KAPITEL 10

Meine Kinder, deine Kinder

Vielleicht fanden sie schon bald zu ihrer alten Form zurück, zur Normalität, zum Alltag einer ganz und gar gewöhnlichen Familie: Das war auch Annes Wunsch. Sie tat alles dafür. Morgens stand sie kurz nach sechs als Erste auf. Ging hinunter, setzte im Kessel Wasser auf, bereitete eine Kanne Early-morning-breakfast-tea zu und brachte Paul eine Tasse davon ans Bett. Dann weckte sie Luis zum ersten Mal. Anschließend Pavel. Danach machte sie zehn Minuten im Ankleideraum Gymnastik, duschte, zog sich an und half Frau Merk dabei, das Frühstück für alle zu machen, eine Arbeit, die nahezu stumm vonstatten ging. Die Mädchen standen von allein auf. Anne hatte das Gefühl, sie würde ihnen zu nahe treten, wenn sie auch bei ihnen den Weckdienst übernehmen würde. Paul hatte ebenfalls sein festes Morgenritual. Wenn er seinen Tee ausgetrunken hatte, ging er im Morgenmantel frühstücken, ohne auf die anderen zu warten, las dabei seine Zeitung, machte sich fertig und verschwand gegen sieben durch die Tür im Gang zwischen Küche und Speisezimmer in seiner Praxis. Er und Anne wechselten in dieser Zeit kaum ein Wort miteinander. Im Gegensatz zu Wolf war er ein Morgenmuffel. Für Anne war das eine neue Erfahrung, und zweimal hatten sie deswegen sogar einen kleinen Krach gehabt. Aber dann akzeptierte sie es und empfand es sogar als angenehm, weil sie genügend anderes zu tun hatte, als mit ihm zu plaudern. Dafür waren die Abende reserviert. Um halb sieben versuchte sie zum zweiten Mal, Luis aus den Federn zu kriegen. Ihr kam es vor, als wäre sie im selben Film, nur dass er an einem anderen Ort spielte. Pavel zog, wie er es nannte, nur sein Nuttenfrühstück durch: einen Becher schwarzen Kaffee und eine Zigarette im Stehen. Dann düste er mit seiner Vespa zum Bahnhof, wo er den Zug nach Hamburg nahm. Er war ein bisschen umgänglicher geworden, doch die gute Beziehung zwischen ihm und seiner Mutter war nach wie vor gestört. Doch Anne gab die Hoffnung nicht auf, dass am Ende dieses Tunnels wieder Licht sein würde, Licht, Luft und Herzlichkeit. Sie forcierte nichts. Sie wartete ab. Edward stand morgens grundsätzlich nicht auf. Es gab, leider, auch keinen Grund dafür. Er hatte keinen Job, keinen Studienplatz, nicht einmal Aufgaben im Familienalltag. Meistens tauchte er erst gegen Mittag auf, holte sich etwas zum Essen aus dem Kühlschrank, trank den Rest kalten Kaffees, den Anne ihm in einer großen Kakaotasse aufbewahrt hatte und den er mit H-Milch mischte. Bei den anderen legte Anne jedoch größten Wert darauf, dass sie anständig frühstückten, die Regel «Morgens wie ein Kaiser, mittags wie ein König, abends wie ein Bettelmann» war unverrückbarer Teil ihres Erziehungsprogramms, das sie genauso von ihrer Mutter übernommen hatte und das zum Glück auch Paul unterstützte. Es gab frische Brötchen, die Frau Merk mit dem Fahrrad beim Bäcker geholt hatte, Tee und Kakao, Müsli, Yoghurt, frisch gepressten Orangensaft, Honig, Nutella, Marmelade und Käse. Anfangs hatte sie für alle Kinder Schulbrote geschmiert und liebevoll kleine Butterbrotpäckchen gepackt, denen sie mal einen Apfel, mal einen Schokoladenriegel beilegte, doch Anuschka brachte alles immer wieder unberührt mit nach Hause zurück, und Laura schmeckte dies nicht und das nicht, Frau Merk zog ein langes Gesicht, weil Anne ihr diese Arbeit wegnahm, sodass sie es schließlich ihr, der Haushälterin, überließ, diesen Teil wieder zu übernehmen. Ohnehin hatte sich das Verhältnis zu Frau Merk eher verschlechtert als verbessert. Anne spürte förmlich, wie unwillig sie Arbeiten erledigte, die sie ihr aufgetragen hatte, und mit welchem inneren Groll sie Aufträge entgegennahm. Jedes Mal gab es Streit.

«Bei Frau Ross haben wir es immer so gemacht, dass ...» «Nein, die Betten habe ich noch nicht frisch bezogen, ich kann mich ja nicht zerreißen ...»

«Der Herr Doktor mag nicht, wenn ich mittags die Küche mache. Er sagt, er will dann seine Ruhe ...»

«Das weiß ich nicht, wo das liegt ...»

Und so weiter und so fort. Anfangs hatte sich Anne mit ihrem Beharrungsvermögen immer wieder auf unendliche Diskussionen eingelassen. Irgendwann aber gab sie nach, überließ Frau Merk das Feld in der Annahme, sie sei die Klügere. Dass die Haushälterin aber heimtückisch war und ihr noch eine Menge Kummer bereiten sollte, ahnte sie nicht.

In den ersten Wochen, wenn die beiden Kleinen mit dem Frühstücken fertig waren, brachte sie Laura und Luis mit ihrem Volvo zur Schule. Dann aber fing Luis an herumzujaulen, er sei kein Baby mehr und ihm sei es gegenüber seinen neuen Klassenkameraden, die ihn ohnehin ziemlich triezten, peinlich, allmorgendlich von seiner Mutter gebracht zu werden. Wahrscheinlich hatte er sogar Recht. Sie ließ ihn mit seinem Mountainbike allein fahren (oder, wenn sie zur selben Stunde Unterrichtsbeginn hatten, gemeinsam mit Laura). Die beiden wurden schnell zu einer untrennbaren Einheit. Wenn sie aus der Schule kamen, aßen sie zusammen in der Küche zu Mittag. Ihre Hausaufgaben machten sie, unablässig herumalbernd, gemeinsam in einem der Kinderzimmer. Waren sie damit fertig (und Anne überprüfte das), durften sie spielen gehen. Wenn sie nicht vor dem Computer oder dem Fernseher hingen, tobten sie draußen herum, bevorzugt hinter dem Garten, wo sie den verrosteten Drahtzaun heruntergetrampelt hatten und sich in dem wilden, sumpfigen Naturschutzgebiet ihr Paradies schufen, ihren Abenteuerspielplatz, ihr Märchenland.

Das Umtopfen von Luis, wie Anne es bezeichnete, gelang am besten. Er schien weder seine alte Umgebung, die Wohnung, seine Freunde noch seinen Vater zu vermissen. Im Gegenteil: Er blühte auf, er kriegte Farbe, sein kleiner Körper wurde drahtig, er schoss in die Höhe, und man konnte förmlich dabei zusehen. Auch Laura hatte die neue Situation schneller als erwartet akzeptiert und war unbeschwert. Selbst an Tagen, wo sie ihre Mutter besuchte, kehrte sie fröhlich zurück und plapperte den ganzen Abend von ihren Erlebnissen bei Sybille und Ruth.

Wie Pavel und Edward mit allem umgingen, war schwer auszumachen. Über die Themen Wolf, Trennung, Umzug wurde nicht geredet, was auch daran lag, dass Pavel erst spätabends von der Arbeit wiederkam und danach meistens wegging, wohin auch immer. Edward entzog sich dem Familienalltag, er verbrachte oft den ganzen Tag in seinem Dachbodenstudio, und an den Wochenenden war er meistens bei Colleen, in Hamburg. Anne wollte von Anfang an klare Verhältnisse schaffen und hatte deshalb bei einem Kaffeetrinken mit Wolf – das in der Nähe ihrer alten Wohnung stattfand und Gelddingen wegen ziemlich unerfreulich ablief – angeregt, dass die drei Söhne ihren Vater regelmäßig alle vierzehn Tage treffen sollten. Wolf vermisste seine Jungs schrecklich. Er war dankbar für den Vorschlag. Als sie Edward, Pavel und Luis davon berichtete, vertrat Pavel genervt die Ansicht, er fände es «zum Kotzen», so etwas einer Regelung unterzuordnen, fügte sich aber. Anfangs. Doch dann war einmal Luis krank, ein anderes Mal musste Pavel aufgrund seiner Arbeit absagen, schließlich passte es Wolf nicht in den Kram, weil er eine Illustration fertig machen musste oder auf Reisen war, und am Ende verlief der schöne Plan im Sande. Anne hielt sich künftig raus. Sie fand, die vier müssten es unter sich ausmachen. Dazu kam, dass sie Angst vor dem Kontakt zu Wolf kriegte. Bei den wenigen Telefonaten, die sie führten und die sich nicht vermeiden ließen, weil es noch vieles zu regeln gab, wurde er von Mal zu Mal aggressiver. Unverhohlen machte er ihr jetzt dir Vorwürfe, auf die sie im Stillen immer gewartet hatte. Mehr noch: Er nahm sich einen Anwalt. Es ging um Unterhaltszahlungen. Wolf vertrat die Ansicht, da sie ihn verlassen und ein neues Zuhause bei einem wohlhabenden Arzt gefunden habe, er jedoch als freischaffender Künstler nur über ein geringes und zudem unregelmäßiges Einkommen verfüge, müsse er für seine Söhne nichts oder fast nichts zahlen. Anne aber war auf seine Unterstützung angewiesen, denn sie besaß nichts außer einem Sparbuch. Doch da war nicht viel drauf. Am liebsten hätte sie auf alles verzichtet. Stolz jedoch konnte sie sich nicht leisten. Anne fürchtete, sich auch einen Anwalt nehmen zu müssen. Sie hasste Anwälte. Sie machten ihr Angst. «Anwälte sind der Sieg der Intelligenz über die Gerechtigkeit!», hatte Ebba zu ihr gesagt, und damit hatte sie Recht. Anne war betroffen, dass die Sache eine solche Wendung nahm. Wolf war finanziellen Dingen gegenüber immer gleichgültig gewesen, ihm bedeutete Geld nicht viel. Sie hatte geglaubt, dass sie niemals über ein solches Thema würden streiten müssen. Doch offenbar benutzte er es als Vehikel, um ihr zu schaden, ja, um sich zu rächen. Anne hatte das Gefühl, als gäbe es im Hintergrund jemanden, der ihn beeinflusste, aufstachelte und heimlich die Fäden zog. Sie hätte wütend sein müssen. Konnte sie aber nicht. Das schlechte Gewissen überwog nach wie vor. Anne fühlte sich mies.

Natürlich – und zum Glück – stand ihr Paul zur Seite. Jeden Tag dachte sie: Wie gut, dass ich ihn habe. Sie liebte ihn. Wenn er zu ihr kam, schlug ihr Puls schneller und ihr Herz höher. Sprach er mit ihr, konnte es vorkommen, dass sie anfing zu stottern. Wie ein Teenager fühlte sie sich dann. Wenn sie ihn betrachtete, in Momenten, in denen er sich unbeobachtet fühlte – wenn er las, wenn er den Kamin anmachte, wenn sie gemeinsam im Garten arbeiteten –, stieg Stolz in ihr auf. Er gehörte ihr. Sie gehörte ihm. Paul war ein liebevoller Partner. Unwillkürlich verglich sie sein Verhalten mit dem von Wolf. Er überraschte Anne mit kleinen Aufmerksamkeiten. Wenn er von Patientenbesuchen wiederkam, brachte er ihr Geschenke mit. Eine CD, ein Buch, von dem er glaubte, es würde ihr gefallen, eine Blume, Champagner-Trüffel. (Die sie gemeinsam aßen, um sich anschließend lachend zu versichern, zur Strafe auf das Frühstück zu verzichten.)

Am schönsten waren die Abende, nachdem die Kinder versorgt, Frau Merk sich zurückgezogen und sie allein waren. Wenn die Holzscheite brannten, die Vorhänge zugezogen, der Rotwein entkorkt war und die Musik leise spielte, wenn er dicke Kissen auf dem Fußboden auftürmte und sie es sich darauf gemütlich machten, lachten, redeten, kuschelten – dann war die Welt für sie in Ordnung, dann war das Leben lebenswert, und die Alltagssorgen flatterten fort wie Krähen auf dem weiten Feld.

Und sie spürte, dass Paul sie respektierte, ihre stille Kraft bewunderte, die niemals nachließ, sie begehrte. Sex mit Paul: Das war Feuer und Wasser, Wind und Regen, Sturm und Stille. Noch nie hatte sie sich so leidenschaftlich einem Mann hingegeben. Selbst jetzt noch, neun Monate nach dem ersten Mal, begehrten sie sich wie am ersten Tag. Immer hatte Anne geglaubt, Sex bedeute ihr nichts, Sex sei ein abgeschlossenes Kapitel in ihrem Leben, einem gelesenen Buch gleich, das man nur noch selten aus dem Schrank zog. Jetzt wusste sie: Sex zu haben mit einem Mann, den man begehrte und liebte, bedeutete ihr alles.

Es war ein herrlicher Frühsommertag Ende Mai, als Ebba endlich ihr Versprechen wahr machte und sie besuchen kam. Anne stand schon am Gartentor und erwartete ihre Freundin, die mit einem neuen Porsche hektisch um die Ecke bog.

Ebba hatte von unterwegs angerufen, per Autotelefon: «Darling, in was für einer Pampa wohnst du neuerdings? Ich fahre seit acht Stunden im Kreis, bin von der Autobahn runter, und dann finde ich mich plötzlich vor einem öffentlichen Schwimmbad wieder, und überall sind Einbahnstraßen und Sackgassen und Umleitungen und Umgehungsstraßen, man kommt überhaupt nicht ins Zentrum, von diesem ... wie heißt das hier? ... Ahrensburg? ... hörst du mich?»

«Klar, höre ich dich, Ebbalein. Wir wohnen nicht im Zentrum, es ist eigentlich ganz einfach, du hättest nur ...»

«Hätte bringt mir gar nichts. Erkläre mir den Weg.»

Fünf Minuten später war sie also da. Sie stellte den Motor ab, stieg majestätisch aus, nach dem Motto: Klappe die zweite, Kamera läuft, Ton ab und bitte! Sie winkte über den Porsche hinweg Anne zu, beugte sich noch einmal in den Wagen hinein und förderte bunt und glänzend verpackte Geschenke zutage, einen Rosenstrauß, der, so schätzte Anne, mindestens fünfzig Mark gekostet haben musste, packte alles auf das Dach, schlug die Wagentür zu und ließ über die im Schlüssel integrierte Fernbedienung die Schlösser zuklacken. Anne kam zu ihr. Sie umarmten sich. Dann blieben sie voreinander stehen und guckten sich an. Seit fast zwei Monaten hatten sie sich nicht mehr gesehen.

«Gut siehst du aus, Anne, so jung! So straff. So blühend!» Sie kniff ihr in die Wange. «Scheint dir gut zu tun, das neue Leben!»

«Ich bin eben glücklich. Endlich.»

Ebba trug ein kurzes rotes Seidenkleid. Anne wusste, was das bedeutete: Ebba hasste rot. Es stand ihr nicht, fand sie, deshalb hatte sie nur dieses eine Kleid in dieser Farbe. Es hieß: Ebba geht es nicht gut. Das war das Signal. Doch Anne sagte nichts dazu.

«Ich freue mich, dass du uns endlich besuchst.»

Ebba überreichte ihr die Blumen. Sie teilten sich die Päckchen und gingen auf das Haus zu.

Ebba blieb stehen und sah an der Fassade hoch: «Irres Haus! Habe ich mir gar nicht so vorgestellt. Sieht nach Rosamunde Pilcher aus.» Anne wusste nicht, ob das aus Ebbas Mund ein Kompliment war. Mit dem Ellenbogen drückte sie die Klinke der Haustür herunter und ließ ihrer Freundin den Vortritt.

«Der Windfang», erklärte sie und fügte spitz hinzu: «Meine Vorgängerin nannte es Halle.»

Ihre Vorgängerin: Anfangs war sie allgegenwärtig gewesen. In der ersten Nacht nach dem Umzug hatte Anne Scheu gehabt, sich neben Paul ins Bett zu legen. Es war Sybilles und sein Schlafzimmer gewesen, Sybille hatte auf der Matratze gelegen, sie hatte das Badezimmer benutzt, nach ihrem Geschmack war alles eingerichtet worden, überall lugte Sybille hervor, streng, vorwurfsvoll, zynisch, und es brauchte eine Weile und ein bisschen hin und her räumen, bis Anne es als ihr Reich akzeptieren konnte.

«Und hier ist das Wohnzimmer.»

Ebba ging sofort zu der geöffneten Terrassentür und trat hinaus: «Der Garten!», rief sie aus und drehte sich um. «Wie viel Quadratmeter sind das um Himmels willen?»

«Achttausend!»

«Achttausend. Das ganze Ding ist ja mindestens ... zwei Millionen wert!»

«Ach Geld ...» Anne kam zu ihr, noch immer die Blumen im Arm und winkte ab.

«Irgendeine Art von Einigung mit Monsieur?»

«Monsieur?»

«Darf man seinen Namen hier überhaupt aussprechen?» «Du redest von Wolf?»

Ebba nickte.

«Ach ... unangenehm. Es ist einfach unangenehm. Am liebsten würde ich ...»

«Du magst eben nicht kämpfen!», meinte Ebba lächelnd. «Meine kleine Konfliktvermeiderin!»

«Erstens finde ich, dass ich schon eine Menge in meinem Leben gekämpft habe, und zweitens ...» Sie legte die Blumen und die zwei Geschenke auf den Teakholzgartentisch. «Pack doch das hier hin.»

Ebba warf ihre Sachen zu den anderen und setzte sich auf einen der vier Stühle mit den sonnengelben, dicken Polstern. «Und zweitens?»

«Das unterscheidet uns, ich stelle ja immer bei unseren Gesprächen die Unterschiede zwischen uns fest: Du wachst morgens auf und denkst fröhlich: Wo sind die Löwen? Ich wache morgens auf und fürchte mich: O Gott, wo sind die Löwen?!»

«Das ist mal ein guter Vergleich!», fand Ebba.

«Ich habe drinnen gedeckt!», erklärte Anne. «Frau Merk hat Apfelkuchen gebacken!»

Sie gingen wieder hinein. Anne zeigte Ebba die Küche und stellte die Rosen in eine Kristallvase, die sie mit Wasser füllte. Dann machten sie eine Palastbegehung, wie Ebba es nannte. Im Keller stand Frau Merk vor dem Bügelbrett, die Waschmaschine lief, und sie bügelte Pauls Hemden. Anne machte die Frauen miteinander bekannt. Frau Merk gab sich gegenüber Ebba jovial. Sie fragte, ob ihre Hilfe oben benötigt würde, was Anne verneinte, und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit. Danach gingen sie ins Esszimmer, und Ebba inspizierte die Hofer-Gemälde.

«Geschmack scheint er zu haben!», konstatierte sie. «Und Geld.»

«Was redest du dauernd über Geld?»

«Wo ist dein Paul?»

Anne zeigte auf die Tür im Zwischenflur. «In der Praxis. Er kommt nachher.»

«Und alle anderen?»

«Luis ist bei einem Klassenkameraden, Pavel bei der Arbeit ... die Mädchen sind beim Reiten ... die Große ist sowieso kaum zu Hause, sie hängt meistens bei ihrem Freund, einem gewissen Stivi ...»

«Kannte ja auch mal einen, wie du weißt!», unterbrach Ebba sie. «Long time ago, Steven.»

Anne ging darauf nicht ein: «Na ja, Anuschka, das ist eine andere Geschichte, ich habe dir ja von unseren Problemen erzählt.»

«Und Eddi?», fragte sie ironisch.

«Lass ihn das bloß nicht hören, Ebba, er lungert oben rum, in seinem Zimmer, komm ...»

Über die Treppe gelangten sie in den ersten Stock. Nachdem Ebba alle Räume gesehen hatte, stiegen sie zu Edwards Studio hoch. Seine Mutter klopfte an die Tür.

«Ja?», kam es von drinnen gelangweilt.

«Ebba ist da. Dürfen wir reinkommen?»

«Klar!» Das klang schon fröhlicher. Edward öffnete. Er trug enge, verwaschene Jeans, ein weißes T-Shirt und war barfuß. Sein Haar war ungekämmt und zerzaust, er hatte wohl geschlafen, vermutete seine Mutter. Er und Ebba sahen sich an. Anne war ein wenig irritiert, dass sie einfach so stehen blieben und kein Wort sagten, und drängelte sich an ihnen vorbei ins Studio.

«Er hat das schönste Zimmer von allen, der Herr Abiturient.»

Ebba reagierte nicht. «Bist du noch mal gewachsen?», fragte sie. «Oder bin ich geschrumpft?» Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er lachte nur und schob sie in sein spartanisch eingerichtetes Zimmer. An den Wänden, von denen die meisten ohnehin schräg waren, hingen keine Bilder, keine Poster, keine Plakate. Es gab ein modernes Messingbett, zwei Fünfziger-Jahre Cocktail-Sessel in Orange und Lila, einen Birkenholzschreibtisch mit Computer und sorgfältig hoch gestapelten Papieren und Büchern und mit einem überraschend modernen Stahlstuhl davor, eingebaute Regale, in denen, ordentlich sortiert, Edwards Bücher standen. Auf dem Bett lagen ein halbes Dutzend bunter Kissen und Unterlagen einer amerikanischen Universität. «Er kommt nach seinem Vater!», meinte Ebba fröhlich.

«Was machst du überhaupt?», wollte Anne wissen.

Er zeigte zum Bett: «Ich studiere den Kram da.»

«Na, wenigstens studierst du was!» Anne ging zum angrenzenden kleinen Bad.

«Ist heute aus Dayton, Ohio, gekommen», erklärte Edward.

«Im Moment hat er gerade die feste Absicht, in Amerika zu studieren, Wirtschaft.»

«In Dayton, Ohio? Wieso willst du denn nach Dayton, Ohio, das ist doch tiefste Provinz!», sagte Ebba und folgte Anne, um sich das Bad anzugucken.

«Nur so 'ne Idee...», antwortete er knapp.

«Möchtest du Tee mit uns trinken?»

Er schüttelte den Kopf.

«Ebba hat dir ein Geschenk mitgebracht.»

«Danke.»

Sie gingen wieder. In der Tür blieb Ebba noch einmal kurz stehen: «Besuch mich doch endlich mal, wenn du das nächste Mal wieder in Hamburg bist. Ich lade dich zum Essen ein.»

«Okay.»

«Okay?»

Er blieb einsilbig, er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, hatte das Gefühl, Anne und Ebba würden ihn kontrollieren. «Wir sehen uns.» Er ließ sich auf sein Bett fallen.

«Wir sehen uns.»

Auf dem niedrigen thailändischen Tisch, der zwischen den beiden Sofas in der Fensternische stand, hatte Anne für die Teestunde mit ihrer Freundin gedeckt. Sie goss Ebba Tee ein, zerteilte den Apfelkuchen, gab sich und ihrer Freundin ein Stück und setzte sich ihr dann gegenüber. Ebba erkundigte sich, wie Annes Söhne mit Paul klarkamen, und Anne erzählte, dass er von Anfang an eine so in sich ruhende, starke Position eingenommen hatte, dass er ihnen keinerlei Angriffsfläche bot, und sie ihn, wenn sie ihn schon nicht liebten und an Vaters statt annahmen, zumindest doch respektierten.

«Ihre ganze Wut haben sie auf mich abgeladen, aber mittlerweile geht es.»

«Dafür, dass du so, ach, arg zu leiden hast, siehst du aber Bombe aus!», konstatierte Ebba und sah Anne über den Rand ihrer Teetasse hinweg an. «Man könnte neidisch werden. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du hast dich liften lassen.»

«Sehr witzig.»

«Ich bin bald mal wieder dran!» Sie stellte ihre Tasse ab und zog ihre Wangenhaut nach hinten. «Gerade gestern stand ich vor dem Spiegel und dachte, Ebba, Süße, es wird Zeit. Die Konkurrenz schläft nicht, es wachsen täglich neue Mädels nach, die dir die Männer wegnehmen.» Sie nahm ihren Kuchenteller, spießte mit der Silbergabel ein Stück Apfel auf und führte es mit einer übertriebenen Geste zum Mund. Dann wollte Ebba alles über Paul wissen, seine Geschichte, seine Interessen, wie er mit ihr umging, was sie in ihrer Freizeit unternahmen, wie die Praxis lief. Schließlich kam sie auf Sybille zu sprechen. Anne holte zwischendurch aus der Küche zwei Schnapsgläser und nahm aus dem Kühlschrank eine Flasche Limoncello. Frau Merk stand an der Spüle und schälte Spargel für das Abendessen. Eigentlich hätte Anne froh darüber sein können, aber ihr war diese Frau unangenehm, und sie hatte das Gefühl, überall im Haus, wo sie hinkam, war Frau Merk schon da. Als sie zurückkam, hatte Ebba ihre Schuhe ausgezogen und es sich, halb liegend, mit ein paar Kissen im Rücken, auf dem Sofa gemütlich gemacht. Anne klagte über ihr Verhältnis zu Frau Merk und erzählte, wie es dazu kam, dass sie bei ihnen wohnte und arbeitete.

«Wozu brauchst du überhaupt eine Haushälterin? Ist doch Quatsch, du hast doch noch nie eine gebraucht! Ich würde mir so was verbitten, so eine schlecht gelaunte Tante, die sich überall wichtig macht. Brauchst du nicht, du brauchst eine Putzfrau, fertig.»

Anne goss die zwei Gläschen voll mit dem Zitronenlikör.

«Es ist natürlich auch ganz angenehm, keine Frage. Aber ich komme einfach mit ihr nicht klar. Sie hasst mich, weil sie Sybille so geliebt hat. Außerdem habe ich das Gefühl, sie arbeitet Tag und Nacht daran, dass ich hier rausfliege, nicht sie. Sie intrigiert bei Paul gegen mich, sie stachelt die Mädchen auf, was ihr besonders bei Anuschka gelingt.»

«Was sagt denn Paul dazu?»

«Ach, du kennst doch Männer in solchen Situationen. Er überlässt das ganz mir.»

«Also schmeiß sie raus.»

«Ebba, sei doch nicht immer so kalt!»

«Wie? Ich stelle mich auf deine Seite, Darling, ich bin nicht kalt.»

«Ich könnte das nicht. Sie ist sechzig, glaube ich, ihr Mann hat sich umgebracht, sie hat Schulden, hat mir Paul mal erzählt. Man kann doch so jemanden nicht vor die Tür setzen.»

«Dann musst du mit ihr mal Tacheles reden. Was glaubst du, wie viel unangenehme Personalgespräche ich führen muss! Allein erziehende Mütter, Kerle, die an der Flasche hängen, Dauergestresste, Überforderte, Loser, Nullen, jeder hat eine andere Geschichte, warum er nicht funktionieren kann und nicht entlassen werden darf. Ich finde ja sowieso, in unserer modernen Arbeitswelt hat sich etwas geändert. Und zwar zum Schlechten. Es gibt fast nur noch unfähige Leute. Kaum jemand, der wirklich was von seinem Job versteht. Und seine Arbeit gerne macht. Alle jammern, alle haben dieses Anspruchsding im Kopf, fuffzig Prozent der Zeit geht drauf mit Wehklagen und Quatschen im Flur. Wir sind ein Volk des Mittelmaßes geworden. Keine Eigenverantwortung mehr. Alles Ergebnis der Verwöhnung. Der Kuchen ist gut. Ich nehme mir noch ein Stück.»

Wenn jemand anders so reden würde, dachte Anne, hätte ich sofort Streit angefangen. Sie empfand Ebbas Ansichten als radikal, konservativ und eindimensional und hoffte, dass sie nicht wirklich so dachte. Wahrscheinlich hatte Ebba einfach nur einen schlechten Tag hinter sich.

«Weil wir gerade vom Wehklagen reden: Genau genommen ist mein Problem mit Frau Merk auch noch ein anderes. Es kommt mir so vor, als befänden wir uns in einem andauernden Wettlauf: Wer macht welche Arbeit zuerst? Sie gewinnt fast immer. Und ich bleibe zurück und denke: Was gibt es hier im Haus eigentlich für dich zu tun?»

«Wer hat dir vor einem drei viertel Jahr gesagt: Such dir einen Job?»

«Wer hat mir gesagt: Such dir einen Liebhaber?»

«Na ja, dann ist ja Teil eins der Aufgabe erledigt. Bleibt noch Teil zwei.»

«Ich kann nichts Ebba. Was soll ich hier in Ahrensburg machen?»

Ebba nippte am Likör und stellte ihn zurück, er war ihr zu süß. «Also bleibt es dabei: Wir haben einen Schritt gemacht. Von der begleitenden Ehefrau zur begleitenden Geliebten!»

Anne kam nicht dazu, auf diese Bemerkung zu antworten, denn Paul tauchte auf. Mit schnellen Schritten kam er zu ihnen.

«So lobe ich mir das», sagte er im Näherkommen. «Wir Männer sind draußen und jagen. Und die Frauen sitzen im Zelt und wärmen sich am Feuer.» Er blieb vor Ebba stehen und strahlte sie an. «Paul Ross!»

Ebba streckte ihm ihre Hand entgegen: «Was jagen Sie denn?»

Er lachte. Sie schüttelten sich die Hände.

«Ebba Mommsen. Ich glaube, wir kennen uns.»

«Ja!», sagte Anne. «Ihr habt euch mal bei uns getroffen. Also: bei Wolf und mir.»

Wow, dachte Ebba und sah ihn von oben bis unten an, sieht der gut aus: ganz leicht gebräunt, graue Haare, ein Lachen, dass die Sonne aufgeht, groß und sportlich, das grünblau gestreifte Hemd, der weiße Kittel, die Chinos, die Sneakers, alles perfekt, Glück hat Anne, schieres Glück, und ich hoffe, sie weiß es.

Paul zeigte mit dem Daumen hinter sich: «Ist das Ihrer vor der Tür?»

«Der Porsche?»

Er nickte.

Ebba zog aus ihrer Umhängetasche, die neben ihr auf dem Sofa lag, den Autoschlüssel und hielt ihn hoch. «Probefahrt?»

Er streckte seine Hand aus und sie ließ den Schlüssel hineinfallen.

«Aber ihr könnt doch jetzt nicht Probe fahren!», mischte sich Anne ein.

«Na, wir nicht! Er!»

«Und die Patienten?»

«Nicht viel los, bisher. Außerdem ist immer noch Juliane da. Die macht das schon.» Er deutete auf den Kuchen. «Hebt mir ein Stück auf. Bis gleich.»

«Bis gleich!», riefen die Frauen ihm wie aus einem Munde nach. Schon war Paul wieder weg.

Nach einer halben Stunde kam er zurück, und er sah aus wie ein glücklicher, kleiner Junge, der durch eine Wildwasserbahn geschossen war und sich jetzt, mit roten Backen und nass gespritzt, neben seine Mutti aufs Sofa fallen ließ. Gierig aß er mit den Fingern ein Stück Kuchen und plauderte mit Ebba über Autos. Dabei kam die Frage auf, was sie mit ihrem alten Golf machen würde. Sie berichtete, dass sie ihn verkaufen wolle, da sie keine zwei Autos brauche.

«Das wäre doch was für Pavel!», meinte Paul und stand auf, «ich muss zur Arbeit, entschuldigt mich bitte.»

Nachdem er sich in die Praxis zurückgezogen hatte, erzählte Anne, dass Pavel in knapp drei Wochen achtzehn werde und sie sich mit Paul überlegt hatte, ihrem Sohn zum Geburtstag ein Auto zu schenken. Er hatte seit kurzem seinen Führerschein. Dass er noch immer nur mit seiner Vespa herumdüsen und mit der Eisenbahn nach Hamburg fahren musste, nervte ihn. Anne hatte beschlossen, ihm diese besondere Freude zu machen. Im Stillen hoffte sie, damit auch sein düsteres Gemüt zu erheitern, ihn zu besänftigen und wieder zu einem normalen Verhältnis zwischen ihnen beiden zurückzufinden. Ebba war sofort damit einverstanden, den Wagen an sie zu verkaufen. So wurde noch am Teetisch das Geschäft besiegelt, der Preis war kein großes Thema.

Als sie gerade damit anfingen abzuräumen, kam Anuschka die Treppe heruntergepoltert. Sie hatte es so eilig, dass ihre große Umhängetasche, die bis oben hin mit Schulbüchern und Papieren gestopft war, von der Schulter rutschte und der gesamte Inhalt zu Boden flog.

«Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße ...»

Anne stellte das Tablett zurück, um ihr beim Aufsammeln zu helfen. Sie ging in die Hocke, hob ein Schreibmäppchen auf und wollte es der knienden Anuschka reichen: «Das ist übrigens meine Freundin Ebba Mommsen», sagte sie mit kurzem Blick zurück zu Ebba, die näher gekommen war.

«Hallo!», sagte Ebba.

«Hallo», erwiderte Anuschka.

Anne hielt ihr noch immer das Mäppchen hin: «Hier ...»

«Du brauchst mir nicht zu helfen», erklärte Anuschka, ohne aufzusehen.

«Ja, aber ...», Anne wollte etwas einwenden, besann sich aber eines Besseren. Sie legte das Mäppchen auf das Parkett zurück und kam hoch. «Bist du zum Essen da? Ich habe heute gekocht!», meinte sie freundlich. «Gemüse-Lasagne, extra für dich.»

«Mit Käse ...?», fragte Anuschka.

«Ja! Mit Käse!»

Wütend knallte Anuschka einen Notizblock in die Tasche zurück: «Du weißt, dass ich Käse hasse!», schrie sie auf einmal. «Er ist fett und er macht fett, verdammt!»

Erschrocken und wie in einer Übersprungshandlung beugte sich Anne erneut herunter, um das noch immer auf dem Fußboden liegenden Mäppchen aufzusammeln.

Anuschka flippte aus. «Ich habe gesagt, du sollst mir nicht helfen! Verdammte Scheiße!» Hektisch sammelte sie den Rest der Sachen zusammen, «misch dich gefälligst nicht in meine Angelegenheit ein».

Jetzt platzte Anne der Kragen: «Ich wollte dir nur helfen!», brüllte sie zurück.

«Hilf dir lieber selber!», pöbelte Anuschka. «Du beschissene Übelkrähe.»

«Also ...»

«Na na na!», meinte Ebba.

«Was geht Sie das an?», fluchte Anuschka, nahm ihre Tasche, raste aus dem Wohnzimmer in die Halle, knallte die Türen hinter sich und verschwand aus dem Haus.

Ratlos guckte Anne ihre Freundin an.

«Bis eben fand ich es noch extra-gemütlich bei euch.»

Sie stellten alle Sachen auf das Silbertablett und gingen gemeinsam in die Küche. Frau Merk war nicht mehr da. Anne war stinksauer. Sie knallte das Tablett auf die Anrichte.

«Was sagst du dazu, Ebba?» Sie drehte den Hahn auf und ließ sich das kalte Wasser über die Innenseite des linken Handgelenks laufen. «Was war das eben?»

«Hysterie?», fragte Ebba zurück und stellte Kuchen und Flasche ab.

«Sie wird immer seltsamer, ich begreife das nicht. Mal ist sie die Stumme von Portici, dann die Irre von Chaillot, sie ist unberechenbar, und all ihre Gefühlsregungen richten sich gegen mich.» Nun hielt sie das andere Handgelenk unter das Wasser. «Ich komme einfach nicht mit ihr klar. Es ist wirklich nicht mehr witzig.» Sie drehte den Hahn zu und trocknete sich mit einem Geschirrhandtuch aus weißem Waffelpikee die Hände ab.

«Das kann auch nicht nur an mir liegen, ja?, das glaube ich einfach nicht. Sie entzieht sich hier dem ganzen Betrieb, sie nimmt an kaum einer Mahlzeit mehr teil, sie isst nicht! Wird von Tag zu Tag dünner ...»

«Na ja, die Mädchen heute, die kriegen das ja auch so vorgelebt: Du bist nur schön, wenn du dürr bist.»

«Paul müsste mal ...»

Ebba unterbrach sie: «Na, ich sagte es ja schon: Wo sind die Löwen? Bei der jungen Dame gibt es nur zwei Möglichkeiten, meiner Meinung nach, entweder du redest mit ihr ganz grundsätzlich und tiefenpsychologisch, will ich mal sagen, so von Frau zu Frau, das ist doch deine Spezialität oder ...»

«Oder?»

«Du wehrst dich. Du setzt sie mal so richtig auf den Pott. Ja, genau. Das wäre es, was ich machen würde. Und wahrscheinlich ist es auch die einzige Sprache, die so ein Girlie versteht: Sie zusammenscheißen, dass es kracht. Schluss mit puppenlustig. Wer ist die denn ...?» Ebba redete sich in Rage und begann auch Anne aufzustacheln. «... eine Frechheit, wie die mit dir umgeht. Und du spielst das liebe Mondkalb und lässt dir das auch noch gefallen. Verwöhntes Monster. Genau wie ich sage: zu viel Verwöhnung. Die kennt offenbar ihre Grenzen gar nicht mehr.» Mit verstellter Stimme gab Ebba den Dialog wieder. «Ich habe extra für dich Gemüse-Lasagne gemacht. Pphh Ist sie Vegetarierin? Gib ihr Fleisch. Bis es aus den Ohren wieder rauskommt. Na, die sollte mir mal unter die Finger kommen ...»

«Ebba!» Anne musste lachen.

«Die würde ich auf der Gemüsereibe raspeln und durch den Fleischwolf drehen. Und ...»

«Ebbaaa ...»

«So klein mit Hut soll die sein, und lass dir bloß nicht von deinem Paul den Schneid abkaufen.»

Unbemerkt war Frau Merk, die im Garten gearbeitet hatte, in der Küchentür aufgetaucht. Sie blieb stehen und hörte zu.

«Das kriegt die nämlich auch noch hin, dass die euch auseinander bringen will, verstehste, und du Schaf rennst auch noch hin zu dieser Schlachterin und hilfst ihr, anstatt sie zusammenzufalten oder rauszuschmeißen!»

Frau Merk wurde weiß. Sie glaubte, es ginge um sie. Sie wollte auf dem Absatz kehrtmachen, da wurde sie von den Freundinnen bemerkt.

«Frau Merk eh ...», begann Anne. «Wir möchten um halb acht essen, die Lasagne ist vorbereitet und im Kühlschrank, ich gehe mit Frau Mommsen spazieren und ...»

«Ich habe heute meinen freien Abend!»

Dieser Satz passte Ebba gut in den Kram: «Und Sie, gute Frau! Sie werden sich auch mal ein bisschen am Riemen reißen. Es geht mich zwar absolut nichts an, aber ...», sie kam Frau Merk gefährlich nah, die einen Schritt zurückwich, «... mir gefällt es nicht, wie sie sich hier aufführen, vor allem gegenüber meiner besten Freundin.»

«Ebba, nun lass es mal gut sein.» Anne packte sie am Ärmel ihres roten Kleids, doch Ebba machte sich los.

«Sie sind hier nämlich nichts weiter als eine Angestellte. Und es interessiert auch niemanden, was für eine Lebensgeschichte sie haben. Wir haben alle unsere Lebensgeschichte, und uns fragt auch keiner. Gucken Sie mich an, ich muss mich von morgens bis abends, und zwar täglich mit Männern herumstreiten, die alle weniger können als ich und mehr verdienen und? Merkt man mir das an? Nein. Immer schön freundlich sein und seinen Job machen, und vor allem sich unterordnen gegenüber denen, die einen zahlen. Andernfalls heißt es: Adieu! Verstehen Sie? Adieu! Sie sollten dankbar sein, dass sie hier arbeiten: dürfen

Kurzerhand schnappte sich Anne ihre Freundin und drängelte sie in den kleinen Zwischenflur.

«Man könnte meinen, du bist betrunken!», zischte Anne. «Das geht wirklich zu weit. Selbst wenn du Recht hast!»

«Weil ich den Mund aufmache, im Gegensatz zu dir?»

«Dadurch wird's auch nicht besser!»

Sie verließen das Haus und gingen spazieren, auf demselben Weg, den Anne mit Paul seit damals immer ging, und Anne zeigte Ebba die Stelle, wo sie das Reh befreit und wo sie und Paul sich zum ersten Mal geliebt hatten. Sie machten einen Zwei-Stunden-Marsch und redeten wie früher über alles und nichts. Dabei hatte Anne das Gefühl, dass vor allem sie sprach und dass Ebba irgendetwas bedrückte, aber sie rückte mit der Sprache nicht heraus.

Besonders beim Abendessen, als sich die ganze Familie bis auf Anuschka und Pavel – um den Tisch versammelte. Frau Merk war verschwunden. Anne vermutete, dass sie mit ihrem Fahrrad auf den Friedhof gefahren war, sie tat das mehrfach in der Woche, besonders aber wenn es Streit gegeben hatte. Ebba hatte Anne, nachdem die Lasagne in den Ofen geschoben war, dabei geholfen, den Tisch zu decken. Sie entschieden sich für das geblümte Geschirr der Albertis, das Anne Küchengeschirr nannte und das sie meistens benutzten, nachdem Anne das schlichte weiße von Sybille kurzerhand in eine leere Umzugskiste gepackt und in den Keller gestellt hatte. Bauernbrot, Butter, ein Marmorbrett mit verschiedenen Käsesorten, die Hälfte des Spargels, den Anne kurz gekocht und mit Salz und Pfeffer, Essig und Öl zu einem Salat zubereitet hatte, eine Flasche gut gekühlter italienischer Weißwein, Saft für die Kinder, die dampfende Lasagne in einer Steingutform, dicke Stoffservietten, brennende Kerzen im Silberleuchter: Im Esszimmer herrschte eine gemütliche, heimelige Atmosphäre, alle aßen mit Genuss und redeten und lachten durcheinander, nur Ebba, die sonst um diese Zeit entweder ein Geschäftsessen absolvieren musste oder vor der geöffneten Kühlschranktür stand und im Stehen irgendetwas Kaltes herunterschlang, das ihren Heißhunger stillte, schien keine Freude an diesem Teil des Familienlebens zu haben, war ungewöhnlich ruhig, piekte gedankenverloren ein paar Happse von der Lasagne und versenkte ihren Blick im Weinglas. Ab und zu bemühte sich Anne, ihre Freundin in das Gespräch mit einzubeziehen, und Ebba erzählte ein wenig von ihrer Arbeit, aber meistens blieb es beim Zuhören und Schweigen. Paul erzählte über Patienten und über Krankheiten. Das war eine Angewohnheit von ihm, die Anne anfangs irritiert und abgestoßen hatte, besonders wenn er nicht davor zurückschreckte, selbst düstere Details auszubreiten. Sie hatte zu Hause gelernt: «Keine Biologie bei Tisch!» Aber offenbar galten in Arzthaushalten andere Gesetze. Und irgendwann gewöhnte sie sich daran. Ja, sie entwickelte sogar Interesse, erwarb einen gewissen Sachverstand, nur durchs Zuhören, stellte Fragen und nahm auf diese Weise auch an seinem Arbeitsleben teil. Ihr war klar, dass solche Fachsimpelei, wie sie es nannte, dazu diente, seine Seele zu entlasten. Denn selbst wenn der tägliche Umgang mit Krankheit und Tod einen Menschen abstumpfen ließ, so blieb doch ein Rest von Mitleid und Besorgnis, der kräftezehrend und bedrückend war.

Luis wiederum gab den Klatsch aus der Schule zum Besten. Welche Lehrerin mit welchem Lehrer angeblich ein Verhältnis hatte, welche Eltern sich gerade scheiden ließen, welche Familien Schulden drückten und welchem Schüler ein Rausschmiss von der Schule drohte. Laura unterstützte ihn nach Kräften, aber sie kannte nur ein Bruchteil von den Neuigkeiten, obwohl sie schon viel länger auf diese Schule ging und eigentlich alle hätte viel besser kennen müssen als Luis. Sein Talent, etwas herauszukriegen, was andere lieber im Verborgenen gelassen hätten, war einmal mehr unverkennbar. «Er hat Augen wie ein Luchs», erklärte Anne. «Und Ohren wie RIAS-Schüsseln! Er wird eines Tages Klatschkolumnist, jede Wette.»

«Ich werde Arzt wie Paul!», entgegnete Luis. «Da kriegt man auch 'ne Menge mit. Und außerdem wird man reich!»

«Und reich sein wollen wir ja alle!», ergänzte Edward trocken, was das Gespräch auf ihn lenkte und seine Idee, nach Amerika zu gehen, was Anne nur für eine Phase hielt, die morgen schon beendet sein würde. Ehe das Thema grundsätzlich wurde und die Frage vertieft werden konnte, warum er ständig etwas anderes studieren wolle und letztlich nichts dafür tat, eine Entscheidung zu treffen, sprang Ebba für ihn in die Bresche und erzählte, wie lange es bei ihr gedauert habe, bis sie den richtigen beruflichen Weg einschlagen konnte. Edward war dankbar dafür, und für den Rest des Beisammenseins ließ er Ebba nicht mehr aus den Augen und lächelte sie unablässig an.

Nachdem das Essen beendet war, Ebba ihre Geschenke überreicht hatte und alle sie ausgepackt hatten, wurde abgeräumt. Dann sah Ebba auf die Uhr und erklärte, sie müsse los. Kurz wurde, nachdem die Kinder wieder in ihren Zimmern verschwunden waren und Edward mit seinem Panda zu einer Verabredung mit Colleen abgebraust war, noch der Deal mit Ebbas Golf abgeschlossen, dann machte sich Annes Freundin auf den Heimweg, weil sie am nächsten Morgen, so erklärte sie, früh rausmüsse.

Anne brachte sie nach draußen. «Ist irgendwas?»

«Nö.»

«Ebbalein.»

«Ach», sie winkte ab. «Ich habe irgendwie meinen Moralischen. Ich hoffe, ich habe dir nicht den Abend versaut.»

«So ein Blödsinn. Warum sagst du nicht, was dich bedrückt?»

«Es ist eine ganz banale Geschichte. Ich werde gemobbt. Jemand ... ein Mann ... ein jüngerer natürlich, sägt an meinem Stuhl. Sie machen mir den Vorwurf, ich würde meine Kunden nicht gut genug beraten. Es gab ein paar Beschwerden, ja, ein paar sind abgesprungen, das ist ganz normal in heutigen Zeiten, Kunden, die zu den Online-Banken wechseln, weil es billiger ist, spannender vielleicht, da ist ein neuer gewaltiger Markt entstanden, und Banken wie wir haben es schwer. Wir gehören sozusagen zum alten Eisen. Aber nun wollen sie mir einen Strick daraus drehen. Es sieht so aus, als wollten die mich rauskegeln!»

«Ach du Schande.»

«Aber ich krieg es hin. Ich habe schon so viel gewuppt. Das schaffe ich auch.» Ebba wirkte auf einmal in ihrem roten Kleid ganz zart und zerbrechlich wie eine Puppe, und Anne schien es, als hätte sie mit ihrer Freundin den Platz gewechselt und nun sei sie die Starke und Ebba die Schwache, die man in den Arm nehmen und trösten müsse. Und tatsächlich war es auch so. Den ganzen Abend über hatte Ebba diesen Schmerz gespürt, tief drinnen in ihrem Herzen, und sich als Beobachterin gefühlt, die weit entfernt von allen anderen zusah, bei diesem wunderbaren Schauspiel, wie eine neue Familie, mit allen Schmerzen und Kämpfen, vor allem aber mit aller Freude, Liebe und Energie zusammenwuchs. Sie gönnte Anne dieses Glück. Und deshalb konnte sie darüber nicht reden, über diese Einsamkeit, die sie empfand angesichts des Familienlebens. Sie war eine Singlefrau, ganz schick, ganz modern, ganz unabhängig. Sie war einsam. Niemals zuvor war ihr das so bewusst gewesen. Doch darüber sagte sie kein einziges Wort. Sie öffnete ihren Porsche und stieg ein.

«Schick Edward, um den Golf abzuholen!», erklärte sie. «Am besten nächste Woche, okay?»

Anne nickte. Ebba zog die Tür von innen zu, startete, schaltete die Scheinwerfer ein, die hell und grell die maigrüne, nächtliche Straße erleuchteten. Dann raste sie davon. Anne winkte noch einmal, bevor sie ins Haus zurückging.

Drinnen gab sie sich einen Ruck und betrat die Küche, in der Frau Merk damit beschäftigt war, den Geschirrspüler auszuräumen. Sie wollte ihr dabei helfen und nahm ein Saftglas heraus, um den nach innen gewölbten Boden mit einem Geschirrtuch trocken zu reiben.

«Mir ist es lieber, wenn ich das alleine mache, Frau Alberti!» Langsam, aber bestimmt zog sie Anne das Tuch zwischen den Fingern weg und wischte trickreich und systematisch alle hintereinander in der Maschine stehenden Gläser aus. So macht man das!, schien sie sagen zu wollen, als sie Anne von der Seite ansah.

«Ich muss mich für meine Freundin bei Ihnen entschuldigen, Frau Merk. Es tut mir Leid, was sie gesagt hat!»

«Es ist wirklich unverschämt, wie ich mich hier behandeln lassen muss!»

Besser wäre es gewesen, wenn Anne jetzt geschwiegen hätte. Wenn sie Frau Merks Verärgerung einfach akzeptiert und den Satz hätte so stehen lassen und gegangen wäre. Aber das konnte sie nicht. Das hatte sie noch nie gekonnt: im richtigen Moment schweigen. Es war wie damals, als ihre Eltern zu Besuch in Hamburg gewesen waren. Sie hatte Abendbrot zubereitet, und ihr Vater nahm sich eine Tomate, drehte sie hin und her und sagte:

«Die Tomaten hast du nicht gewaschen?»

Sie hätte einfach nur antworten sollen: «Doch. Sie sind gewaschen.»

Stattdessen aber – weil sie sich über diese Vermutung ihres Vaters ärgerte und weil sie den unausgesprochenen Subtext hörte – entgegnete sie, und zwar innerlich schon auf hundertachtzig: «Wieso soll ich die Tomaten nicht gewaschen haben?»

«Ich frage nur, ob sie gewaschen sind!»

«Wieso denkst du, ich würde Tomaten nicht waschen?»

«Musst du auf jede Frage mit einer Gegenfrage antworten?»

«Du machst es doch genauso!»

«Ich will nur wissen, ob sie gewaschen sind, ich meine, wenn sie nicht gewaschen wären, würde ich jetzt aufstehen und in die Küche gehen und sie waschen.»

«Allein dass du denkst, ich würde euch Tomaten vorsetzen, die nicht gewaschen sind, zeigt doch, wie du über mich denkst: Ich sei eine schlechte Hausfrau, eine viel schlechtere als Mutti, an die ja sowieso niemand heranreicht, und du willst mir mit dieser Frage sagen: Haben wir dich nicht so ordentlich erzogen, dass man seine Tomaten wäscht? Weißt du nicht, dass die Haut voller Pestizide und Keime steckt, die uns gefährden? Bist du eine Schlampe? Du willst mich mit dieser Frage mal wieder klein machen!»

Sie waren von der Tomate mühelos zur Frage des menschlichen Daseins gelangt, hatten mir nichts, dir nichts Gott und die Welt am Wickel und am meisten sich selbst, und der Abend endete in einem Riesenkrach, bei dem auch ihre Mutter und Wolf nichts mehr ausrichten konnten. Ihr Vater war beleidigt zu Bett gegangen und ließ sie als Schuldige zurück. Das war das Prinzip, in das sie sich perfekt einfügte, bei dem sie sich immer dieselbe Rolle zuweisen ließ und sie annahm wie eine zweite Haut. Es war immer ihre Schuld.

«Sie tun ja auch alles dafür, dass man sie so behandelt, Frau Merk», sagte sie und spürte, wie groß ihre Wut war.

«Ich mache hier nur meine Arbeit. Und wenn Sie gestatten», sie schob sich an Anne vorbei, um das Geschirr in den Schrank zu räumen, «würde ich das jetzt auch gerne weiter tun.» Und dann fügte sie hinzu: «Mit Ihnen kann man ja sowieso nicht reden.»

«Wieso kann man mit mir nicht reden? Wieso? Reden Sie doch einfach. Sagen Sie doch endlich mal, was Ihnen nicht passt.»

Ein Wort gab das andere. Es war schrecklich. Es schien ausweglos. Frau Merk war eine Giftspritze. Ebba hatte Recht: Sie müsste sie mal richtig auf den Pott setzen oder rausschmeißen, aber dazu fehlte ihr die Traute. Als sie kurz darauf ins Schlafzimmer kam, lag Paul bereits im Bett und las ein Buch. Von der Auseinandersetzung hatte er nichts mitbekommen, denn als es lauter wurde, hatte Anne schnell die Küchentür zugemacht.

Angezogen kroch sie zu ihm, er legte das Buch zur Seite, und sie kuschelte sich in seinen Arm. Durch die weit geöffnete Balkontür zog kühle Nachtluft herein. Anne bekam eine Gänsehaut. Paul nahm seine Decke und zog sie ihr über ihren Körper.

«Nett, deine Freundin!», sagte er. «Nett, aber ein bisschen keck.»

«Keck? Was ist das für 'n Wort?»

Er antwortete nicht, sondern zerrte die Bettdecke höher, über beider Köpfe hinweg, sie lagen Gesicht an Gesicht im Dunkeln und sahen sich an. Er küsste sie zärtlich. Anne musste lachen.

«Das kitzelt.»

«Das wird gleich noch mehr kitzeln.» Er begann sie zu streicheln und zu entkleiden. «Ich will dich, Anne.» Er warf die Decke zurück, kniete sich hin und half ihr beim Ausziehen.

«Langsam haben wir ein richtiges Familienleben, was?»

Ja», antwortete sie und machte ihren BH selbst auf. «Langsam.»

Paul schmiss ihren BH weg und liebkoste ihre Brüste.

«Aber das Licht bleibt an!», sagte Anne.