen Ebba und Anne war das normalerweise anders. Ebba hielt Offenheit für das Öl im Getriebe in ihrer Beziehung. Doch in diesem Fall, und das zum ersten Mal, war sie überzeugt davon, dass eine kleine Lüge nicht schadete, im Gegenteil. Die Affäre zwischen ihr und Edward musste ein Geheimnis bleiben. Zu gut kannte sie Anne, um nicht zu wissen, was passieren würde, wenn ihre Freundin davon erführe.

Edward küsste Ebba, öffnete die Tür, sprang aus dem Wagen, lief um ihn herum, während er seine Anzugjacke auszog. Als Ebba ausstieg, hielt er ihr die Jacke wie einen Schirm über den Kopf und begleitete sie um das Auto und wartete, bis sie auf dem Fahrersitz saß.

«Du bist süß, Edward.»

«Es war klasse, Ebba. Danke.» Er knallte die Tür zu. Sie startete und raste davon. Edward sah ihr nach und ging dann ins Haus. Seine nasse Jacke hängte er in der Garderobe auf einen Bügel, dann trat er ins Wohnzimmer, um sich bei seiner Mutter zurückzumelden. Sie war nicht dort. Er suchte sie und fand Anne zusammen mit Paul in der Praxis. Er saß hinter dem Empfangstresen am Computer und arbeitete. Edwards Mutter hatte es sich auf dem antiken Sessel neben der Eingangstür gemütlich gemacht, sie trug einen Jogginganzug, hatte die Füße auf einen Holzhocker gelegt und blätterte in einer medizinischen Fachzeitschrift.

«Bildest du dich?», fragte Edward und gab ihr einen Kuss. «Das ist ja ätzend!», antwortete Anne und zeigte auf eine Fotoserie mit Hautkrankheiten.

«Hallo, Edward!», sie klappte die Zeitschrift zu. «Warum ist Ebba nicht mit reingekommen?»

«Habt ihr uns gesehen?»

«Den Porsche kann man ja nicht überhören, wenn du hier so angeröhrt kommst!», meinte Paul und sah vom Computer auf. «Grüß dich.»

Aus dem Glas mit Gummibärchen, das auf dem Tresen für Kinder bereitstand, nahm er sich eine Hand voll und schüttete sie sich in den Mund. «Herzliche Grüße von Ebba. Sie hatte keine Zeit. Wo sind die anderen?»

«Anuschka und Laura sind doch dieses Wochenende bei Sybille!», erklärte Anne. «Luis ist unten bei Frau Merk, und Pavel ...»

«Schläft noch!», ergänzte Paul.

«Nachmittags?»

«Das fragst du?», sagte Anne lachend.

«Ich muss euch was sagen.»

Anne stand auf und kam zu ihrem Ältesten: «Hast du bei ihr übernachtet?»

«Na, was denn sonst? Auf der Straße?» Er guckte in den Vordergarten hinaus, der in den Fluten unterzugehen schien. «Bei dem Scheißwetter?»

«Und wie war es?»

«Stasi-Anne!» Den Ausdruck hatte Edward von Ebba übernommen. Er rollte mit den Augen. «Wie: wie war es? Es war geheizt. Ich habe gut geschlafen. Wir haben gefrühstückt. Sie hat mich nach Hause gebracht. Sonst noch was?»

«Ich meinte: euer Diskobesuch.»

«Diskobesuch?»

«Oder Club oder wie ihr das auch immer heute nennt: Ihr wolltet doch tanzen gehen.»

Paul war mit seiner Arbeit fertig und schaltete den Computer aus: «Du musst einfach nur jede zweite Frage beantworten.»

«Wie hältst du das nur aus, Paul?»

«Du hältst es doch auch schon neunzehn Jahre aus.»

Paul kam zu den beiden, stellte sich hinter Anne und nahm sie in den Arm. «Und ich gedenke, es mindestens ebenso lange auszuhalten ...» Er wiegte sie hin und her. «Also erzähl schon!»

«Ihr seid echt der Horror! Was soll das? Wir waren nicht tanzen. Wir haben ... geredet! Wein getrunken. So halt.»

Anne machte sich los. «Du wolltest uns etwas erzählen. Also? Stasi-Anne hört.»

«Ich fahre nicht nach München zu Ingrid. Ich gucke mir die Uni nicht an. Weil ich nicht studieren werde.»

Anne und Paul sahen sich erstaunt an. Anne holte tief Luft.

«Ihr habt geredet? Aha. Über deine Studienpläne? Hat Ebba dir das ausgeredet? Oder eingeredet von mir aus? Soll das ewig so weitergehen?»

«Anne, ich bitte dich!», unterbrach Paul sie.

«Ich will mich aber aufregen.» Sie öffnete die Tür zum Zwischenflur, ging und redete weiter: «Dieses Unentschiedene! Das ist doch nicht zu fassen. Wir haben ...», Paul und Edward folgten ihr in die Küche, «... doch nun hundertmal darüber geredet, du musst endlich mal in die Hufe kommen ...» Sie trat in den Flur hinaus, die Männer kamen nach. «... musst. Und überhaupt!» Sie blieb abrupt stehen. «Was wollte ich noch? Ach so.» Sie machte kehrt, die beiden waren stehen geblieben, Anne drängelte sich an ihnen vorbei und ging in die Küche zurück. «Ihr macht mich aber auch so was von nervös!» Sie ging an den Küchenschrank und öffnete ihn. «Warum stellt diese Frau die kleinen Teller immer nach hinten?» Sie drehte sich zu Paul und Edward um, die ein wenig ratlos in der Küchentür stehen geblieben waren. «Kann mir das mal jemand beantworten? Sie gehören nach vorne! Nach vorne, das habe ich ihr hundertmal gepredigt.» Sie langte in den Schrank hinein und holte polternd einen Stapel kleiner Essteller heraus und stellte sie auf die Arbeitsfläche, während sie ununterbrochen weiterredete: «Ich will dir was sagen, Edward, ich stelle dir ein Ultimatum. Ich will, dass du bis Jahresende spätestens, ja?, weißt, was du im nächsten Jahr machst. Ich will keinen loser als Sohn. Ich will, dass mein Ältester, nachdem ich Jahre an Arbeit und Geld in ihn reingesteckt habe, endlich sein Studium beginnt. Ich will, dass aus dir was wird, verdammt!», sie knallte die Schranktüren zu. «Andernfalls ...» «Andernfalls?», fragte Edward seelenruhig.

«Andernfalls, mein Lieber», sie drehte sich zu ihm um, «schmeiße ich dich raus. Und zwar eigenhändig. Mir reicht es nämlich. Und zu Ingrid fährst du auch. Du hast dich bei ihr angemeldet. Wie ich sie kenne, bereitet sie deinen Besuch seit Wochen vor und denkt an nichts anderes mehr.»

Edward grinste sie an.

«Was gibt es da zu grinsen?»

«Warum lässt du eigentlich nie jemanden ausreden, Mama?»

«Ich finde auch, du gehst jetzt ein bisschen weit, Liebes.»

«Lass mal, Paul, danke.» Edward winkte ab. Dann fuhr er fort: «Was ich die ganze Zeit über schon sagen wollte, ist Folgendes: Ebba hat mir vorgeschlagen, dass ich bei ihr in der Bank ein Praktikum machen kann. Sie sagt, Theorie sei nichts für mich.»

«So, sagt sie das.»

«Und sie sagt, nach dem Praktikum hat sie eine Lehrstelle für mich, also: einen Ausbildungsplatz. Zum Bankkaufmann. Sie findet, ich sei perfekt für so einen Job.»

«Aha, das findet also Ebba.»

«Bei ihr in der Bank?», hakte Paul nach. «Eine Ausbildung?»

«Nein, das findet sie nicht so gut, weil wir uns ja ...», er zögerte kurz, «... kennen. Sie meinte, bei einer anderen Bank. In Hamburg natürlich. Sie hat da Super-Connections. Ist doch geil, oder?»

«Hmmm», brummte Anne. Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, sauer zu sein. Sie wusste nicht wirklich warum, aber sie hatte ein Gefühl, es gäbe genug Grund, sauer zu sein und endlich einmal hart durchzugreifen. Aber nun nahm er ihr irgendwie den Wind aus den Segeln. Bankkaufmann. Praktikum bei Ebbas Privatbank, Ausbildungsplatz. Nicht schlecht. Hätte sie eigentlich schon längst drauf kommen können.

«Und wisst ihr, was das Beste ist? Ich kann bei ihr wohnen. Die Studentin, die im Souterrain wohnt, zieht zum ersten Oktober aus. Was sagt ihr nun?»

Tja, dachte Anne, dann hat er ja wieder ein neues Nest gefunden. Aber okay, wenn Ebba das so vorgeschlagen hatte, so mir nichts, dir nichts, aus heiterem Himmel, sie wird es sich ja gut überlegt haben.

Sie hatte es sich gut überlegt. In der letzten Oktoberwoche zog Edward aus. Ohnehin war er in den vergangenen Wochen fast mehr bei Ebba gewesen als zu Hause. Anne wunderte sich ein wenig darüber, wusste aber nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Anfang November würde sein sechswöchiges Praktikum beginnen. Und einen Ausbildungsplatz zum Jahresbeginn hatte Ebba auch für ihn ergattert, ganz wie versprochen. Anne telefonierte ein paar Mal mit ihr wegen dieser Geschichte, hakte nach, meldete Zweifel an, warnte ihre Freundin vor ihrem anspruchsvollen Sohn.

Doch Ebba blieb dabei. «Ich möchte das gerne für euch tun!», sagte sie nur kurz und bündig.

Anne half Edward beim Umzug. Die meisten seiner Möbel wollte er in seinem Studio unter dem Dach stehen lassen. Es war, als wolle er ein Pfand zurücklassen, eine Rückversicherung.

Luis hatte beim Abschied am Gartentor gestanden und geheult. Pauls Töchter hatten ihm ein Foto von sich, das sie in einem von Laura gebastelten Rahmen gesteckt hatten, geschenkt, damit er sie nicht vergessen würde, wie sie sagten. Pavel hatte am Morgen, bevor er zur Eisenbahn gelaufen war, um zur Arbeit zu fahren, verkündet, auch er würde Anfang des kommenden Jahres, wenn seine Lehre beendet sei, ausziehen. Ja, es wurde langsam leer in Pauls schönem, großem Haus, schneller, als Anne und er gedacht hatten.

Ebba hatte sich für den Tag der Ankunft freigenommen. Als Anne sie aus der Haustür kommen sah, war sie verblüfft: Ebba hatte sich die Haare abschneiden lassen. Sie trug sie jetzt kurz und mit Gel nach hinten gestrichen. Es machte sie jünger, veränderte sie aber auch sehr. Für ihre Verhältnisse sah sie lässig aus, beinahe nachlässig, Ebba hatte alte Jeans an und einen lindgrünen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt. Sie hatte kein einziges Stück Schmuck angelegt und war ungeschminkt.

Aber sie strahlte: «Herzlich Willkommen!», sagte sie und breitete die Arme aus, als kehre ein verlorener Sohn endlich nach Hause zurück.

Der Kram war schnell ausgeladen. Edward zeigte Anne sein neues Zuhause. Sie gingen zusammen mit Ebba die schmale Treppe ins Souterrain hinunter, durch einen Flur, von dem kleine Kellerräume abgingen, in einen großen, hellen, mit neuem Teppichboden ausgelegten Raum, der bodentiefe Fenster und eine Terrassentür hatte, sie gaben den Blick frei auf den großen Garten, der hinabführte zum Kanal. Es gab Einbauschränke, eine Kitchenette hinter einer klappbaren Tür mit weißen Holzlammellen, ein breites, gemütliches, amerikanisches Sofa mit Rosenstoff bezogen und einen Schreibtisch, der in ein Bücherregal eingebaut war. Das angrenzende Bad war klein, aber perfekt ausgestattet. Am auffälligsten war das Bett. Anne erinnerte sich daran, dass Ebba ihr einmal davon erzählt hatte, gesehen hatte sie es noch nie. Es stammte aus Spanien, aus dem i6. Jahrhundert, und hatte vier Pfosten aus nachtschwarzem Eichenholz. Das Kopfende bestand aus unzähligen gedrehten Holzsäulen, die zur Mitte hin aufstiegen und deren Mitte ein geschnitztes Emblem mit einem flammenden Herz bildete. Erstaunlicherweise war es nicht bezogen, über die Matratze hatte Ebba einfach nur ein Kaschmirplaid gelegt. Anne wunderte sich darüber, denn ansonsten war alles in einer Weise vorbereitet, wie sie es sonst nur für ihre Söhne tat. Eine Schale mit Herbstäpfeln stand auf dem Nachttisch, ein Strauß mit Rosen leuchtete in einer Kristallvase auf dem Boden.

«Nicht schlecht!», meinte Anne. «Hier kann man sich wohl fühlen.»

Nachdem die drei wieder nach oben gegangen waren, bot Ebba ihrer Freundin einen Kaffee an, doch Anne lehnte ab und fragte stattdessen nach einer Zigarette.

«Ja, weißt du das denn nicht?», fragte Ebba. «Ich rauche doch nicht mehr!» Sie und Edward wechselten einen schnellen Blick, der Anne nicht entging. Ohnehin hatte sie das Gefühl, dass Veränderungen im Gange waren, von denen sie nichts wusste. Bei nächster Gelegenheit musste sie ihre Freundin in die Zange nehmen. Aber nicht heute. Denn morgen ist wieder ein Tag ...

Im Nachhinein hatte Anne den Eindruck, eigentlich sei alles ein bisschen sehr schnell gegangen, besonders von dem Moment an, wo die Sachen ausgeladen gewesen waren. Ihr kam es vor, als hätten Ebba und Edward sie hinauskomplimentiert. Nicht wirklich. Aber es lag etwas Unruhiges und Flirrendes in Ebbas Augen, und die Stimmung, wie sie da so in der Küche standen und man ihr keinen Platz anbot, hatte etwas vom nervösen Fingertrommeln auf einer harten Unterlage, und unausgesprochen schien es, als läge ein Satz in der Luft wie: «Wann gehst du endlich?»

Und tatsächlich war sie auch nach einer halber Stunde wieder draußen. Ebba plapperte munter mit ihr an der Wohnungstür und sprach davon, dass sie ganz, ganz bald mal wieder bei Da Nando essen gehen und sich das Allerneuste erzählen müssten. Flott öffnete sie die Tür und umarmte ihre Freundin und sagte ihr leise ins Ohr: «Mach dir keine Sorgen. Der ist goldrichtig hier aufgehoben!» Dann kam der Abschied von Edward. Anne war zum Weinen zumute, als er sie drückte.

«Mama!» Er trat einen Schritt zurück und packte sie an den Schultern. «Du fängst jetzt aber nicht an zu heulen, oder?»

«Man wird doch noch mal traurig sein dürfen. Du ziehst

aus, einfach so, und irgendwie auch so hopplahopp.»

«Zehn Kilometer Luftlinie, Mensch!»

«Im Herzen gibt es keine Kilometer», meinte Ebba und lehnte sich lässig gegen die Wand.

«Ach, das hat doch mit Kilometern nichts zu tun!», entgegnete Anne. «Das versteht nur eine Mutter ... du bist der Erste, der aus dem Haus geht, Edward, bald haut auch Pavel ab und dann Anuschka, und irgendwann Luis, und Laura ...»

«Und dann hast du deinen Paul ganz für dich allein. Das wolltest du doch so!»

«Ja, das wollte ich so.» Sie versuchte zu lächeln. «Tschüs, mein Junge.» Sie umfasste sein Gesicht und küsste ihn. «Ruf mich jeden Tag an, hörst du?»

«Jaja.»

«Deine Handy-Rechnung läuft ja sowieso weiter über mein Konto.»

«Ja, Mama!»

«Also, tschüs.»

«Tschüs, Mama.»

«Wiedersehen Darling!»

Dann fiel die Tür ins Schloss.

Auf der Fahrt nach Hause heulte Anne so sehr, dass sie zwischendurch zweimal anhalten musste. Sie war eben eine Kitschjule, auch da hatte Ebba Recht.

Der erste Advent stand vor der Tür, in vier Tagen war es so weit. Seit zwei Wochen war Anne erfüllt davon, einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen nachzugehen: die Adventszeit vorzubereiten. Sie war auf den Dachboden gestiegen und hatte unzählige Kartons mit Weihnachtsschmuck heruntergeschleppt, mit dem sie im Haus dekorieren wollte. Es war erstaunlich, wie viel von diesem Zeug sich im Laufe eines Familienlebens so ansammelte, dachte Anne, als sie die Sachen in der Küche ausbreitete. Unter raschelndem, längst vergilbtem Seidenpapier kamen böhmische Glaskugeln und englische Baumanhänger zutage, ihre Mutter hatte ihr schon vor Jahren einen Teil ihres Besitzes überlassen, da sie ohnehin davon ausging, die Feiertage mit ihrem Mann zumeist bei einer ihrer Töchter zu verbringen. Die schönsten Kindheitserinnerungen waren darunter. Die Kugel aus Gold, die, wenn man sie an einem Band aufhängte und daran zog, O du fröhliche spielte. Die Baumspitze, die noch von ihrer Großmutter stammte, ganz aus zerbrechlichem Glas und mit silbernem Schnee überstäubt. Die Girlande aus künstlichem Tannengrün, die Ebba einmal aus New York mitgebracht hatte. Die Holzkrippe aus Bayern, die sie von Ingrid und ihrem Mann vor zwanzig Jahren zu Weihnachten bekommen hatte. Zu all den Dingen, die der Familie Alberti gehörten, kamen noch jene der Familie Ross, die Sybille alle zurückgelassen hatte. Lichterketten, Duftkerzen, Wachsengel. Eigentlich war es viel zu viel, doch Anne dachte «genug ist nie genug» und bat Frau Merk, die Kartons beiseite zu räumen, bis sie Zeit fände, alles zu dekorieren.

Bei einem Gärtner hatte Anne zwei Stiegen roter Weihnachtssterne bestellt – Lieferung am kommenden Samstag –, auf dem Wochenmarkt ein halbes Dutzend Tannenkränze gekauft. Eigentlich wollte sie zusammen mit den Mädchen das Haus schmücken. Doch Anuschka war voll und ganz mit ihrer Arbeit für die Schule beschäftigt. Sie stand im letzten Jahr vor dem Abitur; und da sie plante, danach ins Ausland zu gehen, büffelte sie unermüdlich, um einen bestmöglichen Abschluss hinzulegen.

Auch Laura hatte neuerdings andere Ambitionen. Seit einiger Zeit klingelte fast jeden Tag, pünktlich wie ein Maurer, ein junger Mann an der Haustür, um sie zu besuchen. Er war ein Klassenkamerad von Laura, zwölf Jahre alt, zweimal sitzen geblieben. Nicht gerade der Hellste, wie Anne fand, aber Laura war entzückt von ihm. Seine Eltern hatten ihn auf den Namen Konstantin taufen lassen, aber er hörte lieber auf Connie, der Himmel weiß, warum. Er hatte Pickel für siebzehn Personen, seine Wachstumshormone hatten Übermenschliches geleistet: Als Anne das erste Mal an ihm hochsah, fühlte sie sich an die Wolkenkratzer in New York erinnert. Connie hatte Schuhgröße 46, nichts an ihm schien im Lot zu sein, er lispelte, nuschelte, trug eine Zahnspange, wurde rot, sobald ein Erwachsener ihn ansprach, und war spindeldürr. Ein paar Mal ertappte sich Anne dabei, wie sie oben im Flur auf und ab ging, vor Lauras Zimmer stehen blieb, lauschte, und wenn es drinnen so unheimlich still blieb und sie mit sich haderte, ob sie nicht anklopfen und hineingehen und einfach mal so fragen solle: «Braucht ihr noch was ?» Abends im Bett löcherte sie Paul mit der Frage, ob er sicher sei, seine Jüngste richtig aufgeklärt zu haben. Er lachte über ihre Bedenken. Dass auch nur ein Anflug von Sex auf leisen Flügeln in das Zimmer seiner Tochter hineinschweben könne, hielt er für unmöglich. Doch wenn Laura ihren Freund an der Haustür verabschiedete, jeden Tag wiederum pünktlich um sechs (Anne fragte sich, was diese genaue Zeiteinteilung zu bedeuten und ob er noch andere Hausbesuche zu absolvieren habe – sie misstraute nach wie vor Männern aller Altersklassen), wenn sie mit roten Backen und leuchtenden Augen vor Anne stand und immer wieder fragte: «Wie findest du ihn? Ist er nicht süß?», dann war sie sich keinesfalls so sicher wie Paul.

Luis konnte mit dieser ganzen Geschichte überhaupt nichts anfangen. Ohnehin war Laura für ihn gestorben. Er verzieh ihr nicht, dass sie ihm untreu geworden war und offenbar schneller erwachsen wurde als er. Also suchte er sich eine neue Freundin. Und die hieß Brigitte. Seit längerem schon hatte Anne es arrangiert, dass an den Wochenenden, an denen Anuschka und Laura bei Sybille und Ruth waren, Luis bei seinem Vater und dessen Freundin verbrachte. Brigitte hatte in ihrer zupackenden Art schnell Luis' Herz für sich gewonnen. Die ganze Woche über simste er mit ihr, wie er sich ausdrückte: Sie schickten sich über das Handy kurze SMS-Nachrichten. Und jeden Tag hatte er eine neue Nachricht parat. Brigitte hat dies gesimst und Brigitte hat das gesimst wurde zu seiner stehenden Rede. Gerade gestern erst hatte er die Familie mit einer Meldung überrascht, die Anne lieber von Wolf direkt erfahren hätte.

«Papa hat die Scheidung eingereicht.» Er strahlte seine Mutter an. «Du kriegst nächste Woche Post von seinem Anwalt!»

Anne hatte abends neben Paul im Bad gestanden, beide vor dem Spiegel, beide mit ihren elektrischen Zahnbürsten in der Hand, und darüber räsoniert, wie seltsam es doch sei, dass immer wieder etwas Überraschendes passierte, womit man nicht gerechnet hatte, dass Menschen, selbst wenn man glaubte, man kenne sie ganz genau (so wie sie Wolf), ein Verhalten an den Tag legten, das überhaupt nicht zu ihnen passte.

«Wie kann er die Scheidung einreichen, ohne vorher mit mir darüber zu reden?», fragte sie, stellte die Zahnbürste aus und spuckte in das Waschbecken. «Und wie kann er zulassen, dass ich es auf solche Weise erfahre? Über eine SMS, die seine ... Freundin ... an unseren Sohn schickt. Das ist doch irre, oder?» Sie spülte mit Mundwasser nach.

«Na ja», meinte Paul. «Du hast ihn eben sehr verletzt. Die Wunde mag verheilt sein, aber der Schmerz bleibt. Vielleicht ist das eine Art Rache.»

«Aber wir sind inzwischen doch auf ... auf, wie soll ich sagen? Nice speaking terms. Wir telefonieren ab und zu, er trifft die Jungs regelmäßig, er hat doch auch ein neues Leben angefangen. Warum ... warum sollte er auf Rache sinnen nach der ganzen Zeit? Männer sind doch irgendwie immer kindisch.»

Paul hatte nichts darauf geantwortet, ihr nur einen kurzen Seitenblick zugeworfen, seine Zahnbürste weggestellt und war ins Schlafzimmer gegangen. Als sie ein paar Minuten später zu ihm ins Bett kam und er las, drehte sie sich auf die Seite, starrte in den leeren Kamin, den Frau Merk am Morgen geputzt hatte, und dachte über das Thema Scheidung nach. Sie war in diesem Moment ehrlich zu sich selbst: Mehr noch als die Tatsache, dass Wolf sie über seine Scheidungsabsichten nicht informiert hatte, kränkte sie verletzte Eitelkeit. Ja, sie hatte ihn betrogen, verlassen und sich für Paul entschieden. Aber irgendwie war er immer noch ihr Mann, und dass er ihr jetzt auf diese Weise jenen kleinen Rest von ihm, der ihr noch gehörte, nehmen w0llte, tat ihr weh. Wenn man alles beiseite lässt, Romantik, Sex, Liebe, Freundschaft, Verstehen und Begreifen, dachte sie, wenn man alles Verklärende und Schmückende herunterreißt von einer Beziehung, dann bleibt nur noch das übrig, worum es in Wahrheit wirklich geht unter Menschen: um Macht. Wer hat Macht über wen, wer hat mehr Macht, wer verliert seine Macht. Mann und Frau: Das war der Kampf um die Macht. Und ich bin da keinen Deut anders oder besser. Am meisten aber schmerzte sie, dass Paul dieser Wendung nichts entgegensetzte. Warum hatte er nicht sofort gesagt: «Wunderbar! Dann lasse ich mich auch scheiden. Dann steht uns der Weg offen. Dann können wir auch heiraten.»

Sie drehte sich zu ihm hin: «Liebst du mich noch, Paul?»

Paul klappte sein Buch zu, legte es auf seinen Nachttisch, schaute sie an. Alarmstufe eins, dachte er, und er wusste ganz genau, warum sie das fragte, und er wusste auch ganz genau, dass dies eine der lebensgefährlichen Grundsatzfragen ist, auf die ein Mann einer Frau drei Antworten niemals geben darf: 1. Warum fragst du das? 2. Na ja, Liebe, das ist ein weites Feld. 3. Wen meinst du: mich?

Er schmunzelte über seine Gedanken, zog Anne zu sich heran und flüsterte: «Natürlich liebe ich dich. Sehr sogar!» Und das war die Wahrheit.

Es war einer der berühmten Mittwochnachmittage. Paul hatte frei. Nachdem er in der Praxis seinen Schreibkram erledigt hatte, tauchte er in der Küche auf, um tschüs zu sagen: Um drei Uhr war er mit Sybille verabredet. Er hatte Anne nicht gesagt warum, und sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als danach zu fragen. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust zu gehen. In der Küche herrschte ein geschäftiges Treiben, eine heimelige Atmosphäre, eine vorweihnachtliche Stimmung, wie er sie nur aus Kindertagen noch kannte. Anne und Frau Merk backten Kekse. Es duftete nach Zimt, nach Butter, nach Orangenschale. Der Ofen brummte leise, es war warm, die Scheiben des Küchenfensters waren beschlagen. Neben der Heizung stand eine Porzellanschüssel, in der Hefeteig für den Stollen aufging und über die Frau Merk ein Geschirrtuch gelegt hatte. Mit einer Spritztüte drückte Anne Mandelkekse auf ein Backblech, vorsichtig und gleichmäßig, und ihre Zungenspitze schien ihr beim Ausbalancieren behilflich zu sein. Frau Merk rührte auf dem Herd in einem Kupfertopf Zuckerguss glatt. Als der Ofen ein Klingelsignal von sich gab, schnappte sie sich zwei Topflappen und zog ein Blech mit duftenden Zimtsternen heraus, das sie knallend auf den Tisch stellte.

Paul machte große Augen. «Hmmm!»

«Wolltest du nicht weg?»

«Kann ich irgendwas helfen?»

Anne sah erstaunt auf: «Du und Küchenarbeit?»

«Das ist unser Job!», erklärte Frau Merk und begann, mit einem Pinsel den Zuckerguss auf die Kekse zu streichen. Sie sagte nicht Dschob, sondern Jop, wie Joppe.

Paul nickte. «Dauert nicht lange!»

Als er weg war – Frau Merk warf noch einmal einen prüfenden Blick zur Tür –, hielt sie inne und sah Anne an, die sich am Spülbecken die Hände wusch. «Macht Ihnen das nichts aus, wenn er seine Frau besucht?» Es klang nicht neugierig, sondern eher einfühlsam, und Anne war erstaunt über diese persönliche Frage.

«Ach wissen Sie: Die Dinge liegen nun mal, wie sie liegen. Ich treff ja meinen Mann auch ab und zu. Das ist ein Stück unserer Biographie. Das gehört zu uns, bis zum Ende unseres Lebens.» Sie trocknete sich die Hände ab.

«Es tut mir auch Leid, was ich seinerzeit gemacht habe», fuhr Frau Merk fort, «dass ich da immer hin bin zur Frau Johanssen und geschludert habe über Sie.»

«Ach hören Sie auf. Das sind doch alte Kamellen.»

«Und inzwischen sind wir ja ein ganz gutes Team, was?»

»Ja, das sind wir!» Anne schob das Blech mit den Mandelkeksen in den Ofen.

»Fehlt Ihnen nicht doch manchmal was, Frau Alberti?»

«Was meinen Sie?»

«Na ja ...» Frau Merk stellte den Topf beiseite. «Der Edward ist ausgezogen. Bei ihrem Pavel ist es auch bald so weit. Dann wird das Haus leerer und leerer. Die Arbeit hier ...», sie blickte sich in der Küche um, die aussah, als hätte eine Bombe eingeschlagen, «... ist ja eigentlich mein Revier. Ich meinte: eine Aufgabe oder so.»

Seltsam, dachte Anne, dass sie mich darauf jetzt anspricht!

Gerade dieses Thema spukte ihr seit Wochen im Kopf herum. Sie hatte nicht vergessen, dass Ebba ihr immer wieder nahe gelegt hatte, sich eine Arbeit zu suchen. Sie war gerne die Managerin dieses Haushalts, sie war gerne Mutter und gerne die Frau an Pauls Seite. Aber manchmal, besonders seitdem sich alles so gut eingependelt hatte und die schlimmsten Probleme überwunden zu sein schienen, empfand Anne ein seltsames Gefühl der Leere. Bisher hatte sie sich nicht getraut, mit Paul darüber zu reden. Aber vielleicht würde sich bald eine günstige Gelegenheit ergeben, ihm ihren Plan vorzutragen. Denn einen Plan hatte sie längst.

Paul fuhr in diesem Moment gerade vor Ruths Haus vor. Er hatte den kürzesten Weg gewählt, vorbei am Schloss, und war schon nach zehn Minuten am Ziel. Als er ausstieg, merkte er, wie kalt es war. Das Kopfsteinpflaster war glitschig, beinahe wäre er ausgerutscht. Er hielt sich in letzter Sekunde am Stamm der kahlen Linde, die Ruths Anwesen bewachte, fest. Es wird Frost geben, dachte er und sah hoch. Der trübe Himmel geizte mit Licht, in wenigen Stunden würde es schon wieder dunkel sein. Aus dem Schornstein, der aus dem Reetdach von Ruths Haus ragte, stieg tanzend grauer Rauch auf. Paul öffnete die schiefe Gartenpforte und ging seitlich am Haus vorbei zur Scheune hinüber, in der bereits Licht brannte.

«Ruth Johanssen, Alte Möbel» stand auf einem Messingschild, das in die Rotklinker der Außenmauer geschraubt war. Er öffnete die Tür, die aus zwei Teilen bestand, dunkelblau gestrichen und früher einmal das Scheunentor gewesen war, und trat ein. Es roch nach Leim, Farbe und frisch gesägtem Holz. Im staubigen Licht sah er Türme von alten Stühlen, eine Werkbank, kleine und große Tische verschiedenster Epochen, an den Wänden hingen Bilderrahmen, der Boden war übersät von Spänen und Holzstückchen. Mittendrin stand Ruth und trug mit einem dicken Pinsel Beize auf einen grell lackierten Küchenstuhl auf. Mit ihrem langen Filzrock, der groben grünen Bluse und der dunkelblauen Schuhmacherschürze sah sie aus wie ein russisches Mütterchen aus einem Tschechow-Stück.

«Hallo Ruth!», sagte er.

Sie drehte sich um. «Paul! Du bist schon da?» Sie guckte auf die Bahnhofsuhr, die über der Eingangstür hinter Paul an der Wand hing und halb drei anzeigte. «Sybille ist in der Küche. Willst du rübergehen?» Er nickte. «Ich komme später nach!», erklärte sie lapidar und wendete sich wieder ihrer Arbeit zu.

Über den Hof ging er ins Haus. Die Seitentür führte direkt in die Küche, wo Sybille am Herd stand und gerade Teewasser aufsetzte. Sie begrüßten sich kühl.

«Mit Anmeldung?», meinte Sybille und gab aus einer friesischen Dose vier Löffel Tee in eine dicke braune Kanne. «Was ist los?»

«Darf ich mich setzen?»

«Na, wieso nicht?»

Er nahm am Küchentisch Platz, der direkt vor dem hutzeligen Sprossenfenster stand, und sah sich um. Alles hier war hutzelig. Hutzelig und klein. Er hatte schon früher immer das Gefühl gehabt, wenn er zu Besuch gewesen war, er müsse ständig den Kopf einziehen, um sich nicht an Balken und Decken den Kopf zu stoßen. Ihm war Ruths Haus zu winzig, zu beengt, zu verbaut. Andere hätten es gemütlich genannt, Ihn bedrückte dies bäuerlich Pittoreske. Er brauchte Luft und Licht zum Atmen und Leben. Er brauchte Freiheit.

«Es ist so, dass ich mit dir was bereden wollte, wegen unserer Zukunft.»

Der Wasserkessel pfiff. Sybille stellte das träge summende Gas ab und goss das Wasser in die Kanne.

«Unsere Zukunft?» Sie stellte den Kessel auf den Herd zurück, drehte sich um und sah ihn blitzend an. «Wir haben doch keine Zukunft!»

«Hält Ruth deine Spitzfindigkeiten besser aus als ich?»

Sie nahm drei Tassen aus dem Schrank und stellte sie wortlos auf den Tisch. Er verteilte sie.

«Kuchen haben wir nicht!», erklärte Sybille. «Ich muss abnehmen.» Dabei war sie schlank wie eh und je. Auch wenn man es mittlerweile nicht auf den ersten Blick sah, denn sie hatte sich in ihrem Kleidungsstil dem von Ruth angepasst. Sie trug ein weites dunkelbraunes Omen-Kleid aus Baumwolle, um ihren Hals baumelte eine dreireihige Kette aus Holzperlen. Sie war ungeschminkt. Das hätte es früher bei ihr nie gegeben, dachte Paul. Sie legte ein silbernes Teesieb auf Pauls Tasse und goss ihm Tee ein, dann füllte sie ihre Tasse und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.

«Arbeitest viel, was?» Sie stützte ihren Kopf auf beide Hände und schaute ihn an.

«Warum?»

«Siehst abgespannt aus.»

«Stell dir vor, Juliane hat gekündigt.» Er nahm einen Schluck Tee. «Nach all den Jahren.»

«Willst du Kandis?», fragte sie, und ihre Stimme wurde etwas weicher.

«Nein», erwiderte er lachend, «ich muss abnehmen.»

«Das finde ich auch.»

Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Er sah an sich herunter und strich sich über seinen Norweger-Pullover. «Eigentlich halte ich mein Gewicht.»

«Du verträgst immer noch keine Kritik.»

«Wenn ihr eine Waage hättet, könnte ich mich jetzt draufstellen, und du würdest merken ...»

«Paul! Ich bitte dich! Was willst du? Warum bist du hier?»

«Ich möchte die Scheidung.»

Einen Moment lang herrschte Stille. Der Wasserhahn tropfte. Aus der Werkstatt drang das Kreischen der Kreissäge herüber.

«Und ich möchte sie anständig durchziehen», fuhr er fort. «Ein alter Bekannter von mir, Dr. Kötter, würde ein, nun nennen wir es: Agreement aufsetzen, ich zahle natürlich weiter für dich, wie bisher, und du kriegst entsprechend des Wertes des Hauses, abzüglich Belastungen und was sonst noch so da ist: die gerechte Hälfte. Dann dachte ich mir ...»

Sie unterbrach ihn: «Du denkst doch wohl nicht, dass ich jetzt hier mit dir in der Küche herumschachere?»

«Natürlich nicht, Sybille. Aber irgendwann müssen wir die Sache ja mal klären. Das Jahr geht zu Ende, und im nächsten Jahr möchte ich ...»

«Frei sein.»

«So. In der Art, ja.»

«Eigentlich müsste ich dich hassen, Paul. Seltsamerweise kann ich das nicht. Aber ärgern tue ich mich dennoch. Und weißt du, warum? Weil du dein Leben lang: immer mit allem so durchkommst. Du bist ein womanizer, du wickelst deine Mutter um die Finger, du hast mich um die Finger gewickelt, und jetzt vermutlich Anne. Nicht zu reden von deinen Töchtern. Dir fehlt im Grunde die Erfahrung: dass sich dir mal etwas oder jemand in den Weg stellt. Alles geht immer leicht bei dir. Selbstverständlich. Immer so, wie du es willst.» Mit einem großen, ruhigen Zug trank sie ihre Tasse leer. «Aber okay. Ich bin einverstanden.»

«Danke.»

«Und ich werde mir etwas überlegen, irgendetwas, das dir wehtut, dir etwas in den Weg stellen. Bereite dich darauf vor. Habe es dir ohnehin viel zu leicht gemacht.»

Bevor er etwas darauf antworten konnte, kam Ruth und setzte sich zu ihnen. Eine halbe Stunde verbrachten sie zu dritt am Küchentisch, dann sagte Paul auf Wiedersehen und fuhr zurück.

Anne sah er für den Rest des Nachmittags nicht mehr. Sie hatte sich nach oben zurückgezogen, schlief eine halbe Stunde und nahm anschließend ein Bad. Paul erledigte in seinem Arbeitszimmer Telefonate und ging die Post durch. Dabei kam er ins Träumen, sah durch das Fenster hinaus in den Garten, auf die struppige, blattlose Hecke, hinter der das Nachbarhaus hervorlugte. Eigentlich hat sich doch alles zum Guten gewendet, dachte er. Ich werde im nächsten Jahr geschieden, und dann heirate ich Anne. Schade, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann, ein gemeinsames Kind wäre wunderbar, wie ein Neuanfang, wann kann man das schon mal: das Leben noch einmal von vorne beginnen. Ich bin ihr dankbar, meiner Anne, sie hat es gut gemacht, sie hat es mir leicht gemacht, auch meinen Kindern. Meine Kinder, deine Kinder, unsere Kinder: Nun sind wir eine Familie, und es ist nur ein Glück, dass Sybille auch ihren Frieden gefunden hat, und selbst Wolf. Das ist eigentlich das Schwerste, dass unsere Freundschaft dabei zerstört worden ist, und es wird Jahre dauern, bis er wieder mit mir reden wird.

Paul kam nicht dazu, weiter zu grübeln, denn Anne kam herein. Sie sah blendend aus, der Schlaf und das Bad hatten ihr gut getan, sie trug einen Hausanzug aus sandfarbenem Kaschmir und amerikanische Hausmokassins aus Wildleder, die mit Fell gefüttert waren.

«Wollen wir nicht wenigstens noch eine halbe Stunde an die Luft? Bevor es ganz dunkel ist?», fragte sie.

Er war einverstanden. Sie hüllten sich in dicke Wintermäntel, knoteten sich Schals um, sagten Frau Merk Bescheid, die in der Küche noch immer mit dem Abwasch beschäftigt war, und verließen das Haus, Hand in Hand. Sie gingen ihren Weg. Seitlich des Hauses herunter, wo Straßenlaternen den kalten Boden beleuchteten, über die Brücke, hinauf bis in den Wald. Sie sprachen nicht, hingen ihren Gedanken nach, dachten an dasselbe: an damals, als sie hier gemeinsam spazieren gegangen waren, an jenem warmen Sommernachmittag vor eineinhalb Jahren. Als sie an die Stelle kamen, wo sie das Reh befreit hatten, blieben sie stehen und betrachteten beide lächelnd den Platz, wo sie sich das erste Mal geliebt hatten. Paul umarmte Anne, sie streichelte sein Gesicht. Sie marschierten weiter. Ihr Atem bildete kleine weiße Wölkchen, ihre Nasen wurden rot von der Kälte.

Paul unterbrach das Schweigen: «Ich habe Sybille gesagt, dass ich die Scheidung will. Sie ist einverstanden.»

Annes Herz schlug bis zum Halse. «Warum hast du mir das nicht erzählt?»

«Ich wollte das erst mit ihr klären, damit du dich nicht unnötig aufregen musst.» Er machte eine Pause. «Habe ich damit deine Frage beantwortet?»

«Welche Frage?»

«Ob ich dich liebe!»

Statt etwas zu sagen, blieb Anne stehen und küsste ihn.

Als sie wenig später nach Hause kamen, stand Frau Merk in der Diele und war im Begriff zu gehen. Sie hatte ihre Handtasche übergehängt, hielt ein Paar dicke Wollhandschuhe in der Hand und eine Zellglastüte mit Keksen, die sie mit einem weihnachtsroten Bändchen zugeschnürt hatte.

«Ich bin dann bei meiner Freundin», erklärte sie. «Das Abendessen steht in der Küche.»

«Viel Spaß!», antwortete Anne. Sie und Paul zogen ihre Mäntel aus und warfen sie über die Garderobenhaken. Als sie ins Wohnzimmer traten, kam Laura die Treppe heruntergerast, mit einem Handy am Ohr.

«Ich bin in zehn Minuten da!», schrie sie ins Handy und schoss an den beiden vorbei. «Ich bin im McDonald's!», rief sie, und man wusste nicht genau, ob sie Anne und Paul meinte oder ihren Gesprächspartner am Handy. Kaum war sie in der Diele, machte sie auf dem Absatz kehrt und baute sich vor ihrem Vater auf. «Nein, warte», sagte sie laut ins Handy, als habe sie es mit einem Schwerhörigen zu tun. «... ich bin dann weg, nein, ich rede mit meinem Vater ... Papa darf ich bei Connie übernachten?, bitte! Seine Eltern sind auch einverstanden!» Sie sah ihn mit großen Augen an. Paul war platt. Sie wertete das als Zustimmung. «Er ist einverstanden», quakelte sie fröhlich ins Handy. «Tschüs!» Dieses Mal war das Wort an Anne und Paul gerichtet, sie wollte schon den Raum verlassen, immer noch telefonierend, da packte sie Paul am Kragen ihres dünnen T-Shirts.

«Moment!», sagte er ganz ruhig. «Moment!»

Laura drehte sich um. «Was?», fragte sie, und hatte dieses Funkeln in den Augen, das Anne und Paul bisher nur von Anuschka kannten.

«Kannst du mal das Gespräch beenden?»

«Warte!», sagte Laura, nahm das Handy vom Ohr, sah ihren Vater an, verschränkte die Arme und hielt das Gerät hoch wie eine Handgranate. «Was ist?»

«Was ist?», wiederholte Paul.

«Ich will gefragt werden, wenn du abends ausgehst und über Nacht wegbleiben willst!»

«Hab ich doch. Spreche ich chinesisch oder bist du schwerhörig?» Sie nahm das Handy wieder ans Ohr. «Kleinen Moment noch!», zwitscherte sie.

Anne sah, dass sich das Fortschreiten der Zeit und die Hormone nicht bremsen ließen. «Lass sie doch, Paul.»

Hilflos sah er zu Anne hin. Stumm und fragend formten seine Lippen die Worte: über Nacht? Mit vierzehn? Anne nickte. Dankbar sah Laura sie an.

«Also gut, von mir aus. Wenn ... äh ... Connies Eltern auch einverstanden sind?»

«Was habe ich denn eben gesagt?» Sie nahm erneut das Handy ans Ohr. «Er versteht mal wieder nichts!»

«Also hau schon ab!»

Weg war Laura.

Paul wollte die Treppe hochgehen. In dem Moment kamen Pavel und Anuschka herunter. Sie blieben auf den Stufen stehen.

«Wir wollen ins Kino!», sagte Anuschka. «Es kann spät werden.»

«Habt ihr Geld?», fragte Paul.

«Nie genug!», antwortete Pavel und grinste.

Paul zog aus seiner Kordhosentasche einen Hundertmarkschein und gab ihn Pavel.

«Danke!» Anuschka und Pavel sahen sich verlegen an.

Als sie den Rest der Treppe hinuntergingen und das Wohnzimmer verließen, sahen Anne und Paul, wie Anuschka Pavels Hand nahm.

«Das wäre dann also auch erledigt!», meinte Paul lapidar. Er kam zurück zu Anne. «Soll ich dir in der Zwischenzeit den Kamin anmachen?»

«Endlich!», sagte Anne. «Ruhe! Danke, lieber Gott.» Sie wandte sich an Paul. «Nein, lass nur, vielleicht später. Ich mache mich dann mal an die Adventskränze.»

Als Letzter kam Luis heruntergepoltert. Er hatte sich in der vergangenen Woche beim Friseur Ohrlöcher stechen lassen und sich von seinem Taschengeld zwei dicke Goldohrringe gekauft, die er nun voller Stolz trug. Gestern erst hatte er sich dann passend dazu im Badezimmer (das hinterher wie Sau aussah und weswegen es einen Riesenkrach zwischen ihm und Anne gegeben hatte) die Haare mentholgrün gefärbt. Es sah entsetzlich aus. Auch er hatte sein Handy dabei, sein Sweatshirt war kreischend rot, seine Hose olivfarben, die Nikes blau-weiß gestreift und mindestens drei Nummern zu groß.

«Ich bin bei Frau Lissmann!», erklärte er. «Ihr braucht mit dem Abendbrot nicht zu warten, ich kriege da was.»

«Na, das ist ja schön!», meinte Anne.

«Sie hat gesagt, ich kann bei ihr auch pennen. Mal sehen.»

«Ja, mal sehen.» Sie wollte ihm sein Sweatshirt zurechtzupfen, aber er schob ihre Hand weg. «Ruf aber bitte an, Luis, okay?»

Er grinste und hielt sein schreiend gelbes Handy hoch:

«Arrivederci!», rief er und verschwand wie die anderen.

Anne ging in die Küche. Frau Merk hatte kalte Hühnerkeulen aufgetischt und eine große Schüssel mit Salat. Das Dressing stand in einer kleinen Glaskaraffe daneben. Anne hatte noch keinen Hunger. Sie holte aus dem Zwischenflur die Adventskränze und brachte sie ins Esszimmer. Aus dem Wohnzimmer nahm sie eine alte Zeitung und breitete das Papier sorgfältig auf dem Esstisch aus. Dann schleppte sie zwei der Kartons mit Weihnachtsschmuck heran und begann damit, die Kränze zu dekorieren. Sie steckte Kerzenhalter hinein, drückte knubbelige rote Kerzen auf die Metallstifte, befestigte mit Draht getrocknete Beeren und Walnüsse im Tannengrün, band kleine weiße Schleifen, die sie dazusetzte. Es vergingen zwei Stunden. Anne machte eine Flasche Rotwein auf und brachte Paul ein Glas davon ins Bad. Er lag im warmen Wasser und las in einem Buch.

«Alles okay?», fragte sie.

«Danke, ja!»

Sie ging wieder herunter und verteilte die fertigen Adventskränze im Haus. Einer kam auf den Sofatisch, einen hängte sie über den Kamin, einen weiteren stellte sie in die Diele auf das Tischchen, die anderen brachte sie in die Zimmer der Kinder und in ihr Schlafzimmer. Aus dem Keller holte sie die Stiege mit den Weihnachtssternen und Werkzeug. Sie machte die Haustür auf und schlug einen Nagel in das Holz. Den letzten Adventskranz hängte sie daran auf, zupfte die Schleifen zurecht und besah zufrieden ihr Werk. Zum Schluss stellte sie die Weihnachtssterne in dicken, chinesischen Übertöpfen auf die Fensterbänke im Esszimmer und im Wohnzimmer. So mochte sie es. Jetzt konnte das Weihnachtsfest kommen. Anne knüllte die Zeitungen zusammen, räumte den Müll weg, stellte die leeren Kartons in die Küche und aß im Stehen eine Hühnerkeule. Sie sah auf die Uhr, es war kurz vor elf.

Anne stellte sich unten an die Treppe. «Bist du ertrunken?», rief sie hinauf.

«Komme sofort!»

Anne schlüpfte in ihre Mokassins, schaltete überall das Licht aus und knipste nur die beiden Tischlampen an, die neben dem S0fa standen. Mit ihrem Glas Rotwein machte sie es sich auf einem der Sessel gemütlich.

Endlich kam auch Paul. Er hatte sich einen Jogginganzug angezogen und hielt sein leeres Glas in der Hand.

«Lasse dich den ganzen Abend allein, tut mir Leid. Aber es war so herrlich in der Wanne, du hättest dazukommen sollen.» Er sah sich um. «Sieht gemütlich aus!»

«Setz dich zu mir!», bat sie. «Ich möchte etwas mit dir besprechen!»

Er kam zu ihr, stellte das Glas ab, schmiss sich aufs Sofa.

«Ich habe mir etwas überlegt Paul. Weißt du: Die Kinder ... gehen langsam ihre eigenen Wege. Das Haus versorgt Frau Merk. Für mich bleibt eigentlich nicht so recht was zu tun.»

«Du hast mich!»

«Das ist allerdings abendfüllend, das stimmt. Nein, im Ernst: ich würde gerne arbeiten!»

«Arbeiten?»

«Ich habe mir gedacht: Ich habe jetzt so oft mit dir deine Nacht- und Wochenenddienste gemacht, ich habe dir ab und zu in der Praxis geholfen, bei den Abrechnungen und so, ich kenne fast alle deine Patienten. Was hältst du davon, wo doch Juliane gekündigt hat und du bald eine neue Arzthelferin brauchst: Warum kann ich das nicht machen?»

Er kam hoch, stützte sich mit den Ellenbogen ab.

«Ich könnte eine Ausbildung bei dir machen, wieder auf die Schule gehen, ich interessiere mich dafür, das weißt du. Wir könnten zusammenarbeiten. Ist das keine gute Idee?»

Er sagte zunächst nichts. Anne fühlte sich komisch. Wenn er jetzt nein sagen würde. Wenn er es nicht wollte. Wenn er es ihr nicht zutraute. Quatsch, dachte sie, die Zeiten des Zweifelns sind vorbei, ich traue es mir zu, ich will es, also wird es so sein.

«Klasse!», sagte Paul. «Klasse Idee. So machen wir es.»

Anne strahlte.

Paul stand auf, holte die Flasche Rotwein, die Anne im Esszimmer hatte stehen lassen und goss sich und ihr ein Glas ein. Sie stießen an.

«Auf die Zukunft!», sagte Anne.

«Auf die Zukunft!»

Sie tranken und sahen sich dabei in die Augen.

«Jetzt brauche ich etwas Warmes für die Seele», sagte Anne.

Paul ging zum Kamin hinüber, kniete sich hin, nahm aus dem Korb, der davorstand, ein paar Holzscheite und schichtete sie auf. Er zerknüllte Papier, schob es unter das Holz und zündete es mit einem langen Streichholz an. Es dauerte nur ein paar Sekunden, das Holz war gut abgelagert, dann knisterte und knackte das Feuer, und die Flammen flackerten und tauchten den ganzen Raum in ein warmes, tanzendes rotes Licht. Es war nun fast Mitternacht.

«Irgendwie habe ich Kopfweh», erklärte Anne und ging zur Terrassentür. «Ich brauche Luft.» Sie öffnete beide Flügel und trat hinaus. Eisige Luft und Nachtschwärze schlugen ihr entgegen. Eine Weile blieb sie so stehen, regungslos, die Arme verschränkt, und sah in den Garten hinunter. Paul legte eine CD in die Stereoanlage. Dann kam er zu ihr, die Fernbedienung in der Hand. Er stellte sich neben Anne. Plötzlich sahen beide, wie Schneeflocken vom Himmel fielen. Erst wenige, schwebend, taumelnd, unsicher, als seien sie unentschlossen, ob dies der richtige Zeitpunkt wäre, dann mehr und mehr und immer mehr. Irgendjemand schien da oben, versteckt hinter der Wolkendecke, zu stehen und ganze Säcke voller Schnee auszuschütten. Die Flocken, die erst Sternen glichen, waren nun wie Puder, der über die Bäume gestreut wurde, über Büsche, über den Rasen, das leere Brunnenbecken. Nach wenigen Minuten war alles weiß. Anne hatte das Gefühl, ein Märchen zu erleben, ein Wintermärchen. Alles war still, alles friedlich. Sie standen da, Anne und Paul, auf der Terrasse und sahen dem Schnee zu, der nun eine weiche weiße, jungfräuliche Decke über die gesamte Landschaft ausgebreitet hatte. Ohne dass Anne es merkte, drückte Paul auf die Fernbedienung seiner Stereoanlage. Und auf einmal hörte sie Musik, wundervolle Klänge, die sie fast zu Tränen rührten, hörte die Stimme eines Sängers, der Un aura amoro sang, in warmen, weichen Tönen, jene Mozartarie aus Così fan tutte, die vom Zauber der Liebe kündete. Am liebsten Mozart, nachts um zwölf: Anne fiel plötzlich wieder ein, wie er ihr vor langer Zeit von dieser Vorliebe erzählt hatte.

Paul nahm sie in den Arm. «Schön?», fragte er leise.

«Ja», antwortete Anne. «Sehr schön.»